Wasser im Jugendstil
HEILSBRINGER UND TODESSCHLUND
Herausgegeben von Peter Forster für das Museum Wiesbaden
Inhalt
FRANK THIELMANN
Die Brunnen als Herz des Sprudelhofes
DIE PLANERISCHE UND BAULICHE ENTWICKLUNG DER SPRUDELUMBAUUNGEN
108
»Und immer wieder das Wasser« BAD NAUHEIM ALS MUSTERBEISPIEL HESSISCHEN JUGENDSTILS 118 CHRISTINA USLULAR-THIELE
Von der Natur inspiriert UND BILD IN DER ZEIT DES JUGENDSTILS 130
LEA SCHÄFER
VÉRONIQUE DUMAS
WASSER IN MUSIK
Vom Mythos zum Symbol
DAS THEMA WASSER IM SCHAFFEN VON ALPHONSE OSBERT AM BEISPIEL DER THERMALEINRICHTUNG ERSTER KLASSE ANDREAS HENNING, PETER FORSTER Wasser im Jugendstil Heilsbringer und Todesschlund EINE EINFÜHRUNG 8
IN VICHY (1903–1904)
146
Wasser MYTHOS ZWISCHEN HEILSBRINGER UND TODESSCHLUND 154
PETER FORSTER
Geleitwort 15
MARTIN HOERNES
FRITZ GELLER-GRIMM
Wasser als Reformer
PETER FORSTER
16
Die Spur des Wassers WASSER IN DER KUNST
INGEBORG BECKER UM 1900
der Ozeane 176
ZU KÜNSTLERISCHEN
ASPEKTEN DER WASSERDARSTELLUNG INNERHALB DER LEBENSREFORM
Ernst Haeckels Beitrag zur Kenntnis
BARBARA GROTKAMP-SCHEPERS
Bestecke 186
34 CHRISTINA USLULAR-THIELE
THOMAS MOSER
Das Aquarium als Paradigma 44
Achtarmiger Liebhaber oder fesselnde Femme fatale? ZUR AMBIGEN GESCHLECHTLICHKEIT DES KRAKEN IN KUNST UND LITERATUR DER BELLE ÉPOQUE 58
JANA DENNHARD
THOMAS MOSER
Im Rausch der Farbe GLÄSERNE TRAUMWELTEN DER SEE 216
HANS CHRISTIANSENS
LITERARISCHE WASSERMOTIVE
ZWISCHEN SYMBOLISMUS UND JUGENDSTIL
72
JANA DENNHARD
Dialog und Konfrontation
DARSTELLUNGEN FRITZ ERLERS UND PAUL QUINSACS NIKOLAS WERNER JACOBS
Schönheit
DIE OPHELIA-
222
Uralte Heilkraft – Ewigjunge
DAS WASSER, DER JUGENDSTIL UND DIE WELTKURSTADT:
ZU EINEM AMBIVALENTEN VERHÄLTNIS IM WIESBADEN DES FRÜHEN 20. JAHRHUNDERTS
Wasserdarstellungen in der Textilkunst des Jugendstils 226
JANA DENNHARD
80
Friedrich Zitzmann WIESBADENS »HIDDEN CHAMPION« DER GLASKUNST 96
EDWIN BECKER
Georges de Feure 228
EDWIN BECKER
Wilhelm List 230
NIKOLAS WERNER JACOBS
HUBERTUS KOHLE
204
Arnold Henslers Wasserschöpferin und Georg Kolbes Badende FÜR DIE REISINGER-ANLAGE IN WIESBADEN 210 NIKOLAS WERNER JACOBS
Kräfteflüsse
DER SPRUDELHOF
ÉMILE GALLÉ
IM SOG MEERESBIOLOGISCHER EMPIRIE
ADRIAN RENNER
Bad Nauheim
Wasserfreuden für das Volk
DAS MÜLLER’SCHE
VOLKSBAD IN MÜNCHEN UND DIE VOLKSBADBEWEGUNG
102
Abenteuer zur See SPITZBERGENEXPEDITION 232
JANA DENNHARD
DIE GESCHEITERTE
Wasser, Wogen, Wellenbänder FARBHOLZSCHNITTE DES JUGENDSTILS 234 BERND SCHÄFER
Peter Behrens’ Spiel mit der Linie 246
JANA DENNHARD
NICO KIRCHBERGER
Carl Strathmanns »fabelhafte Kunst« 250
Von Angesicht zu Angesicht 254
JANA DENNHARD UND DAS WEIB
Frösche, Lurche, Fische IM WERK VON THEO SCHMUZ-BAUDISS 332 SIMON HÄUSER
THERESA NISTERS
WASSERLEBEWESEN
Keramik aus Böhmen und Ungarn 336
Der Karpfen als Motiv im Art Nouveau 344
SIMON HÄUSER
ERNST STÖHR
»Wiesbaden im Sommer der kühlende Born« WERBEFOTOGRAFIEN ZUM THEMA BADEN VON PAUL WOLFF 258
Vasen der Glasmanufaktur Johann Lötz Witwe 352
THERESA NISTERS
KRISTINA LEMKE
Taufgeräte von Ernst Riegel 262
DÖRTE FOLKERS
WOLFGANG GLÜBER
Jugendstilschmuck 264 Fliesen zum Thema Wasser 272
THOMAS RABENAU
THERESA NISTERS
Innovation und Retrospektive
KÜNSTLERISCHE FAYENCE UND STEINZEUG AUS FRANKREICH
360
Mystische Wasserdarstellungen und technische Innovationen DER KÖNIGLICHEN PORZELLAN-MANUFAKTUR BERLIN 368 SIMON HÄUSER
SIMON HÄUSER
Die geschwungene Linie
MÜNCHNER JUGENDSTIL VON HERMANN GRADL D. Ä.
Leben unter Wasser GERRIT WILLEM DIJSSELHOFS 292 JANA DENNHARD
CHRISTIAN LECHELT
CHRISTIAN LECHELT
DIE AQUARIENMALEREI
UND FRIEDRICH ADLER
372
THERESA NISTERS
Alexandre-Louis Marie Charpentier 376
THERESA NISTERS
Émile Gallé 380
Max Esser 296 Kai Nielsen 298
THOMAS MOSER
Louis Chalon 300
Clément Massiers Lüsterkeramik des Art Nouveau 384
THOMAS MOSER
Rudolf Bosselt 302
SIMON HÄUSER
THERESA NISTERS
Drei prächtige Einzelstücke aus dem Kaiser-Friedrich-Bad 304
Fischplastiken der Königlichen Porzellanmanufaktur Kopenhagen 386
NIKOLAS WERNER JACOBS
MARKUS BERTSCH
JOACHIM KERN
Max Klinger 308
Badende 312
Das Wassermotiv in der Plakatkunst des Jugendstils 314
ELENA TARAZI
Sophie Burger-Hartmann und Ludwig Habich FÜR DIE VEREINIGTEN WERKSTÄTTEN FÜR KUNST IM HANDWERK 390
SIMON HÄUSER
THERESA NISTERS
SIMON HÄUSER
394
Skandinavische Porzellangefäße 318
Zwei Zierschalen der Königlichen Porzellan-Manufaktur Meissen 328
SIMON HÄUSER
Die poetische Belebung des Wassers
IN PLASTIKEN DER KÖNIGLICHEN PORZELLANMANUFAKTUR KOPENHAGEN
THERESA NISTERS
François-Emile Décorchemont 392
Impressum 398 Bild- und Fotonachweis 400
Wasser im Jugendstil – Heilsbringer und Todesschlund EINE EINFÜHRUNG
Charles Baudelaire Der Mensch und das Meer Freier mensch! Das meer ist dir teuer allzeit · Es ist dein Spiegel · das meer · du kannst dich beschauen In seiner wellen unendlichem rollendem grauen · In deinem geist ist ein abgrund nicht minder weit. Gerne versenkest du dich tief in dein bild · Ziehst es an dich mit auge und hand – deine sinne Halten manchmal im eigenen tosen inne Bei dem geräusch dieser klage unzähmbar und wild. Beide lebt ihr in finstrer und heimlicher flucht. Mensch noch sind unerforscht deine innersten gründe! Meer noch sind unentdeckt deine kostbarsten schlünde! Euer geheimnis bewahrt ihr mit eifersucht. Und seit unzähligen jahren rollet ihr weiter Ohne mitleid ohne reuegefühl · So sehr liebet ihr das blut und totengewühl – Unversöhnliche brüder! Ewige streiter! Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen Umdichtungen von Stefan George, Berlin 1930
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Die Leitmotive des Symbolisten Carlos Schwabe (Abb. 1) entstammen einer literarisch-vergeistigten, mystisch-religiösen Welt und weisen Schnittstellen zu Märchen und antiker Mythologie auf. Damit gibt er eine Richtung innerhalb der hochkomplexen Auseinandersetzung mit dem Thema Wasser im Jugendstil und Art Nouveau vor. Neben seinen malerischen Erzeugnissen entwarf Schwabe auch Plakate und revolutionierte die Kunstillustration durch sehr persönliche Interpretationen, beispielsweise zu Émile Zolas 1888 erschienenem Roman Le rêve (Der Traum) und zu Charles Baudelaires Gedichtband Les Fleurs du Mal (Die Blumen des Bösen), den er 1900 prachtvoll in virtuos-präziser Aquarelltechnik gestaltete. In der darin enthaltenen Sektion »Spleen et Idéal« (»Trübsinn und Vergeistigung«) illustrierte er auch das Gedicht L ’Homme et la mer (»Der Mensch und das Meer«), das Stefan George kongenial ins Deutsche übertragen hat. 1907 wählte Schwabe dieses Thema ein weiteres Mal und stellte das Begriffspaar Melancholie und Ideal als existenziellen Überlebenskampf zwischen einem Engel und einem Seeungeheuer inmitten einer schäumenden Welle dar. Die dramatische Szene zeigt den ewigen Kampf des Geistes gegen den Körper, der für die Symbolisten von zentraler Bedeutung war. Der Jugendstil war eine revolutionäre Kunstrichtung. Sie forderte eine genuin moderne, ihrer eigenen Zeit angemessene Kunst und kehrte damit der über Jahrhunderte beständigen
1 Carlos Schwabe Melancholie und Ideal vor 1907 Aquarell auf Papier 27,5 × 19,5 cm Museum Wiesbaden Sammlung Ferdinand Wolfgang Neess
Wasser im Jugendstil – Heilsbringer und Todesschlund
2 Wilhelm Jost (ungesichert) Ausführung: Glasmalerei Rast & Co., Darmstadt Schmuckfenster mit Venus und Pan, Badehaus 4, Sprudelhof Bad Nauheim um 1907/08 Glas, Blei Stiftung Sprudelhof Bad Nauheim
Praxis den Rücken, Kunst stets an vorangegangenen Stilen und Strömungen auszurichten. Ihr Anspruch erschöpfte sich jedoch nicht im Künstlerischen: Mit den Mitteln der Kunst suchte (und fand) der Jugendstil Antworten für eine utopische, ästhetisch bestimmte Gesellschaftsform. Geboren aus der Dynamik der Natur und der Kraft der Jugend, verkörperte die Kunst in den Jahren um 1900 aber auch die Schattenseiten des Daseins; der Symbolismus stand für eine abgründige Ästhetik des Verfalls, des Mythischen und Rätselhaften. Ziel war es, ein Gesamtkunstwerk zu schaffen, das die Grenzen zwischen Leben und Kunst letztendlich aufheben sollte. Das Element Wasser spielte im Jugendstil eine zentrale Rolle, ein komplexes und faszinierendes Motiv mit vielen unterschiedlichen symbolisch aufgeladenen Facetten: Japonismus, naturwissenschaftliche Erforschung, Heilsvorstellungen, Evolutionstheorie und Zivilisationsflucht wurden symbiotisch miteinander verknüpft.
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Die Ausstellung im Museum Wiesbaden beleuchtet das Thema im Jugendstil von zwei Seiten: Wasser als heilende Kraft innerhalb der Lebensreform-Bewegung einerseits, die gefährliche und geheimnisvolle Seite des feuchten Elements und seiner Bewohnerinnen und Bewohner andererseits. Diese zweigleisige Ausrichtung ermöglicht es, anhand herausragender Objekte des Jugendstils und des Art Nouveau sowohl die Umsetzung des Themas innerhalb der Lebensreform mit all ihren ideologischen, auch radikal-völkischen Nachwirkungen zu zeigen – wie beispielsweise dem Maler und Illustrator Fidus – als auch deutlich zu machen, in welchen Formen Wasser als Imaginationsraum begriffen wurde. Neben Wiesbaden als Weltkurstadt um 1900 behandeln Ausstellung und Katalog weitere bedeutende Bade- und Kur anlagen in Bad Nauheim, München und Vichy. Die größte Jugendstilbadeanlage in Europa wurde 1905 bis 1912 unter der Leitung des Architekten Wilhelm Jost in Bad Nauheim
erbaut: Als Ursprung allen Lebens ist Wasser in der einmaligen Jugendstilkuranlage Sprudelhof ein zentrales Element, zwischen Kunst und Gesundheit angesiedelt. So boten die Bad Nauheimer Heilquellen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zahlreichen Jugendstilkünstlern wie dem Maler Friedrich Wilhelm Kleukens, dem Bildhauer Heinrich Jobst oder auch dem Keramiker Jakob Julius Scharvogel eine Möglichkeit, ihre Arbeiten in einer Art Gesamtkunstwerk gemeinsam zu präsentieren. Die Kurgäste wurden von Fabelwesen aus der Wasserwelt der griechischen Mythologie in Empfang genommen, aber auch von Seesternen, Krebsen oder Pelikanen begrüßt; sie konnten in eine ganz dem Element Wasser entsprechende Welt abtauchen und den Alltag vergessen (Abb. 2). In der Belle Époque floss nicht nur Alkohol wie Absinth und Champagner in Strömen, sondern auch das Wasser. Kreative aller Richtungen ließen sich von dem wundersamen Element inspirieren, das so widersprüchlich und vielseitig schien wie die Kunst der Jahrhundertwende selbst. In einem Moment konnte es transparent und farblos wirken, nur um dem Blick in der nächsten Minute als finstere Tiefe oder reflektierender Spiegel einen undurchdringlichen Widerstand zu bieten. Geradezu überwältigend wirken die Gegensätze, die das Wasser in sich vereint, in den Ozeanen: Sie verbinden die Kontinente und trennen sie gleichermaßen voneinander. Obwohl oder vielleicht gerade weil es so furchteinflößend wirkt, ist das Meer nicht erst seit der Romantik zu einem emotional aufgeladenen Sehnsuchtsort avanciert; und trotz seiner schier unvorstellbaren Größe vermittelt es den Badenden ein wohliges Gefühl von Schwerelosigkeit. Vor allem aber ist es die Wiege allen irdischen Lebens – und dennoch in weiten Teilen ein lichtloser, lebensfeindlicher Ort. Magisch wurden die Symbolisten von der düsteren Abgründigkeit angezogen, in ihren oft traumbesetzten Bildern und Gedichten bespiegelten sie sich selbst, ihr verborgenes Unterbewusstes und die fragile menschliche Existenz wie in einer Wasseroberfläche. Die lebensbejahenden Jugendstilkünstler waren hingegen davon überzeugt, dass eine in der Natur begründete Kunst, die das Alltagsleben durchdringen sollte, ihre Vitalität aus dem Wasser schöpfen müsse, aus
3 Reisinger-Anlage in Wiesbaden mit Blick auf die Brunnenskulptur Arnold Henslers undatiert Postkarte Privatsammlung Wiesbaden
dem schließlich auch alles biologische Leben evolutionär hervorgegangen war. Organische Wellenformen, Motive mariner wie submariner Flora und Fauna fluteten die Interieurs und versetzten sie an Teiche, Seeufer oder unter die Wasseroberfläche. Als Gast wähnte man sich in einem exklusiven Aquarium, das noch spektakulärer anmutete als die zeitgleich gefeierten öffentlichen Schauaquarien in den namhaften Kulturhauptstädten Europas. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist ein Wechsel in der kulturellen Bedeutung des Wassers für die Stadt Wiesbaden zu beobachten. Zwar waren die heißen Quellen bereits in den Jahrhunderten zuvor von zentraler Wichtigkeit und begründeten den Aufstieg der Stadt zum internationalen Kurbad, doch spielte das Wasser als Element paradoxerweise eine eher untergeordnete Rolle. Das nassauische und frühe preußische Wiesbaden war ein Ort der Gesellschaftskur: Ereignisse, die der Zerstreuung des Publikums dienten, waren demnach von größerer Bedeutung für Wiesbaden als die eigentliche Bade- und Trinkkur. Das änderte sich im 20. Jahrhundert. Das Wasser und seine insbesondere Heilkräfte wurden zunehmend als Werbemittel für die Stadt eingesetzt. Diese Entwicklung ist vor allem einem allgemeinen kulturellen Wandel zuzuschreiben. Die Lebensreform- und Jugendbewegung etwa besann sich auf das Wasser als Naturelement. In ihrem Umfeld kann zudem eine pseudohistorische Verklärung der Natur als Ursprung der deutsch-germanischen Nation konstatiert werden. Es ist daher kein Zufall, dass Kreative wie Fritz
Wasser im Jugendstil – Heilsbringer und Todesschlund
4 Charles-Amable Lenoir Der Tod der Sappho vor 1896 Öl auf Leinwand 210 × 115 cm (Bild) Museum Wiesbaden, Dauerleihgabe Sammlung F erdinand Wolfgang Neess
Erler, Ernst Wolff-Malm und Ludwig Hohlwein, die zu jener Zeit in Wiesbaden tätig waren, ab den 1930er-Jahren der nationalsozialistischen Kunstnorm folgten beziehungsweise diese mitprägten. Die künstlerische Beschwörung der Natur und des Wassers ist somit ambivalent zu sehen. Zunächst handelte es sich um eine progressive Bewegung, die ab 1933 für das neue Regime in Teilen nicht mehr akzeptabel war, partiell sich aber durchaus als anschlussfähig erwies. In Wiesbaden lassen sich diese vielfältigen, zum Teil widerläufigen Strömungen gut nachvollziehen. Beginnend mit
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dem Kurhaus 1907 über den Bau des Kaiser-Friedrich-Bads 1913, die Planungen für die Reisinger- und Herbert-Anlagen bis hin zum Opelbad 1934 finden sich Bauprojekte, an denen lokale und überregionale Künstler gleichermaßen mitwirkten und die allesamt Beispiele für den Umgang mit dem Thema Wasser bieten. Arnold Henslers Quellnymphe in den Reisinger- und Herbert-Anlagen (Abb. 3), die, umgeben von Wasserfontänen, den ankommenden Besucher der Stadt am Bahnhof empfängt, ist ein Beispiel für die sachlich-moderne Interpretation des Quellenmythos. Ludwig Hohlweins androgyner »Quellgeist« auf seinem zweiten Frühling in Wiesbaden-Plakat thematisiert das Thema hingegen mystischer. Die dem Neuen Sehen verpflichteten LeicaFotos von Paul Wolff, mit denen die Stadt unter anderem für das Opelbad warb, sollten sich in ihrer Ästhetik stilprägend für den Nationalsozialismus erweisen. Fred Overbecks Entwürfe für das Stadtlogo und den Stadtslogan »Uralte Heilkraft – Ewigjunge Schönheit« fassen schließlich beispielhaft die Ambivalenz und Bedeutung des Wassermythos für die Moderne in Wiesbaden zusammen: Diese Propagierung von ewiger Gesundheit und Schönheit durch Wasser war im Kontext des nationalsozialistischen Körperkults ebenso anschlussfähig wie in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Gerade in den jetzigen, für den kulturellen Bereich so herausfordernden Zeiten bedarf es Partner und Förderer wie des Kulturfonds Frankfurt RheinMain, der es mit seiner Geschäftsführerin Karin Wolff überhaupt erst möglich macht, Projekte in dieser Größenordnung anzudenken und umzusetzen. Dafür unser großer Dank. Ebenso gilt unser Dank dem Wiesbadener Oberbürgermeister Gerd-Uwe Mende für die Unterstützung durch die Stadt, die als ehemalige Weltkurstadt mit dem Thema Wasser immer verbunden sein wird. Daher steuert das Museum Wiesbaden zum WasserJahr der Stadt zwei Ausstellungen bei. Unser Haus bespielt mit seinen zwei Sparten Kunst und Natur das Thema aus ihren jeweiligen Perspektiven und betont wichtige Gemeinsamkeiten. Dem Leiter der Naturhistorischen Sammlungen, Fritz Geller-Grimm, sei für seinen Beitrag im Katalog ebenso gedankt wie dem Kurator Hannes Lerp für seine Unterstüt-
5 Henri Bergé Ausführung: Daum Frères
6 Ludwig Tischler Ausführung: Königlich-Bayerische Porzellan-Manufaktur
Algen und Fische 1898 Glas, Silber H. 26,5 cm
Nymphenburg Nixenvase um 1899 weißglasiertes Porzellan H. 24,5 cm
Museum Wiesbaden, Sammlung Ferdinand Wolfgang Neess
Hessisches Landesmuseum Darmstadt
zung. Innerhalb der Kunstsammlung wurde der Fokus der Wasserausstellung auf die neue Abteilung Jugendstil und Art Nouveau gelegt, die sich dank der Schenkung Neess seit 2019 im Museum befindet. Dabei reicht das motivische Spektrum von Charles-Amable Lenoirs Gemälde La Mort de Sapho (Der Tod der Sappho; vor 1896; Abb. 4) bis hin zu dem hinreißenden Entwurf Algen und Fische (1898) von Henri Bergé, den die Glasmanufaktur Daum Frères in Nancy umsetzte (Abb. 5). Ohne die großherzige Schenkung unseres verstorbenen Mäzens Ferdinand Wolfgang Neess würde es diese Ausstellung nicht geben. Seine Ehefrau Danielle Neess unterstützt die Sammlung im Museum und die Aktivitäten des Museums um den Jugendstil auch nach seinem Tod ganz in seinem Sinne weiter. Dafür möchten wir
ihr hier unseren herzlichen Dank aussprechen! Der Ernst von Siemens Kunststiftung gilt unser expliziter Dank für die Ermöglichung des Kataloges. Durch ihre Förderung konnte dem vielschichtigen und komplexen Thema eine grundlegende Form verliehen werden. Dem Generalsekretär Martin Hoernes sei hier für seine verlässliche Partnerschaft ausdrücklich gedankt. Den Autorinnen und Autoren gilt unser weiterer Dank. Ihre Leistung ging vielfach über das reine Verfassen eines wissenschaftlichen Beitrages hinaus. Vielmehr unterstützten sie das Projekt von Beginn an maßgeblich über den Katalog hinaus, insbesondere möchten wir Dörte Folkers, Thomas Moser und Nikolas Werner Jacobs erwähnen. Ein besonderer Dank geht an die Büchermacher Reschke, Steffens & Kruse für
Wasser im Jugendstil – Heilsbringer und Todesschlund
7 Schüttelreim-Sonett mit Illustration von Oskar Zwintscher in: Meggendorfers humoristische Blätter: Zeitschrift für Humor und Kunst, Bd. XXIX, 1897, Nr. 9, S. 86 Universitätsbibliothek Heidelberg
die wie immer umsichtige Begleitung der gesamten Katalogproduktion und die gelungene Realisation des Buches sowie dem Deutschen Kunstverlag, der die Publikation in sein Programm aufnimmt. Die Ausstellung präsentiert außer Arbeiten aus dem Bestand des Museums Wiesbaden Werke von 46 öffentlichen und privaten Leihgeberinnen und Leihgebern, denen unsere Dankbarkeit für ihre Unterstützung gilt. Drei von ihnen sollen hier exemplarisch genannt werden, da ihre Objekte das Fundament der Ausstellung bilden. Das Bröhan-Museum in Berlin veranstaltete mit eigenen Beständen 1995 eine bis heute wegweisende Ausstellung zum Thema Wasser. Es ist wunderbar, dass sein Direktor Tobias Hoffmann und seine Stellvertreterin Anna Grosskopf dem Museum Wiesbaden äußerst großzügig ihre kostbaren und fragilen Objekte völlig unkompliziert zur Verfügung stellen. Zudem konnten wir die ehemalige Direktorin Ingeborg Becker und damalige Kuratorin der Ausstellung Wasserwelten als
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Autorin gewinnen. Ferner vermittelte uns das Bröhan-Museum den Kontakt zu Theresa Nisters und Simon Häuser, die sich im Katalogteil um die wissenschaftliche Bearbeitung dieser und weiterer Objekte verdient gemacht haben. Die freundschaftliche Nähe zu unserer »Schwester«, dem Hessischen Landesmuseum Darmstadt, schlägt sich auch in dieser Ausstellung nieder. Für die unkomplizierte Leihe solch wunderbarer Objekte wie der Nixenvase von Ludwig Tischler (Abb. 6) sei dem Direktor Martin Faass und dem Sammlungsleiter Wolfgang Glüber gedankt. Neben Berlin und Darmstadt hat uns München in vielfacher Form geholfen. Hier gilt unser großer Dank Paul und Diana Tauchner, die uns mit herausragenden Werken aus ihrer fantastischen Privatsammlung ebenso großzügig unterstützt haben. Ferner soll nicht unerwähnt bleiben, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, die Rosse des Neptun von Walter Crane in Wiesbaden als absolutes Highlight präsentieren zu dürfen. Für dieses Vertrauen gilt dem Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, Bernhard Maaz, unser aufrichtiger Dank. Ebenso sei dem Vorstand der Stiftung Sprudelhof gedankt, Frank Thielmann, der das Glück hat, ein Jugendstiljuwel zu verwalten. Das hoch kompetente wissenschaftliche »Wasser-Team« im Hause kann gar nicht ausreichend lobend erwähnt werden. Wie immer fehlt der Platz, um hier alle namentlich erwähnen zu können, weshalb wir gern auf die Übersicht im Impressum verweisen. Die Wissenschaftlerinnen Lea Schäfer, Jana Dennhard und Valerie Ucke haben sich mit viel Verve und Akribie »ins Wasser gestürzt« und Ausstellung sowie Katalog erst zu dem gemacht, was heute zu bewundern ist; unterstützt wurden sie von Elena Tarazi, die ihr Freiwilliges Soziales Jahr im Museum leistet. Die Registrarin Caren J ones hat das Projekt wie immer mit großer Umsicht betreut; Bernd Fickert hat mit seinen fotografischen Aufnahmen den Katalog bereichert. Dem gesamten Team gilt unser großer Dank. Andreas Henning Direktor Museum Wiesbaden
Peter Forster Kustos Museum Wiesbaden
Geleitwort
Dank der einzigartigen Schenkung von Ferdinand Wolfgang Neess zählt das Museum Wiesbaden seit 2019 zu den führenden Zentren des Jugendstils und Symbolismus in Europa. Die zur Erstpräsentation erschienene Publikation des Museums Ruf des Progressiven wurde von der Ernst von Siemens Kunststiftung gefördert. Das Katalogbuch dokumentiert die herausragende Qualität von Objekten internationaler Provenienz, die sich jetzt im öffentlichen Besitz befinden, und präsentiert die tiefgreifenden Spuren, welche die Jugendstilbewegung in der Kunst und Architektur der Stadt Wiesbaden und im Museum selbst hinterlassen hat. Damit wurde das Buch auch zum Referenzwerk für das 2019 von der Stadt Wiesbaden proklamierte »Jugendstil-Jahr«. Bereits mehrfach zuvor hatte die Ernst von Siemens Kunststiftung Publikationen rund um den Jugendstil und die Wiener Secession gefördert wie beispielsweise 2010 den Sammlungskatalog Meisterwerke des Jugendstils im Bayerischen Nationalmuseum München oder den Sonderausstellungskatalog des Kunstmuseums Moritzburg, Klimt kommt nach Halle! im Jahr 2018. Als uns jetzt der Antrag zur Förderung der Wiesbadener Ausstellung Wasser im Jugendstil: Heilsbringer und Todesschlund vorlag,
lag die Förderung nahe, versprach der Katalog doch den Anspruch umzusetzen, dieses so zentrale Motiv der Zeit in all seinen Facetten zu behandeln. In den Werken des Jugendstils schaffen (be)rauschende Wellen, Fische, Quallen und Muscheln oder Wesen aus mythologischen Erzählungen einen Imaginationsraum, der einerseits die Wünsche und Träume der Menschen bedient und andererseits als geheimnisvolle Parallelwelt schaudern lässt: Der Sehnsuchtsort Wasser wird in der Publikation und der Ausstellung mit über 250 Werken präsentiert: Japonistisch anmutende Arbeiten wie der Paravent von Louis Guingot aus der École de Nancy, schillernde Keramiken eines Émile Gallé und düster mythologische Malerei wie die des deutschen Künstlers Karl Wilhelm Diefenbach führen das Thema Wasser in unglaublicher Vielfalt vor Augen. Ganz im Sinne der Idee des Jugendstils vom Gesamtkunstwerk spiegeln Buch und Ausstellung die ungeheure Medienvielfalt des Jugendstils wider, beginnend mit Besteck und Glasobjekten über Fliesen und anderer Gebrauchskeramik bis hin zu Gemälden und Skulpturen, zur Fotografie und Architektur. Das von der Stadt Wiesbaden ausgerufene »Jahr des Wassers« erfährt somit eine lokale wie nationale als auch internationale Aufarbeitung und dies interdisziplinär. Der im Deutschen Kunstverlag erschienene Band stellt eine wesentliche Bereicherung der Thematik dar und wird dem eigenen Anspruch des Museums Wiesbaden gerecht, auch zukünftig als Forschungsstätte für den Jugendstil zu agieren, und ich danke allen Beteiligten. Der Ernst von Siemens Kunststiftung liegt viel daran – die Unterstützung von mittlerweile über 250 Bestandskatalogen legen ein deutliches Zeugnis ab –, vertiefende kunsthistorische Wissenschaft zu fördern und zu ermöglichen. Den Museen gerade in den heutigen schwierigen Zeiten hier an der Seite zu stehen, ist eine der Hauptaufgaben der Stiftung, die sich auch in der Förderung dieser Publikation niederschlägt. Dr. Martin Hoernes Generalsekretär Ernst von Siemens Kunststiftung
PETER FORSTER
Wasser als Reformer ZU KÜNSTLERISCHEN ASPEKTEN DER WASSERDARSTELLUNG INNERHALB DER LEBENSREFORM
Der Jugendstil war eine revolutionäre Kunstrichtung, die bis heute nicht nur mit ihrer ornamental-dekorativen, höchst reizvollen Ästhetik und ihrer handwerklichen Perfektion nachwirkt, sondern aufgrund ihrer angestrebten gesellschaftlich-politischen Veränderungen bis in unsere Gegenwart hinein eine außergewöhnliche Aktualität besitzt. Geboren aus dem Geist der Jugend und durchdrungen von der alles verbindenden Kraft der Natur und deren unerschöpflicher Formenvielfalt, forderte der Jugendstil als Maximalziel das Gesamtkunstwerk ein und strebte damit die Einheit aus Kunst und Leben an. Innerhalb der vielfältigen Strömungen einer sich äußerst facettenreich artikulierenden Kunstrichtung nahm die Lebensreform eine Sonderrolle ein. Diese in Deutschland und der Schweiz beheimatete Bewegung entwickelte sich in der zweiten Hälfte 19. Jahrhunderts; der Begriff Lebensreform tauchte allerdings erst in den 1890er-Jahren auf. Während sich einige ihrer Themen im Lebensstil der breiten Bevölkerung rasch etablierten, fand der harte Kern der alternativen Aussteiger mit sich prophetisch aufführenden Anführern, exzentrischen Ideologien und einer sehr überschaubaren treuen Gefolgschaft kaum Beachtung. Ausgehend von der Kritik an Industrialisierung sowie Urbanisierung definiert sich die Lebensreform durch zahlreiche Ansätze wie etwa Siedlungsbewegung (Stadtflucht), Ernährungsreform, Vegetarismus, Antialkoholbewegung, Naturheilkunde, Kleidungsreform, (Frei-)Körperkultur.1 Aber auch Reformpädagogik, Tierschutz und Pazifismus gehörten zum Spektrum einer beherzt auftretenden Reformbewegung mitten im Wilhelminischen Kaiserreich.
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Treibende Kräfte in der Ausformung eines Gegenentwurfs zum Bestehenden waren auch Künstler; entsprechend eng waren die Beziehungen zwischen bildender Kunst und der Lebensreform.2 Sie prägten nicht nur das inhaltliche Erscheinungsbild der Bewegung, sondern sorgten darüber hinaus mit der Gestaltung groß angelegter Werbekampagnen für die Vermittlung ihrer Ideen, die auch in zahlreichen Zeitschriften propagiert wurden. Die Präsenz im öffentlichen Ausstellungswesen war ebenfalls wichtig; so beteiligten sich beispielweise einige Gruppierungen der Lebensreform an der Internationalen Hygiene-Ausstellung in Dresden 1911. Ziel der Schau, für die Franz von Stuck das Plakat nach einem Augenmotiv von Willi Petzold umsetzte (Abb. 1) und Max Klinger die Ehrenurkunde für wissenschaftliche Mitarbeit gestaltete (Abb. 2), war es, »einmal im grossen Stile eine Belehrung der Allgemeinheit über die Gesundheitspflege zu unternehmen«3 – ein zentrales Anliegen der Reformbewegungen. Diese Ausstellung, die von weit über fünf Millionen Menschen besucht wurde, verdeutlichte den Stellenwert der Hygiene. Durch die Industrialisierung war der Bevölkerungszuwachs in den Großstädten um die Jahrhundertwende immens. Katastrophale gesundheitliche Bedingungen und eine damit einhergehende permanente Seuchengefahr, miserable sanitäre Standards und eine große Wohnungsnot führten zu erheblichen sozialen Spannungen. Von offizieller Seite standen vor allem Maßnahmen rund um die Wasserqualität und -versorgung im Mittelpunkt der Gegenmaßnahmen. Welche elementare Rolle das Wassers für die Hygiene spielt, zeigt sich in der von Klinger entworfenen Ehrenurkunde. Im
Zentrum steht ein monumentaler Atlas im wild bewegten Wasser. In dem schwer auf seinen Schultern lastenden arkadisch anmutenden Landschaftsausschnitt tanzen Menschen nackt und unbeschwert an einem See, während drei Frauen Krüge halten, aus denen sich Wasser ergießt. Die Fontänen aus diesen drei Quellen treffen offenbar feindliche Gestalten. Das fantastische Blatt zeigt in bester symbolistischer Manier die vielschichtigen künstlerischen Allegorien für Wasser. In Dresden ebenfalls präsente Themen wie etwa Rassenhygiene weisen voraus auf den ideologischen Weg des späteren Nationalsozialismus und spiegeln eine starke Nähe zu jenen Teilen der Lebensreformbewegung wider, die von einer völkisch-nationalen Einstellung geprägt waren. Aus der Perspektive von 1911 betrachtet, war das Bild der Lebensreform im Jugendstil und Symbolismus längst final ausformuliert worden. Exemplarisch ist hier das Œuvre von Ludwig von Hofmann (1861–1945), der sich wie kein zweiter einer unauflösbaren Einheit von Mensch und Landschaft verschrieben hatte. Bereits 1895 bis 1899 sind in seinen Arbeiten für die Kunstzeitschrift PAN die Einflüsse des Jugendstils zu erkennen. Mit über 60 Illustrationen, in denen er sich auch mit dem japanischen Holzschnitt auseinandersetzte, vermittelte er schon dort sein unkonventionelles Bild einer von äußeren Zwängen befreiten Welt. Nach seiner Berufung 1903 an die Kunstschule nach Weimar begann seine künstlerisch erfolgreichste Zeit. Im engen Austausch vor allem mit Harry Graf Kessler und Henry van de Velde intensivierte er seine Vorstellung einer alternativen Welt, die in der Feier der Jugend und schöner Körper in harmonischer Einheit mit der Natur bestand.4 Zu den wesentlichen Quellen für seine arkadischen Fantasien zählte neben Reisen nach Paris sowie Italien und Griechenland, wo er sich mit der Antike beschäftigte, die damalige literarische Avantgarde, die auf unterschiedliche Weise von der Lebensreform geprägt war, wie Stefan George, Rainer Maria Rilke, Thomas Mann und vor allem Gerhart Hauptmann, mit dem ihn eine engere Freundschaft verband.5 Seine Kunst inspirierte Literaten und wurde von Literatur beeinflusst, so in seiner Arbeit als Illustrator. Diese Wechselwirkung sowie seine Nähe zum Theater als Bühnenbildner, aber auch zu Tanz und Musik
1 Franz von Stuck Internationale Hygiene-Ausstellung Dresden 1911 Druckgrafik/Farblithografie auf Papier 88 × 60,4 cm Sprengel Museum Hannover
mündete in Werken von zeitloser Schönheit einer idealen Natur, die ohne Wasser für den Künstler nicht denkbar war (Abb. 4). Aus allen Perspektiven, nah und fern, und in allen Formverläufen, gerade oder geschlängelt oder an felsige Küsten brandend, findet sich in seinen Werken Wasser. Von Bach, Quelle und See über den Kanal und Fluss bis hin zum Meer, selten aufgewühlt und bewegt, meist ruhig und erhaben, steht es für das Leben schlechthin. In der kleinen Kreidezeichnung Der Jungbrunnen aus dem Jahr 1900 finden wir seine mit Wasser verbundene Heils-
Wasser als Reformer
2 Ehrenurkunde nach einem Entwurf von Max Klinger für die Förderung der Internationalen Hygiene-Ausstellung Dresden 1911 an den Herrn Geheimen Oberbaurat Grimm 1912 Kupferstich 60 × 55,4 cm Deutsches Hygiene Museum Dresden
3 Ludwig von Hofmann Der Jungbrunnen undatiert Bleistift auf Papier 34 × 27 cm (Rahmen) Privatsammlung
erwartung auf den Punkt gebracht (Abb. 3). Die Szenerie wirkt wie eine Setzung für sein eigenes Weltbild und für die Lebensreform: Entrückt und losgelöst von der Realität, versetzt Wasser den hüllenlosen Menschen in einen Zustand von Freiheit, Gleichheit, Lebensglück und versöhnt ihn mit seiner Umwelt. Hofmanns träumerische Werke erscheinen wie eine Blaupause für jene Anhänger einer alternativen Lebensreform, die sich nach natürlich-paradiesischen Zuständen sehnten und die sich wenigstens auf diesem Weg den Auswirkungen einer immer expansiveren Industrialisierung im Kaiserreich entziehen wollten. Zwei besonders komplexe Arbeiten in Hofmanns Œuvre zeigen seine außergewöhnlichen künstlerischen Fähigkeiten in der Darstellung von Wasser. Ganz der Idee des Gesamtkunstwerks verhaftet, gestaltete der Künstler die Rahmen der beiden Bilder selbst und überführte so die zweite malerische Dimension in eine reliefierte dreidimensionale Form.6 Dabei werden das Gemälde und der geschnitzte sowie gefasste Rahmen inhaltlich und formal zu einer in den Raum wirkenden Einheit. Bei dem Gemälde Largo (Sonnenuntergang am Meer) aus dem Belvedere in Wien von 1898 stellt der Rahmen durch die oben sichtbare Maske mit dem Antlitz von Ludwig van Beethoven die Verbindung zur Musik her.7 Ein Mädchen und ein Jüngling stützen sich auf die schwarze Umrahmung und scheinen den Klängen der Kompositionen zu lauschen (Kat.-Abb. S. 22).8 Beim zweiten Gemälde Idyllische Landschaft mit Badenden, um 1900 gemalt, bevölkern Badende das Gemälde, während sich auf dem Rahmen geschnitzte Darstellungen einer Unterwasserwelt finden (Kat.-Abb. S. 29).9 Dabei gelang dem Künstler ein perfekt organischer Übergang aus der gemalten Leinwand in den geschnitzten Rahmen. Harmonisch verläuft auch der Übergang von der Badeszene am schmalen Fluss zu den Tiefen des aufgewirbelten Wassers, in dem sich Fische und Wasserpflanzen befinden. Analog zum vorherigen Bild befindet sich im oberen Teil des Rahmens mittig das inhaltliche Zentrum, diesmal die Liebesgöttin Venus, die gerade aus der geöffneten Muschel steigt.
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4 Ludwig von Hofmann Mädchen am See vor 1906 Pastell auf braunem Papier, auf Leinwand aufgezogen 80 × 139,5 cm Museum Wiesbaden, Sammlung Ferdinand Wolfgang Neess
Hofmann nutzte ein Leben lang das Motiv Wasser, um seine arkadischen Traumvisionen atmosphärisch aufzuladen. Zwei Beispiele um 1905 stehen exemplarisch hierfür. Das Pastell Küstenlandschaft, möglicherweise ein Bühnenbildentwurf, zeigt zwei Frauen an einer markanten Felsenküste; das ruhige Meer verleiht der Darstellung einen zeitlosen Charakter (Abb. 5).10 Bei der handkolierten Lithografie Festlicher Empfang handelt es sich um das dritte Blatt aus der zwölf Blätter umfassenden Grafikmappe »Tänze«, in deren motivischem Zentrum eine griechisch-antik anmutende Szene zeitgenössisch interpretiert wird. Während sich auf einer halbkreisförmigen Anhöhe oberhalb des Meeres die wellenartig-rhythmisch bewegten Frauentanzgruppen befinden, fällt der Blick auf das tiefblaue Mittelmeer hinter ihnen und stellt den harmonischen Einklang mit der Natur her (Abb. 6).11 Lebensreformer, die ihre Ansichten tatsächlich in die Wirklichkeit umsetzen wollten, gründeten 1900 das heute noch bekannte Siedlungsprojekt Monte Verità – Berg der Wahrheit – auf einem Hügel oberhalb des Dorfes Ascona im schweizerischen Tessin. Hier sollten Körper, Natur und Kultur in der Gemeinschaft miteinander in Einklang gebracht werden (Abb. 8).12 Disziplin und Verzicht wurden gefordert, etwa auf alle tierischen Produkte, Rauchwaren,
Kaffee und Alkohol, gefördert wurden das Tragen luftiger Reformgewänder und Körperertüchtigungen sowie der Nackttanz. Der alternative Lebensentwurf auf dem Monte Verità zog Exzentriker, bürgerliche Aussteiger und eine internationale Bohème an. In der Gemeinschaft um den Maler und Pionier der Lebensreformer, Karl Wilhelm Diefenbach (1851–1913), in seiner Landkommune Himmelhof im Wiener Stadtteil Ober St. Veit hatte das Projekt eines irdischen Paradieses in Ascona einen unmittelbaren Vorläufer.13 Diefenbachs Aussehen, sein Auftreten und letztlich seine radikale und kompromisslose Art – »Lieber sterben, als meine Ideale verleugnen« – beeinflussen noch heute unsere Vorstellung von einem sogenannten »Gesundheitsapostel« (Abb. 9).14 Sein Gemälde Du sollst nicht töten aus dem Jahr 1906 befindet sich dank der Schenkung F. W. Neess seit 2019 im Museum Wiesbaden. Bei dem von ihm erstmals 1895 als Gemälde umgesetzten Motiv, von dem der Künstler weitere Fassungen erstellte, handelt es sich um Diefenbachs bekannteste Arbeit, die zu einer Ikone des ethischen Vegetarismus wurde (Abb. 12). Der Vegetarismus stand stellvertretend für die Lebensreform, für eine natürliche Lebensweise und wurde entsprechend mit den weiteren Bestrebungen der Bewegung
Wasser als Reformer
5 Ludwig von Hofmann Bühnenbild zu Aglavaine et Sélysette um 1905 Pastell 24 × 36 cm Privatbesitz, Heidelberg
6 Ludwig von Hofmann Festlicher Empfang, Blatt 3 aus der Folge »Tänze« um 1905 Wachskreide und Kohle über Lithografie, handkolorierter Probedruck 29 × 41,2 cm Privatbesitz, Heidelberg
7 Ludwig von Hofmann Mappe zu Holzschnitten Wassermusik, herausgegeben im Insel Verlag, Leipzig 1908 bis 1924/25 Neuauflage Leipzig 1989 Museum Wiesbaden, Schenkung Joachim Kern
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wie Naturheilkunde, Nacktkulturbewegung oder alternativer Medizin verbunden, zeigt aber auch die Achtung gegenüber dem Leben allgemein. Zu sehen ist eine dramatische Begegnung zwischen dem hell aus dem Dunkeln hervortretenden Gott und einem erschrocken-angstvoll zurückweichenden Jäger; zwischen ihnen befindet sich ein Hirsch, der sich schutzsuchend der himmlischen Erscheinung zuwendet. Diefenbach schuf Gott nach seinem Ebenbild und drückte damit sein prophetisches Selbstverständnis aus. Nach einer ihn zutiefst bewegenden Vision erklärte sich Diefenbach mit seiner Schrift Sonnen-Aufgang selbst zum Heilspropheten. Barfuß, mit einer Mönchskutte bekleidet, zog er durch das Land und predigte gegen Fleisch- oder Alkoholkonsum sowie sexuelle Unzucht. Seine Auftritte wurden als Skandale gewertet, er selbst als »Kohlrabi-Apostel« verspottet. Gleichzeitig gewann er jedoch durch sie Anhänger, die bereit waren, ihm bedingungslos zu folgen. Nach einem öffentlichen Redeverbot ließ er sich mit einer kleinen Schar getreuer Jünger im Isartal nieder, eröffnete 1885 die Kommune Humanitas und lebte nach der Natur sowie der Gewaltlosigkeit verpflichteten Prinzipien. Von dort und schließlich aus Deutschland vertrieben, strandete die kleine Gruppe 1997 in Wien, wo sie weiterhin versuchte, alternative Lebensvorstellungen unter prekären finanziellen Verhältnissen zu realisieren. Nach dem Auseinanderbrechen der dortigen Kommune Himmelhof zog Diefenbach nach Triest und 1899 nach Capri, wo er 1913 starb. Unmittelbar nach seiner Ankunft dort hatte der studierte Maler seine erste, durchaus erfolgreiche Ausstellung. Ab dieser Zeit trat er konsequent als symbolistischer Landschaftsmaler auf, dessen Malerei zwischen Empfindsamkeit und Monumentalität mäanderte, dabei immer so atmosphärisch hoch aufgeladen war, dass eine nicht greifbare höhere Ebene bildbestimmend mitschwingt. Diefenbach postulierte die Vereinigung des Individuums mit der Natur als eigentlichen transzendenten Akt. Seine Landschaften zeigen eine erhabene, überwältigende, zeitlose Natur, die sich absetzt von einer durch Menschen kultivierten und dadurch zerstörten Welt. In diesem Naturschauspiel, zwischen steil abfallenden Küsten und dunklen Grotten, spielt Wasser eine zentrale
8 Hans Brandenburg Mary Wigman tanzt am Lago Maggiore 1913
9 Die Lebensgemeinschaft K. W. Diefenbachs 1890 Fotografie
Fotografie Stadtbibliothek München
Archiv der deutschen Jugendbewegung
10 Fidus/Diefenbach »Per Aspera ad Astra« (Gemälde Nr. 1 aus dem Fries; Selbstportrait des Künstlers in prophetischer Haltung) 1888 Öl auf Leinwand 100 × 200 cm Hadamar, Karl Wilhelm Diefenbach Museum
Diese Publikation erscheint anlässlich der Ausstellung Wasser im Jugendstil – Heilsbringer und Todesschlund 13. Mai bis 23. Oktober 2022 Museum Wiesbaden – Hessisches Landesmuseum für Kunst und Natur Friedrich-Ebert-Allee 2, 65185 Wiesbaden www.museum-wiesbaden.de
AUSSTELLUNG KURATOR Peter Forster WISSENSCHAFTLICHE ASSISTENTINNEN
Jana Dennhard, Lea Schäfer, Valerie Ucke AUSSTELLUNGSGESTALTUNG Atelier Hähnel-Bökens MITARBEITERINNEN UND MITARBEITER (KUNSTSAMMLUNGEN) DIREKTOR Andreas Henning STELLVERTRETENDER DIREKTOR Jörg Daur VERWALTUNGSLEITUNG Patricia Becker-Matthews REFERENTIN DES DIREKTORS Oksana Katvalyuk KUSTODEN Jörg Daur, Peter Forster, Roman Zieglgänsberger KURATORIN DIGITALE SAMMLUNGEN Rebecca Krämer REGISTRARIN Caren Jones WISSENSCHAFTLICHE VOLONTÄRINNEN Jana Dennhard, Valerie Ucke FSJ KULTUR Elena Tarazi PRESSE- UND ÖFFENTLICHKEITSARBEIT Martina Brand, Susanne Löffler, Sarah Schach FOTOGRAFIE UND BILDARCHIV Bernd Fickert MEDIENGESTALTUNG Leana Berlinger RESTAURATORISCHE BETREUUNG Jana Merseburg, Pascale Renault, Linda Schmidt, Ines Unger HAUSTECHNIK UND WERKSTATT Markus Becker, Eve-Michelle Bubitsch, Michael Edler, Bjarte Gismarvik, Salem Khalfani, Michael Krag, Christian Rücker, Manfred Wolfsheimer, Johanna Zwick IT-LEISTUNGEN Alexander Rücker DIGITAL UNIT Tamara Brauns BILDUNG UND VERMITTLUNG Daniel Altzweig, Astrid Lembcke-Thiel, Christine Scholzen VERWALTUNG Elmira Gyrdjan, Angelika Hermersdorfer, Swantje Kroener, Heidi Piechnik, Barbara Schade KUNSTBIBLIOTHEK Mariana Biris, Martina Frankenbach VERANSTALTUNGSMANAGEMENT Suzan Mesgaran, Stephan Müller HAUSMEISTER Lekbir Azarg EMPFANG UND PFORTE Denisa Julevic, Stephan Müller, Thorsten-Marius Röhnke SHOP Adriana Vinzeni, Adelheid Geisler ZENTRALE STELLE FÜR PROVENIENZFORSCHUNG IN HESSEN
Larissa Engler, Miriam Merz
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KATALOG HERAUSGEBER REDAKTION
Dieser Katalog wurde gefördert von
Peter Forster für das Museum Wiesbaden Jana Dennhard
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Reschke, Steffens & Kruse, Berlin/Köln ÜBERSETZUNG Stefan Barmann, Köln (Essay Veronique Dumas) SCHRIFT Weiss in verschiedenen Schnitten 2 PAPIER 135 g/m Magno Volume 1,1 DRUCK UND BUCHBINDERISCHE VERARBEITUNG
Druckerei Kettler GmbH, Bönen VERLAG UND VERTRIEB
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© 2022 Museum Wiesbaden, Deutscher Kunstverlag Berlin München sowie die Autorinnen und Autoren © 2022 für die Abbildungen S. 400 Emilio Longoni, La voce del ruscello (Die Melodie des Flusses), 1904, Öl auf Leinwand, 100 × 140 cm, Museum Wiesbaden, Dauerleihgabe Sammlung Ferdinand Wolfgang Neess (Ausschnitt) FRONTISPIZ Max Nonnenbruch, Die Windsbraut, 1904, Öl auf Leinwand, 110 × 80 cm, Familie Eisenreich (Ausschnitt) S. 6/7 Walter Crane, Die Rosse des Neptun, 1892, Öl auf Leinwand, 85,6 × 215 cm, Bayerische Staatsgemäldesammlungen – Neue Pinakothek (Ausschnitt) S. 396/397 Karl Mediz, Karstküste mit Regenbogen (Dalmatien), 1898, Öl auf Leinwand, 101,1 x 204 cm, Privatbesitz, über Kunsthandel Widder, Wien UMSCHLAG
Manche Autorinnen und Autoren verzichten in dieser Publikation an einigen Stellen auf die Verwendung geschlechtergerechter Formulierungen. Die ausschließliche Verwendung der männlichen Form soll geschlechterunabhängig verstanden werden.
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