Sicher? Das Magazin zur Ausstellung

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Sicher ? Das Magazin zur Ausstellung


Inhalt

Impressum Sicher? Das Magazin zur Ausstellung Diplomprojekt von Diane Rosenstock Das gesamte Projekt ist abrufbar unter www.bist-du-sicher.tumblr.com Entstanden an der Hochschule Darmstadt Fachbereich Gestaltung Studiengang Kommunikations -Design Referentin: Prof. Isabel Jägle Sommersemester 2013 2

Schriften: Minion Pro Caecilia LT Std Frutiger LT Std Papier: PROFIsilk 100g/qm

Ich danke Adolf Rosenstock, Jasmin Rosenstock, Bernadette Engel, Nicole Lössner und Fabian Körber für ihre Unterstützung.


Sicher ? Inhalt 4

Vertrauen Was ist Vertrauen? Und weshalb vertrauen wir? Das Phänomen des Vertrauens ist komplex und vielschichtig.

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Misstrauen Was ist Misstrauen? Und wie verhalten sich Vertrauen und Misstrauen zueinander?

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Weltvertrauen Das als selbstverständlich genommene Grundvertrauen wird meist erst dann bewusst, wenn es in Frage gestellt oder gebrochen wird.

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Vertrauen in der Kommunikation Weshalb kommunizieren wir? Wie funktioniert Kommunikation? Und was hat Kommunikation mit Vertrauen zu tun?

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Subjektive Lebenswelten Wahrnehmung, Gedächtnis und Bewusstsein bilden die Grundlagen menschlichen Lebens. Sie sorgen dafür, dass wir durch subjektives Erleben, Urteilen und Reflektieren in der Welt agieren können.

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Die verwendete Literatur


VER

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ERTRAUEN „Vertrauen lässt sich bestimmen als Zutrauen zur Zuverlässigkeit einer Person oder eines Systems […], wobei dieses Zutrauen einen Glauben an die Redlichkeit oder Zuneigung einer anderen Person oder an die Richtigkeit abstrakter Prinzipien zum Ausdruck bringt.“ Anthony Giddens

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Vertrauen

Vertrauen setzt voraus, dass man von der Zuverlässigkeit einer Person, eines Objekts oder eines Systems überzeugt ist. Wer vertraut, erwartet, dass jemand in seinem Sinne handeln beziehungsweise dass etwas nach seinen Bedürfnissen funktionieren wird. Erwartungen sind Vorstellungen über zukünftige Ereignisse. Da es sich dabei lediglich um im Bewusstsein konstruierte Inhalte handelt, müssen sie nicht den Tatsachen entsprechen.

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Vertrauen ist immer das Resultat eines kontinuierlichen Prozesses positiver Erfahrungen. Es wächst am wechselseitigen Geben und Nehmen. Vertrauen ist somit kein statischer Zustand, sondern ein ständiges Abgleichen mit zurückliegenden Erfahrungen und ein stetiges Erlernen von neuen Situationen und Begegnungen. Eine stabile und funktionierende Vertrauenskultur zeichnet sich dadurch aus, dass man anderen vertraut und selbst Adressat von Vertrauen ist. Die Basis aller Handlungen ist ein gemeinsames System von Werten und Normen.


„Analog zum Phänomen der Treue oder auch dem der Autorität haben wir es beim Vertrauen mit einem sozialen Zuschreibungsphänomen und nicht mit einer individuellen Eigenschaft zu tun. […] Im Rahmen einer soziologischen Thematisierung kann Vertrauen nicht auf die Einstellung oder das Gefühl einer Person zu einer anderen reduziert werden.“ Martin Endreß

Betrachtet man das Thema aus einem soziologischen Zusammenhang heraus, ist Vertrauen als ein soziales Zuschreibungsphänomen zu verstehen. Man kann es nicht auf eine Einstellung oder ein Gefühl einer Person zu einer anderen reduzieren. Der Philosoph Martin Hartmann bezieht in seiner Untersuchung alle Bereiche des Vertrauens mit ein – Politik, Wirtschaft und die Familie. Er beschreibt die Prozesse der Vertrauensbildung zwar als ein hochkomplexes Phänomen, bezeichnet Vertrauen selbst jedoch als Einstellung.

Washalb wir vertrauen

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Vertrauen ermöglicht uns die Verwirklichung unserer Pläne, Projekte und Wünsche. Da wir nur vertrauen, wenn wir von den wohlwollenden Absichten anderer oder der korrekten Funktionalität von Dingen überzeugt sind, bleibt eine ständige Kontrolle aus. Somit kommen wir durch vertrauensvollen Umgang ohne risikoabwägende Umsicht, also ohne Umwege, ans Ziel. Je globaler und komplexer unser Leben wird, umso stärker sind wir von anderen abhängig – von der Technik, von Experten und von Institutionen. Sie handeln für uns, wenn wir es nicht mehr können. Jedes Individuum ist ein Glied in einem Netz, das immer vielfältiger wird. Dieses Netz kann nur bestehen, wenn die einzelnen Komponenten sich gegenseitig vertrauen. Je ausgeprägter die Vertrauenskultur ist, desto stabiler ist das Netz. Und je stabiler das Netz, umso größer werden die Möglichkeiten individuellen Handelns. Vertrauen bietet uns somit Sicherheit und Stabilität in der Gesellschaft und ermöglicht uns eine Vielzahl von Chancen und Perspektiven.

„Vertrauen, so zeigt er, reduziert nicht Komplexität, wie oft vermutet, es ist selbst ein hochkomplexes Phänomen, das deutlich macht, wie zerbrechlich und anspruchsvoll Prozesse der Vertrauensbildung sind.“

„Vertrauen ist eine relationale, praktischrationale Einstellung, die uns in kooperativer Orientierung und bei gleichzeitiger Akzeptanz der durch Vertrauen entstehenden Verletzbarkeiten davon ausgehen lässt, dass ein für uns wichtiges Ereignis oder eine für uns wichtige Handlung in Übereinstimmung mit unseren Wünschen und Absichten eintritt.“ Martin Hartmann


Vertrauen

Die Ebenen des Vertrauens

Der Vertrauensprozess

Vertrauen ist ein wesentlicher Aspekt menschlichen Lebens der auf den verschiedensten Ebenen zu finden ist. Jede Ebene wird durch ein bestimmtes Vertrauen charakterisiert.

Erfahrungen

Beginnt man beim Individuum selbst, so ist die erste Ebene des Vertrauens das Selbstvertrauen – ein Vertrauen in die eigenen Kräfte und Fähigkeiten. Darauf folgt das Vertrauen in Sozialbeziehungen, also das Vertrauen zu Familie, Partner und Freunden. Es zeichnet sich durch ein gezieltes, persönliches und vor allem wechselseitiges Vertrauen in- und aufeinander aus. Obwohl es die wichtigste Ressource der Beziehung darstellt, wird es nicht thematisiert. Ein Ansprechen, wie etwa die Aufforderung „Vertraue mir!“ zeigt die Grenzen des Vertrauens an. Es deutet entweder auf einen möglichen Anfang oder ein drohendes Ende der Beziehung hin. Vor allem aber zeigt es, dass eine selbstverständliche Vertrauenspraxis in einem bestimmten Bereich noch nicht etabliert wurde. Der Soziologe Martin Endreß gliedert die Ebenen des Vertrauens in drei Oberkategorien. Die Ebene der Sozialbeziehungen bezeichnet er als Mikroebene. Die Mesoebene stellt das Vertrauen in Experten, in bestimmte Organisationen und Institutionen als auch das kommerzielle Vertrauen in Produkte dar. Diese Art des Vertrauens setzt eine bewusste Überzeugung der jeweiligen Kompetenzen, Arbeitsqualitäten und Zuverlässigkeit voraus. Außerdem wird das Vertrauen hier gezielt von unseren Wünschen und Absichten motiviert.

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Das generelle und unspezifische Vertrauen in das vorherrschende System und in Institutionen bildet die Makroebene. Ein gewisses Maß an Vertrauen in die Staatsform, die gesetzgebende, richtende und ausführende Gewalt des Staates ist notwendig, um im Staat existieren zu können. Als Gegenleistung des geschenkten Vertrauens müssen generelle Erwartungen, wie etwa gerechte Behandlung, Schutz und Hilfeleistungen erfüllt werden. Dieses Systemvertrauen ist nicht an ausführende Personen der jeweiligen Institutionen gebunden. Man kann beispielsweise sein Misstrauen gegenüber bestimmten Politikern äußern, ohne dass das Vertrauen in die Demokratie als solche geschwächt wird.

Erfahrungen beeinflussen wie und was wir wahrnehmen

Individuum Selbstvertrauen

Mikroebene Persönliches Vertrauen: Freundschafts-, Familien- und Liebesbeziehungen

Erfahrungen bezüglich der bevorstehenden Vertrauensentscheidung

Mesoebene Positions- und Rollen -Vertrauen: Vertreter bestimmter Berufsgruppen, Berufspositionen Kommerzielles Vertrauen: Kommerzielle Produkte Organisationsvertrauen: Konkrete Organisationen und Institutionen Technologisches Vertrauen: Expertenwissen und –systeme

Makroebene Institutionelles Vertrauen: Institutionen der Gesellschaft Allgemeines Vertrauen: Bestimmte soziale Ordnung

aus dem Umgang mit dem gechenkten Vertrauen wird eine neue Erfahrung gewonnen


Grundlage

Erwartungen

Information

Information

Information

Wahrnehmbare Umgebung

Erwartungen beeinflussen wie und was wir wahrnehmen

Reizaufnahme

selektiv und subjektiv Wahrgenommenes

Informationen werden aufgrund von Erwartungen und Erfahrungen gefiltert

Erwartungen bez체glich der bevorstehenden Vertrauensentscheidung

Kognition

Spekulationen

Alle informationen werden miteinander verrechnet und ausgewertet

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Kognition

Vertrauensentscheidung

Vertrauen

Misstrauen

Erwartungshaltung, dass das geschenkte Vertrauen nicht missbraucht wird

Der Kern des Vertrauensprozess basiert auf den Prozessen der Kognition. Die Kognition beschreibt die gedankliche Informationsverarbeitung und das Denken im weitesten Sinne. Es beinhaltet die Vorg채nge der Wahrnehmung, des Erkennens und des Erinnerns. Anhand von Wissen und Erfahrungen werden Informationen interpretiert und bewertet, um Handlungsentscheidungen zu treffen. Es kann infolgedessen als Rechenzentrum des Menschen betrachtet werden.


Vertrauen

Vertrauen – ein Zustand zwischen Wissen und Unwissen Wir vertrauen, sobald wir von den. Jede Vertrauensbeziehung den guten Absichten oder der ist daher ein Wagnis, da man sich Kompetenz anderer überzeugt niemals vollkommen sicher sein sind. Wir verlassen uns somit bei kann, ob das geschenkte Vertrauunserer Vertrauensentscheidung en missbraucht wird oder nicht. immer auf Dinge, die wir zu wis- Vertrauen ist dementsprechend sen glauben. Dabei handelt es sich ein Zustand zwischen Wissen und lediglich um Vermutungen und Unwissen – ein blindes Vertrauen, Spekulationen, die nur auf dem ein Sich-Verlassen-auf oder ein Mangel an Gegenbeweisen grün- Kein-Grund-zum-Zweifeln-Haben.

„Vertrauen beinhaltet Wagnis. […] Gerade das Maß an Unvorhersehbarem setzt Vertrauen voraus.“ Heike Bölling

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„ […] der völlig Wissende […] nicht zu vertrauen brauche , der völlig Nichtwissende […] vernünftigerweise nicht vertrauen könne“ Georg Simmel


„Vertrauen ist eine eigenartige Überzeugung, die nicht auf Beweisen, sondern auf einem Mangel an Gegenbeweisen gründet – eine Eigenschaft, die es für mutwillige Zerstörung anfällig macht.“ Martin Endreß 11


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Ein Vertrauensbruch macht h채ufig erst bewusst, dass man vertraut hat. Die zuvor als fraglos hingenommene Vertrauenseinstellung wird gebrochen und macht den vorherigen Zustand erst bewusst.

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Miss

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ssTRAUEN Misstrauen ist eine kritische Einstellung gegenüber einem Sachverhalt, die das Selbstverständliche in Frage stellt. Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit einer Person, Agwohn und Skepsis lösen Misstrauen aus.

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Misstrauen

Das Verhältnis zwischen Vertrauen und Misstrauen Misstrauen und Vertrauen verhalten sich konträr und nicht kontradiktorisch zueinander – sie sind zwar gegensätzlich, schließen sich jedoch nicht gegenseitig aus. Denn wer nicht vertraut, ist nicht automatisch misstrauisch. Vielmehr steht beiden Einstellungen die Gleichgültigkeit gegenüber. Denn während sowohl das Vertrauen, als auch das Misstrauen, davon motiviert wird, bestimmte Ziele und Absichten zu verfolgen, zeigt man im Falle der Gleichgültigkeit kein Interesse und kein Engagement. Sobald jemandem etwas egal ist, besteht kein Grund zu vertrauen oder zu misstrauen. Folglich ist man auch keiner Bedrohung ausgesetzt.

„Wenn wir nicht vertrauen, sind wir nicht notwendigerweise misstrauisch. Es lässt sich sogar sagen, dass Vertrauen und Misstrauen in dem Maße Parallelen au-fweisen, in dem sie Einstellungen des Engagements implizieren. […] Wer misstrauisch ist, verzichtet nicht unbedingt auf das Verfolgen eines Plans, er sucht gegenüber dem Vertrauen lediglich „nach anderen Mitteln“. Selbst wenn misstrauen zum Verzicht auf die Umsetzung eigener Handlungsabsichten führt, müssen sich diese Absichten nicht auflösen, müssen sie nicht an Wertigkeit verlieren. Misstrauen kann mit einem Bedauern darüber einhergehen, wichtige Pläne, Ziele oder Wünsche nicht umsetzen zu können. Martin Hartmann

„Kontrapunkt zum Vertrauen und zum Misstrauen ist folglich eine Gleichgültigkeit oder Indifferenz, die sich durch eine Abwesenheit von Interesse und Engagement kennzeichnen lässt.“ Martin Hartmann

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Die Vertrauenspraxis In einer intakten Vertrauenspraxis muss die Möglichkeit, zwischen dem Vertrauen und Misstrauen wählen zu können, immer bestehen bleiben. Jedoch wurde die Stufe des blanken Misstrauens bereits überwunden. Vertrauenspraxis bedeutet, dass während des Vertrauensprozesses Erfahrungen über Vertrauen und Misstrauen gesammelt werden. Es handelt sich um ein Lernen von Unbekanntem und Ausüben von Gelerntem.

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Institutionalisieren von Misstrauen Das Institutionalisieren von Misstrauen gilt als eine vertrauensbildende Maßnahme. Dadurch, dass jeder Einzelne die Möglichkeit besitzt, sein Misstrauen gegenüber etwas zu äußern, wird das generelle Vertrauensverhältnis innerhalb einer Gesellschaft gestärkt. Institutionalisiertes Misstrauen sind beispielsweise regelmäßige allgemeine Wahlen, zeitlich überschaubare Legislaturperioden, das Gewaltenteilungsprinzip, Einrichtung unabhängiger Medien, der Einbau von Protestartikulationen und -symbolen im offiziellen politischen Prozess oder die Verankerung von Agenturen wie Stiftung Warentest oder TÜV.

„Ohne die reale Option, den Weg des Misstrauens zu gehen, kann es kein Vertrauen geben.“ Martin Hartmann


WeltVER

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Das Weltvertrauen beschreibt jenes Vertrauen, das nötig ist, um ungehindert in der Welt agieren zu können. Deswegen wird es auch als existentielles Grundvertrauen bezeichnet.

Das Weltvertrauen beschreibt zum einen das Vertrauen in die Konstanz der Weltstruktur – wir gehen davon aus, dass die Welt, so wie sie heute ist, auch morgen noch bestehen wird. Beispielsweise zweifeln wir nicht an der Existenz der Schwerkraft oder daran, dass unser Wissen, welches wir uns mit der Zeit angeeignet haben, morgen keinen Bestand mehr haben wird. Zum anderen besteht das Weltvertrauen darin, dass ungeschriebene Sozialkontrakte jederzeit eingehalten werden. Diese Kontrakte konstituieren, dass unsere Mitmenschen uns generell ohne bösartige Hintergedanken gegenübertreten. Dieses Voraussetzen der allgemeinen Umweltbedingungen ermöglicht es uns, ohne energieraubende Vorsicht und risikoabwägende Umsicht in der Welt handeln können. Das Weltvertrauen ist uns zwar nicht bewusst, zeigt sich aber in der Selbstverständlichkeit alltäglicher Handlungsabläufe.


ERTRAUEN Zerstörtes Weltvertrauen bei Jean Améry Jean Améry wurde in Österreich geboren, als Sohn jüdischer Eltern. Sein Vater starb als Soldat im Ersten Weltkrieg und seine Mutter verstarb im Juli 1939. Améry machte eine Buchhändlerlehre in Wien und war danach als Dozent an der Wiener Volkshochschule tätig.

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Im Essay Torturerfahrungen beschreibt er ein zerstörtes Weltvertrauen auf der Ebene der ungeschriebenen Sozialkontrakte. Indem Améry der Folter ausgesetzt war, wurde seine vorherige Gewissheit über eine Welt, in der sich Menschen an geschriebene oder ungeschriebene Normen halten, zerstört. Er findet sich in einer „ver-rückten“ Welt wieder, in welcher der Glaube an logische Gesetzmäßigkeiten verloren ist. Sein Weltvertrauen wurde soweit erschüttert, dass es durch nichts wiederhergestellt werden konnte.

Als sich 1938 Österreich dem Deutschen Reich anschloss, emigrierte Améry nach Belgien. Jedoch wurde er 1940 als „feindlicher Ausländer“ festgenommen und im südfranzösischen Lager Gurs inhaftiert. Nachdem ihm 1941 die Flucht gelang, setzte er sich Auf das existentielle Weltvertrauen geht Améry im in Belgien und Österreich für den Widerstand ein. Essay Exilerfahrungen ein. Durch die Flucht aber vor 1943 wurde er jedoch erneut bei einer Protestaktion allem durch die Inhaftierung in den Konzentrationsinhaftiert und anschließend auf schrecklichste Weise lagern wurde ihm alles, was seine Heimat definierte, gefoltert. Später wurde Améry in die Konzentrations- entzogen. Dies beinhaltet nicht nur das Herausreilager Ausschwitz, Buchenwald und Bergen-Belsen ßen aus seinem einstigen Wohnort, sondern auch der verschleppt. Entzug von all dem, was seine Identität ausmachte: Ehemalige Freunde und Mitmenschen wurden zu Améry hat die Gräueltaten überlebt und seine Er- Gegenmenschen. Der Verlust des persönlichen Befahrungen im Werk Jenseits von Schuld und Sühne sitzes stellte nicht nur einen bloßen materiellen Ververarbeitet. Seine Essays handeln nicht von Schuld- lust dar, sondern ein Verlust jeglicher Erinnerung. zuweisungen. Er behandelt hauptsächlich das Thema Der damit verbundene Bezug zu seiner Vergangendes zerstörten Weltvertrauens, indem er die Gescheh- heit und zu seiner persönlichen Lebensgeschichte nisse genauestens analysiert. wurde ihm dadurch genommen. Auch die deutsche Kultur, die er sich als Teil seines eigenen Kulturguts zugesprochen hatte, wurde ihm entzogen. Der Verlust der Heimat und allem, was damit verbunden ist, ist daher ein Verlust der Identität und des eigenen Sicherheitsgefühls.

„Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt.“ Jean Améry

„Das echte Heimweh war nicht Selbstmitleid, sondern Selbstzerstörung. Es bestand in der stückweise Demontierung unserer Vergangenheit, was nicht abgehen konnte ohne Selbstverachtung und Haß gegen das verlorene Ich. […] Der mir Selbsthaß gekoppelte Heimathaß tat wehe, und der Schmerz steigerte sich aufs unerträglichste, wenn mitten in der angestrengten Arbeit der Selbstvernichtung dann und wann auch das traditionelle Heimweh aufwallte und Platz verlangte.“ Jean Améry


Weltvertrauen

Tatsächliche Position von Person A

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Scheinbare Position von Person A

Tatsächliche und scheinbare Position von Person B

Scheinbare Raumgröße

Tatsächliche Raumgröße

Guckloch


Konstanzprinzipien in der Wahrnehmung Unsere Wahrnehmung sorgt dafür, dass wir Dinge unserer Umgebung immer mit einer konstant Gestalt, Farbe und Größe wahrnehmen. Tatsächlich ist das Bild, das auf unserer Netzhaut entsteht, nämlich gar nicht so konstant, wie wir es denn wahrnehmen. Einige Wahrnehmungsprozesse sorgen dafür, dass die Bilder korrigiert werden. Dadurch nehmen wir eine gleichbleibende Umgebung wahr, in wecher wir uns leichter zurecht finden können.

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Zu diesen Prozessen gehört unter anderem die Grö- Auch andere Konstanzphänomene sorgen dafür, ßenkonstanz. Egal, aus welcher Entfernung wir einen dass wir eine „ heile Welt“ wahrnehmen. Die HelligMenschen sehen, seine wahrgenommene Größe keitskonstanz sorgt dafür, dass wir, egal welche bleibt ungefähr gleich. Doch das eigentliche Bild, das Lichtverhältnisse herrschen, Dinge in ihrer richtigen auf unserer Netzhaut entsteht, ist je nach Entfernung Farbhelligkeit wahrnehmen. Beispielsweise bleibt größer oder kleiner. Grund für diese Korrektur der ein weißes Papier für uns auch bei schwachem Licht Größenwahrnehmung ist die Verrechnung der Reiz- weiß, obwohl wir es tatsächlich als dunkelgrau sehen. größe, also der Größe des Bildes auf der Netzhaut, Wenn wir uns in unserer Umwelt bewegen, bleiben mit der geschätzten Entfernung der Person. alle anderen Dinge um uns herum an Ort und Stelle liegen. Hier greift die Ortskonstanz. Und zuletzt Zu diesem Phänomen unternahm Dr. Adelbert gibt es die Gestaltkonstanz: Eine Tasse könnte von Ames einen Versuch, indem er einen Raum konstru- der Seite auch als ein flaches Objekt wahrgenommen ierte, der nur durch ein Guckloch zu betrachten war. werden. Aber da wir wissen, dass sie kreisrund ist, Schaut man durch dieses Guckloch, erscheint der nehmen wir sie auch als ein rundes Objekt wahr, egal Raum quadratisch, also mit je gleich langen Wän- aus welchem Blickwinkel wir sie betrachten. den. Tatsächlich ist er jedoch asymmetrisch aufgebaut – seine linke hintere Ecke läuft viel weiter nach hinten aus. Bewegt sich nun eine Person von der rechten auf die linke Seite, so scheint es, als würde er schrumpfen. Dieser Eindruck entsteht, da nicht die tatsächliche Tiefe des Raumes wahrgenommen wird. Dadurch kann das Bild auf der Netzhaut nicht mit der tatsächlichen Entfernung der Person verrechnet werden. Also nimmt man die Person als schrumpfend oder wachsend wahr. Es wird behauptet, dass Eheleute ihre Partner jedoch nicht schrumpfen oder wachsen sehen. Sie nehmen stattdessen eine „Verzerrtheit“ des Raumes wahr.

„Die Welt bleibt offenbar ‚heiler‘, so können wir spekulieren, wenn sich die Wände biegen, als wenn ein Mensch zum Zwerg oder zum Riesen wird.“ Heiner Legewie und Wolfram Ehlers

„Durch diese Konstanzprinzipien leben wir in einer ‚stabilen‘ Welt, obwohl ihre physikalischen Reizcharakteristika sich ständig ändern.“ Heiner Legewie und Wolfram Ehlers

Abbildung S. 20 oben aus: Legewie, Heiner und Ehlers, Wolfram: Knaurs Moderne Psychologie. München, Zürich 1978. S. 74


VER

Kommun 22


ERTRAUEN in der ommunikation 23

Der Sinn von Kommunikation liegt darin, dass sich mindestens zwei Gesprächspartner verständigen, also Informationen austauschen. Im Idealfall sind beide gleichermaßen an der Konversation beteiligt und keiner übernimmt eine einseitige Einflussnahme. Das Ziel der Kommunikation ist es, einen Konsens zu finden – eine gewaltfreie Einigung im Gespräch.


Vertrauen in der Kommunikation

Wie Kommunikation funktioniert Jürgen Habermas definiert in seiner Theorie des kommunikativen Handelns vier Universalansprüche, denen eine idealtypische Kommunikation folgen muss.

Verständlichkeit:

Damit der Sprecher verstanden wird, muss er den Regeln der Sprache folgen.

Wahrheit:

Das Thema der Konversation muss vom Hörer als existent betrachtet werden.

Wahrhaftigkeit:

Die Aussagen, die der Sprecher macht, müssen wahrhaftig sein. Das bedeutet, dass er seine tatsächlichen Absichten klar ausdrücken muss, um den Hörer nicht zu täuschen.

Richtigkeit:

Der Sprecher muss sich vor dem Hintergrund anerkannter Werte und Normen äußern, damit der Inhalt seine Richtigkeit behält.

Die vier Aspekte einer Nachricht Der Inhalt einer Nachricht kann in vier Aspekte geteilt werden. Jeder Aspekt wird mehr oder weniger bewusst vom Sender preisgegeben und auch wieder in unterschiedlicher Gewichtung vom Empfänger wahrgenommen. Alle Aspekte sind jeweils gleichrangig aber nicht immer eindeutig. Die Reaktion des Empfängers zeigt, auf welchen Aspekt er besonders eingegangen ist.

Sachaspekt:

Meist liegt hier die deutlichste aller vier Nachrichten, da man in der Regel mit einer Aussage etwas kommunizieren möchte. Der Sachverhalt sollte möglichst klar und verständlich mitgeteilt werden.

Beziehungsaspekt:

Die Art und Weise, wie kommuniziert wird, zeigt, was der Sender vom Empfänger hält und gibt somit einen Einblick in die Beziehung der Kommunizierenden.

Selbstoffenbarungsaspekt:

Sobald man etwas kommuniziert, gibt man auch etwas von sich selbst Preis. Eine Nachricht ist somit immer eine kleine „Kostprobe der Persönlichkeit“.

Appellaspekt:

Da man häufig durch seine Aussage etwas bewirken möchte, enthält jede Nachricht einen Appellaspekt. Dieser kann explizit aber auch implizit, also mehr oder weniger versteckt, übertragen werden.

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Kommunikatives Grundvertrauen besteht darin, dass wir generell von der Wahrhaftigkeit der Aussagen anderer ausgehen.

Egal auf welcher Ebene kommuniziert wird – sei es zwischen zwei Personen, von Nachrichtenagenturen zu seinen Empfängern oder von Arzt zu Patient – wir gehen in der Regel davon aus, dass die Aussagen wahr sind. Erst im Nachhinein können wir sie auf ihre Richtigkeit prüfen. Würden wir dies nicht voraussetzen, könnte keine funktionierende Kommunikation entstehen. 25

Während Aussagen leicht manipuliert werden können, lügt die Körpersprache nur in Ausnahmefällen. Unser unbewusstes Gespür für die Wahrhaftigkeit der Körpersprache fällt ebenfalls unter das kommunikative Grundvertrauen. Gesten und Körperhaltungen liefern uns meist verlässliche Hinweise über die Gedanken und Absichten eines anderen und warnen uns, falls das Gesagte nicht mit der Körpersprache einher geht.


Subj LeBensw 26


ubjektive nswelten Vertrauensentscheidungen f채llen wir aufgrund von Erfahrungen, Erwartungen und dem, was wir wahrnehmen. Durch eine Vielzahl von Faktoren bildet jeder seine eigene, ganz subjektive Lebenswelt.

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Subjektive LeBenswelten

Die Aufgabe der Wahrnehmung Die Aufgabe der Wahrnehmung besteht darin, Informationen über unsere Umwelt aufzunehmen. Diese Informationen nutzen wir, um in der Umwelt agieren und reagieren zu können. Die klassischen fünf Sinne – Sehen, Hören, Tasten, Riechen und Schmecken – sind lediglich verschiedene Arten, wie Reize aufgenommen werden. Sie reichen jedoch nicht aus, um der Komplexität des Prozesses der Wahrnehmung gerecht zu werden. Durch das Wahrgenommene können wir uns orientieren, wir bekommen einen Eindruck von Raum und Zeit, von Entfernung und Standort. Wir erkennen Dinge um uns herum und können in der Welt und mit anderen Beteiligten agieren und auf Geschehenes reagieren. Generell ist die Wahrnehmung ein Teil der umfassenden menschlichen Informationsverarbeitung und Handlungssteuerung.

Wahrnehmung, Gedächtnis und Bewusstsein Die wichtigsten Aspekte, die menschliches Leben ausmachen, sind die Wahrnehmung selbst, die mit ihr verbundenen Aktivitäten des Gedächtnis’, unser Bewusstsein und die Fähigkeit zur Sprache. Der Prozess der Wahrnehmung ist sehr eng mit der Reizverarbeitung im Gedächtnis und dem Bewusstsein verstrickt. Jede wahrgenommene Information wird sofort vom Gedächtnis je nach Inhalt und Bedeutung eingeordnet und kategorisiert. Das Gedächtnis und das Bewusstsein wiederum können die Wahrnehmung steuern, in dem gezielt und bewusst nach Informationen gesucht wird. 28

„Wir sind in der Lage, diesen Strom [an Informationen ] willkürlich zu jedem Moment zu ‚unterbrechen‘ und Erinnerungsvorstellungen und Vorstellungen über künftige neue Ereignisse und Handlungen zu erzeugen. Diese Fähigkeit zum willkürlichen Abrufen von Erinnerungen und dem willkürlichen Erzeugen von künftiger möglicher Ereignisse, gepaart mit der Fähigkeit zur Sprache, dürfte die wichtigste Grundlage der Flexibilität menschlicher Informationsverarbeitung sein. Ihre Entstehung war vermutlich ein wesentlicher Schritt in der Evolution des Menschen. Sie befähigt uns, die wahrgenommene Welt zu zergliedern und wieder aufzubauen.“ Bruce E. Goldstein

Durch das Zusammenspiel von Wahrnehmung, Gedächtnis und Bewusstsein ist es dem Menschen möglich, jederzeit Erinnerungen abzurufen und Visionen über zukünftige Ereignisse in seiner Vorstellung entstehen zu lassen. Dies ermöglicht es uns genauestens zu reflektieren und vorausschauend zu handeln.


Das subjektive Erleben Da wir nicht alle Reize unserer Umwelt verarbeiten können, suchen wir uns jene heraus, die für uns und unser Handeln von Bedeutung sind. Dadurch wird die Wahrnehmung unserer Umwelt selektiv und subjektiv. Durch dieses selektive Erleben konstruiert jedes Individuum seine eigene Lebenswelt. Wir können unsere Aufmerksamkeit nur auf bestimmte für uns wichtige Aspekte beschränken, wodurch uns anderes entgeht oder nur peripher wahrgenommen wird. Dieses Phänomen könnte als eine Art „technischer Filter“ betrachtet werden, da eine breitere Form der Wahrnehmung für den normalen Menschen nicht möglich ist.

„Die soziale Wahrnehmung geht […] oft über das unmittelbar Gegebene hinaus – die Grenze zwischen „Wahrnehmung“ und „Ansicht“ ist fließend.“ Heiner Legewie und Wolfram Ehlers

„Kommunikation ist ein sozialer Prozess, in dessen Verlauf sich beteiligte Personen wechselseitig zur Konstruktion von Wirklichkeit anregen.“ Wolfgang Frindte

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„ [ Die] Wahrnehmung erzeugt das nötige subjektive Erleben der Umwelt, und sie macht es uns möglich, dass wir in ihr agieren.“ „Es geht beim Sehen nicht um eine ‚Bildübertragung‘, sondern um die Übermittlung und Extraktion jener Informationen, die für das Handeln signifikant sind.“ Bruce E. Goldstein

Unsere Wahrnehmung wird stark von Hintergrundwissen, wie Erfahrungen und Vorurteilen beeinflusst. Sie steuern nicht nur, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten, sondern können das Wahrgenommene zusätzlich verzerren und verfälschen.

Tatsächliche Informationen können so durch Vorurteile vermischt werden und bilden somit möglicherweise ein verzerrtes Bild unserer Wirklichkeit. Vor allem in der Kommunikation können schnell Verzerrungsprozesse zu Missverständnissen führen. Nachrichten sind mal mehr, mal weniger deutlich. Je undeutlicher sie sind, desto mehr Spielraum bleibt dem Empfänger auf Grund seiner bisherigen Erfahrungen und Erwartungen die Nachricht zu deuten. Dies kann dazu führen, sodass der Empfänger nur das versteht, was er erwartet und nicht etwa das, was der Sender eigentlich beabsichtigt hatte. Wir konstruieren immer ein Bild des anderen und ein Bild unserer Umgebung, beide basieren sowohl auf der Realität als auch auf Phantasien. Die Wahrnehmung der Kommunikation und die Wahrnehmung unserer Umgebung ist somit selektiv und ergänzend. Wir sehen also oft das, was wir erwarten und das, was wir sehen möchten. Dies kann gefährlich werden, sobald es zur Bestätigung von Vorurteilen oder „Stereotypen“ beiträgt.


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Die Literatur Endreß, Martin: Vertrauen. Sozilogische Themen. Bielefeld 2002. Hartmann, Martin: Die Praxis des Vertrauens. Berlin 2011. Erikson, Erik H.: Kindheit und Gesellschaft.

Bohm, Ralf und Wilharm, Heiner: Inszenierung und Vertrauen. Grenzgänge der Szenografie. Szenografie und Szenologie Band4. Bielefeld 2011. Schulz von Thun, Friedmann: Miteinander Reden 1. Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation. Hamburg 2005.

Stuttgart 1968. Frindte, Wolfgang: Winncott, Donald W.: Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart 2012. Korte, Elmar: Zerstörtes Weltvertrauen bei Jean Améry. Aachen 2000.

Einführung in die Kommunikationspsychologie. Weinheim 2001. Goldstein, E. Bruce: Wahrnehmungspsychologie. Heidelberg, Berlin 2002. Legewie, Heiner und Ehlers, Wolfram: Knaurs Moderne Psychologie. München, Zürich 1978.

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Diplomprojekt von Diane Rosenstock


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