Vorhangfall und poetische Ekstase

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Gudrun Inboden

Vorhangfall und poetische Ekstase


Gian Lorenzo Bernini, Cappella Paluzzi-Albertoni, 1673—1674/1675, Rom, San Francesco a Ripa, Teilansicht


Gudrun Inboden

Vorhangfall und poetische Ekstase Gian Lorenzo Berninis Cappella Paluzzi-Albertoni, Rom, San Francesco a Ripa



Inhalt

Vorwort 8

I Der Vorhang Das Vorhang-Parergon 11 – Die Vorhang-Metapher 20 – Das Vorhang-Velum 26 – Das Vorhang-Symbol 31 – Die Vorhang-Apotheose 40 – Das Vorhang-Ereignis 46 – Die Vorhang-Schwelle 51 – Der Proszeniums-Vorhang 54 – Der Vorhang-Fall 60 – Der Zwischen-Vorhang 61 – Der Vorhang des pien teatro di meraviglie 65

II Vorhang und Szenenwechsel Das pien teatro di meraviglie und die »Erregung des Gemüts« 73 – »Theatrum rhetoricum« und Ekstase – Die Verzückung der Hl. Teresa 79 – Metapher und Schönheit – Die Wahrheit 87

III Vorhang und Horizont der Transzendenz Symbol und Metaforico velo 95 – Velum und Repräsentation 101 – Vorhang-Fall und die neue Unendlichkeit – Brunos und »Ludovicas« Ekstase 105


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Inhalt

IV Vorhang und »Sturz des Bildes« Metapher und Anamorphose – Tesauros omnis in unum 111 – Metapher und Ähnlichkeit – Das Altarbild 119 – Vorhang als Hülle und das »Skulptur-Werden« der Malerei 126 – Vorhang-Metapher und Eucharistie 129

V Vorhang und ästhetische Erfahrung Zwischen-Vorhang und das non so chè di Divino 139 – Vorhang-Ereignis und die Autorität der Erfahrung 144 – Parergon und das Dazwischen der von Engeln getragenen Bilder 150

VI Vorhang-Fall und ekstatisches Über-sich-hinaus des Scheins Apotheose des »ordo artificialis« – »Ludovica« als »Konstruktion« 161 – Apotheose des Lichts und »Epiphanie des ästhetischen Augenblicks« 163

Nachwort 173

Bildnachweis 174


Die Kunstkritik hat nicht die Hülle zu heben, vielmehr durch deren genaueste Erkenntnis als Hülle erst zur wahren Anschauung des Schönen sich zu erheben. Walter Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften


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Vorwort Das Thema des Vorhangs stellte sich nicht erst mit Bernini. Es war lange vorbereitet und ergab sich aus der Frage nach der Aura in der zeitgenössischen Kunst. Der Begriff der Aura verband sich sehr bald mit dem Bild des Vorhangs. Als Sinnbild der Schwelle bezeichnet der Vorhang in den religiösen Werken der Kunst bis zum ausgehenden Mittelalter vorzugsweise die Grenzscheide zwischen der diesseitigen und der jenseitigen Welt. Bernini entdeckt ihn wieder. Es ist, um Walter Benjamins Überlegungen zum Zeitalter des Barock zu zitieren, die »Entdeckung einer Aktualität eines Phänomens als eines Repräsentanten vergessener Zusammenhänge der Offenbarung«I in einer Epoche, »der der unmittelbare Weg ins Jenseits versagt war«II. Die »Aktualität« des Vorhangs, der einmal das auratische Kunstwerk als Tor zur Wahrheit auszeichnete, besteht nun darin, nur mehr die »Spur« eines Vergessenen »festzuhalten« (Adorno)III. Der Vorhang ist kein Medium der Vermittlung mehr. Nicht länger für »die Erscheinung eines Fernen als Nähe« (Adorno)IV öffnet er sich, vielmehr für die dem Ingenium des Betrachters vorbehaltene Erfahrung ihrer Möglichkeit. Damit öffnet er sich vor dem »Refugium der Schönheit«V, vor einer »Cäsur« und »gegenrhythmischen Unterbrechung«, welche es Schein und Wesen »verwehrt, sich zu mischen«VI. Berninis Vorhang deutet den ehemals bruchlosen Übergang zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Schein und Wesen an, wenn er

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II III IV V VI

WALTER BENJAMIN, Ursprung des deutschen Trauerspiels. Erkenntniskritische Vorrede, in: WALTER BENJAMIN, Gesammelte Schriften, hg. v. ROLF TIEDEMANN u. HERMANN SCHWEPPENHÄUSER, Frankfurt a. M. 1980, Bd. I, 3, S. 936. Ders., Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Gesammelte Schriften (Anm. I), Bd. I, 1, S. 258 f. THEODOR W. ADORNO, Über Walter Benjamin, Frankfurt a. M. 1970, S. 160. Ders., Der getreue Korrepetitor. Lehrschriften zur musikalischen Praxis, Frankfurt a. M. 1963, S. 221. BENJAMIN, Ursprung des deutschen Trauerspiels (Anm. II), S. 211. Ders., Goethes Wahlverwandtschaften, in: Gesammelte Schriften (Anm. I), Bd. I, 1, S. 181.


Vorwort

ihn zugleich umdeutet zu jenem die Täuschung brechenden Augenblick der Ent-Täuschung, zum »Aufflammen«VII des schönen Scheins, der dem Werk die Illusion von Ausdruck versagt und seine Aura bewahrt. Es ist derselbe Moment, in welchem das Schöne in sein von der Erkenntnis nicht einzuholendes »Refugium« flieht, gefolgt, wie in Berninis Apoll und Daphne (1622–1625), von »Eros, nicht Verfolger, sondern als Liebender; dergestalt, daß die Schönheit um ihres Scheines willen immer beide flieht: den Verständigen aus Furcht und aus Angst den Liebenden. Und nur dieser kann es bezeugen, daß Wahrheit nicht Enthüllung ist, die das Geheimnis vernichtet, sondern Offenbarung, die ihm gerecht wird«VIII. Und nur diesem wächst gleich Apoll der Lorbeer zu. Der Vorhang Berninis enttäuscht die »Erwartung, dass sich da ein Bild einstellt«, wie Gerhard Richter – vielleicht mit Blick auf den Vorhang des Parrhasios – zu seinem Gemälde Großer Vorhang (1967) äußerte. Indem er, wie der Vorhang vor Spielbeginn auf der barocken Theaterbühne, fällt, weist er dem Schönen jenen Fluchtweg, über den es sich dem Anschein von Wahrheitsvermittlung, als welche Berninis Werk gern gesehen wird, entzieht. Anstatt vor einem »Bild«, das die Wahrheit »enthüllt«, fällt der Vorhang vor »der Spannweite von Immanenz und Transzendenz«IX und öffnet sich für den Augenblick ästhetischer Epiphanie, der es erlaubt, die »Spur« des vergessenen Göttlichen erinnernd »festzuhalten«.

VII VIII IX

Ders., Ursprung des deutschen Trauerspiels (Anm. II), S. 211. Ebd. Ebd., S. 359.

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I Vorhang

Cappella Paluzzi-Albertoni, Teilansicht


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I Der Vorhang Es war eine vollkommen verblüffende Überrumpelung, eine jähe Berührung der Nerven, die den Rücken hinunterschauerte, es war ein Wunder, eine Enthüllung, eine in ihrer Plötzlichkeit fast grausame Entschleierung, ein Vorhang, der zerreißt ... Thomas Mann, Luischen

Das Vorhang-Parergon Wenige Autoren haben der Draperie in Berninis Cappella Paluzzi-Albertoni (1673– 1674 /751) die Aufmerksamkeit gewidmet, die sie verdient. Vielen gibt sie ein Rätsel 1

Die neuere Forschung über Bernini (Neapel 1598—1680 Rom) bestätigt diese Datierung, die erstmals VALENTINO MARTINELLI, »Novità Berniniane«, in: Commentari. Rivista di critica e storia dell’arte, 1, Anno X, 1959, (S. 204—227), S. 221, vorschlug: So SHELLEY KAREN PERLOVE, Bernini and the Idealization of Death. The Blessed Ludovica Albertoni and the Altieri Chapel, The Pennsylvania State University and London 1990, S. 13; MARCELLO BELTRAMME, »G. L. Bernini a San Francesco a Ripa. Una rilettura per una nuova proposta tematica«, in: Studi Romani, Anno XLVI—NN. 1—2, Gennaio—Giugno 1998 (S. 29—59), S. 29; FEDERICA Di NAPOLI RAMPOLLA, »Cronologia delle ristrutturazioni della cappella della Beata Ludovica Albertoni a San Francesco a Ripa«, in: I beni culturali, Viterbo, 7. 1999, 2. (S. 41—45), S. 42 ff., wieder abgedruckt in: Gian Lorenzo Bernini, Regista del Barocco. I restauri, a cura di CLAUDIO STRINATI, MARIA GRAZIA BERNARDINI, Ginevra/Milano 1999, S. 97—110; MARCELLO BELTRAMME, »Un nuovo documento sull’officina biografica di Gian Lorenzo Bernini«, in: Studi Romani, Anno LIII—NN. 1—2, Gennaio—Giugno 2005 (S. 146—160), S. 147 f., Anm. 4, u. S. 157; KAREN J. LLOYD, »Baciccio’s Beata Ludovica Albertoni Distributing Alms«, in: The Getty Research Journal, 2. 2010, S. 1—18. Bis dahin war die Datierung unsicher: RUDOLF WITTKOWER, Gian Lorenzo Bernini. The Sculptor of the Roman Baroque, London 1955, hatte das Werk zwischen 1671 und 1674 angesiedelt und diese Entstehungszeit auch in der zweiten Auflage, 1966, S. 257 f., gegen MARTINELLI verteidigt. Zur ebenfalls strittigen Frage, ob das die Anna selbdritt darstellende Gemälde (242 × 133 cm) von dem mit Bernini befreundeten Giovanni Battista Gaulli, Il Baciccio (1639—1709), gleichzeitig mit Berninis Arbeit an der Marmorfigur oder erst nach deren Vollendung entstand, s. WITTKOWER, S. 258; MAURIZIO FAGIOLO DELL’ARCO, »Dagli interni al cosmo: le pale d’altare«, in: Giovan Battista


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I Der Vorhang

Gaulli. Il Baciccio. 1639—1709, a cura di MAURIZIO FAGIOLO DELL’ARCO, DIETER GRAF, FRANCESCO PETRUCCI, Ginevra/Milano 1999, S. 156; HEIDRUN ROSENBERG, ebd., S. 165 ff.; LLOYD, die die Richtigkeit der gleichzeitigen Datierung nachweist. Die Auftragsgeschichte stellt sich, zusammengefasst, wie folgt dar: Ludovica Albertoni (1473—1533), die nach dem Tod ihres Gatten Giacomo Della Cetera im Alter von 33 Jahren dem franziskanischen Tertiärorden an der Kirche S. Francesco a Ripa in Rom beigetreten war und deren Leben sich auszeichnete durch Mildtätigkeit, wurde in der seinerzeit von ihrem Schwiegervater gestifteten und dem Heiligen Kreuz geweihten kleinen, überkuppelten Kapelle begraben. Im Zuge der 1624 von Baldassarre Paluzzi Albertoni veranlassten (s. die auf der linken Wand dieses älteren Kapellenraums angebrachte Tafel) und bis 1626 von Giacomo Mola durchgeführten dekorativen Umgestaltung der nun der Hl. Anna geweihten Kapelle wurden die Gebeine der Ludovica in einen im Zentrum der Kapelle aufgestellten Sarkophag überführt, die Fresken in der Kuppel von Cristoforo Grippi ausgeführt (s. DI NAPOLI RAMPOLLA, S. 42) und die beiden den Altar flankierenden Fresken mit der Darstellung der Ludovica (ca. 1540) und der der Hl. Klara (um 1600: s. ebd., S. 44) von einer anderen Stelle der Kapelle oder Kirche an ihren jetzigen Ort transferiert; das Altarbild der Anna selbdritt von Gaspare Celio (heute verloren) kam anstelle des bis dahin dort befindlichen Kruzifixes 1631 neu hinzu (s. ebd., S. 43). 1671 wurde Ludovica Albertoni von Papst Clemens X. seliggesprochen. Dieser hatte, bevor er 1670 zum Papst gewählt wurde, als Kardinal Emilio Altieri drei Mitglieder der Familie Albertoni adoptiert, und von ihnen, genauer, von Angelo Paluzzi (s. BELTRAMME 1998, S. 29), erging 1673, spätestens im Dezember (s. ebd., S. 42), der Auftrag an Bernini, die Kapelle zur Ehre der Ludovica Albertoni zu verschönern (wie es das Testament seines Großvaters Baldassarre vorsah für den Fall, dass Ludovica seliggesprochen würde: S. BELTRAMME 1998, S. 29); um dieselbe Zeit muss Baciccio mit dem Gemälde der Anna selbdritt, das das Altarbild gleichen Themas von Celio ersetzte, beauftragt worden sein. FILIPPO BALDINUCCI, Vita del Cavaliere. Gio. Lorenzo Bernino, Firenze 1682, S. 130, spezifiziert Art und Zeitpunkt des Auftrags an Bernini nicht. Ende Januar 1675 war die Erneuerung der Kapelle abgeschlossen (s. BELTRAMME 2005, S. 147 f., Anm. 4) und hatten die sterblichen Überreste der Seligen Ludovica ihre letzte Ruhe in Berninis Sarkophag-Altar gefunden (am 17. Januar 1675: BELTRAMME 1998, S. 30, Anm. 2). Im Jahr 1701 wurde das von Bernini in Holz ausgeführte »Tuch« unterhalb der Liegefigur durch das analoge aus Marmor ersetzt (s. DI NAPOLI RAMPOLLA, S. 43 f.). Schon WITTKOWER, S. 257, zog den 1941 erstmals publizierten Avviso vom 17. Februar 1674, wonach Bernini im Rahmen eines Wettbewerbs angeboten habe, gratis ein Relief für die Kapelle zu liefern, als ernst zu nehmende Quelle in Zweifel; zuletzt hob BELTRAMME, 2005, S. 156 ff., die verleumderische Absicht des Dokuments und dessen Unglaubwürdigkeit hervor. Dass der Advokat und päpstliche Bibliothekar Carlo Cartari (von WITTKOWER, S. 257, noch verwechselt mit dem Schüler Berninis, Giulio Cartari; richtiggestellt von PERLOVE, S. 13 f., S. 55, Appendix III) in seinem Brief an den ältesten Sohn Berninis, Pier Filippo, vom 19. Oktober 1674 die Kapelle als »La Beata Ludovica« unter den aufgezählten, laufenden Arbeiten Berninis, — »il Tabernacolo«, »il Sepolcro d’Alessandro Settimo«, »et il Re di Francia« — figurieren lässt, führt BELTRAMME zum einen darauf zurück, dass die Familie der Albertoni-Altieri großen Wert legte auf die ausdrückliche Nennung ihrer Vorfahrin im Zusammenhang mit der päpstlichen, der Hl. Anna geweihten Kapelle, zum andern auf die Tatsache, dass hier einmal im Jahr, am 31. Januar, der Kult der Seligen Ludovica gefeiert werden durfte (s. BELTRAMME 2005, S. 148, Anm. 4; ders. 1998, S. 36), der 1671 vom Papst sanktioniert worden war (s. WITTKOWER, S. 257).


Das Vorhang-Parergon

auf2, die meisten verzichten darauf, ihr einen genauen Blick zu schenken, oder verweisen sie als herabgefallene »Bettdecke«3, als »Teppich«4 oder »Bahrtuch«5 in die Kategorie des Beiläufigen – und das, obgleich der Künstler diesem Detail farblich, formal und kompositorisch ein nicht zu übersehendes Gewicht verlieh. Dass die aus lebhaft geädertem, roten sizilianischen Jaspis gehauene Draperie auf die Schwelle der Altarnische »herabgefallen« sei, ist der überwiegende Eindruck, doch für die Mehrzahl der Deutungen ohne Konsequenz – wohl deshalb, weil in der Bewegtheit des Faltenwurfs dessen Bewegung nicht unterschieden wird. Die schwer und kostbar anmutende Stoffmasse ist nicht gefallen, sondern fällt. Ein kurzer Moment vielleicht nur, und sie bleibt liegen; doch vorerst ist sie aufgewühlt und von ihrem endgültigen Ruhezustand knapp entfernt. Die abgeflacht von rechts oben bis zur Mitte gleitende Falte schwebt, bevor sie sich absenkt, über der Raumschwelle, und dort, wo sie nach rechts zurückschwingt, hebt sie sich erneut durch eine Schattenfuge von ihr ab. Wie der mit bronzenen Fransen besetzte Saum sich nur widerstrebend dem Widerstand der Horizontalen fügt und die tiefen Faltenmulden und hohen, das Licht unruhig reflektierenden Stege im Herabfallen zögern, dem Gesetz der Gravitation zu gehorchen, gleicht die Draperie der an den Strand rollenden Woge, die aufsteht und kippt, um sogleich in unzähligen kleinen Wellen auf dem Meeres-

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S. u. a.: PERLOVE (Anm. 1), S. 16: »The coloured drapery beneath the statue is most irrational in its arrangement […]«; GIOVANNI CARERI, Voli d’amore. Architettura, pittura e scultura nel »bel composto« di Bernini (Paris 1990), Milano 2017, S. 102: »A parte la relazione che unisce le pieghe del drappo a quelle dell’abito, nessun elemento contestuale ci fornisce delle spiegazioni quanto alla sua natura o alla sua funzione.« Für NIGEL LLEWELLYN, »The Cardinal and the Nun. Their Sculptor and His Brother«, in: Art History, Vol. 15, No. 1, March 1992 (S. 111—115), S. 113, ist die Skulptur insgesamt »ambiguous in so many ways that it has resisted scholarly agreement about its meaning.« BELTRAMME 1998 (Anm. 1), S. 53, äußert sich zur »Draperie« so: »questo elemento decorativo è […] un dato, si direbbe, sfuggente e sempre contradditorio, impossibile da comprendere se non in virtù di una capacità intuitiva«. Einzig MAURIZIO und MARCELLO FAGIOLO DELL’ARCO, Bernini. Una introduzione al gran teatro del barocco, Roma 1967, S. 10, 69, 71 f., sehen in der Draperie das im Werk Berninis immer wiederkehrende Motiv des Vorhangs. So PERLOVE (Anm. 1), S. 30, unter Berufung auf FRANK H. SOMMER, »The Iconography of Action: Bernini’s Ludovica Abertone«, in: The Art Quarterly, Vol. XXXIII, No. 1, 1970 (S. 30—38), S. 35. S. HANS KAUFFMANN, Giovanni Lorenzo Bernini: Die figürlichen Kompositionen, Berlin 1970, S. 330 f. »drappo del catafalco«: GIAN LORENZO MELLINI, »Studi berniniani«, in: Labyrinthos 29/32 (XV—XVI), 1996—97 (S. 207—228), S. 227, Anm. 1.

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I Der Vorhang

boden fransig auszulaufen. Oft als »Katarakt«6 beschrieben, füllt die »Faltenkaskade«7 die gesamte Breite der Nische aus und beansprucht in der Höhe annähernd so viel Raum wie darüber die mit einem ähnlich bewegt gefalteten Gewand bekleidete Figur. Das darüber liest sich freilich gleichzeitig als ein dahinter. Sowohl Sockel unter der Skulptur als auch Schwelle vor dem Nischeneingang, ist die Draperie in ihrer räumlichen Position so ambivalent, wie zeitlich ihre Faltungen zwischen Vor- und Zurückspringen, zwischen Fallen und Ruhen oszillieren. Sowenig sie sich als Barriere zwischen altem und neuem Kapellenraum beschreiben lässt, sowenig dient sie einem Übergang. Kaum dass man meint, sie schranke die lichterfüllte, von Bernini geschaffene Erkernische vom halbdunklen Inneren des älteren Kapellenraumes ab, wird man gewärtig, dass ihre augenblickliche Fallbewegung die Anmutungen des Ver- und Aufschließens in der Schwebe hält. Sie verharrt an der Nischen-Rampe in der theatralischen Gebärde einer Öffnung, die zu nichts hinführt, da sie vor der eigentlichen Handlung schon das Geschehen selber ist. Vermeintlich auf die Bühne niedersinkend, um alle Zeit und allen Raum der nachfolgenden Aufführung zu geben, hält sich die Draperie im Vorfeld ihres Liegenbleibens bei sich selber auf und vereitelt den doch zugleich signalisierten Spielbeginn. Was sich ereignet, ist der ihr eigene Moment des Fallens und Sich-Öffnens, in welchem sie sich als Schwelle ohne Übergang, als bloßes Intervall manifestiert. Den flüchtigen Zeitraum dieses Schwellen-Intervalls säumen die eilig kaum erst den Grund berührenden Fransen, vergleichbar der schäumenden Brandung, die das Strandgut fortlaufend anschwemmt und zurücknimmt, bevor sie es endlich stranden lässt. Und doch: Als öffne sich die Jaspis-Woge auf ein Worauf hin, scheint die Liegefigur darüber/dahinter auch in das offene Schwellen-Intervall eintreten, es ausfüllen und mit Sinn füllen zu wollen – wäre da nicht ihre eigene Bewegung, die dem Impuls der Draperie zu folgen scheint. Nahezu körperlos, überlässt die Selige Ludovica es den Faltenbäuschen des Gewandes, ihre momentane, innere Unruhe zu modulieren. Mit halb geschlossenen Augen und halb geöffnetem Mund und auch sonst mit nur halben Gesten gibt sie, wie davon mitgerissen, der Fallbewegung der Draperie niedersinkend nach. Wie sie den Kopf auf das Kissen zurückfallen lässt, ohne es einzu-

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ALDOUS HUXLEY, Variations on a Baroque Tomb: Themes and Variations, London/Toronto 1950, S. 170. SOMMER (Anm. 3), S. 35.


Das Vorhang-Parergon

drücken – so verrät es die tiefe Hohlfalte in ihrem Schleier –, wie sie soeben in tiefer Ergriffenheit mit den Händen die Körpermitte umfasst, wie sie das linke, angewinkelte Bein noch nicht oder nicht länger auf die Matratze aufstützt, will sie das dynamische Schweben der Draperie allem Anschein nach nur personifizieren, indem sie ihm eine Seele verleiht. Auch sie enttäuscht die Erwartung des Betrachters, Zeuge einer Darbietung zu sein. Unbestimmt bleiben Anlass und Gegenstand des Affekts, der die Figur erregt, so unbestimmt wie auch der Zeitraum, in dem er sich ereignet. Die Figur bewegt sich in einem Dazwischen, das sie eher erzeugt als ausfüllt. Ihr und, etwas abgeschwächt, den zuseiten des Gemäldes schwebenden Cherubim gilt das Licht der Kapelle, aber auch, vom Jaspis freilich absorbiert, den Faltungen der Draperie sowie der Mensa. Allein im weißen Marmor der Liegenden erreicht das Licht den Höhepunkt seiner Leuchtkraft. Obgleich es offensichtlich das mit dem Umlauf der Sonne seine Intensität variierende Tageslicht ist, bleibt seine Quelle verborgen und ist so undefinierbar wie der Grund der Erregung der Figur, ja, das Licht selbst ist die Quelle des lebhaften Wechselspiels zwischen Hell und Dunkel in den Gewandfalten.8 Dass es die Affekt-Bewegung der Seligen artikuliere, trifft daher ebenso zu wie, dass umgekehrt die Figur die Licht-Bewegung artikuliert. Das wandernde Licht schwebt in der Skulptur wie die Skulptur in ihm.

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Ursprünglich gab es in den beiden seitlichen Wänden des den Grundriss der alten Kapelle erweiternden Anbaus je ein für den Betrachter nicht sichtbares Fenster; das östliche wurde im Jahr 1701 zugemauert. S. DI NAPOLI RAMPOLLA (Anm. 1), S. 43 f. (in: STRINATI/BERNARDINI [Anm. 1], S. 98). Für KAUFFMANN (Anm. 4), S. 331, lässt Berninis Studie zur Figur der Ludovica (Museum der bildenden Künste Leipzig, Inv.-Nr.: NI. 7813 v, Kat. Bernini. Erfinder des barocken Rom, Museum der bildenden Künste Leipzig, hg. v. HANS-WERNER SCHMIDT, SEBASTIAN SCHÜTZE u. JEANNETTE STOSCHEK, Bielefeld/Berlin 2014, S. 321) keinen Zweifel, dass bereits »der Zeichner mit einem Lichteinfall vom Kopfende her hat rechnen können.« Für FRANK FEHRENBACH, »Bernini’s light«, in: Art History, Vol. 28, No. 1, Februar 2005 (S. 1—42), S. 38, Anm. 107, legt auch die Zeichnung Leipzig, Inv.-Nr.: NI. 7850 die Vermutung nahe, der Künstler habe von Anfang an beabsichtigt, das Westfenster die dominante Rolle in der Lichtführung spielen zu lassen; jedoch ist zu bezweifeln, ob es sich dabei, wie unten (Anm. 473) dargelegt, um eine Studie zur Cappella Paluzzi-Albertoni handelt. Zur Federzeichnung des Gewandes (Leipzig, Inv.-Nr.: NI. 7813 v) s. auch: CLAUDE DOUGLAS DICKERSON III, ANTHONY SIGEL, IAN WARDROPPER, Bernini. Sculpting in Clay, The Metropolitan Museum of Art, New York 2012, S. 42 ff., Farbabb. S. 45, Fig. 54. Das rundbogige Westfenster ist wandfüllend und setzt auf der Höhe des Bildrahmens an. Eine ähnliche Lösung findet sich bereits in der Cappella Raimondi (1. Hälfte der 1640er-Jahre) für das Relief mit der Darstellung der Ekstase des Heiligen Franziskus in S. Pietro in Montorio, Rom: Auch hier fällt das Licht von links oben.

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I Der Vorhang

Indem sie es vermeidet, dem Fokus eines Woher und Woraufhin Genüge zu tun, versagt sich die Figur, unterstützt vom Fehlen einer Lichtperspektive, den Regeln traditioneller, ausschnitthafter Bildkomposition. Dies fällt umso mehr ins Auge, als die Voraussetzungen dafür im Vorraum der Kapellennische geradezu modellhaft angelegt sind. Präzis gezeichnete, die räumliche Tiefe optisch beschleunigende Konstruktionslinien streben über die schrägen Wandstücke der Kapelle schnurgerade auf den Fluchtpunkt eines Illusionsraums, der virtuellen Stätte des darzustellenden Bildgeschehens, zu. Dem Anschein nach gibt es diese Stätte: Es ist der Landschaftsraum der Anna selbdritt von Giovanni Battista Gaulli9. In ihn führt das ›Gewände‹ der Nische scheinbar ungehindert zentralperspektivisch hinein, und dies umso überzeugender, als der Bogen, den es trägt, im halbrunden Abschluss des Gemäldes seine Entsprechung findet, so, als ob beide, Kapellenbogen und Bild, über eine bestimmte Entfernung hinweg wie die Öffnungen eines Tunnels in einer direkten räumlichen Verbindung stünden. Doch tatsächlich läuft die Perspektive des Kapellenraums ins Leere: Sogleich am Nischeneingang stellt sich ihr der neue, quer gelagerte Raum der Ludovica entgegen, und nur noch virtuell setzt sie sich bis in den Bildraum fort. Aus der Welt der »Fenster-Ausschnitte« nimmt sich die Licht-Figur heraus. Inmitten des kontinuierlichen Raumgefüges ihrer welthaltig farbigen Umgebung schafft sie sich einen eigenen Raum, der nicht von dieser Welt ist. Anstatt im Fluchtpunkt erscheint sie im Brennpunkt der Kapelle und überstrahlt aus dieser selbstbestimmten Mitte heraus in reinem, noch nicht in sein Farbspektrum zerlegten Licht die architektonische, bildliche und – um das vorwegzunehmen – theologische Rahmenordnung. In der Erregung darüber, aus dem vertrauten (Bild- und Welt-)Ganzen augenblicklich auszuscheren, kehrt Ludovica – und mit ihr der Betrachter der Kapelle – den Blick gleichsam bewusstlos von ihm ab und einer anderen, nicht sichtbaren Welt, wie davon geblendet, zu. Beide wüssten in diesem Moment der Aufforderung von Shakespeares Prospero »Zieh deiner Augen Fransenvorhang auf und sag, was siehst du dort?« nicht befriedigend nachzukommen. Wo die Renaissance den Akt der Wahrnehmung zugleich als Frage nach dem »was« verstand, zögert der Fransenvorhang der Kapelle mit dem Moment des Fallens auch die 9

S. Anm. 1.


Das Vorhang-Parergon

Aussage dazu, was denn nun zu sehen sei, hinaus. In der anhaltend angehaltenen Bewegung seines Falls verzögert und erweitert sich der Zeitraum seines ›Lidschlags‹ zu demselben Intervall, das sich zwischen die Augenlider der Ludovica schiebt und dessen suspense sich wie ein Schleier vor den Blick auf etwas Bestimmtes zieht. Die Draperie ist der Fransenvorhang vor dem Auge der Kapellennische und sein Fallen dessen Lidschlag. Eingetreten in dieses Intervall, das dem Auge die äußere Erkenntnis vorenthält, es gar im Halbdunkel des Vorraums halb verschließt vor der gleißenden Helle im Inneren der Nische, hält der Betrachter sekundenlang den Atem an, jenen Atem, der nötig wäre, um die Frage nach dem »was« zu tun. Bevor diese Frage sich aufdrängen kann, bleibt der Betrachter verhaftet im suspense eines virtuellen Sehens, das sich anstatt in einem Gegenstand in unmittelbarer Erfahrung ›objektiviert‹. Das Sehen wird zu Erfahrung im Jetzt-Moment der Fallbewegung. Die Draperie spielt mit der charakteristischen Dialektik der Schwelle, die sie, zwischen beiden Raumteilen herabfallend, ausdrücklich markiert, um freilich im nächsten Moment jegliche Ähnlichkeit mit einer Schwelle zu leugnen. Wo diese für denjenigen, der sich, um sie zu überschreiten, ihr zunächst nähert und sich sodann über sie hinweg von ihr entfernt, ihren Sinn nur innerhalb eines kontinuierlichen Zeitraums erfüllt, sprengt die Jaspis-Schranke in ihrer zeit-räumlichen Ambivalenz des vorher/nachher beziehungsweise davor/dahinter den für einen Übergang notwendigen Rahmen. Ebenso wenig vermittelt sie zwischen dem Sehen und der Antwort auf die Frage: »Was siehst du dort?«; ja, der Erwartung, dass eins aus dem anderen hervorgehen müsse, stellt sich das Ereignis-Intervall des Fallens und ohnmächtigen Niedersinkens unmittelbar in den Weg. Indem es die Logik von Zeit und Raum suspendiert, reißt es auch in den Prozess der logischen Begriffsbildung eine Lücke. Bevor sich der Betrachter vom Bild der Ludovica einen Begriff machen kann, hält diese Lücke es im »Vorfeld der Unbegreiflichkeit«10 »in einem Augenblick« von Rätselhaftigkeit »gebannt«11. In einem emphatisch erfahrenen Jetzt zerspringt am Horizont der sinnlichen Wahrnehmung, wie am Wellenkamm der Draperie, die Kette begrifflicher Differenzierung, um in einzelnen,

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HANS BLUMENBERG, Theorie der Unbegrifflichkeit. Aus dem Nachlaß hg. v. ANSELM HAVERKAMP, Frankfurt a. M. 2007, S. 51. WALTER BENJAMIN, Goethes Wahlverwandtschaften, in: WALTER BENJAMIN, Gesammelte Schriften, hg. v. ROLF TIEDEMANN u. HERMANN SCHWEPPENHÄUSER, Bd. I, 1, Frankfurt a. M. 1980, S. 181.

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I Der Vorhang

stummen Gliedern abzustürzen in das grenzenlose Falten-Meer des »Ausdruckslosen«12 oder, wie in der Figur der Ludovica, zu stranden im Affekt. Der Vorhang, als welchen wir die Draperie fortan bezeichnen wollen – und, wie zu zeigen sein wird, bezeichnen müssen –, erfüllt in der an ihm zu beobachtenden Dramaturgie auf vollendete Weise die Kriterien dessen, was man text- und bildkritisch ein Parergon nennt. Danach hat unser Fransenvorhang zunächst ganz allgemein die Bedeutung eines Beiwerks, und niemanden, der ihn nur eben nebenher – als Marginalie – behandelt, kann daher im strengen Sinne ein Vorwurf treffen, wenngleich vor allem die Malerei des 17. Jahrhunderts solchen Marginalien eine erhöhte Beachtung schenkt und dies der Kunstwissenschaft, wie Victor I. Stoichita13 ausführlich belegt, auch keineswegs entgangen ist. Wenn man sich dazu bewusst hält, dass die barocke Kunsttheorie auf der Rhetorik der Antike fußt und aus ihr den Begriff des parergon übernimmt, muss man auch dem Beiwerk eine Rede unterstellen und nach seiner rhetorisch anspielungsreichen Rolle als concetto fragen. Dass die kunstvolle Rede mit unauflösbaren, ein affektives Verstehen stimulierenden Widersprüchen nicht geizen darf, bringt das Parergon gleichsam auf eine Formel: Wie es als »Beiwerk« zum Werk (= ergon) gehört, so steht es ihm zugleich auch entgegen (= para). Berninis Vorhang fällt vor dem neuen und hinter dem älteren Kapellenraum, also zwischen beiden nieder; seine »Zugehörigkeit« zum Werk ist ambivalent; einerseits als Bindeglied Teil des Raumgefüges, andererseits ein autonomer Störfaktor des Raumkontinuums, »kooperiert« der Vorhang im Sinne des Parergons, wie Jacques Derrida es definiert, mit dem Werk und steht ihm entgegen, »von einem gewissen Außen her, innerhalb der Operation. Weder einfach draußen, noch einfach drinnen.«14

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Ebd.: »Das Ausdruckslose ist die kritische Gewalt, welche Schein vom Wesen in der Kunst zwar zu trennen nicht vermag, aber ihnen verwehrt, sich zu mischen.« Zum »emphatischen Jetzt« bei Benjamin s. MARLEEN STOESSEL, Aura. Das vergessene Menschliche. Zu Sprache und Erfahrung bei Walter Benjamin, München/Wien 1983, S. 47. VICTOR I. STOICHITA, Das selbstbewußte Bild. Vom Ursprung der Metamalerei, München 1998 (Paris 1993). JACQUES DERRIDA, La vérité en peinture, Paris 1978, S. 63; übersetzt in: STOICHITA (Anm. 13), S. 39.


Das Vorhang-Parergon

Da der Vorhang am Rande liegt und als Randfigur so wenig eine ›Rolle‹ spielt, dass sich die Frage, was er darstellt, ja, ob er überhaupt etwas darstellt, erübrigen möchte, übersieht man leicht, dass er in seiner Exzentrik – als einziges dynamisches Element aus dem architektonischen Gesamtsystem heraus-fallend – von außen das Werk in dessen Mitte »berührt«15. So nimmt man den Vorhang gern nur beiläufig wie eine nebensächliche Randverzierung, einen dekorativen Überschuss oder wie eine anekdotische Ausschmückung des Dargestellten wahr. Doch sein eigentümliches Dazwischen – seine scheinbar selbstgenügsame Bewegung außerhalb des Geschehens und seine zugleich nach innen, ins Herz der Kapelle, drängende Schubkraft, die sich in dem nach vorn fallenden Gedränge seiner Falten sowie, als deren rätselhaftes Echo, im Gewand der Ludovica abzeichnet – weist den Vorhang unmissverständlich als Parergon aus. Er fällt auf die Schwelle zwischen den Räumen, verdeckt und verwischt sie, wie die Flut, die, kaum dass sie die Grenzlinie zwischen Wasser und Land in den Sand zeichnete, diese selbst schon überspült, verschiebt und sich hinter ihrer verlorenen Spur wieder zurückzieht. Seine im Fallen sich stauenden und überwerfenden Falten destabilisieren und entwerten die Zone des Übergangs und dehnen das, was jene ›übergeht‹, das Dazwischen, zu einem raum-zeitlichen Moment aus, in welchem alles – auch der Übergang selbst – in der Schwebe bleibt. Aus einem solchermaßen unbestimmt erweiterten, ›dritten‹ Raum heraus, einem Raum ohne davor und dahinter, der in einem ekstatischen Moment, einem Moment ohne vorher und nachher, »von einem gewissen Außen her« in das ergon hineinwirkt, agiert der Vorhang an der Schwelle des Durchbruchs zwischen beiden Kapellensegmenten, man möchte sagen, subversiv: Dem Werk äußerlich, operiert das Vorhang-Parergon doch innerhalb des Werks autonom. An der Schwelle, aber nicht als diese selbst und auch nicht als Grenze oder »Schirm, der als durchlässige Membran zwischen dem Innen und dem Außen dient« und »ihre Verschmelzung« bewerkstelligt16, entfaltet die Vorhangbewegung eine eben solcher Verschmelzung entgegenwirkende sowie Grenze, Schirm und Membran sprengende Kraft. Das Ereignis des Vorhangfalls ist das Gegenteil eines Brückenschlags.17 15 16

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Ebd. J. HILLIS MILLER, Deconstruction and Criticism, New York 1979, S. 219, übersetzt in STOICHITA (Anm. 13), S. 39. In der Literatur wird die »Draperie« gern als »Bindeglied« gesehen: so von HOWARD HIBBARD, Bernini, Harmondsworth/Ringwood 1965, S. 220, wonach die »Draperie« zwischen der Vision der Ludo-

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I Der Vorhang

Die Vorhang-Metapher Mit dem der Rhetorik eigentümlichen, emphatischen, »in einem Augenblick gebannten« Rede-Gestus führt sich das Paradigma des Ver- und Enthüllens – der Vorhang – unmissverständlich als Figur der Metapher mit der für sie charakteristischen Sprengkraft in den traditionellen Kontext der Kapelle ein. Wie die Metapher die Logizität von Rede und Verstehen aufbricht und die Bruchstelle ausweitet zu einem übergangslosen Dazwischen, wie sie diesen unbegrenzten Raum verselbständigt und für die Produktion eines semantischen Potenzials aus poetischen Bildern öffnet, so scheidet der in die Mitte der Kapelle niederstürzende Vorhang einen Intervallraum aus, in welchem die über dem Altar enthüllte Liegende wie in eine undefinierbare Sphäre entrückt und von ebenso undefinierbarem Licht wie in ein Geheimnis gehüllt erscheint. Diese Sphäre und dieses Licht ersetzen das sonst ein Altarbild erklärende Umfeld ikonografischer Denotation. Eine Aura des Ausdruckslosen erfüllt den Kapellenraum und umgibt, verdichtet in der unspezifischen, ja mehrdeutigen Hülle des Gewandes, die Figur. Mantel und Schleier kommen als Attribute der »Seligen Ludovica« wie auch der »Heiligen Anna«18 in Betracht, der die Kapelle seit dem Umbau durch Giacomo Mola geweiht19 und der das Altargemälde von Giovanni Battista Gaulli gewidmet ist. Diese äußere Hülle ist der Figur so äußerlich, wie sie, ohne sie verständlich zu machen, deren innere Bewegung nur spiegelt. Und sie ist ihr um so äußerlicher, als sie sich im Vorhang, der aus dem gängigen Altar-Schema herausfällt, als Replik verdoppelt und veräußerlicht wiederfindet. Solchermaßen vom

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vica und unserer Welt eine Verbindung schaffe, und von WITTKOWER (Anm. 1), S. 258, der sie als »tangible link« zwischen Kapelle und Figur bezeichnet. In einem späteren Aufsatz freilich scheint sie für HIBBARD die Figur der Ludovica vom Mysterium der Heiligen Messe zu trennen: »Ludovica Albertoni: l’arte e la vita«, in: Gian Lorenzo Bernini e le arti visive, a cura di MARCELLO FAGIOLO, Roma 1987 (S. 149—161), S. 156. MARCELLO BELTRAMME1998 (Anm. 1), hat in überzeugender Weise eine Deutung der Liegefigur als Hl. Anna zur Diskussion gestellt. S. Anm. 1. Herkömmlicherweise ist die »Hauptfunktion des Altarbildes«, anzuzeigen, »wem der Altar geweiht ist«: CHRISTIAN HECHT »Das Bild am Altar: Altarbild-Einsatzbild und Rahmenbild-Vorsatzbild«, in: HANS KÖRNER, KURT MÖSENEDER (Hg.), Format und Rahmen vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Berlin 2008 (S. 127—143), S. 131.


Die Vorhang-Metapher

Cappella Paluzzi-Albertoni

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Impressum Umschlagabbildung: Gian Lorenzo Bernini, Cappella Paluzzi-Albertoni, 1673—1674/1675, Rom, San Francesco a Ripa, Teilansicht Lektorat: Andrea Schaller, Leipzig Layout, Satz und Bildbearbeitung: TypoGraphik Anette Bernbeck, Gelnhausen Druck und Bindung: optimal media GmbH, Röbel/Müritz Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Deutscher Kunstverlag GmbH Berlin München Lützowstraße 33, 10785 Berlin Ein Unternehmen der Walter de Gruyter GmbH Berlin Boston www.deutscherkunstverlag.de www.degruyter.com ISBN 978-3-422-98316-8


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