Magazin der Sonderegger Druck AG über Eigentümliches, Bewegendes und Gedrucktes.
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01 2012
ausser ausser Äpfel
Samt & Sonders über die Thurgauer Obstdynastie Dähler: Eine mostindische Geschichte – ganz ohne Äpfel
Geschätzte Leserin, lieber Leser
Mögen Sie Früchte? Sie sind gesund. Und schmecken lecker. Wir wissen alle, dass der Mensch sie regelmässig in ausreichenden Mengen konsumieren sollte. Aber haben Früchte auch Potenzial für eine fesselnde Geschichte? Sie haben. Überzeugen Sie sich selbst.
Denn die dritte Ausgabe unseres Magazins Samt & Sonders, die Sie aktuell in den Händen halten, beschäftigt sich mit Obst. Allerdings nicht so, wie Sie jetzt vielleicht denken. Es geht nämlich kein bisschen um unsere Thurgauer Nationalfrucht, den Apfel. Wir erzählen Ihnen vielmehr am Beispiel des jüngsten Sohnes die Geschichte einer aussergewöhnlichen Bauernfamilie, deren männliche Mitglieder sich auf unterschiedliche Arten ganz in den Dienst des Genusses gestellt haben: Familie Dähler aus Fruthwilen hat sich den exotischen Früchten verschrieben. Den Ananas, Papayas und Mangos, den Limonen und Granatäpfeln. Die ungewöhnlichen Bilder in diesem Magazin, aufgenommen in den kühlen Dähler’schen Lagerhallen bei Raperswilen, illustrieren das Porträt eines Mannes, dessen Leidenschaft, Engagement, Gradlinigkeit, Familiensinn und Bescheidenheit ihn auf zum Teil abenteuerlichen (Um-)Wegen zu dem gemacht haben, was er heute ist: zu einem der erfolgreichsten Schweizer Obstimporteure.
Das Geheimnis seines Erfolgs ist (wie bei den meisten guten Dingen) schlicht: kompromisslose Kundenorientierung. Einsatz wenn nötig rund um die Uhr. «Der Kunde braucht mich nicht. Aber ich bin auf den Kunden angewiesen»: Dieser Satz bleibt hängen. Das ist es doch, was einen guten zu einem aussergewöhnlichen Dienstleister macht. Wenn einer dann dabei nicht die Bodenhaftung verliert, flexibel und bereit ist, jeden Tag ganz frisch anzufangen, nichts für selbstverständlich nimmt und sich auf jede Situation neu einstellt, ohne Vergangenem hinterherzutrauern – dann hat er sogar das Zeug zum Vorbild.
Auch diese Ausgabe unseres Magazins hat wieder viel mit uns zu tun. Viel mit unserer eigenen Geschichte. Auch wir sind im Thurgau verwurzelt, auch unser Unternehmen ist ein Familienbetrieb. Tradition und Moderne geben sich auch bei uns die Hand, und absolute Kundenorientierung kennen auch wir: verankert in unserem Firmenmotto «Voller Service».
«Wenn dir das Leben eine Zitrone gibt, mach Limonade daraus»: Dieser inzwischen geflügelte Satz nach dem Titel eines Jugendbuchs der britischen Autorin Virginia Woolf passt doch prima zu einem Mann, der aus jeder Situation, die das Leben für ihn bereithält, das Beste macht. Und wir finden, das Zitat lässt sich auch wunderbar auf seine Geschichte anpassen: «Wenn dir das Leben eine Zitrone gibt, kauf ein paar weitere dazu und bau damit einen florierenden Früchtehandel auf.»
In diesem Sinn wünschen wir Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, viel Freude und gute Unterhaltung mit dem neusten Samt & Sonders.
Ihre Sonderegger Druck AG, Weinfelden
Getrieben von der Sehnsucht, in die Ferne zu ziehen, mit rudimentären Englischkenntnissen und dem festen Entschluss, sich im Land der unbegrenzten Möglichkeiten etwas aufzubauen, war der achtzehnjährige Landwirt direkt nach der Lehre in New York angekommen. Sein perfektes Französisch, das er während der Ausbildung in Yverdon und im Militärdienst in Romont gelernt hatte, half ihm hier nicht viel weiter. Aber er war ja auch ausgewandert, um Englisch zu lernen. Und um «irgendetwas mit Früchten» zu machen, Handel oder Produktion «oder so». Kaum im Big Apple angekommen, trat er schon seine erste Stelle in der Markthalle an. Wenn das mit dem Aufbauen dann in New York geklappt haben würde, so der Plan, wollte er in die Südstaaten weiter und dort etwas produzieren, was sich nach New York verkaufen liesse. Marius Dähler hätte es ganz sicher auch geschafft, seinen Traum zu verwirklichen. Daran besteht kein Zweifel. Allein – es sollte anders kommen. Eine fiese Gelbsucht zwang den jungen Auswanderer nach nur drei Monaten zur Heimreise in den Thurgau, zurück auf den Eggishof in Fruthwilen. Dort hatte er als jüngstes von zehn Geschwistern mit vier Brüdern und fünf Schwestern eine aussergewöhnlich glückliche, behütete Kindheit erlebt. «Es war eine wunderschöne Zeit, und ich wusste
schon als kleiner Bub, dass wir alle es extrem gut hatten», erzählt der heute Vierundvierzigjährige. Und grinst. «Am liebsten wäre ich ja gar nicht gross geworden.» Vom nächstälteren Bruder Hermann trennen ihn neun Jahre, und so genoss das Dähler-Nesthäkchen diese goldene Zeit hauptsächlich mit den drei jüngsten Schwestern. Die Dählers sind eine aussergewöhnliche Sippe – und eine Art mostindische Erfolgsgeschichte. Den Grundstein dazu hatte der Vater gelegt, der sich vom Appenzeller Kleinbauern zum Hofbesitzer emporgearbeitet hatte und seinen Söhnen das allergrösste Vorbild und zeit seines Lebens Motivator und Unterstützer war. Seinen Unternehmergeist hat Vater D ähler allen fünf Söhnen vererbt. Genau wie die Liebe zur Landwirtschaft: Alle lernten diesen Beruf – aus Überzeugung und Leidenschaft. Etwas anderes kam für keinen je in Frage. (Von den Schwestern wollte jedoch keine Bäuerin werden – zwei lernten Krankenschwester, zwei wurden Hausbeamtinnen und eine Coiffeuse.) Der Älteste, Johann, übernahm den Hof nicht – wie es Tradition war – alleine, sondern gemeinsam mit seinen vier Brüdern. Selbst zog es ihn stattdessen in die Ferne, und er machte als «Ananaskönig» in der Elfenbeinküste Schlagzeilen; danach baute er zusammen mit seiner Familie in Costa Rica eine Ananasplantage auf.
Die Brüder Alois und Hermann führten derweil in Fruthwilen das Unternehmen Gebrüder Dähler AG, über das sie sowohl Johanns Ananas als auch die Fruchtsäfte und Papayas verkauften, die der vierte Bruder, Markus, aus Brasilien in die Schweiz exportierte. Ebendieser Bruder war es auch, dessen Geschäfte ins Trudeln geraten waren. Marius, inzwischen nicht nur genesen, sondern auch mit dem Abverdienen des Feldweibels fertig, wurde wieder über den grossen Teich geschickt. Allerdings nicht zurück nach New York, sondern zur Unterstützung von Markus ins noch fernere Brasilien. Der mittlerweile Einundzwanzigjährige sprach kein Wort Portugiesisch, hatte wenig Ahnung von dem riesigen Land am Atlantik und keinen genauen Plan, was ihn ausser seinem Bruder dort erwarten würde. Es erwartete ihn viel Arbeit. Nach nur kurzer Zeit kehrte Bruder Markus Brasilien den Rücken zu und überliess Marius die Geschäfte. Damit begann die Geschichte des Dähler’schen Papaya-Export-Packhauses: Marius besuchte Produzenten, kaufte die besten Qualitäten ein, stellte eigenhändig ansprechende Kartonverpackungen für die Früchte her und spedierte das Ganze in Richtung Schweiz, wo es von seinen Brüdern mit wachsendem Erfolg weiterverkauft wurde. Die Früchte kamen bei Herrn und Frau Schweizer gut an.
Das tun sie auch heute noch – was nicht weiter erstaunen muss: Papaya schmeckt nicht nur ausgesprochen lecker, sondern enthält das Enzym Papain, das schwer verdauliches Eiweiss (beispielsweise im Fleisch) spaltet und damit die Bauchspeicheldrüse entlastet, die Verdauung fördert und das Immunsystem stärkt. Aufgrund ihres hohen Kalziumgehalts ist Papaya ausserdem eine wirkungsvolle Vorbeugung gegen Osteoporose, auch Knochenschwund genannt, und enthält viele Vitamine und Mineralstoffe. Besonders vorteilhaft für Menschen mit empfindlichem Magen ist, dass die Papaya einen sehr geringen Säuregehalt aufweist. Nicht nur gesund, sondern auch schön macht die Wunderfrucht: Papaya ist besonders reich an Antioxidantien, die als Zellschutz wirken und die gefährlichen freien Radikale vernichten. Mit anderen Worten: Papaya hilft, vorzeitiger Alterung vorzubeugen, ist also ein veritabler Jungbrunnen. Was mit ein paar Kisten Papayas angefangen hatte, entwickelte sich für das Unternehmen Dähler zum blühenden Geschäft. Marius verpackte in seinem eigens neu gebauten Packhaus inzwischen auch Papayas für andere Händler. Bald darauf galt es, den ersten eigenen Sattelschlepper mit Papayas auszuschiffen. Dazu mussten die Früchte in einem Kühllastwagen alles der Atlantikküste
entlang transportiert werden, etwa 2500 Kilometer, von Salvador bis Santos. Marius war schrecklich nervös. So ein Container kostete eine Menge Geld, und diese Schiffsladung Papayas würde alle seine Reserven verschlingen. Alles stand auf dem Spiel. Marius liess es sich nicht nehmen, die kostbare Fracht höchstpersönlich zu begleiten. Am Anfang der Fahrt versuchte er händeringend den Chauffeur davon zu überzeugen, die Kühlung doch endlich einzuschalten. Der weigerte sich aus nicht nachvollziehbaren Gründen standhaft und war auch durch hohe Geldbeträge die längste Zeit nicht umzustimmen. Erst nach sechs Stunden wurden die wertvollen Südfrüchte schliesslich wieder gekühlt. Was unerfreuliche Folgen haben sollte: In Santos angekommen, waren alle ehemals grünen Papayas bereits gelb. Und es warteten doch noch vierzehn Tage Schiffsreise auf sie! Marius war ausser sich vor Verzweiflung. Was sollte er tun? Die Brüder in der Schweiz halfen nicht, speisten ihn telefonisch mit einem lapidaren «Das musst du selber wissen» ab. Eine weitere wichtige Lebenslektion in Sachen Selbstständigkeit für den jungen Thurgauer. Er musste jetzt allein e ntscheiden: Die Ladung verschiffen und damit das volle R isiko eines Totalverlusts auf sich nehmen? Marius – katholisch aufgewachsen und, wie er selbst sagt,
«ein bisschen religiös» – wusste sich nicht anders zu helfen und machte einen Deal mit dem lieben Gott: Wenn die Ladung ohne grosse Verluste ankommen und verkauft werden könnte, würde er auf seinem Anwesen bei Salvador eine Kapelle bauen. Die Rückfahrt in den Norden war für Marius die reine Tortur: ungewaschen, durstig, schwitzend, natürlich mit dem billigsten, unklimatisierten Bus, der vierzig unbequeme, holprige Stunden lang unterwegs war. Vierzig Stunden, in denen sich Marius in den düstersten Farben ausmalte, wie er hier seine Zelte abbrechen und als Versager mit eingezogenem Schwanz in die Schweiz zurückkehren müsste … Der liebe Gott war ihm jedoch wohlgesonnen: Die Ware verkaufte sich in der Schweiz hervorragend. Sogar mit Gewinn. Und auf dem Anwesen der Dählers bei Salvador steht heute eine Kapelle. 1993 kam in Brasilien der Währungsumbruch. Praktisch über Nacht liess sich durch die harte Währung mit dem Früchteexport kaum mehr Geld verdienen. Marius Dähler ist aber keiner, der einfach aufgibt. Und zum Glück war inzwischen auch sein zweites Standbein, zu dem er vor einiger Zeit mehr aus Zufall gekommen war, trag fähig: eine Milchfabrik. Der Schweizer Konditor eines benachbarten Fünfsternehotels hatte ihn vor einigen Jahren um Hilfe gebeten, weil der Schlagrahm in
«Ich muss das produzieren, was die Kunden wollen, nicht das, was ich selber mag. Denn der Kunde braucht mich nicht – aber ich brauche den Kunden.»
Brasilien seine Ansprüche nicht erfüllte. Marius Dähler, der den Vorschlag einer Milchprodukteherstellung erst mit «Schuster, bleib bei deinem Leisten» gekontert hatte – schliesslich hatte er zeit seines Lebens ausschliesslich mit Früchten zu tun gehabt –, hatte dann doch Gefallen an der Idee gefunden und eine kleine Milchwirtschaft aufgebaut. Mit hundert Litern hatte eine weitere Erfolgsgeschichte begonnen, die ein paar Jahre später mit einer Handvoll Angestellten aus täglich 15 000 Litern Milch von zweihundert Kleinbauern der Umgebung Frischmilch, Rahm, Butter, Mozzarella und Joghurt nicht nur ins nahe gelegene Hotel, sondern auf den regionalen Markt brachte. Die Butter, so erzählt Marius Dähler, hat er so hergestellt, wie sie die Einheimischen bevorzugen: Mit gelber Lebensmittelfarbe verlieh er ihr den in Brasilien so beliebten Farbton, und selbstverständlich war sie salzig, so, wie die Menschen hier es gewohnt sind. Marius Dähler ist bei allem, was er tut, überzeugt: «Ich brauche nicht das Rad neu zu erfinden. Ich muss mich so verhalten, wie es der Umgebung angepasst ist und wie es die lokalen Eigenheiten erfordern. Und ich muss das produzieren, was die Kunden wollen, nicht das, was ich selber mag. Denn der Kunde braucht mich nicht – aber ich brauche den Kunden.» Anpassen kann sich Marius Dähler
gut. «Mir gefällt es überall», sagt er von sich. Er beobachtet, lernt, handelt. Schon damals in der Lehre im Welschland, später in New York und auch in Brasilien. Heimweh kannte er nie, «ausser vielleicht nach einem währschaften Cervelat und nach Thomy-Senf». Beides liess er sich jeweils von Besuchern nach Brasilien mitbringen. Das brasilianische Dähler-Unternehmen liegt im Norden des Landes, im Staat Bahia, nahe der Stadt Salvador und dem Äquator. Marius war schon bei seiner Ankunft mehr als angetan gewesen vom wunderbaren Klima, der Wärme, dem Meer und den offenen, lebensfrohen und freundlichen Menschen. Eine Umgebung ganz nach seinem Geschmack. Nach nur drei Monaten sprach er perfekt Portugiesisch. Als geselliger Mensch hatte er die Sprache auf die natürlichste und unterhaltsamste aller Arten erlernt – im täglichen (und abendlichen) Gebrauch, ergänzt durch diszipliniertes Selbststudium. Für einen offenen, gradlinigen und entschlossenen jungen Mann wie ihn war es denn auch nur eine Frage der Zeit (von sehr kurzer Zeit übrigens), bis er sich in eine temperamentvolle Brasilianerin verliebte, sie kurz darauf heiratete und einundzwanzigjährig seine eigene Familie gründete. Marius, der Familienmensch, kennt es nicht anders; eine Kleinfamilie mit nur einem oder zwei Kindern wäre für ihn
nicht denkbar gewesen. So war er mit achtundzwanzig Jahren bereits vierfacher Vater. Seine Söhne, mit Abständen von zwei, drei und zwei Jahren geboren, hatten eine ebenso schöne und unbeschwerte Kindheit wie ihr Vater. Sie führten ein Leben wie im Paradies, tobten draussen herum, luden Freunde ein und genossen das nahe Meer wie auch alle anderen Annehmlichkeiten des Landes in vollen Zügen. Wie in Brasilien üblich, wurde auch der Dähler-Haushalt von mehreren Angestellten unterstützt; ein Chauffeur gehörte selbstverständlich ebenfalls dazu. Manchmal hatte Marius Mühe mit dieser Art zu leben – er empfand zu viele Nichtfamilienangehörige im Haus als eher belastend für seine Partnerschaft. Heute gibt er zu, dass er den Kulturunterschied zwischen der Schweiz und Brasilien wohl weitgehend einfach ausgeblendet habe. Daneben verlangten ihm seine Geschäfte noch immer ein enormes Arbeitspensum ab. Doch trotz all dieser Belastungen gelang es ihm, ausgiebig Zeit mit der Familie zu verbringen und viel mit seinen Buben zu unternehmen. Ein gutes Leben ist Marius Dähler genauso wichtig wie saubere und ehrliche Arbeit zu leisten. Aus diesem Grund hatte er zeitgleich mit der Gründung seiner beruflichen Existenz in Brasilien eine kleine Farm angelegt. «Nur als Hobby, nichts Grosses, ein paar Pferde,
ein bisschen Tourismus, eine kleine Papayaplantage, aber bloss für den Eigenbedarf», präzisiert er bescheiden. «Ganz bestimmt nicht wegen des Geldes. Ich liebe es einfach, es mir auch mal gutgehen zu lassen, zu grillieren, mit Blick auf das Meer und mit Freunden und Familie die schönen Seiten des Lebens zu geniessen.» Nach vierzehn erfolgreichen Jahren in Brasilien verstand sich Marius Dähler schon fast als Einheimischer. Er hatte unzählige Erfolgserlebnisse, bereichernde Begegnungen und ebenso viele glückliche Momente gehabt. Negative Ereignisse vergesse er sowieso immer gleich wieder, sagt er. Ausser diesen einen dramatischen Vorfall nach etwa sieben Jahren. Der hat sich fest in seiner Erinnerung eingebrannt. «Einer meiner Arbeiter, ein grossartiger Freund und Kumpel in meinem Alter, hatte nach einer gemeinsamen Feier zu Hause noch weitergetrunken und war dementsprechend ordentlich ‹zwäg›, als er bemerkte, dass die Wasserzufuhr unterbrochen war. So machte er sich auf zum Sodbrunnen, der zum Grundstück gehört – eine eher provisorische Installation –, um die Wasserpumpe zu kontrollieren. Dabei vergass er, den Strom auszuschalten. Er muss nach einem heftigen Schlag sofort tot gewesen sein. Seine Frau machte sich Sorgen, rief mich um 4 Uhr morgens an, als ihr Mann noch immer nicht zurück
war. Ich machte mich mit einem meiner Angestellten auf den Weg, und zusammen mit der Frau des Freundes und seinen beiden kleinen Söhnen durchkämmten wir in der Morgendämmerung das ganze Anwesen. Keine Spur vom Gesuchten. Aber als ich am Draht im Brunnen zog, lag er direkt vor uns, der Zweimeterhüne. Ein schrecklicher Anblick – und das vor den Augen seiner Frau und seiner Kinder. Das war einer der grauenvollsten Momente meines Lebens. Aber da war nicht nur die emotionale Belastung: Der Vorfall hätte mir auch geschäftlich das Genick brechen können. Hätte mich seine Familie verklagt, wäre ich ein für allemal erledigt gewesen – Rechtsstreitigkeiten in Brasilien können unendlich lang, kompliziert und unglaublich teuer sein. Hier hat mich jedoch einer meiner Grundsätze gerettet: Weil ich alle meine Angestellten stets gut behandle, haben die Eltern des Verstorbenen auf eine Anzeige verzichtet. Diese, deutsche Auswanderer in der zweiten Generation, die ich nach dem Unfall besuchte, wussten von der Trinkfreudigkeit ihres Sohnes. Und die Mutter weinte zwar, sagte jedoch zu mir: ‹Mein Sohn hatte auch selber Schuld an dem Vorfall. Ich weiss aber, dass er als glücklicher Mann gestorben ist. Noch niemals ist er so gut und freundlich behandelt worden.› Dann holte sie Speisen und Getränke hervor und bewirtete
ÂŤNiemals zuvor war mir so deutlich geworden, wie grundlegend es ist, alle Angestellten gut und respektvoll zu behandeln.Âť
mich einen Abend lang aufs Herzlichste. Niemals zuvor war mir so deutlich geworden, wie grundlegend es ist, alle Angestellten gut und respektvoll zu behandeln – zumal das doch für mich ganz selbstverständlich ist.» Marius geschäftete weitere sieben Jahre mit Früchten und seiner Milchfarm, bis er sich schliesslich entschied, seinen Söhnen in der Schweiz eine gute Schulbildung zu ermöglichen. Im Jahr 2000 vermietete er die Milchfarm und zog mit seiner Familie von Brasilien in den Thurgau. Die Buben waren begeistert: Sie liebten den Bodensee und die bisher unbekannten Jahreszeiten, konnten im Wald spielen, Ski und Motorrad fahren, fanden schnell neue Freunde und auch den Anschluss an ihre Schweizer Grossfamilie mit über dreissig Cousinen und Cousins. Marius’ Frau hingegen ist mit der Schweiz nie warm geworden; so war denn ihre Rückreise nach Brasilien und die darauf folgende Scheidung unvermeidlich. Marius Dähler hätte nach seiner Rückkehr gerne in der Firma seiner Brüder Hermann und Markus mitgearbeitet, doch die beiden hatten andere Pläne. So gründete er in Fruthwilen seine eigene Firma und importierte Früchte aus Brasilien. 2010 ging die Firma der Brüder in Konkurs. Marius übernahm deren Kundenstamm und die Lokalitäten, baute zusammen mit einem Neffen ein weiteres erfolg-
reiches Unternehmen auf und kann auch auf die Unterstützung weiterer Familienmitglieder zählen. Auch hier gibt es viel zu tun, aber «die Firma ist auf Kurs». Marius Dähler ist keiner, der sich in sein Chefbüro zurückzieht. Am liebsten arbeitet er mitten unter seinen Angestellten, will das Leben und den Arbeitstag spüren und in ständigem Austausch mit den Menschen stehen. In den Lagerhallen im Eichhof bei Raperswilen stapeln sich Mangos aus Costa Rica und Thailand, Papayas aus Brasilien, Ingwer aus C hina, Mangos, Chilis, Mini-Maiskolben, Thai-Basilikum, Kiwis, Limetten, Süsskartoffeln, Ananas und vieles mehr. Dähler beliefert Grosshändler wie Globus, Migros, Denner und Spar; ein Teil der Südfruchtlieferungen geht auch direkt vom Flughafen Kloten weiter nach Deutschland. In den Wintermonaten ist bei Dählers Hochsaison, ab April wird es ruhiger. Marius Dähler, der Autodidakt – «was du brauchst, lernst du dann schon» –, hat es einmal mehr geschafft. Eines der Erfolgsgeheimnisse des Thurgauers ist mit Sicherheit seine Bescheidenheit und Bodenständigkeit: Er nimmt nichts für gegeben, versucht, jeden Morgen bei null zu beginnen, ist sich sehr bewusst, dass das Kundenvertrauen ein zartes Pflänzchen ist, das es täglich neu zu pflegen gilt. Und er bedankt sich ehrlich und von ganzem Herzen für jeden einzelnen
Auftrag. So hat er erreicht, in seiner gesamten B erufslaufbahn niemals in ernsthafte finanzielle Engpässe zu geraten. «Auf jeden Fall nicht wegen schlechter Geschäftsführung. Wenn nun zum Beispiel Chemierückstände auf einer meiner Früchte entdeckt würden, wäre unser Geschäft Geschichte.» Ein weiterer Erfolgsfaktor ist Marius’ bedingungslose Kundenorientierung: Es gibt fast nichts, was er für seine Kunden nicht tun würde. (Auf die Frage danach fällt ihm nur ein: «Illegale Sachen.») Auch wenn es darum geht, mal privat einen Flug zu buchen oder einen Aufenthalt in Brasilien zu arrangieren. Selbst verbringt er ebenfalls so viel Zeit wie möglich in seinem brasilianischen Zuhause. Denn das mit dem nicht vorhandenen Heimweh, von dem zuvor die Rede war, hat sich in der Zwischenzeit geändert. Marius Dähler hat sein Herz an Brasilien verloren. «Ich bin auch immer noch mit einem Bein dort», sagt er. Am liebsten ginge er sofort wieder zurück. Für immer. Das lässt sich aber heute und morgen nicht einrichten: Erst soll das Geschäft hier im Thurgau wieder brummen und die Söhne selbstständig sein. Damit sein Traum aber in nicht allzu ferner Zeit Realität wird, hat Marius Dähler natürlich auch hierfür schon einen Plan. Den Mietvertrag für seine Milchfarm, deren Produktion in den vergangenen zwölf Jahren auf fünfzehnhundert Liter
gesunken ist, hat er aufgelöst, die Geschäfte wieder selbst übernommen und ist nun daran, die Produktion wieder auszubauen. «Ich möchte», so sagt er, «bis spätestens in fünfzehn Jahren wieder zurück in Brasilien sein.» Es besteht kein Zweifel daran, dass Marius D ähler auch dieses Ziel erreicht.
Porträt
Zu dieser Ausgabe
Kein anderer unserer Mitarbeitenden
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würde sich wohl besser eignen, hier vor-
Umschlag: Magno Satin halbmatt,
Sonderegger Druck AG
gestellt zu werden, als Urs Seehawer. Ist
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er doch verheiratet mit «seiner» Brasili-
Inhalt: Magno Satin halbmatt,
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anerin Dirce, und die beiden Kinder im
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Teenie-Alter haben das feurige Tempe-
Papierformat: 70 cm x 100 cm
Text
rament manchmal allzu gut verinnerlicht.
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Christine Hinnen
Herausgeber 2
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Apropos «feurig»: Unter dem Namen
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«Rei da Picanha» (www.reidapicanha.ch)
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führt er zusammen mit seiner Frau ein auf
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da auch, aber primär wird gegrillt, was
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das Feuer hergibt. Urs läuft also alles
Spezielles: Erste Umschlagseite mit
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andere als auf Sparflamme – weder privat
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noch bei uns als Abteilungsleiter Weiter-
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verarbeitung. Mit seinem achtköpfigen
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Team sorgt er tagein, tagaus für den letz-
Bildaufbereitung:
ten Schliff der Drucksachen. Wobei er als
PSO coated ISO12647 (ECI)
Copyright
«letzte Instanz» schon auch mal die eine
Rasterweite: 80 Linien/cm
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oder andere heisse Kohle aus dem Feuer
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holen muss – was ihm als gelerntem
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Druckauflage 1700 Exemplare
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ship Council (FSC) haben wir uns
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nicht zuletzt der Weiterempfehlung
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