Schraffuren
Felix Billeter Angelika Grepmair-Müller
SCHRAFFUREN Die Zeichnungen von Hans Funk (1928 –2002)
Mit einem Essay von Andreas Strobl Herausgegeben von Tobias Funk
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Andreas Strobl: Linienspuren
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Angelika Grepmair-Müller: Lyrik und Liniengeflechte
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Aus einem Brief von Klaus Holzkamp (1964)
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Werke 1950–1970
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Hans Funk: Warum ich mit Feder und schwarzer Tusche auf Papier zeichne
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Werke 1970–1990
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Felix Billeter: Grauwerte und Traumata
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Aus einem Schulgutachten (1947)
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Werke 1990–2002
113 Tobias Funk: Epilog 115 Hans Funk – Vita 118 Literatur und Ausstellungen 120 Impressum und Bildnachweis
Linienspuren Andreas Strobl
Aus der Geschichte fallen kann ein Künstler nicht, solange seine Werke physisch oder in Dokumentationen erhalten bleiben. Aber er kann aus der Geschichtsschreibung fallen und sein Werk in Vergessenheit geraten. Wenn der Blick der Nachgeborenen dann wieder auf diese vergessenen Werke gelenkt wird, ist es an der Zeit, darüber nachzudenken, welchen Stellenwert das Entdeckte innerhalb der gängigen Kunstgeschichte hat. Genau dies möchte die vorliegende Publikation tun. Hans Funk hat ein reiches Werk an Zeichnungen hinterlassen, das einen ebenso ernst wie intensiv arbeitenden Künstler offenbart, für den diese Arbeit kein Beiwerk zu seinem Brotberuf als Kunstlehrer, sondern eine innere Lebensnotwendigkeit gewesen sein muss. Diese Zeichnungen stehen für sich und sind nicht vorbereitend für etwas Anderes, sind keine Ideenskizzen, Studien oder Versuche, um nur einige typische Kategorien der Zeichnung zu nennen. Heute sind sie nahezu unbekannt. So steht die Frage im Raum, wie ein derartig umfangreiches und intensives Werk in Vergessenheit geraten kann? Künstler, die sich ganz der Zeichnung oder zum Beispiel auch der Druckgraphik widmen, haben es sicherlich allein schon auf Grund ihres fragilen Mediums schwerer als Maler und Bildhauer, eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen. Werke auf Papier werden aus konservatorischen Gründen in den Museumssammlungen vom Licht abgeschlossen aufbewahrt und nur gelegentlich in Ausstellungen gezeigt. Käme ein Sammler, der sich für Zeichnungen interessiert – das sind nicht so viele – auf die Idee, sie dauerhaft an seine Wände zu hängen, nähme er ihren Verfall se-
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henden Auges in Kauf. Zeichnungen müssen sich also rarmachen. Ein anderer Aspekt ist, wie sehr ein Künstler zu Lebzeiten im Kunstbetrieb präsent ist: Funk stellte zwar immer wieder aus, aber seine Tätigkeit blieb auf seine Heimat und – in den frühen Jahren – noch auf seinen Studienort Berlin beschränkt. Ihm war das Zeichnen wichtiger, als das Ausstellen. Wobei man einschränkend sagen muss, dass der Verkauf von Zeichnungen ohnehin auf Grund ihrer Fragilität und ihrer meist introvertierten Wirkung schwierig ist. In Funks Fall kam hinzu, dass der Künstler die (zeit)aufwendig erarbeiteten Werke nicht unter Wert aus der Hand geben wollte, wozu ihn auch nichts zwang. Er war Mitglied im Deutschen Künstlerbund und damit als professioneller Künstler anerkannt, darüber hinaus jedoch gehörte er keiner Künstlerclique an, die ihm ein weiter gespanntes Netzwerk hätte bieten können. Hans Funk hatte im Studium mit Georg Tappert einen Lehrer, der nicht nur Maler, sondern ebenso ein besessener Zeichner war. Die Berliner Akademie der Nachkriegszeit, an die Hans Funk kam, war von einem halbherzigen Neuanfang geprägt, mit dem man versuchte, an die Jahre vor dem Nazi-Terror anzuknüpfen. Integre Künstler wie Carl Hofer oder Tappert standen für eine Moderne, die man heute eher als künstlerisch konservativ einschätzen würde, und die für einen vorsichtigen Übergang von der NS-Ästhetik weg und zurück zu den wirklich neuen Bildern des 20. Jahrhunderts sorgen konnte. Funks frühe Werke sind von der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Lehrer geprägt. Die ›modernen‹ Künstler, die sich mit Abstraktion und Gegenstandslosig-
keit auseinandersetzten spielten, zu dieser Zeit an der Berliner Akademie bis auf den Bildhauer Karl Hartung noch keine Rolle. Der Bildhauer Bernhard Heiliger oder der Zeichner Heinz Trökes, um nur Beispiele zu nennen, waren zwar in Berlin präsent, aber deren Zeichnungen wohl kein so anregendes Erlebnis, wie es 1959 die documenta II in Kassel bot. Schon bei deren erster Ausgabe, 1955, waren die Werke von Wols dort zu sehen gewesen. Nun traten mit Marc Tobey, Richard Pousette-Dart oder dem Graphiker Bernard Childs eine ganze Phalanx von in Deutschland gänzlich unbekannten Künstler an, die sich graphischen Strukturen verschrieben hatten, und Richard Oelze, der sich nach Niedersachsen aufs Land zurückgezogen hatte, bekam einen prominenten Auftritt. Die frühen, eigenständigen Werke Funks erinnern an diese großen Namen. Betrachtet man diese Arbeiten näher, wird die mikroskopische Feinheit ihrer Details erkennbar, aus der sich ein Gesamteindruck von organischen Formen ergibt, der für die Assoziation mit bekannten Künstlernamen verantwortlich ist. Funk schuf seine Werke in einer Abgeschiedenheit der Provinz, die nicht mit Weltabgewandtheit verwechselt werden darf. In der Abfolge der Jahrzehnte
sind unterschiedliche Anverwandlungen zeitgenössischer Kunstströmungen zu erkennen. In den 1960er Jahren entwickeln seine Zeichnungen eine Räumlichkeit, in der Dinge oder Dingartiges scheinbar zu erkennen sind. Es tauchen Zeichen und Muster auf, wie sie in vor allem in der deutschen Pop Art gerne verwendet wurden. Während lange Zeit allein der Strich der dünnen Tuschfeder die Strukturen entstehen ließ, werden in den späteren Jahrzehnten Pinsel, Pinselstrukturen und sogar der zarte Einsatz von Farbe zum Konterpart der Linie. So ist im Rückblick die Entwicklung des einen Werks aus dem anderen zu erkennen und zugleich immer wieder das Auftauchen neuer Ideen, die dann weitergetrieben werden. Der Gegensatz von spontanen Strukturen – Kritzelei, Geste – und kontrollierter Bearbeitung prägt diese Arbeit durchgängig. Zeichnen sei für ihn »ein Experimentierfeld für Formen und Zeichen […] vergleichbar wissenschaftlicher Mathematik« schrieb Werner Schulze-Reimpell 1976 in den Frankfurter Heften. Zeichnen war für Hans Funk eine Lebensnotwendigkeit, könnte man rückblickend ergänzen. In einer erstaunlichen Konzentration und Konsequenz ist dabei ein Werk entstanden, das man nun wiederentdecken kann.
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Taf. 1 Selbstbildnis, Radierung, um 1950/55, 430 × 305 mm, Privatbesitz
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Lyrik und Liniengeflechte Angelika Grepmair-Müller
Die erste Begegnung Wir hatten soeben die Begutachtung eines Nachlasses abgeschlossen, als uns Frau G. einlud, zwei andere Bilder aus ihrem Besitz anzusehen. Sie lagen in ihrem hellen Arbeitszimmer vor uns auf dem Boden. Wir waren überrascht, berührt und beeindruckt. Hatten wir Druckgrafiken oder Zeichnungen vor uns? (Abb. 1) Die beiden Blätter vermittelten unmittelbar die besondere Intimität des Mediums Grafik und waren zugleich schon ihrem Format nach von beachtlicher Größe und Präsenz. Dabei muteten sie in ihren Graustufungen schwebend und zart sowie in ihren Präzisierungen und Gewichtungen entschieden und sicher komponiert an. In ihrem Antagonismus aus Offenem und Geschlossenem, Statischem und Bewegtem, Amorphem und Strukturiertem traten die Werke sofort mit uns in einen Dialog. Die stupende Virtuosität der Ausführung löste in ihrer Feingliedrigkeit Verblüffung aus und den Reflex, nahe heranzutreten: Wie ist das gemacht? Können diese feinen Gewebe gezeichnet sein? Womit gezeichnet? Oder muss nicht eine Aquatinta-Radierung die differenzierten Flächenätzungen und feinen Linienzüge erzeugt haben? In der Nahsicht gab sich ein schier unendliches Spektrum von Tuschfederzügen zu erkennen. Entschieden oder hauchzart, gebündelt, fahrig oder präzise, parallel oder überkreuz, zu Schraffuren verbunden, in Schichtungen vernetzt. Wenn die Wirkung eines Kunstwerks, wie Adalbert Stifter sagt, darin besteht, dass es jede andere Stimmung aufhebe und die seine hervorbringe, so haben die beiden Blätter diese Wirkung augenblicklich er-
zielt. Da ein Zeitraum von zwanzig Jahren zwischen ihnen liegt, zeigen sie zudem, dass hier ein Künstler nicht nur eine ureigene, lyrische Sprache ausgebildet, sondern sie auch weiterentwickelt hat. Anfang der siebziger Jahre sehen wir collageartig gesetzte Horizonte und Flächen mit geometrischen Formsequenzen, deren räumlich ausformulierte Kuppelformen venezianische Erinnerungen an Il Redentore hervorrufen, um sich sogleich wieder in abstrahierte und offene Strukturen zu wandeln, während ein zweites, tiefer gelegenes Zentrum wie ein trompe l’œil einen unregelmäßig quadratischen Ausriss aus dem Blatt suggeriert. Anfang der neunziger Jahre lassen die transluziden, wehend-schwebenden Formen des Bildes schwelgerische Bewegungsströmungen empfinden, in denen einzelne umrissene Formen dezentral Akzentuierungen setzen. Es ist ein besonderer Glücksfall, dass wir nun die Gelegenheit haben, dieses konsequent parallel zu einem anspruchsvollen Berufsleben entstandene Werk vorzustellen.
Der Weg zum eigenen Schaffen – die 1950er Jahre Als Hans Funk das Studium der Kunstpädagogik 1947 in Berlin beginnt, befindet sich die Hochschule für Bildende Künste gerade im Wiederaufbau unter Carl Hofer als Direktor sowie unter Georg Tappert als Leiter der Kunstpädagogik – steht also unter Einfluss eines späten Expressionismus. Unter den akademischen »Fingerübungen« Funks gibt es eine Reihe Porträts,
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Abb. 1 Hängung der beiden Funk-Zeichnungen von 1973 und 1992 in der Sammlung G.
bei denen dieser Hintergrund spürbar wird. So ist bei dem Porträt einer jungen Frau (Abb. 2) der Kopf als Sitz der Psyche mit großzügigen Kreidelineaturen in einfache Formen überführt und melancholisch charakterisiert. Zugleich hinterlegt Funk das Bildnis mit Lavur und umschließt es mit einer rahmenden Lineatur, die wiederum auf die Umrisse des Kopfes reagiert und den Zeitstil der 1950er Jahre aufnimmt. Bei dem gelassen nachdenklichen Selbstbildnis mit Pfeife (Taf. 1) fügt Funk seine Hand hinzu und gliedert mit unterschiedlich kräftigen Linien und Flächen das Format, in diesem Fall die Metallplatte einer Radierung. Abge-
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sehen davon, den Künstler in seinen Anfängen beim Arbeiten nach der Natur kennenzulernen, ist bereits auffallend, dass zwar allgemeine Einflüsse von Vorbildern und Zeitstil erkennbar sind, jedoch kein Epigonentum im engeren Sinn ablesbar ist. Ende der 1950er Jahre beginnt Hans Funk sukzessive, die Technik der Tuschfederzeichnung zu bevorzugen. Obwohl er auch farbig aquarelliert (Taf. 4) und in Öl malt, wird gerade die Tuschfederzeichnung zu demjenigen Medium, mit dem er sich zeitlebens auseinandersetzt. So schreibt der mit Funk in persönlichem Gespräch stehende Kritiker Werner Schulze-
Abb. 2 Bildnis einer Frau, Kreide auf Papier, 1950, 503 × 380 mm, Privatbesitz
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Reimpell bereits 1967 (im Katalog zu Funks Bonner Ausstellung) erstmals: »[…] seit langem malt er nicht mehr, nicht einmal heimlich.« Funk arbeitet immer am Tisch, nicht vor dem Motiv, sondern mit Erinnerungen, Beobachtungen, Gedanken und Träumereien, in lockerem Gestus improvisatorisch komponierend, vom Kopf in die Hand auf das Blatt überführt. Zweifelsohne bedeutet das Medium der Zeichnung eine Entscheidung für eine Kunstform in größtmöglicher Intimität – sowohl des Schaffensprozesses wie auch der Rezeption. Dies vor einem Zeithintergrund, in dem die große Geste und das große Format die »Kammerformate« der Vorkriegszeit abzulösen beginnen. Ein »modischer« Künstler wird Hans Funk nie (siehe Brief Holzkamp, S. 18) sehr wohl aber ist er ein die Kunstszene genau reflektierender Künstler. Nachdem die Berliner Zeit hinter ihm liegt – Funk ist inzwischen verheiratet und in Lüneburg ins Berufsleben als Kunstlehrer eingetreten – wird ihm das Zeichenblatt zum Ereignisfeld, zur »Arena« und »Linien, Flecken und Flächen sind die Hauptakteure unendlich vieler möglicher Bildinszenierungen« (Text Hans Funk 1981, S. 46). Zunächst ist es eine Arena im Wortsinn für Figurinen, Objekte und Orte, die disproportional und ohne narrative Zwänge eine lebhafte Bildrhythmik erzeugen. (Taf. 2) Hier spiegelt sich sein Interesse am Theater, das mit einem studentischen Nebenjob als Kleindarsteller am Schillertheater Berlin begonnen hat. Zugleich löst sich die Formensprache in einem im weitesten Sinne von Picasso geprägten Zeitstil in die Abstraktion, vom Figürlichen (Taf. 3) zu phantastisch figurativen Konglomeraten (Taf. 4) und zu organisch assoziierten, abstrakten Formsequenzen (Taf. 5). Darüber hinaus dient die Linie nun nicht mehr allein der Formherstellung, sondern bringt ein immer reicheres Spektrum an selbstreferentiellem Ausdruck hervor. Diese »Tuschliniensprache« vermittelt Bewegung, Tempo und punktuell statische Momente, dürre Verläufe, knappe, kurzatmige Züge, weiche
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Schwünge, Verdunkelungen durch überlagernde Schraffuren oder auch durch »malerisch« breit auslaufende Farbsubstanz (Taf. 5). Ebenfalls mit Ende der 1950er Jahre entfaltet Hans Funk seine eigene künstlerische Sprache, beispielhaft in einem Blatt von 1959 zu betrachten (Taf. 6): Ein zu den Rändern offener Komplex, eine viel- und kleinteilige Flächenstruktur aus Kreisen, Ovalen, Segmenten, Winkeln und Bögen bringt in Komplementären aus fahrig kritzelnden und präzise deskriptiven Linienzügen Öffnungen und Verdichtungen hervor, die gleichermaßen abstrakt wie figürlich assoziativ Verschränkungen aus Köpfen, Armen, Brüsten und Gesäßen evozieren. Etwas ebenso leidenschaftlich wie spielerisch in offenen Prozessen sich Entwickelndes eignet nun seinem Schaffen, welches das idealistische Verständnis der Klassischen Moderne als Ausdruck unmittelbarer existentieller Selbsterfahrung nicht verlässt. Der von Jugend an mit Funk befreundete Psychologe und Gründer der Kritischen Psychologie Klaus Holzkamp erkennt die Qualität dieser Arbeiten und setzt sich erfolgreich für ihre Vermittlung ein (siehe Brief Holzkamp, S. 18). Er sondiert proaktiv den Kunstmarkt und protokolliert für Funk seine Gespräche mit Berliner Galeristen, dokumentiert ungefiltert deren Erstaunen und Neugier, Interesse an Entdeckungen, Trends, pekuniäre und Profilierungs-Abwägungen. Holzkamp kontaktiert die auf dem Sektor der Gegenwartskunst renommierten Galeristen Walter Schüler von der Kleinen Galerie, Dieter Ruckhaberle als damaligen Gründer der Freien Galerie (1963) und Dieter Barlen von der Galerie Siegmunds Hof. Funk wird von ihnen – auch mit Blick auf seine damaligen Ölgemälde – der abstrakten Nachkriegsmoderne zugeordnet und zum Beispiel mit Fritz Winter, Willi Baumeister, Theodor Werner oder Joan Mirò verglichen. Bald schon, in den Katalogtexten, werden Namen aus dem Umkreis des Informel immer relevanter; so ist bei Heinz Ohff in der Broschüre zu Funks erster Ausstellung in der Galerie Siegmunds Hof (Berlin 1965) bereits Bernard Schultze genannt. Offenbar legte
Abb. 3 Wols, ohne Titel, um 1942, Zeichnung, Privatsammlung
schon Walter Schüler eben diesem Bernard Schultze und seiner Frau am 9. September 1964 Zeichnungen Funks vor (»Kompetentere Leute für so was gibt es ja heute kaum.«) und bereits einen Tag später, am 10. September, protokolliert Holzkamp sein Telefongespräch mit Schüler: »Ja, also ich [Schüler] habe Schultzes die Blätter gestern Abend gezeigt. Deren Beurteilung ist eigentlich noch positiver als meine. Sie finden die Sachen äußerst bemerkenswert. Der Mann kann eben ungeheuer zeichnen. Sie sagten auch, dass der natürlich viel gesehen hat, ob er das nun zugeben will oder nicht. Der ist sehr beeindruckt von allem Möglichen. Aber das macht ja nichts. Er ist deswegen ja kein Epigone, sondern die Sachen sind eben wirklich gut.« Welch Kompliment aus berufenem Munde!
Als regelmäßiger Besucher der documenta-Ausstellungen von der ersten Stunde an erfährt Hans Funk sicher auch von der documenta II 1959 Anregung und Bestätigung. Die Kuratoren Bode und Haftmann (der 1967 privat eine Zeichnung Hans Funks erwirbt) breiten ein Panorama der internationalen Gegenwartskunst aus, ganz gezielt, wie heute besser bekannt, im Sinne westlicher Kulturpolitik: unter der Ägide der Abstraktion als »Weltsprache«. Das Informel als eine nach den traumatischen Kriegserlebnissen entstandene, feste Kompositionsregeln ablehnende und dem spontanen geistigen Impuls folgende Kunst, muss Funk besonders ansprechen. In den feingliedrigen Verschmelzungen von Biomorphem und psychischen Seismogrammen zeigt sich vor allem eine
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Abb. 4 Bernard Schultze, »Migof«Raum, 1963/ 64, Ausstellungsraum der documenta III, 1964
Verwandtschaft zu Wols. (Abb. 3) Funks Werke der 1960er Jahre weisen aber auch Vergleichbarkeiten zu den ebenfalls in der Ausstellung vertretenen Bernard Schultze und Richard Oehme auf, deren Quellen aus dem Surrealismus noch deutlich spürbar sind, sowie zu gestisch agierenden Künstlern wie Gerhard Hoehme oder Henri Michaux.
Metamorphosen und Phantasmagorien – die 1960er Jahre Auf der Zeichnung von 1960 (Taf. 8) schwebt ein Gestirn kleinteilig wuchernder Linienzüge, aus deren Chaos zu seinem abseits der rechnerischen Mitte gelegenen Zentrum hin Segmente, Scheiben und Röhren entwachsen, die ebenso organisch pflanzlich konnotiert sein können, wie sie auch jederzeit wieder in informelles Gekröse und Kritzeleien zurückfallen mögen:
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Metamorphosen aus Chaos und Formungen, Prozesse von Werden und Vergehen. (Taf. 8, Detail) In den beiden im Juli 1964 kurz hintereinander entstandenen Kreidezeichnungen (hier wechselt das Medium) (Taf. 12, 13) erschafft der Künstler aus zahllos wiederholtem, gleichförmig kurzem Duktus sensibel differenzierte, raumschwebende Dunkelheiten mit unregelmäßig runden Zentren und Durchlichtungen, die so morbide wie lebensvolle Assoziationen wecken. Möglicherweise führen ihn aufbrechende Traumata der Kriegszeit, die er als jugendlicher Flakhelfer erlitt, oder auch Erfahrungsbereiche von Sexualität zu solchen Arbeiten. Funk scheint hier seinem »Traum von einem Bild«, dessen Schichtungen »sich schließlich zu einer großen schwarzen Fläche verdichtet haben« (Text Hans Funk 1981, S. 46) besonders nahe. Mit dieser für sein Schaffen grundlegenden Imagination ruft er die Vorstellung vom Kunstwerk als einem sich bis zur Auslöschung erfüllenden Organismus hervor, der in seiner Vollendung verstummt, und erinnert darin an die Übermalungen Arnulf Rainers. Die weichen und kurzen Züge und Strichlagen ähneln dem Fluidum von Kaltnadelradierungen. Funk nennt einmal Rembrandt als kunstgeschichtliche Referenz, der ja mit kalter Nadel weiche und dunkle Tonqualitäten erzeugte, die »Licht« und »Finsternis« als »Leben« und »Tod« thematisieren. Dass Zeichnungen wie Druckgrafiken wirken und umgekehrt Druckgrafiken den Charakter der Zeichnungen annehmen, ist ein Phänomen, das sich bei Hans Funk immer wieder feststellen lässt. Zu Funks reichem Repertoire an Darstellungsmitteln, das ihn uns auch als Mensch näherzubringen scheint, gehört mitunter ein augenzwinkerndes Vexierspiel aus gegenständlich und ungegenständlich; gehören haarfeine, gehauchte Schleier aus Graunuancierungen, in die kleine Überraschungen wie einzelne Buchstaben und Rätsel eingewebt sind; und optische Verlockungen, die trotz nahansichtiger Betrachtung das Geheimnis ihrer Entstehung nicht
Abb. 5 Richard Oelze, Nachtzeit I, um 1949, Mischtechnik auf Leinwand, Sprengel Museum Hannover
preisgeben. Hans Funk bewegt den Betrachter: Unwillkürlich nähert sich das Auge dem Blatt, um Motive herauszulesen und (meist vergeblich) den Herstellungsprozess nachzuvollziehen, weicht aber auch wieder zurück, um das Ganze zu fassen. Die im schlanken Hochformat spindelartig schwebende Form, die Hans Funk am 19. Oktober 1964 signiert, stellt eine fortwährend sich wandelnde Metamorphose zwischen einer jugendlichen Tänzerin und einem losen organischen Formenkonglomerat dar (Taf. 14). Will man es greifen, verfängt sich der Blick in feinsten Sprühregenlinien, die zarte Schleier bilden oder das Blatt offenstehen lassen. Solche Gebilde assoziieren eine Wesensverwandtschaft zu den »Migofs« Bernard Schultzes. (Abb. 4) Beide Künstler sind wiederum Richard Oelze aus der Vätergeneration zu vergleichen. Die mitunter auch unheimliche Stimmung in einem Blatt (Taf. 10), das im ersten
Abb. 6 Robert Rauschenberg, Brace, 1962, Öl und Serigrafie auf Leinwand, Collection of the Robert and Jane Meyerhoff Modern Art Foundation
Moment zufällig wie eine Steinoberfläche erscheint, im nächsten aber Visionen von stürmenden Pferden evoziert, erinnert besonders an Oelze. (Abb. 5) Hans Funk findet an morbiden Oberflächen wie sonnenzerfressenen Postkarten oder verwittertem Gemäuer Inspirationsquellen für seine Werke. Er sammelt diesen Motivschatz besonders auf Reisen in Italien mittels Fotografien und empfindet sich Leonardos Aussage verbunden: »Ich sah schon in Wolken und auf Mauern (allgemeine) Flecken, die mich zu schönen Erfindungen verschiedener Dinge anregten« (Lionardo da Vinci, im Buch von der Malerei, zitiert nach Heinrich. Ludwig, Bd. 1, § 189, in den Quellenschriften für Kunstgeschichte von R. Eitelberger von Edelberg, Wien 1882). Wo mit spitzer Feder Phantasien zu Phantasmagorien mutieren (Taf. 21, 22), wo eine um die andere Blase neue Blasen und Felder voll skurriler Formen ge-
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biert, bringt sich eine andere Referenz der Kunstgeschichte in Erinnerung: Hieronymus Bosch. Ende der 60er Jahre ziehen Ordnungsimpulse in die Kompositionen ein, als Zeilen, in Kreisformen oder in Horizonten. Funks Besuch der documenta III 1964 mag das Eindringen von Geometrie- und PopElementen befördert haben. So konstituiert sich beispielsweise in einem Blatt von 1969 (Taf. 31) zwischen frei fluktuierenden Gedärmen und Organen ein Zeilenfeld mit diffus dunklem Grund, aus dem eine segmentierte Röhre nach vorne schwingt. Dort sitzt wie ein scheinbar gedrucktes Bild die rätselhafte Gestalt eines bärtigen Mannes mit einem Tuch über dem entblößten Knie. In selber Höhe und Größe wie die Öffnung der Röhre schweben in der Bildhorizontale weitere Kreise. Funk collagiert Zitate verschiedenster Wahrnehmungsebenen in seine Bildwelten. Er nimmt Impulse der Gegenwartskunst über Metaebenen der Reflexion auf, so dass die Quellen der Anregungen nicht leicht oder gar nicht mehr erkennbar sind. Vielleicht wecken unter anderem die Combine Paintings Rauschenbergs sein Interesse. (Abb. 6) Seit Mitte der 1960er Jahre legt sich Hans Funk zunehmend auf das Format von 90 × 62,5 cm fest, ab Ende der 1960er Jahre mit wenigen Ausnahmen im Hochformat.
Eine neue Strenge und komplexe Bildarchitekturen – die 1970er und 1980er Jahre Mit der Verwendung exakter Geometrien, die auch einer Inspiration durch die Minimal Art geschuldet sein mögen (bedeutende Vertreter der Primary Structures waren auf der documenta IV 1968 vertreten), gehen deutlicher gegliederte Kompositionen einher. Zugleich illusioniert Hans Funk mit schier unglaublicher Virtuosität Texturen: kalligraphische Zeilenstrukturen, die an Arabesken arabischer Schriftzeichen
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erinnern (Taf. 32–34), Holzmaserungen (Taf. 35), die erneut (wie im farbigen Frühwerk, Taf. 4) ein Echo des großen Surrealisten Max Ernst wachrufen, Schraffuren, die Pinselzüge suggerieren (Taf. 39), sowie erste Spritzer und Verwischungen (Taf. 37), die Motive des Spätwerks ankünden. Es ziehen architektonische Motive wie die eingangs beschriebenen Kuppeln aus der Sammlung G. (vgl. Abb. 1), Rasterstrukturen und überraschende Ortsbildungen aus divers strukturierten Feldern ein (vgl. Taf. 38 ff.) Mit kinematografischer Wucht und geradezu kalter Macht durchdringen und beherrschen geometrische Formen unendliche Horizonte und Gewebe zivilisatorischer Konstrukte (Taf. 49). Das Arbeiten in Werkgruppen, die immer neue Themen hervorbringen, zieht sich durch das gesamte Schaffen. In den 70er und 80er Jahren verstärkt sich Funks Interesse an Oberflächentexturen, das nicht nur persönlichen Vorlieben wie Mauern und Stoffen geschuldet ist, sondern auch im Dialog mit einer durch die Arte Povera und in Deutschland durch Beuys eingeführten Materialästhetik steht. Es geht um Lebensspuren, die den Dingen ihre brüchige Schönheit verleihen. Das Format der Zeichnung (Taf. 41) ist in eine größere obere Bildhälfte gegliedert und mittels eines wie ein Filmband durchlaufenden Streifens in eine schmalere untere. Das zentrale Hauptmotiv im oberen Feld enthält ein feinzeiliges Rechteck, in dem in einer Schräge aus einer Röhre ein Kopf in animalischen Formen über einem Würfel schwebt. In der unteren Bildpartie hängen Rechtecke wie flatternde Stoffe mit zerschlissenen Rändern. Stoffe, Metalle, Holz, Sand… – für Funk gibt es keine Grenzen der Evokation. 1976 stellt Werner Schulze-Reimpell in einer Reihe »Außenseiter der Kunstszene« in den Frankfurter Heften Mary Bauermeister, Hans Funk und Günter Haese vor und schreibt zusammenfassend über Funk: »Entsprechend dem ursprünglich utopischen Ansatz sind seine Arbeiten Visionen unserer Welt, Ausdruck eines
gleichermaßen bewussten und unbewussten Inneseins des großen Zusammenhangs.« 1981, zu einem Zeitpunkt, als Hans Funk ganz von beruflichen Pflichten vereinnahmt wird und bis zur Pensionierung 1990 kaum noch zum Zeichnen kommt, gibt er anlässlich einer Einzelausstellung während der Lüneburger Hochschulwoche über seine künstlerische Position Auskunft: »Warum ich mit Feder und schwarzer Tusche auf Papier zeichne« (S. 46). Hier paraphrasiert er sehr präzise verbal seine Schaffensimpulse: »[…] Gesehenes, Vorgestelltes, Erlebtes, Empfundenes, Dazugedachtes zum Zeichnen benutzen, nicht nur eine Idee zu verfolgen, Widersprüchliches nebeneinander zu stellen, Gegensätzliches miteinander zu verflechten […]«. 1990 kehrt – nun aber in großer Formung – der Körper zurück (Taf. 55). Gleich einem in sich gedrehten Torso durchstreckt er in aufragender Schräge das Format, gibt wie durchscheinend sein Inneres
preis und zeigt mit Tuschespritzern seine Verwundungen. Neue Horizonte gestischer Freiheit, neue Motive und malerische Qualitäten kündigen sich an. Ich hoffe, mich mit diesen aus der Position der Ekphrasis – des Beschreibens – gewonnenen ersten Erkenntnissen der in offenen Prozessen entwickelten und gegen Interpretationshoheiten sich widersetzenden Zeichenkunst Hans Funks von den 1950er Jahren bis 1990 angemessen genähert zu haben. Gottfried Boehm spricht in »Spur und Gespür. Archäologie der Zeichnung« von der »Anfänglichkeit [der Linie], die uns veranlasst, das graphische Geschehen in der Fläche auf Begriff und Phänomen der Spur zurück zu beziehen. […] Kurz gesagt geht es […] um eine Rückführung des zeichnerischen Prozesses in seiner Vielfältigkeit auf eine elementare ikonische Ebene, die gerade erst dabei ist, sich zu strukturieren, zwischen Unform und Form, aus Flecken, Texturen, Geschmier oder Gekritzel besteht.«
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Bildnachweis
Impressum
Martin Esche, Berlin: Taf. 1–80, Abb. 2, Frontispiz (Detail Taf. 59), Cover (Detail Taf. 66)
Lektorat: Rudolf Winterstein, München Layout und Satz: Rüdiger Kern, Berlin Druck und Bindung: Beltz Graphische Betriebe GmbH, Bad Langensalza
Archiv Tobias Funk: Abb. 9–10, 12; Briefe S. 18, 82, Fotos S. 117, Klappe vorne Archiv Felix Billeter: Abb. 7, 8, 13. Archiv Angelika Grepmair-Müller: Abb. 1, 3–6
Verlag: Deutscher Kunstverlag GmbH Berlin München Lützowstraße 33 10785 Berlin www.deutscherkunstverlag.de Ein Unternehmen der Walter de Gruyter GmbH Berlin Boston www.degruyter.com Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Deutscher Kunstverlag GmbH Berlin München © VG Bild-Kunst, Bonn 2022 für die Werke von Bernard Schultze und WOLS © Robert Rauschenberg Foundation/VG Bild-Kunst, Bonn 2022 für das Werk von Robert Rauschenberg ISBN 978-3-422-98759-3
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