critica
Zeitung von Die Linke.SDS (Sozialistisch–Demokratischer Studierendenverband) Ausgabe Nr. 17 / 2016 � www.critica-online.de
Unsere Alternative heißt Solidarität! Wie sich junge Menschen gegen Rechts engagieren. S.2
Hochschule
Was sich für Studierende jetzt ändert – und was nicht. S. 8-9
Frankreich
Impressionen vom heißen Sommer des Widerstands. S. 10
Kultur
Metal-Gittaristin im Interview: „Hört endlich wieder Rock!“ S. 13
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Editorial
Liebe Leserin, lieber Leser,
Wo sind die KämpferInnen gegen Rechts?
unser Redakteur Malte hat es schon schwer. Jedes Mal, wenn er einen Artikel mit uns besprechen will, quatscht jemand aus der Redaktion dazwischen. Entnervt versucht er sich mit einem Schweigefuchs Ruhe zu verschaffen. Kübra ist entsetzt: ist Malte zum Nazi geworden? Denn hinter dem scheinbar harmlosen Handzeichen verbirgt sich das Erkennungszeichen der türkischen FaschistInnen (S. 6). Rechte gibt es nicht nur in der Türkei, auch Deutschland ist 1945 nicht plötzlich nazifrei geworden. Deshalb ist es wichtig, dass sich so viele für Menschlichkeit einsetzen. Jakob hat einige von ihnen besucht (S. 2–3). Rechter Populismus geht Hand in Hand mit Neoliberalismus. Dagegen protestieren in Frankreich Jugendliche mit Gewerkschaften (S. 10–11), währenddessen die Kampagne für den Brexit hauptsächlich von rassistischen IdeologInnen getragen wurde (S.14). Niedergeschlagen von dem Rechtsruck in Europa verweigerte sich die Redaktion aus Prinzip dem neoliberalen Fitnesswahn und schob sich Burger und Pizza rein (S. 4–5). Dabei flüchtete sie sich in feministische Popmusik der 90er (S.12). Doch die Realität und die Sorgen des Alltags holten sie bald wieder ein – vor allem der Stress im Studium, wo man Credit Points wie Pokémon jagen muss (S. 8–9). Den Unialltag übersteht und verändert man nur gemeinsam. Einen Finger kann man brechen, aber fünf Finger sind eine Faust!
Die AfD hat bei allen Wahlen 2016 hinzugewonnen. Was heißt das vor Ort und wo gibt es Stimmen gegen Rechts? Jakob Migenda hat sich umgesehen.
Weil 16 Seiten viel zu wenig sind, um über alle Themen zu schreiben, die wir interessant finden, gibt es mehr critica auch online: www.critica-online.de
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Impressum critica: Semesterzeitung von Die Linke.SDS Nr. 17/2016 Kleine Alexanderstraße 28, 10178 Berlin Redaktion: Alexander Hummel, Bettina Gutperl, Constantin Braun, Daniel Anton, Daniel Urbach, Deniz Remberg, Dorian Tigges, Jakob Migenda, Janis Ehling, Kübra Çığ, Lennart Michaelis, Malte Pannemann, Marcel Helwig, Max Manzey, May Blank, Ramona Seeger, Ronda Kipka. Layout: Maik Brückner Druck: Nordost-Druck, Flurstraße 2, 17034 Neubrandenburg ViSdP: Bettina Gutperl, Kleine Alexanderstraße 28, 10178 Berlin Anzeigen und Bestellungen: info@critica-online.de www.critica-online.de Cover: Maik Brückner
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eine Suche beginnt im Land meiner Jugend, in Mecklenburg-Vorpommern (MV). Von hier kommen nicht nur Schreckensmeldungen über rechte Wahlergebnisse, sondern auch die Band “Feine Sahne Fischfilet”. Vor den Landtagswahlen haben sie eine Konzertreihe gestartet, um antifaschistische Kultur aufs Land zu tragen. Bei ihrem Abschlusskonzert in Jarmen – dem Heimatort ihres Sängers Monchi – sind auch meine Bekannten Bettina und Maximilian da, die extra aus Bayern gekommen sind. Sie finden, dass hier jede Stimme und Hilfe gegen Rechts gebraucht wird. Aber vom Ausmaß sind sie doch überrascht. Maximilian sagt mir, dass er einmal 125 Plakate von AfD und NPD auf 1,5 Kilometern gezählt hat. Allerdings erzählen sie mir auch von linker Gegenwehr, von der sie auf dem Festival gehört haben. „Linke veranstalten Dorffeste, sie stören Nazi-Konzerte und machen Blockade-Trainings sowie politische Bildung auf Höfen“. Gerade für diese Initiativen sei es wichtig, Kraft zu tanken. „Trotz der scheiß Situation ist MV noch nicht komplett im Arsch. Das hat vielen Leuten Hoffnung gemacht.“
„Trotz der scheiß Situation ist MV noch nicht komplett im Arsch. Das hat vielen Leuten Hoffnung gemacht.“ bettina
Der Rechtsruck ist nicht nur ein ostdeutsches Problem. Die AfD konnte im März zweistellig in die Landtage in Stuttgart und Mainz einziehen. Deshalb organisiert sich auch bundesweit Gegenwehr. In Berlin treffe ich Ronda. Die junge Aktivistin arbeitet für das im Frühjahr gegründete Bündnis „Aufstehen gegen Rassismus“. Es reicht von Gewerkschaften über migrantische Organisationen und der Linkspartei bis zu Studierendenvertretungen und Antifa-Gruppen. „Wir wollten nicht nur die üblichen Verdächtigen erreichen, sondern auch andere, bisher inaktive Leute. Und das nicht nur für eine Demo“, erklärt sie mir die Breite des
Bündnisses. Zu einzelnen Demoevents wie damals gegen die Naziaufmärsche in Dresden zu mobilisieren, reiche heute nicht mehr. „Das ist leider kein einmaliger Naziaufmarsch, den man mit einer Blockade stoppen könnte“, sagt Ronda. Auch der Sozialwissenschaftler Horst Kahrs sieht eine neue Qualität in der AfD. „Die AfD ist für Leute aus der sozialen und politischen Mitte wählbar, die NPD kam nie aus der Schmuddelecke heraus“, erklärt er mir. Durch ihre Erfolge und Tabubrüche könne sie jetzt auch die Themen setzen, über die gesprochen werde. Dadurch rutsche das politische Feld nach rechts. Ob sich die ganze Gesellschaft nach rechts entwickelt, hält er noch nicht für ausgemacht. „Da wäre ich vorsichtig und halte es bis auf weiteres mit der These, dass wir es mit einer reaktionären Abwehrbewegung gegen die kulturellen Veränderungen zu tun haben.“ Die AfD ist also auch eine Reaktion auf die Errungenschaften von feministischen Bewegungen, erfolgreiche MigrantInnen oder Menschen, die offen jenseits der heterosexuellen Kleinfamilie leben.
Bild: SDS Berlin
Gegen Rechts schen rekrutiert. „Der durchschnittliche AfD-Wähler ist weder dumm noch arm. Er kommt aus allen Schichten“, beschreibt er die Befunde aus den letzten Urnengängen. „Überdurchschnittlich viele Stimmen bekommt die AfD von Wählern mit mittlerer Reife, aber auch mit Abitur und Fachausbildung.“ Ich will nach meinen Gesprächen mit Ronda und Horst Kahrs auch eine Ausbildung für StammtischkämpferInnen besuchen. Leider schaffe ich es zu keiner Ausbildung des Bündnisses. Zum Glück organisiert Sophie, eine gute Freundin von mir, ein Wochenende später ein Argumentationstraining in Hannover. Das soll dabei helfen, potentielle AfD-WählerInnen doch vom Gegenteil zu überzeugen. Im sonnigen Raum des Naturfreundehauses sind etwa 15 junge Menschen versammelt und warten darauf, dass es mit der Übung losgeht. Sophie erklärt, wie es funktioniert. Zuerst tauschen sie ihre Erfahrungen mit der AfD vor Ort aus und suchen dann in Kleingruppen gute Argumente gegen rechte Positionen. Gegen diese Stimmung zu argumentieren, ist nicht leicht. Sie wissen auch, dass sie nicht jeden erreichen können – überzeugte RassistInnen lassen sich selten in nur einem Gespräch von ihren Vorurteilen abbringen.
„Ich kann mich jetzt besser in das Denken von AfD-SympthisantInnen hineinversetzen und so wirksamer dagegen argumentieren.“ Mizgin
„Das ist leider kein einmaliger Naziaufmarsch, den man mit einer Blockade stoppen könnte.“ RonDa
Offenbar kann man einen großen gesellschaftlichen Rechtsruck noch verhindern. Wie wichtig dieser Kampf ist, ist auch Ronda bewusst. Als ich sie nach dem Ziel des Bündnisses frage, antwortet sie sofort, dass sie einen Beitrag dazu leisten wollen den gesellschaftlichen Kurs wieder nach links zu ziehen. Erkämpfte feministische Rechte seien gefährdet und auch der antimuslimische Rassismus nehme zu. „Beides ist gerade zugespitzt in der Burka-Debatte“, erklärt Ronda. Man merkt ihr ihre Wut darüber an. Ihre Wut weicht schnell dem Tatendrang, als sie mir die Strategie des Bündnisses erklärt. Sie wollen eine Kampagne bis Sommer 2017 aufbauen und mit Bildungsar-
beit verknüpfen. „Wir wollen mindestens zehntausend Stammtischkämpferinnen und -kämpfer ausbilden, die die Stammtische, Familientische und Vereinstische wieder zurückerobern können“, meint Ronda.
„Es ist wichtig schlagfertig und überzeugend zu sein. Wenn jemand in der Straßenbahn was gegen Flüchtlinge sagt, hast du keine Zeit für lange Monologe“ soPhie
Die potentiellen AfD-WählerInnen in Kneipen und Vereinen, also in der Mitte der Gesellschaft zu suchen, deckt sich mit dem, was ich von Horst Kahrs erfahren habe. Er warnt davor zu glauben, dass sich ihr WählerInnenreservoir nur aus „Abgehängten“ und „dummen“ Men-
Dass sich das Training lohnt, sehe ich in der zweiten Runde. Jetzt sitzen sich immer zwei Menschen gegenüber. Einer lässt nun eine rechte Parole vom Stapel und in Windeseile schwirren Begriffe wie „Gender-Wahn“, „Altparteienkartell“ „Kriminalitätsrate von Ausländern“ um unsere Köpfe, während die anderen dagegen halten. Sophie hat mir die Aufgabe übertragen, nach drei Minuten zu klingeln und die Diskussionen zu unterbrechen, damit die Paare wechseln und beide Seiten eine neue Runde streiten können. „Es ist wichtig, schlagfertig und überzeugend zu sein und schnell gute Argumente zu haben“, sagt sie mir. „Wenn jemand in der Straßenbahn was gegen Flüchtlinge sagt, hast du keine Zeit für lange Monologe“. Die TeilnehmerInnen fühlen sich nach den zwei Stunden Argumentationstraining sicherer für kommende Debatten. Mizgin, der gerade für die LINKE in den Stadtrat von Osterholz-Scharmbeck gewählt wurde, musste im Wahlkampf viele solche Gespräche führen. „Ich kann mich jetzt besser in das Denken von AfD-SympthisantInnen hineinversetzen“ erzählt er mir, „so kann ich wirksamer dagegen argumentieren.“ Dass es wichtig ist, in Debatten überzeugen zu können, findet auch Horst Kahrs. Für ihn geht es aber auch darum, eigene
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Positionen wieder stärker in den Vordergrund zu bringen, statt sich nur abzuarbeiten. „Zunächst geht es einmal darum, die eigene Position klarer zu machen, alltagstauglich“, skizziert er seine Strategie. „Das Entscheidende, um die rechte Dynamik zu brechen, ist doch, die Überzeugung zu verbreiten, dass die Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen links richtig aufgehoben ist.“
„Rassismus entsteht ja nicht einfach so. Niedrige Löhne, Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, das sind alles Dinge, die Spaltung befördern.“ DanieL
Jetzt will ich nicht nur wissen, was die Linken tun sollten, sondern auch, was sie tun. Ich treffe mich deshalb mit Daniel Anton von der Freiburger LINKEN – der mit seinem dichten Vollbart ein bisschen wie einer der alten Sozialisten aus dem 19. Jahrhundert aussieht – und frage ihn, wie sie gegen die AfD arbeiten. Er erzählt, wie sie auf die Infostände der AfD im Landtagswahlkampf reagiert haben. „Mit Absperrband und Schutzanzügen haben wir sie mehrmals eingekreist, bis sie entnervt aufgegeben haben.“ Durch das hartnäckige Nerven konnte auch ihre einzige Großveranstaltung verhindert werden. Daniel findet es wichtig, Rassismus nicht für ein Unterschichtenphänomen zu halten. „Da schenken sich die ärmeren Stadtviertel nicht allzuviel gegenüber denen der Gutverdienenden, wenn auch mit anderem Zungenschlag“. Auch die rein moralische Empörung von Grünen und co. helfe da nicht. „Rassismus entsteht ja nicht einfach so. Ein Teil des Rechtsrucks ist in der neoliberalen Agenda der anderen Parteien angelegt. Niedrige Löhne, Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, das sind alles Dinge, die Spaltung befördern.“ Und fügt schnell an: „Der Kampf um ein gutes Leben für alle und der Kampf gegen Rechts gehören zusammen.“ Zwischen Vorpommern und Freiburg habe ich viele Menschen kennengelernt, die etwas gegen den Rechtsruck tun. Mit ihnen zu reden hat mir Mut gegeben, aber auch gezeigt, wie wichtig es ist, dass sie nicht alleine bleiben.
Jakob Migenda ist in Ostdeutschland aufgewachsen und als Wirtschaftsflüchtling für seinen Master nach Frankfurt am Main migriert, fühlt sich dort aber gut integriert.
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Feminismus Märkte ist ihre Anpassungsfähigkeit: Wenn Leute bereit sind, dafür zu zahlen, wird Yoga im Fitnessstudio angeboten und „dm“ verkauft veganen Schoko-Aufstrich. Die Praktiken der Subkultur werden verwertbar.
Nach ein paar downward dogs vergisst du den Stress
Sonnengrüße gegen den Kapitalismus Joggen und Yoga sind zum Entspannen beliebter denn je. Aber was ist mit den Ursachen von Stress und Hektik, fragt sich May Blank.
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ein erster Yoga Retreat. An einem französischen Sandstrand wie aus dem TUI Katalog machten wir noch vor dem Frühstück Yoga. Abends meditierten wir im Sonnenuntergang und zwischendurch machten wir Kopfstand oder tanzten auf Dachterassen. Alles sehr entspannt, bis ich mich länger mit meinem Yogalehrer unterhielt. Eines Abends kam das Thema auf die Proteste gegen das „Loi El Khomri“ in Frankreich und er teilte mir mit, dass es ihm egal sei, dass ein neoliberales Arbeitsmarktgesetz eingeführt werden soll. Und dann fing ich Streit mit dem Yogi an. Empört rief ich: „Die Gewerkschaften haben ewig für unsere Arbeitsrechte gekämpft! Auch
du profitierst davon!“ Er hielt daran fest: „Politik ist nur Ablenkung vom Ziel der Erleuchtung.“
Yoga als individualistische Reaktion auf kollektive Probleme? Mein Yogalehrer erschien mir eigentlich ganz prima, war aber trotzdem fest davon überzeugt, dass das Elend der Welt nur von jedem einzelnen Menschen innerlich überwunden werden könne. Ich musste an Laurie Penny denken. Die britische Feministin beschrieb neulich Yoga als Teil einer Wellness-Manie: „das Verhar-
ren auf der Überzeugung, dass wir ein erfülltes Leben haben können, indem wir die Dinge positiv sehen, unserem Flow folgen und unsere Kniesehnen dehnen, während der Planet in Flammen aufgeht.“ Welcher Zusammenhang besteht zwischen Sonnengrüßen, grünen Smoothies und dem Neoliberalismus? Das ganze ist etwas widersprüchlich. Yoga hat sich im Westen in der Gegenkultur der 60er Jahre verbreitet. Das gleiche gilt für gesunde, pflanzliche Ernährung und Eigenanbau. Die Generation meiner Eltern druckte Pflanzenbestimmungsfibeln und träumte vom Selbstversorgen. Doch eine interessante Eigenschaft kapitalistischer
Ich mache richtig gerne Yoga. Seitdem ich damit angefangen habe, fühle ich mich ausgeglichener und zufriedener. Das Verrückte ist, dass der Kapitalismus davon profitiert, dass ich wieder mit meiner vollen Arbeitskraft zur Verfügung stehe und nicht so gestresst und unglücklich bin. Namaste: Die Welt ist am Arsch, aber du kannst dich gesund ernähren. Dein Job ist anstrengend, aber nach ein paar downward dogs vergisst du den Stress. „Meditier doch auch mal!“ kann im Angesicht des globalen Finanzmarktkapitalismus aber auch als zynische Aufforderung verstanden werden, passiv zu bleiben und Probleme zu internalisieren. Hinzu kommt, dass Wellness nicht für alle gleichermaßen verfügbar ist. Yogaunterricht ist meistens ziemlich teuer. Und Biogemüse erst recht. Außerdem muss man die Zeit haben, um nach der Arbeit Sport machen zu können oder zu kochen. Schwierig für Alleinerziehende oder Studierende, die sich mit Nebenjobs finanzieren müssen, weil das BAFöG ausgelaufen ist. Grüne Smoothies und Yoga werden übrigens zum größten Teil an bürgerliche weiße Frauen vermarktet. Körperpraktiken und Schönheitsideale spiegeln immer Machtverhältnisse wieder. Traditionell sind Frauen für die Reproduktion zuständig. Einerseits, indem sie für ihre arbeitenden Männer kochen, putzen und auf den Nachwuchs aufpassen. Aber auch konkret, indem sie Kinder gebären. Vor diesem Hintergrund ist es auch verständlich, dass Frauen vom Credo der körperlichen Selbstoptimierung besonders betroffen sind: Ihr Körper ist ihr Humankapital.
Wer sich nicht regeneriert, ist selbst Schuld Das ganze hat auch eine normative Seite: Je mehr fit sein und zen sein zur Norm wird, desto mehr werden auch Leute ausgegrenzt, die keine Zeit für Wellness haben oder die sich darüber beschweren, dass ihr Arbeitsklima schlecht ist. Wer diese Formen der individuellen Regenerierung vom kollektiven Wirtschaftssystem nicht ergreift oder nicht ergreifen kann, ist selbst Schuld. Ausgebeuteten Personen wird so die Schuld für ihr Ausgelaugt-sein zugeschoben. Das heißt, dass selbst die Auszeiten, die wir vermeintlich vom Kapitalismus nehmen, von den Prämissen des Neoliberalismus beeinflusst werden. Die Marxistin-Feministin Frigga Haug schrieb 2006: „Eine wesentliche Grundlage für die Durchsetzung des Neoliberalismus ist die Individualisierung, die Selbstunternehmisierung, die Ent-
Feminismus solidarisierung, die jeder Einzelnen ihr Schicksal selbstbestimmt in die Hände gibt. Auf der Grundlage der Trennungen, nicht des Gemeinsamen gedeiht die Hegemonie des neoliberalen Projekts.“ Mit anderen Worten: Obwohl wir die Probleme solidarisch zusammen lösen könnten, begegnen wir ihnen individuell.
Und jetzt? Also, was heißt das jetzt für linke Studis? Kein Yoga mehr, sondern gemütlich auf dem Sofa rumhängen? Dürüm statt Smoothie? Leider kratzt das den Kapitalismus auch nicht; es handelt sich wieder um individuelle Protestakte, eine Art Wellnessverweigerung. Und diejenigen, die sich nicht kontinuierlich fit und gesund halten, lernen die harte Seite des Kapitalismus kennen: Burnout, Gesundheitsprobleme, Fat-shaming. Darum sollten wir Self-care statt Selbstoptimierung praktizieren. Selbstoptimierung bedeutet: Wie kann ich besser ins System passen? Es ist defizitorientiert, denn der Neoliberalismus profitiert vom Selbstzweifel. Self-care bedeutet hingegen, sich um sich selbst und andere zu kümmern: Das kann durch Sport sein, aber auch durch ein Gläschen Wein mit einem guten Kumpel oder jede Menge Torte, wenn es der Seele gut tut. Die Kraft, die man dadurch schöpft, kann man nutzen, um etwas an den Verhältnissen zu verändern, in denen wir leben. Wenn wir lernen, für uns selbst zu sorgen, fällt es uns vielleicht auch leichter, zu anderen solidarisch zu sein. Außerdem sollten wir uns kollektiv organisieren, debattieren und dann gemeinsam für unsere Entspannung kämpfen. Die Frage sollte lauten: Wie können wir die Verhältnisse so verändern, dass sie uns nicht mehr krank machen? Eine 30-Stunden-Woche könnte auf Dauer entspannter sein als ein Yoga Retreat.
May Blank Ferien vom Kapitalismus? Unsere Autorin May entspannt am liebsten mit dem „Guilty Feminist“ Podcast. ANZEIGE
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Feminismus – Reine Frauensache? Immer mehr Männer stehen den Anliegen des Feminismus aufgeschlossen gegenüber. Drei feministische Männer erzählen wie sie ihre eigenen Gewohnheiten kritisch überdenken. Dass etwas nicht stimmt, habe ich schon in der Schulzeit gemerkt. Warum können manche Männer Konflikte nicht ohne Gewalt lösen und sprechen erst nach dem fünften Glas Schnaps über Gefühle? Die Mädels, die ich kannte, konnten beides ohne Gewalt und ohne Schnaps – davor hatte ich immer Respekt. Viele Frauen in meiner Umgebung bekommen aber keinen Respekt. Mein Lieblingsbeispiel ist: Wenn Männer was mit vielen Frauen haben, gelten sie als die Größten. Wenn Frauen was mit vielen Männern haben, gelten sie als Schlampen. Das habe ich nie verstanden und es stört mich. Im Studium ist mir klarer geworden, dass das kein Problem Einzelner ist. Auf Frauen und sich anders verhaltende Männer wird Druck ausgeübt „normal“ zu sein. Dabei haben viele Frauen und Männer nur Nachteile davon. Außerdem merke ich bei vielen Frauen in meiner Umgebung, wie viel mehr sie machen müssen, um anerkannt zu werden – bei der Arbeit, in der Familie oder im Haushalt. Das finde ich ungerecht. Deswegen bin ich profeministisch. - Janis ehLing Ich bin Feminist, weil Frauen im Kapitalismus systematisch benachteiligt und unterdrückt werden – ob im Haushalt oder auf der Arbeit. Männern und Frauen werden unterschiedliche Geschlechterrollen zugeschrieben, die mir als Mann überall spürbare Vorteile verschaffen. Für mich gehört es deshalb dazu, mein eigenes Verhalten zu reflektieren: wie rede ich in Diskussionen? Widerspreche ich sexistischen Mackern? Mache ich Hausarbeit in der WG? Im Freundeskreis oder in meiner politischen Gruppe finde ich es auch wichtig Frauen die Räume zu lassen, sich selbst zu stärken. Für mich heißt Feminist sein nicht nur auf individuelles Verhalten zu schauen. Dadurch verschwinden nicht die strukturellen Probleme: das Lohngefälle, die Mehrbelastung durch Hausarbeit sowie durch Pflege- und Erziehungsarbeit wegen fehlender staatlicher Unterstützung. Für mich gehören deshalb Feminismus und Antikapitalismus untrennbar zusammen. Daher finde ich es besonders wichtig die Kämpfe von Frauen, wie den Streik der Erzieherinnen im letzten Jahr, zu unterstützen. - Max Manzey
Ich bin Queerfeminist und gehe mit „meiner Männlichkeit“ kritisch um, weil es mir und den Menschen um mich herum damit besser geht. Wir alle wachsen in einer Welt auf, wo Heterosexualität die Norm ist. Wenn jemand bei seiner Geburt als Mann identifiziert wurde, dann soll er sich gefälligst auch den Rest seines Lebens typisch männlich verhalten. Immer wird da die Messlatte der Männlichkeit angelegt. Das Tückische dabei ist, dass hier ein unerreichbares Ideal zum Maßstab gemacht wird. Darunter müssen alle Männer leiden. Es fängt schon früh an mit Sprüchen wie „Ein Junge weint nicht“. Die vom Mann begehrte Frau soll das Gegenstück dazu bilden. Wer da nicht mit macht, sorgt für Irritationen. Der Schwule gilt ja als der verweiblichte Mann und wird damit abgewertet. Lustigerweise ist in den einschlägigen Datingportalen die Forderung nach echten Kerlen verbreitet. Aber diesem Spiel der Männlichkeit sind alle unterworfen. Ich als homoflexibler Mann verstöre da schon durch mein Begehren. Aber auch die Heteros müssen sich immer wieder als echte Männer inszenieren.Diesem Druck zu entkommen und dieses Leid aufzubrechen ist der Grund, warum ich mich als Queerfeminist engagiere. - MaRceL heLwig
Internationales
Bild: Maik Brückner
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Reaktionäre Allianzen Deniz Remberg erklärt, wie Faschismus und Islamismus in der Türkei Hand in Hand gehen. Kein harmloser „Schweigefuchs“: der Gruß der türkischen FaschistInnen, den grauen Wölfen.
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in gruseliges Schauspiel ereignete sich in Köln. Nein, die Rede ist nicht vom alljährlichen Karneval. Die Rede ist von den 30.000 patriotischen TürkInnen, die auf der Großdemonstration „Gegen den Militärputsch in der Türkei“ ihre Loyalität gegenüber dem Sultan vom Bosporus kundtaten. Dieses Schauspiel verdeutlichte eine erstaunliche politische Liaison, die sich schon seit längerer Zeit in der Türkei abzeichnete: die Zusammenarbeit der faschistischen MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) mit der islamistisch-konservativen Regierungspartei AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung). Die enge Kooperation beider Parteien steht sinnbildlich für eine Verbindung, die schon vor Jahrzehnten von islamistischen und faschistischen Kreisen vorbereitet wurde: die Verschmelzung von Islamismus und Nationalismus. Um das besser zu verstehen, müssen wir einen kurzen Blick in die türkische Geschichte werfen.
Ursprünge des türkischen Nationalismus Da in der Türkei Orient und Okzident zusammen kommen, ist die Geschichte der Türkei geprägt von einem nebeneinander verschiedenster Nationalismen wie dem islamischen, dem westlich-sozialdarwinistischen und dem aufklärerischen Nationalismus. Mit den zunehmenden Rissen und Zerfallserscheinungen innerhalb des Osmanischen Reiches wurde der Nati-
onalismus in der Türkei wirkmächtig. Zentral für den türkischen Nationalismus waren die Alleinherrschaft der türkischen Volksmehrheit und der Islam als Religion des Volkes. Dies schloss alle nicht-türkischen und nicht-muslimischen Gruppen aus und stellte die ideologische Vorarbeit für den organisierten Völkermord an den christlichen Minderheiten von 1915 bis 1916 dar. Für diese Zeit war der türkische Soziologe Ziya Gökalp prägend. Die türkische Nation war für Gökalp verwoben mit der Vorstellung, dass es eine Einheit der Turkvölker gäbe, die durch ihre abstammungsbedingte Verwandtschaft von gemeinsamer Sprache, Tradition und Religion untereinander begründet sei. Wichtig für die kulturelle Einheit aller Turkvölker wäre daher ein Staat, der alle Turkvölker unter seiner Schirmherrschaft vereinigen sollte. Deshalb forderte er die Anpassung aller kulturellen und religiösen Minderheiten in der Türkei an diese türkische Kultur.
Rassistischer und kulturalistischer Nationalismus In dieser Zeit kam ebenfalls das Konzept des Turanismus auf. Der Turanismus ist die rassische Definition des Türkentums und basiert auf der Vorstellung, dass alle Turkvölker aus ein und demselben Stamm hervorgegangen wären. Diese hätten in dem Land Turan gelebt, welches sich vom Pazifik bis zur Wolga erstreckt haben soll. Die rassische Überlegenheit
gegenüber allen nicht-türkischen Völkern ist ein fester Bestandteil der Erzählung. Alle anderen Völker sind dabei Hindernisse bei der Verwirklichung des Zusammenschlusses aller Turkvölker unter einem Staat und müssen entweder vernichtet oder türkisiert werden. Nach dem türkischen Befreiungskrieg von 1919 bis 1923 und der anschließenden Gründung des türkischen Nationalstaates durch Mustafa Kemal Atatürk wurde ein kulturalistischer Nationalismus, der Kemalismus, zur Staatsdoktrin. Demzufolge bedeutet türkisch sein: die türkische Sprache sprechen, in der türkischen Kultur verwurzelt sein und sich zur türkischen Nation bekennen. Dieser Nationalismus schloss deshalb auch ethnische und religiöse Minderheiten ein – wenn sie ihre Kultur und Sprache ablegten und die türkische annahmen. Religion wurde in diesem offiziellen Nationalismus bewusst außen vor gelassen.
Religion und Nation finden zusammen Diese verschiedenen Nationalismuskonzepte wurden von konservativen und faschistischen Parteien in unterschiedlicher Weise aufgegriffen. Die faschistische MHP war bis in die 80er Jahre eher laizistisch orientiert. Der Turanismus war elementarer Bestandteil des Nationalismuskonzeptes der MHP. Nachdem Militärputsch von 1980 schwenkte sie jedoch auf die Synthese von Nationalismus und Islamismus ein. Das ermögli-
chte eine Verbindung zwischen 2.500 Jahren schamanischem Türkentum, 1.000 Jahren Islam und 150 Jahren westlichem Denken. Diese Synthese des Turanismus mit dem Islam sollte rechten Parteien und das konservative anatolische Volk gegen kommunistische Bestrebungen immunisieren. Die Türken hätten die historische Aufgabe – auch weil sie rassisch überlegen seien – den Islam zu seinem alten Ruhm zu bringen und die Muslime wieder unter seinem Banner zu vereinen. Das sollte in der Form eines großtürkischen Reiches, welches alle Türkvölker umfasst, geschehen. Der Islam diente der MHP zur Rekrutierung für die eigentliche faschistische Ideologie, da so große Massen angesprochen und beeinflusst werden konnte. Die Verbindung von Islam und Nationalismus wurde auch von anderen konservativen Parteien aufgegriffen. Am erfolgreichsten war die in den 70er Jahren gegründete Millî-Görüş-Bewegung. Aus der Milli-Görüş-Bewegung ist die AKP hervorgegangen, die sich noch heute in diesem Denken verankert sieht. Die beiden Grundpfeiler der Millî-Görüş-Ideologie sind dabei die Gerechte Ordnung und die Nationale Sicht (Millî-Görüş). Die Millî-Görüş-Bewegung möchte die vom Menschen geschaffene Ordnung mit ihren Regeln und Gesetzen durch eine islamische „Gerechte Ordnung“, ersetzen. Die „Nationale Sicht“ verkörpert den nationalistischen Führungsanspruch des türkischen Volkes auf die muslimische Welt. Dabei steht nicht die Errichtung eines rassistischen großtürkischen Rei-
7 Bild: Greg Melia (CC BY-NC 2.0)
Internationales
Erdoğan auf frischer Tat ertappt
In der Türkei sind auch die Universitäten ein Ort der Verfolgung geworden. Meral Mungan berichtet vom Kampf gegen die „Academics for Peace“.
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ches im Vordergrund, sondern eines islamischen Großreiches unter türkischer Führung.
Zusammenarbeit von MHP und AKP Zurück in die Gegenwart: erst der ideologische Bezug auf Islam und Nationalismus ermöglicht die Zusammenarbeit von MHP und AKP. Auch wenn die AKP mehr das kulturelle und religiöse Element nach außen kehrt und die MHP rassistisch argumentiert, steht bei beiden Ideologien der Führungsanspruch der türkischen Nation gegenüber anderen Nationen im Vordergrund. Wird dieser türkische Führungsanspruch oder der Nationalismus vom Westen, der innertürkischen Opposition oder Teilen der herrschenden Klasse in Frage gestellt, rücken die islamistischen und nationalistischen Kräfte zusammen. Antifaschismus und Internationale Solidarität bedeuten deshalb jeden Faschismus überall zu bekämpfen, nicht nur den deutschen.
Deniz Remberg studiert in Bielefeld. Als doppelt vaterlandloser Geselle besteht seine politische Tätigkeit aus abstrakter marxistischer Theorie und praktischem Klassenkampf. In seiner Freizeit arbeitet er an einem Einreiseverbot in die Türkei.
ls bei der Beerdigung der beim Putschversuch Ermordeten ein Imam betete: „Gott, behüte uns vor den Gebildeten” war das nicht nur an die Gülen-Bewegung gerichtet, die viele Bildungseinrichtungen betreibt, sondern vielmehr an die AkademikerInnen und linken Intellektuellen. Intellektuellenfeindlichkeit unter den Konservativen ist auch in der Türkei nichts Neues und AkademikerInnen stehen nicht erst seit dem Putschversuch unter Druck. Im Januar 2016 veröffentlichten die „Academics for Peace“ die Stellungnahme „Wir werden uns an diesem Verbrechen nicht beteiligen“. Daraufhin ging eine Hexenjagd los. Gegen die Meisten der über tausend UnterzeichnerInnen wurden Ermittlungen eingeleitet, viele wurden gefeuert. „Academics for Peace“ ist keine typische politsche Gruppe. Sie sind ein loser Zusammenschluss von WissenschaftlerInnen aus diversen Disziplinen, die sich 2012 zusammengefunden haben und hauptsächlich über das Internet kommunizieren.
Der Krieg tobt nicht nur in Kurdistan Damals wie heute ging es ihnen darum, die Öffentlichkeit für den langwierigen Krieg gegen die kurdische Bewegung zu interessieren. So war eine ihrer ersten Aktionen, in ihren Vorlesungen ausschließlich die kurdischen Hungerstreiks in den Gefängnissen zu thematisieren. Als die kurdische Bewegung und der türkische Staat zwischen 2013 und 2015 Friedensverhandlungen führten, haben sie sich auf Repressionen in der westlichen Türkei bzw. an den Universitäten fokussiert. Die willkürliche Gewalt von Polizei und Securitys, die aufbrausende männliche Gewalt, die Repressionen gegen die akademische Freiheit oder gegen protestierende Studierende.
Nach dem Wahlerfolg der sozialistisch und prokurdisch orientierten HDP im ganzen Land wurden die Verhandlungen zwischen Staat und KurdInnen im Juni 2015 abgebrochen. Der Staatsterror begann wieder in voller Stärke. Die Bombenanschläge des IS in Suruç und Ankara, die Ausgangssperre in vielen Städten Kurdistans, die Fotos von Verstorbenen, die auf den Straßen verwesen mussten, hatten eine traumatisierende Wirkung auf die gesamte Bevölkerung. Die Bilder, die nicht im Staatsfernsehen zu sehen waren, verbreiteten sich über die sozialen Medien.
Im September wurden weitere 44 von ihnen gefeuert. Den Verbündeten der kurdischen Bewegung soll damit deutlich gemacht werden, dass sie sich nicht in diese Staatsangelegenheiten einmischen sollen. Diese Vorgehensweise trifft auch Studierende, JournalistInnen, SchriftstellerInnen, NGOs und LehrerInnen. Manche AkademikerInnen emigrieren schon nach Europa, auch nach Deutschland, weil sie in der Lehre überwacht und gemobbt werden und in der Türkei nicht mehr arbeiten können.
Die Verfolgung dauert an Aus dieser Stimmung heraus entstand die Stellungnahme „Wir werden uns an diesem Verbrechen nicht beteiligen“ und über tausend WissenschaftlerInnen haben ihre Unterschrift darunter gesetzt. Nach der ersten Repressionswelle haben einige ihre Unterschrift zurückgezogen, dennoch stieg die Zahl der UnterzeichnerInnen auf über Zweitausend. Jetzt wurden willkürlich UnterzeichnerInnen verhaftet und sogar in Isolationshaft gesteckt. Sie wurden beschuldigt Propaganda für „die“ Terrororganisation zu betreiben, obwohl sie nur Unterschriften für den Frieden gesammelt haben. Inzwischen wurden zum Glück alle UnterzeichnerInnen freigelassen. So oder so haben sie für Öffentlichkeit gesorgt. Dreißig Organisationen haben sich zur Gruppe „Alle für Frieden” zusammengeschlossen. „Academics for Peace“ bekam den Preis für Demokratie von der Ärztekammer Diyarbakır. Während des Ausnahmezustands nach dem Putschversuch im Juli ging der Staat, wie befürchtet, nicht nur gegen die mit der Gülen Bewegung assozierten AkademikerInnen vor, sondern erneut auch gegen die „Academics for Peace“.
Meral Mungan ist geboren und aufgewachsen in der Türkei und emigrierte vor 5 Jahren nach Deutschland. Jetzt ist sie im SDS aktiv und auf der vergeblichen Suche nach einem Masterplatz in Psychologie. Anzeige
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Hochschulpolitik
BAFöG und Master für alle? Dorian Tigges erklärt, wie sich die neusten Reformpläne auf das Studium praktisch auswirken.
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ie Kultusministerkonferenz (KMK) hat mit der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) gemeinsame Reformempfehlungen vorgelegt. In den Medien wurde bisher vor allem berichtet, dass Entlastungen für die Studierenden bei Regelstudienzeit und Prüfungsbelastung kommen könnten. Was bedeuten diese Pläne konkret für Studierende? Dazu habe ich drei Studierende zu ihrer Situation befragt und mir angeschaut, was die Pläne für sie ändern würden.
Abbau des Prüfungsunwesens? Laura steht mit 20 noch am Anfang ihres Studiums. Sie studiert BWL an der LMU München. Anders als viele ihrer KommilitonInnen kommt sie aus einem unterprivilegierten Haushalt. Ihre alleinerziehende Mutter mit Hauptschulabschluss konnte Laura kaum bei Schulaufgaben helfen. Laura ergatterte ihren Studienplatz nur mit Mühe und Not im Nachrückverfahren. Und dann das: wie sie bei der Einführungswoche erfährt, gab es bei der Einführungsklausur am Ende des ersten Semesters letztes Jahr eine Durchfallquote von 80%. Die Bestnote lag bei 2,3. Die Note geht natürlich ins Abschlusszeugnis ein. Und wie soll sie, selbst wenn sie es schaffen sollte die Klausur zu bestehen, mit einer schlechten Abschlussnote jemals Arbeit finden? KMK und HRK schlagen vor, die Noten in der Studieneingangsphase nicht mehr in die Endnote einzubeziehen. Außerdem
soll neben der absoluten Note auf den Abschlusszeugnissen auch eine Einordnung der Endnote zum Rest des Jahrgangs stehen. Die erste Maßnahme ist sicherlich gut und würde – sollte sie umgesetzt werden – Laura tatsächlich helfen. Neu ist diese Idee nicht und wird zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern schon länger praktiziert. Die zweite Maßnahme ist ebenso altbekannt und in manchen Bundesländern schon heute gängige Praxis. Allerdings hat das Verfahren sein Für und Wider. Einerseits wird so ein Vergleichsmaßstab geschaffen, der die absoluten Noten relativiert. Andererseits werden so Studierende auch stetig unter gegenseitigen Konkurrenzdruck gestellt.
KMK und HRK werden ihr jedoch leider kaum helfen. Einerseits wird zwar eine bessere Anerkennung von Bachelor-Abschlüssen im Öffentlichen Dienst gefordert, was aber eine reine Willensbekundung ist. Andererseits soll das sogenannte Kapazitätsrecht flexibilisiert werden. Konkret bedeutet das, dass die Hochschulen NCs unabhängig von der Auslastung der Studienplätze einführen können, um etwa Studierende fern zu halten, die nach Meinung der ProfessorInnen für ein bestimmtes Studium ungeeignet sind.
Abbau von Zulassungsschranken?
Markus ist 22 und studiert Geographie im 3. Semester. Da seine Eltern nicht in der Lage sind ihn finanziell zu unterstützen und sein BAFöG kaum reicht, um die Miete zu bezahlen, ist er dazu gezwungen neben dem Studium zu jobben. Seit Jahren steigen zusätzlich die Gebühren für das Studierendenwerk und das Semesterticket stark an. Hinzu kommt, dass die Prüfungsordnung ihn dazu zwingt, dieses Semester noch fünf Hausarbeiten und drei Klausuren zu schreiben. Da er aufgrund seiner Nebenjobs in Verzug mit den Leistungspunkten (ECTS) ist, würde er Ende des Semesters exmatrikuliert werden, wenn er auch nur bei einer einzigen Prüfung durchfällt.
Natalie ist 24 und schreibt gerade ihre Bachelorarbeit. Sie studiert einen sogenannten „Bachelor für das Lehramt an Haupt-, Real-, Sekundär- und Gesamtschulen“, das neue Lehramtsstudium in NRW, in den Fächern Deutsch und Geschichte. Jetzt steht sie vor der Frage: wie weiter? Eigentlich sollte das BA/MA-System für mehr Mobilität und Berufsqualifizierung sorgen. Doch das nützt ihr reichlich wenig. Natalie kann mit ihrem Studienabschluss weder in das Arbeitsleben einsteigen, noch kann sie einfach das Bundesland wechseln. Gleichzeitig kann sie wegen des Numerus Clausus (NC) für den Master auch vor Ort ihr Studium nicht einfach fortsetzten.
Abbau finanzieller Barrieren im Studium?
Die Kultusminister haben nun vorgeschlagen die Regelstudienzeiten zu lockern. Eigentlich wäre zu vermuten,
dass es Markus dabei helfen könnte den harschen Anforderungen seines Fachbereichs nachzukommen und gleichzeitig seinen Lebensunterhalt zu verdienen. So wird es aber nicht kommen. Derartige Empfehlungen sind, selbst wenn sie zukünftig im Gesetz stehen sollten, nur als Aufforderungen an die einzelnen Hochschulen gefasst. Ob diese ihre Studien- und Prüfungsordnungen auch überarbeiten, bleibt den Hochschulen überlassen. Dahinter steht der Gedanke, dass Marktsteuerung auch bei Hochschulen effizienter als politische Steuerung sei. Eine Universität, die entsprechende Erleichterungen nicht umsetzt, würde an Attraktivität verlieren und müsste sinkende Studierendenzahlen verkraften. Tatsächlich sind die meisten Studierenden aber froh, wenn sie überhaupt einen Studienplatz ergattern können. Letztendlich werden die Entscheidungen also auf Fakultäts- oder Hochschulebene getroffen. Doch gerade die Hochschulen haben sich die größten Repressionen im Studium ausgedacht. Ohne politischen Druck von den Studierenden ist eine Besserung kaum zu erwarten.
Dorian Tigges ist im Bundesvorstand von DieLinke. SDS, studiert Geschichte in Marburg und beschäftigt sich seit Jahren mit den Abgründen der Hochschulpolitik
Bild: SDS-Bremen, Montage: Maik Brückner
Hochschulpolitik
Umkämpfte Studienreform Seit etwa 15 Jahren dominiert das Bachelor-/ Master-System die Hochschulen. Torsten Bultmann zieht eine kritische Bilanz. Thorsten Bultmann politischer Geschäftsführer des Bundes demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi) mit dem Arbeitsschwerpunkt Bildungs- und Wissenschaftspolitik.
Wie kam es zur Umstellung auf Bachlor- und Master-Abschlüsse? Wenn man mal die ganze hochtrabende Europäisierungs-Rhetorik beiseite lässt, hat diese sogenannte Studienreform ein Ziel erreicht: die durchschnittlichen Studienzeiten sind erheblich verkürzt worden – und das Studium ist
billiger geworden. Dieser bildungsökonomische Effekt ist die entscheidende Triebkraft der ganzen Angelegenheit. Nebenbei: Bereits 1966 forderte der Wissenschaftsrat ein verkürztes und verschultes Studium für die Masse, im Anschluss ein forschungs- und wissenschaftsbasiertes Studium für eine ausgewählte Minderheit. Das konnte gegen den Widerstand der Hochschulen nicht durchgesetzt werden. In den 90er-Jahren entdeckte man dann die »Europäisierung« als neue Begründung für den alten Ansatz. Die Bologna-Reform sollte mehr Mobilität, mehr Wettbewerbsfähigkeit und mehr Beschäftigungsfähigkeit bringen. Wurde dies erreicht?
Dass sich die Mobilität verbessert hätte, ist nicht belegbar, weder innerdeutsch noch europäisch. Im Gegenteil. Beschäftigungsfähigkeit ist ein rein juristischer Begriff, der nur besagt, dass ein Abschluss zum Berufseintritt berechtigt. Der gelingt zwar vielen Bachelor-AbsolventInnen, aber in der Regel mit einer deutlich niedrigeren Bezahlung als früher. Ob sich die Situation von Studierenden verbessert hat, können diese sicher am besten selbst beantworten. Ich nehme das nicht wahr. Das Studium ist derartig überreglementiert und als pure Stoffvermittlung auf die jeweils nächste Prüfung orientiert, dass zum Nachdenken, zum Kennenlernen von wissenschaftlichen Kontroversen des jeweiligen Faches, kurz: zum Erwerb einer selbständigen wissenschaftlichen Urteilsfähigkeit kaum Zeit vorhanden ist. 1998 begann die Erprobung von Bachelor und Master. Wie reagierten die Studierenden darauf? Anfangs warnten zwar viele Studierendenvertretungen davor, dass aus der Erprobung künftig die Regel werden könnte. An der Basis wurde das jedoch nicht als Problem empfunden, solange die alten Studiengänge noch für alle offen waren. Die neuen hingegen wurden kaum nachgefragt. Nach der Jahrtausendwende war dann die Erprobungszeit plötzlich ohne Evaluierung beendet und BA/MA-Studiengänge obligatorisch. Eine Reform mit der Brechstange also. Es gab keine Alternative mehr. Jetzt waren die Studierenden gezwungen, ihre Erfahrungen mit den neuen Abschlüssen zu machen. Sie führten 2009 zu bundesweit flächendeckenden Protesten im sogenannten Bildungsstreik. Die neuen Studienangebote waren aufgrund ihrer Verdichtung, Verschulung und Überreglementierung schlicht nicht studierbar.
nur immer wieder anekdotisch gemeldet, dass viele Personalchefs mit dem Bachelor-Abschluss nichts anfangen könnten. Dann zitieren die Medien immer wieder Äußerungen, dass die BA-AbsolventInnen zu unselbständig und unflexibel sein. Das sind allerdings keine politisch belastbaren, eindeutig interpretierbaren Aussagen. Die Politik hat aber spätestens seit 2009 die neuen Studiengänge ständig hin und her reformiert, auch entschlackt. Aber am Grundproblem hat sich nichts geändert: Studium wird als quantitativ messbare, prüfungsorientierte Wissensanhäufung begriffen. Der mecklenburg-vorpommersche Wissenschaftsminister Brodkorb hat in der Tat angekündigt, die traditionellen Studienabschlüsse wieder als Alternative einzuführen und zur freien Wahl neben den neuen anzubieten. Dies ist aber Pseudo-Aktivismus. Was braucht es stattdessen? Entscheidend ist nicht das Etikett eines Studiengangs, sondern was drin ist. Ein bloßer Etikettenwechsel löst nicht das Problem einer grundlegenden Studienreform, die auch vor dem Bologna-Prozess schon überfällig war. Dafür kann man sich an den progressiven Studienreformbestrebungen der 70er- und 80er-Jahre orientieren. Unter anderem muss die Aufgabe gelöst werden, wie in den einzelnen Fächern ein gesellschaftlicher Bezug hergestellt werden kann. Stichwort: gesellschaftliche Verantwortung. Außerdem gehört die Frage beantwortet, wie durch exemplarisches Lernen und Kenntnis der grundlegenden Kontroversen eines Faches selbständige wissenschaftliche Urteilsfähigkeit erworben werden kann. All dies gilt es zu diskutieren und zu lösen. Vielen Dank für das Interview! Das Interview führte Bettina Gutperl.
Mittlerweile gibt es auch Kritik von Unternehmen und Teilen der Politik am Bologna-Prozess. Werden wir bald wieder auf Diplom, Magister und Staatsexamen studieren? Repräsentative Untersuchungen wie die private Wirtschaft den Bologna-Prozess bewertet, liegen nicht vor. Es wird
Studierendenkonferenz 2016 Antirassismus und Antifaschismus an der Hochschule Wir laden Euch herzlich zur diesjährigen Studierendenkonferenz am Freitag, den 16. Dezember 2016, nach Berlin, in den Deutschen Bundestag ein. Wir wollen mit Euch folgende Themen diskutieren: n Bildungszugang in Deutschland: Refugees welcome to our University? n Fluchtursachen und Migration im Kapitalismus des 21. Jahrhunderts n Rechtsextremismus und die Neue Rechte heute in Deutschland n Geschichte der Hochschulen zwischen Emanzipation und Reaktion n Reproduktion von Rassismus an der Hochschule und in der Wissenschaft n und vieles mehr … V.i.S.d.P. Heike Hänsel, Jan Korte
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Mit den Mitgliedern des Bundestages Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie Hein, Katja Kipping, Niema Movassat und Martina Renner sowie Dr. Andreas Keller (stellvertretender Vorsitzender GEW), Johanna Uekermann (Bundesvorsitzende Jusos) und Prof. Dr. Alex Demirovic (Professor für kritische Gesellschaftstheorie, Mitglied im Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung) Weitere Informationen und Anmeldung unter www.linksfraktion.de/termine
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Soziales
Sozialer Kahlschlag nach deutschem Vorbild Noch stärker als von der Fußball-EM der Männer war der französische Sommer von den Streiks und Protesten gegen das neue Arbeitsgesetz geprägt. Am 14. Juni fand die größte Demonstration in Paris statt. Impressionen von Lennart Michaelis
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ls wir am 14. Juni morgens in Paris auf dem Place d‘Italie ankamen, erwartete uns schon ein großes Menschen- und Fahnenmeer. Es war der Tag der großen Demonstration. Aus Leipzig fuhren wir nach Paris. Wir, das sind Rémi und ich. Rémi stammt aus Bordeaux, war im letzten Jahr aber im Erasmussemester in Leipzig und in unserer lokalen SDS-Gruppe. An jenem Tag trafen wir uns frühmorgens mit Mitgliedern der französischen Studierendengewerkschaft Solidaires Étudiant-e-s, der Interventionistischen Linken aus Deutschland und vielen anderen FreundInnen am Startpunkt der Demonstration. Der Platz und die anliegenden Straßen füllten sich immer weiter. Aus ganz Frankreich kamen Menschen, um ihre Ablehnung gegen das Arbeitsgesetz „Loi El Khomri“, benannt nach der Arbeitsministerin Myriam El Khomri, Ausdruck zu verleihen.
Monatelange Streiks Das Gesetz soll den Arbeitsmarkt „flexibilisieren“, indem Abfindungen bei Entlassungen verringert werden und der Kündigungsschutz gelockert wird. Bei einer Arbeitslosenquote von 10% müssen sowieso schon viele um ihre Arbeitsplätze zittern. Monatelang streikten die großen Gewerkschaften, um das Gesetz zu stoppen. Deren Proteste reichten von Demonstrationen, über flächendeckende Arbeitsniederlegungen bis hin zu Blockaden von Raffinerien und Häfen. In Deutschland sind solche politischen
Streiks – also Streiks, die sich gegen bestimmte Gesetze oder Beschlüsse der Regierung richten – verboten. In Frankreich waren sie in den letzten Monaten an der Tagesordnung.
Neoliberale Niedriglohnpolitik In der Zeitung las ich, dass die Maßnahmen, die das „Loi El Khomri“ vorgibt, laut des französischen Unternehmerverbandes MEDEF unbedingt notwendig seien, angesichts der globalen Konkurrenz für die französische Wirtschaft. Dass mit dieser „Wirtschaft“ nicht die Menschen in Frankreich gemeint sind, wurde mir mit der Zeit klar. Seit Jahren behaupten diverse „Wirtschaftweise“ und Ratingagenturen im Chor, dass es der französischen Wirtschaft schlecht ginge und die deutsche Wirtschaft weiter durch die Decke floriere. Was hinter dem bejubelten, deutschen Wirtschaftswachstum steckt, wird für gewöhnlich nicht miterwähnt. Der Hauptgrund für die „Stärke“ der deutschen Wirtschaft liegt nicht so sehr in der Brillanz seiner Innovationen, sondern an niedrigen Löhnen und dem ausgehöhlten Sozialstaat. Diese konzernfreundlichen Bedingungen wurden in Deutschland in den letzten zwanzig Jahren durch Reformen wie die Agenda 2010 stets abgesichert. Und hier liegt auch das Geheimnis des deutschen „Exportwunders“. Durch die geringen Lohnkosten in Deutschland können Waren in aller Welt sehr günstig verkauft werden, sodass andere Unter-
nehmen kaum mithalten können und „schwächere“ Nationalökonomien von den günstigen Importen „Made In Germany“ niederkonkurriert werden. Die Profite aus dieser Dominanz auf dem Weltmarkt gehen an die BesitzerInnen der deutschen Unternehmen. So ist die billige Arbeit in Deutschland für einige wenige Wohlhabende zum Erfolgsmodell geworden. Das hat auch die französische Regierung verstanden und versucht nun dieses Modell zu kopieren. Mit der Arbeitsmarktreform soll die französische Wirtschaft wieder wettbewerbsfähig gemacht werden. Die tägliche Arbeitsdauer kann auf bis zu 12 Stunden ausgedehnt werden und die wöchentliche Arbeitszeit auf 48 Stunden. In besonderen Fällen sogar auf 60 Stunden. So müssen weniger Personen für die gleiche Arbeitsmenge angestellt werden. Auch die Sozialversicherungsbeiträge für Unternehmen werden auf diesem Wege gesenkt. Diese Reform ist kurz- und langfristig nicht im Sinne derer, die kein Unternehmen vererbt bekommen haben. Die Hoffnung auf eine Wirtschaftspolitik, die für die Menschen einen angemessenen Teil vom Kuchen abwirft, wird immer wieder enttäuscht werden müssen, wenn die Politik sich an der Konkurrenz des globalen Marktes orientiert. Es setzt eine Abwärtsspirale ein. Das haben auch die vielen ohnehin schon prekär Beschäftigten, die jungen Azubis, die RentnerInnen und die Studierenden verstanden und bringen es auf
der Demonstration am 14. Juni lautstark zur Geltung. Mit meinem miserablen Französisch verstehe ich nicht viel von den Slogans und Liedern des Tages. Die bilingualen GenossInnen um mich herum klären mich auf. Ihre Forderungen reichen von Kritik am „Loi El Khomri“, Forderungen nach gerechter Bezahlung und sozialer Absicherung, bis hin zur Ablehnung des neoliberalen Wirtschaftssystems. Die Erzählung, dass es allen gut geht, wenn es „der Wirtschaft“ gut geht und sich im Arbeitsalltag genug angestrengt wird, glaubt von den DemonstrantInnen niemand mehr. Die Realität der Leute heißt schon lange befristeter Job, Lohnkürzung, unbezahltes Praktikum und ständiger Leistungsdruck. Von all dem haben die Leute hier genug. Am Abend erfahren wir, dass allein in Paris an diesem Tag eine Million Menschen auf die Straße gegangen sind.
Demokratie hat das Nachsehen Wenige Wochen später setzte die französische Regierung das Gesetz trotz des massiven Protestes durch. Die Abstimmung im Parlament wurde mittels des Verfassungsartikel 49.3 umgangen und das Gesetz einfach per Dekret beschlossen. Wenn Regierungen in Einvernehmen mit Unternehmen Gesetze durchsetzen, die auf der Straße und im gewählten Parlament auf so große Ablehnung stoßen, kann wohl nur noch mit
Ausgrenzung und Rassismus schützen nicht vor Terror. Ein Kommentar von Jakob Migenda.
I Symbolbild
einigen rhetorischen Verrenkungen von Demokratie gesprochen werden. Nicht nur in Griechenland, auch in Frankreich bekommen Lohnabhängige immer weniger zum Leben – meist gerechtfertigt mit den äußeren, ökonomischen Zwängen des Weltmarkts. Rémi und ich studieren beide sozialwissenschaftliche Fächer und blicken wohl oder übel einer ungewissen Zukunft aus Praktika und befristeter Beschäftigung entgegen. Auch über diesen Sommer hinaus wollen wir nicht tatenlos zusehen, wie unsere Chancen auf einen ausreichenden Lebensunterhalt durch unsoziale Gesetze und Lohnbeschneidungen noch kleiner werden. Der Kampf für ein anderes, sozialistisches Wirtschaftssystem und radikale Demokratie hat erst begonnen. Dafür gehen die Menschen wieder auf die Straße und das nicht nur in Frankreich – auch in den USA, Großbritannien oder Deutschland. Die gemeinsame Erfahrung vom 14. Juni in Paris gibt uns dafür neue Hoffnung.
Lennart Michaelis ist länger als Regelstudienzeit im SDS Leipzig aktiv und sein liebstes Hobby ist Klassenkampf.
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Den Terror-Stempel bekommen nur Muslime Bild: Lukepryke (CC BY-SA 4.0) Monatge: Maik Brückner
Foto: Antonin Rémond (CC BY 2.0)
Sicherheit
m Juli 2016 scheint Deutschland vom Terror eingeholt zu werden. Innerhalb weniger Tage erschütterten zwei Gewalttaten die Republik. Am 22. Juli erschießt David S. in einem Münchner Einkaufszentrum neun Menschen bevor er sich, von der Polizei gestellt, selbst tötet. Nur zwei Tage später explodiert im fränkischen Ansbach eine Bombe; nur der Attentäter Mohammed D. stirbt.
Gemeinsamkeiten trotz unterschiedlicher Weltbilder Nachdem die Attentäter identifiziert wurden und die Aufregung sich etwas gelegt hat, ergaben sich zwei komplexe Bilder von den Tätern. Der eine – David S. – wurde in der Schule gemobbt und wegen psychischer Probleme bereits stationär behandelt. Er hasste TürkInnen und verehrte den norwegischen Rechtsterroristen Anders Breivik. Der andere – Mohammed D. – war nach seiner Flucht aus Syrien traumatisiert und befand sich nach zwei Suizidversuchen in psychatrischer Behandlung, dennoch wurde ihm zwei Wochen vor dem Anschlag erneut eine Abschiebung nach Bulgarien angedroht. Außerdem hat er sich in einem Handyvideo zum sogenannten „Islamischen Staat“ bekannt.
WER IST T TERRORISR UND WE ER? UF AMOKLÄ
Bei beiden vermischten sich psychische und soziale Probleme sowie eine menschenfeindliche Ideologie. Die Tat von David S. kann schwerlich eindeutig als ein Terroranschlag gelten, also als eine schwere Gewalttat gegen Personen mit dem Zweck ein politisches Ziel zu erreichen. Dafür liegen die Ursachen zu sehr in psychischen Problemen und sozialer Ausgrenzung. Das ist bei Mohammed D. wohl nicht anders. Zugleich hätten sich ihre Probleme vermutlich ohne den Katalysator des Islamismus oder des Rassismus nie in einem – versuchten oder gelungenen – Blutbad entladen. Es ist deshalb zu komplex, um einfach den Stempel „Terror“ oder „unpolitischer Amoklauf“ unter die beiden Fälle zu setzen – die Welt ist nicht immer einfach. Das gilt nicht nur für Deutschland. Mohamed L., der am 14. Juli mit einem Lastwagen in eine feiernde Menschenmenge in Nizza fuhr und 84 Menschen in den Tod riss, ist davor als perspektivloser Kleinkrimineller aufgefallen – nicht als frommer Djihadist. Und auch bei den schon länger radikalisierten Terroristen der anderen Anschläge in Frankreich lag die Ursache wohl mindestens so sehr in den abgehängten Vorstädten der Banlieus wie in kruden Koranauslegungen.
Das eine gilt in der Berichterstattung als unpolitischer Amoklauf, das andere als islamistischer Terroranschlag.
Einfache Parolen helfen nicht
Die Welt ist manchmal kompliziert
Wenn die Welt kompliziert ist, dann helfen einfache rechtsautoritäre Forderungen wie der Ruf nach geschlossenen Grenzen oder einem Burkaverbot wenig. Wie wäre Mohammed D. an seiner Tat gehindert worden, wenn Frauen keine
So ganz logisch ist das nicht. Die zwei Täter haben durchaus Ähnlichkeiten.
Burkas mehr tragen dürften? Und selbst wenn alle deutschen Grenzen schon vor Mohammed D.s Einreise 2014 so dicht wie die Berliner Mauer gewesen wären, hätte das an dem Amoklauf des in München geborenen David S. nichts geändert. Rassismus gegen Muslime oder Geflüchtete hilft nicht gegen Terrorismus und Gewalt. All diese Parolen dienen kein bisschen der Sicherheit, sondern nur den Wahlumfragen der Rechtspopulisten von CSU und AfD. Schlimmer noch, sie drehen die Spirale des Hasses noch ein Stück weiter.
Was wirklich hilft Stattdessen braucht es Schutz, Geborgenheit und Liebe – kurz soziale Sicherheit. Wenn Menschen keine Angst vor Abschiebungen, vor Bomben auf ihre Familie in Syrien haben müssen, wenn sie Perspektiven für ihre Zukunft haben, wenn sie mit jemanden über ihre psychischen Probleme reden können, dann werden Botschaften des Hasses und der Gewalt sie viel weniger erreichen. Es wird zwar nie einen vollkommenen Schutz geben, aber sichere Jobs oder ausfinanzierte Sozialarbeit hilft besser gegen Terror und Gewalt als jeder Zaun.
Jakob Migenda studiert politische Theorie und wohnt in Frankfurt am Main. Er hat mehr Angst vor Menschen in Bankentürmen als Menschen in Burkas.
Kunst & Kultur Bild: José Goulão (CC BY-SA 2.0)
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sich stärker als die Stimme des Schwarzen Feminismus – somit auch eindeutig gegen Rassismus – positioniert und wird als solche sehr wertgeschätzt. Dass sie mit einem komplett aus Frauen bestehenden Orchester auftritt, ist ein starkes Symbol. Allerdings trifft möglicherweise auch auf Beyoncés Feminismus zu, was die Literaturwissenschaftlerin bell hooks in einer Doku über Madonna sagt: „Die Rechten haben mehr Geld als die Linken, die Stars müssen also eher den Konservativen gefallen.“ Man weiß also nie, wann Beyoncé wieder anfängt, sich von politisch relevanten Themen abzuwenden, um ihren in Plattenverkäufen gemessenen Erfolg zu wiederholen. Ein weiteres Dilemma im Popfeminismus ist, dass das damit verkaufte Frauenbild immer ein an die Spielregeln des Patriarchats Angepasstes ist: hübsch, jung(aussehend), dünn, modebewusst, nicht behindert, alles könnend. Popfeminismus problematisiert oft Schönheitszwang, Essstörungen, sexuelle Selbstbestimmung und (Ohn-)Macht, liefert aber nur triviale und individualistische Antworten, die nicht an den Wurzeln des Patriarchats rütteln.
Pop küsst Feminismus DJane QüC über eine wiedersprüchliche Beziehung.
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ls auf einem feministischen Camp Man Down ertönte, war eine Freundin von mir nicht so glücklich damit: „Igitt, Rihanna!“ rief sie. Zwar war ich auch etwas verwirrt, schließlich lassen ihre kinderliedtauglichen Silbenwiederholungen erstmal keine emanzipatorischen Inhalte erahnen. Jedoch hatte ich mir vor kurzem das dazugehörige Video angeschaut und wusste daher, dass dieses tasächlich um ein feministisches Thema kreiste. Im Video wird Rihanna sexuell belästigt. In ihrer Verzweiflung darüber erschießt sie schließlich ihren Belästiger. Im Song bedauert Rihanna dann diese Tat und verzweifelt erneut – dieses mal aufgrund der Konsequenzen ihrer Tat. So erklärte ich meiner Freundin, dass der Song auf einem feministischen Camp gar nicht so fehl am Platz ist.
und ihre Zeitgenossinnen stehen am Ende einer längeren Tradition vom ambivalenten Popfeminismus. Angefangen mit Madonna in den 80ern über die Girl-Power-Ära der 90er hat die Popindustrie viele „ladies with an attitude“ produziert. Auch deren teilweise feministische Einstellungen wurden jungen Frauen und Männern durch millionenfache Plattenverkäufe nähergebracht.
Rihanna
Sexuelle Befreiung en Vogue Anfang der 90er wurde ganz viel und offen über weibliche Sexualität gespro-
chen und gesungen. Das begann schon 1991 mit dem Hit Let‘s talk about sex von Salt‘n‘Pepa. In weiteren Singles von schwarzen Frauenkollektiven wurde der Spieß umgedreht, indem sehr authentisch lustvoll wirkende Frauen Männer nach ihrer körperlicher Attraktivität bewerteten. Diese sehr selbstbestimmt und stark auftretenden Frauen machten in ihren Songs und Videos die Definition des „echten“ Mannes davon abhängig, wie er sich beim Sex verhält und ob er sich um die Kinder kümmert. Madonnas Art und Weise ihre sexuelle Freiheit aus- und vorzuleben hatte hingegen immer einen Beigeschmack von Sensationslust und war mehr auf den männlichen Blick zugeschnitten. Dennoch ist sie eine großartige Tabubrecherin und hat Generationen geprägt. Schade, dass sie sich ab 2000 immer weiter zur Ikone der neoliberalen Selbstbeherrschung und des Fitnesswahns entwickelt hat. Mit dem Hit Vogue trug Madonna aber auch zu der Popularisierung der Subkultur von Schwulen, Lesben und transsexuellen Menschen bei und wurde in der Szene entsprechend gefeiert. Zu der selben Zeit kursierte das Musikvideo zu Don‘t go breaking my heart von RuPaul und Elton John jeden Tag auf MTV. Dadurch erlangte erstmals eine Transfrau/Dragqueen in der Popmusikszene internationale Popularität. Viele schwule Sänger konnten sich in der Zeit allmählich öffentlichkeitswirk-
sam outen, wie zum Beispiel George Mimit seinem Song Outside. Viel später, im Jahr 2002, kam der Durchbruch von t.A.T.u. und Frauen konnten ihr sexuelles und romantisches Interesse an anderen Frauen öffentlich bekunden.
DJane QüC wurde ab Mitte der 90‘er zum MTV-Junkie und schämt sich nicht dafür. Zum Ausgleich dafür engagiert sie sich politisch und studiert in Jena Psychologie.
Musikvideo - Playlist
chael
Girl Power und die Macht der Freundinnenschaften Der Begriff „Girl Power“ stammt ursprünglich aus der Riot Grrrl Bewegung. Jedoch wurde er erst allgemein bekannt, als er von der Popindustrie überzuckert und massentauglich gemacht wurde. Die Spice Girls wurden ein PR-Erfolg. Jedoch haben sie auch inhaltlich beeindruckt, weil sie den Zusammenhalt zwischen Freundinnen als wichtiger einordneten als eine romantische Beziehung zu einem Mann. Ein Thema, das vor den Spice Girls in der Popmusik nicht besetzt war. Auch scheuten sie nicht davor über Sex und die Unerlässlichkeit von Kondomen zu singen.
Queen Bey Feminismus Eine der größten Popstars heute ist Beyoncé und sie bekennt sich seit einigen Jahren öffentlich zum Feminismus. Ihre Karriere ist voll mit feministischen Hymnen, auch wenn sie ab und zu fast antifeministisch wirkt wie zum Beispiel in Liedern wie Nasty Girl, Soldier oder Single Ladies. In den letzten zwei Alben hat sie
• Madonna – Live To Tell, Express Yourself Die Another Day • Spice Girls – Stop, 2 Become 1, Mama • Salt‘n‘Pepa – Shoop, Whatta Man • En Vogue – Never Gonna Get It (My Lovin‘), Free Your Mind • Destiny‘s Child–Independent Women, Survivor • 20 Fingers ft. Roula - Lick It • 20 Fingers ft. Gillette - Short Dick Man • Tic Tac Toe – Mr. Wichtig • Lucilectric – Mädchen • Madison Avenue – Don‘t Call Me Baby • Lady Gaga – Alejandro, Born This Way • Beyoncé – Flawless, Beauty Hurts, Who run the world, Formation, Sorry • Anouk – Nobody‘s Wife • No Doubt – Just A Girl • Skunk Anansie – Weak • t.A.T.u. - All The Things She Said Dokumentationen • Paris is Burning • bell hooks: Cultural Criticism and Transformation
Bild: Andi „Hotte“ Wolper
Kunst & Kultur business unterwegs. Lisa Geiss zum Beispiel. Sie hat bei Arwen Bass gespielt und hatte bei Wacken ihre Finger drin. Das war ne geile und prägende Zeit, doch ab der Oberstufe hatte der Chor und der klassische Gesang für mich erst mal Vorrang. Metal gehört hab ich aber eigentlich durchgängig. Zwischendurch gab es ein Projekt namens 15 Days of Death. Eine Death Metal Band, die ein Kumpel von der Firmfreizeit (!) und ein Freund von ihm mit mir gegründet haben. Wir waren damals noch nicht so gut an den Instrumenten, aber ein paar geile Songs gab es. Wir hatten sogar einen Auftritt auf einem kleinen Festival wo auch schon Profet, meine jetzige Band, gespielt hat. Mein Kumpel Alex und ich überzeugten die Leute von Profet scheinbar. 2012 fragten sie uns, ob wir Bass und Gitarre übernehmen. Seitdem Spiele ich Rythmusgitarre bei Profet.
„Hört endlich wieder Rock und weniger Elektro verdammt!“ Elisabeth Kula ist Gitarristin bei der ThrashMetal-Band „Profet“. Neben Metal schlägt ihr Herz für klassischen Gesang, Feminismus und Hochschulpolitik.
In einem Lied von Profet heißt es: „All the nations fall“. Was hat es damit auf sich? Das ist ein Song auf unserer letzten Platte Torture of flesh. Den Text zu Nations Fall habe ich geschrieben. Oberflächlich gesehen ist es ein Song gegen Nationalismus und Krieg und ich finde es super, wenn Leute es so verstehen. Für mich war es aber eher ein Stilmittel. Eigentlich ist es ein Lied über Trennungen. Wenn der Song gegen Nationalismus und Krieg ist, hat für dich Musik dann auch etwas mit Politik zu tun? Keine Kunst ist ganz abgekoppelt von Politik. Ich halte es für legitim Musik mit politischem Inhalt zu füllen. Viele verlangen eine Trennung nach dem Motto Politik raus aus dem Metal. Da kann ich nur bedingt mitgehen. Trotzdem mache ich Musik nicht, um Politik zu vermitteln, sondern mich als ganzheitliche Person auszudrücken. Politik ist ein Teil davon. Metal gilt als stark männlich dominierte Subkultur. Wie empfindest du das? Das stimmt. Ich glaube aber nicht, dass es ein spezifisches Phänomen im Metal ist. Auch die HipHop Kultur ist immer noch von Männern dominiert. Die Aneignung von Rock ’n’ Roll hat für Frauen eine lange Geschichte. Über Joan Jett bis zu der schwedischen Allgirlband Crucified Barbara. Es gibt viele Beispiele für starke Frauen, die was zu sagen haben und sich behaupten. Normalität ist das leider noch nicht. Je mehr
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Frauen als Musikerinnen zu erkennen sind, desto mehr Frauen trauen sich in die Höhle des Löwen um sich Metal auch als Musikerinnen zu eigen zu machen. Fühlst du dich als Frau in der Höhle des Löwen? Eigentlich gar nicht. Man hat vorher Angst, dass es so wäre. Aber wenn man die Leute in der Szene erst mal kennenlernt, merkt man schnell, dass das harte Getue doch einen sehr weichen und liebenswerten Kern verbirgt (lacht). Aus der Szene hört man manchmal, dass das harte Getue nur Selbstironie wäre. Stimmt das? Ich habe in letzter Zeit eher die gegenteilige Beobachtung gemacht. Die Lächerlichkeit des Mainstreammetals wird in der Undergroundszene beklagt und verabscheut. Es gibt einen konservativen Turn zurück zu den vermeintlichen Wurzeln der Szene und einer ziemlich arroganten Witzlosigkeit. Trueness hat an Bedeutung gewonnen. Ich weiß auch nicht wie ich das finden soll. Der offensichtliche Kirmesmetal gefällt mir nicht, aber dieser stoische Konservatismus auch nicht. Was hast du selbst als nächstes vor? Erstmal steht Songwriting für das nächste Album an. Wir wollen uns natürlich steigern und gleichzeitig deutlich düsterer werden. Nächstes Jahr folgt hoffentlich ein super Festivaljahr für uns. Dann mal schauen, wo es mich beruflich hin verschlägt. Nebenbei würde ich auch gerne in einer Doom-Metalband singen (lacht). Bis jetzt hat mich aber noch niemand gefragt. Damit wäre das Gesuch aufgegeben. Gibt es noch etwas, dass du los werden möchtest? Mädels ran an die Instrumente! Und Leute: Hört endlich wieder Rock und weniger Elektro verdammt! Vielen Dank für das Interview und wie Doro Pesch, die Queen of Metal, sagen würde: Raise Your Fist In The Air Das Interview führte Malte Pannemann.
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Für mehr Durchblick in Theorie und Praxis: Wie bist du zum Metal gekommen? Es fing mit Avril Lavigne an. Wie viele junge Frauen fand ich sie damals unfassbar cool und konnte mich mit ihr im Gegensatz zu Britney Spears auch identifizieren. Deswegen nahm ich Gitarrenunterricht und landete in der Schulband. Dort spielten wir Limp Bizkit und Green Day. Ich hab angefangen CDs zu kaufen. Damals noch im lokalen CD-Laden
einfach wenn mir das Cover gefiel. Da war viel Metal dabei. Schließlich hab ich Leute kennengelernt, die diese Musik auch mochten und zack war ich drin.
Die große »Blätter«-Aktion für alle Studierenden
Wie ging es mit der Schulband weiter? Was kam als nächstes? Wir hatten kleinere Auftritte und viele Freunde von damals sind heute im Metal-
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Europa Bild: Lukas Plewnia (CC BY-SA 2.0) Monatge: Maik Brückner Foto: Privat
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Die neoliberale EU und der Brexit Im Juni 2016 stimmten 52% der britischen Bevölkerung für den Austritt aus der EU. Statt jedoch die Briten für das Ergebnis zu verurteilen, sollte die Kritik am neoliberalen Charakter der EU öffentlich stärker thematisiert werden, meint Constantin Braun.
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eitdem die Mehrheit der Briten für den Austritt Großbritanniens aus der EU votierte, herrscht ein wenig Verwirrung – in der EU und in Großbritannien (GB) selbst. Wie soll man mit dem Votum umgehen? Eines sollte man sicher nicht tun: die Frage in den Raum stellen, ob das Volk nicht vielleicht einfach zu doof sei, um zu entscheiden. In dieses Horn stießen jedoch etliche PolitikerInnen und JournalistInnen. Dass Volksabstimmungen in der EU noch nie positiv für die EU ausfielen – wie die Ablehnung der europäischen Verfassung in Frankreich oder in den Niederlanden 2005 zeigt – legt eine andere Lesart nahe. Die Mehrheit der Menschen können der Politik, die in der EU betrieben wird, nichts abgewinnen. Deshalb stimmen sie dagegen.
Bewusst undemokratisch Der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis konstatierte kürzlich in einem Artikel: die EU ist bewusst undemokratisch konstruiert, sodass sich nicht der Wille der Bevölkerungen durchsetzt, sondern der Wille des Big Business. Neben der undemokratischen Gesetzgebung auf EU-Ebene ist es vor allem der EU-Binnenmarkt, der im Interesse der Konzerne beschaffen ist. Die vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes
sind freier Verkehr von Waren, Kapital und Zahlungen, Dienstleistungsfreiheit, Personenfreizügigkeit. Das ist Freihandel pur. Das bedeutet ganz grob: alle Produkte und ArbeitnehmerInnen stehen in der gesamten EU miteinander im knallharten Wettbewerb um Jobs, Aufträge und Absatzmärkte. Gesetze, die angeblich den freien Wettbewerb verzerren, sind nicht erlaubt. Ein aktuelles Beispiel ist das Projekt, den Eisenbahnverkehr noch mehr zu einem Markt zu machen, auf dem private Unternehmen Gewinne machen sollen. Öffentliche Eisenbahnen könnten hierbei erheblich geschwächt werden und manche unwirtschaftliche aber wichtige Verbindungen werden zum Nachteil vieler Menschen eingestellt.
Stärkung für die Rechten Zurück nach Großbritannien: Das Wachsen der rechts-nationalen UKIP-Partei (United Kingdom Independence Party) begann, nachdem die britischen SozialdemokratInnen anfingen selber eine Kürzungspolitik umzusetzen. Ähnlich wie die SPD unter Gerhard Schröder. Explosionsartig stieg die Zustimmung für UKIP nach der Osterweiterung der EU 2004. Mehr als 1,5 Millionen Menschen gingen in den ersten Jahren nach dem Beitritt als ArbeitsmigrantInnen nach
Großbritannien. Ungefähr zwei Drittel davon leben seitdem dauerhaft in GB. Wegen der allgemeinen Kürzungspolitik wurde allerdings in den letzten Jahren nicht genug in Infrastruktur wie Wohnungen oder das Gesundheitssystem investiert. Wohnungen wurden teurer. Das Gesundheitssystem ist an der Überlastungsgrenze. Teilweise sind die „neuen GB-BürgerInnen“ viel besser ausgebildet und arbeiteten dennoch für weniger Lohn als britische ArbeiterInnen. Die britischen Firmen profitierten davon – die britischen ArbeiterInnen nicht. Einige wurden aus diesem Grund entlassen. Selbst wenn das nicht alle BritInnen persönlich betrifft, sind es genau diese Fälle, die die Keimzelle für Rassismus bilden. Das Klagen so mancher PolitikerInnen über wachsenden Nationalismus oder rechte Parteien in der EU ist zu kurz gesprungen, wenn diese PolitikerInnen nichts daran ändern wollen, dass Menschen gegeneinander ausgespielt werden. Stattdessen wird eine unsoziale Kürzungspolitik fortgesetzt, während Großkonzerne EU-weit kaum Steuern zahlen müssen. Wohnen, Gesundheit, Bildung und Infrastruktur werden dabei gleichzeitig schlechter und teurer. Die Kampagne für den Austritt GBs wurde von UKIP und dem nationalen Flügel der Konservativen geprägt. Dabei setzten
sie auf die Glorifizierung des einstigen britischen Empires und auf rassistische Ressentiments gegen MigrantInnen. Auch einige Zeitungen wie The Sun machten Stimmung für den Austritt.
Linke Leave-Kampagne Es gab aber auch eine linke Bewegung für ein „Leave“, in der sich GewerkschafterInnen und linke SozialdemokratInnen versammelten. Da ein solidarisches Europa nicht zur Abstimmung stand, sondern konkret diese neoliberale EU, haben auch viele sozialdemokratische WählerInnen und ArbeiterInnen für ein „Leave“ gestimmt. Ob innerhalb oder außerhalb der EU: Der Kampf für eine solidarische Gesellschaft sollte weitergehen. Dafür müssen die Menschen sich mit der Macht und dem Einfluss der Konzerne anlegen, die sich auch in den Gesetzen der EU und der Einzelstaaten widerspiegelt.
Constantin Braun ist Politikwissenschaftler und Mitarbeiter eines LINKEN Abgeordneten im Europaparlament. Neben Politik ist Rockmusik seine große Leidenschaft.
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P a p y R os s a
V e r lag
th. gleiss / i. höger / l. Redler / S. Stancic (hg) NACh golDSChätzeN gRABeN, RegeN wüRmeR FiNDeN Die Linke und das Regieren 256 Seiten | € 14,90 ISBN 978-3-89438-623-8 Sollen sozialistische Parteien in Regierungskoalitionen eintreten? Und wenn ja, unter welchen Bedingungen? Der Band vereint gemachte Erfahrungen und bezieht Position zur aktuellen Debatte. Beitr. v. Bernd Riexinger, Sahra Wagenknecht, Janine Wissler u.v.a.
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www.papyrossa.de Conrad Schuhler Die gRoSSe FluCht Ursachen, Hintergründe, Konsequenzen 131 Seiten | € 12,90 ISBN 978-3-89438-601-6
Die Verantwortung für die Große Flucht wird ebenso verdrängt wie deren Ursachen. In den Blick geraten Kriege des Westens sowie weltweite Verelendung, durch eine ›Wirtschaft, die tötet‹. Was sind die Alternativen zu Rassismus, Nationalismus und zur Festung Europa?
Basiswissen – kompakt, prägnant und kritisch Christoph Butterwegge ARmut Basiswissen Politik / Geschichte / Ökonomie 131 Seiten | € 9,90 ISBN 978-3-89438-625-2
Christoph Butterwegge legt dar, wie die ›Reformen‹ à la Hartz das Armutsproblem tiefgreifend verschärft haben. Er analysiert die Ursachen von Armut und ihre Auswirkungen auf Betroffene und Gesellschaft, hinterfragt die amtliche Statistik und diskutiert Strategien gegen Armut.
Verband
Semestertermine
15
Die Linke.SDS Wer wir sind und was wir machen
28.–29. Oktober | Köln
Antirassistisches Seminar und Compact-Konferenz stören Die neue Rechte hat inzwischen ein dichtes Netzwerke aufgebaut. Ihre Zentralorgane sind die Junge Freiheit und das Compact Magazin. Am 29. Oktober veranstaltet das Compact Magazin eine Konferenz „Für ein Europa der Vaterländer – Gegen Islamisierung und Fremdherrschaft“ mit einem Stelldichein der europäischen Rechten. Die Initiative „Köln gegen Rechts“ will die Konferenz blockieren und der SDS Köln organisiert am Freitag den Gegenkongress „Racists not welcome – Freitag informieren, Samstag demonstrieren“ an der Uni Köln. Infos unter: facebook.com/sdskoeln/
18.–20. November | Duisburg/Essen
Lernfabriken …meutern! [B!ldungsprotestkonferenz] An den Unis liegt vieles im Argen und auch die Studienreform kommt zu langsam in Gang und bringt zu wenig Verbesserungen (S. 8.). Deshalb lädt das Bündnis Lernfabriken …meutern! zur Konferenz um Erfahrungen auszutauschen, kommende Bildungsproteste zu planen und den BildungspolitikerInnen Feuer unter‘m Hintern zu machen. Infos unter: lernfabriken-meutern.de
Die Linke.SDS – kurz für Sozialistisch-Demokratischer Studierendenverband – ist der einzige bundesweit aktive sozialistische Studierendenverband. Der SDS steht der Partei DIE LINKE nahe und setzt sich für eine kämpferische und sozialistische LINKE ein. Wir verstehen uns als Teil einer breiten linken Bewegung. Die Linke.SDS streitet für bessere Studienbedingungen an den Hochschulen und versteht dies als Teil einer umfassenden gesellschaftlichen Auseinandersetzung gegen den marktradikalen und antidemokratischen Umbau der Gesellschaft, gegen Sozialabbau, gegen Ausgrenzung und Diskriminierung aller Art, gegen Krieg und Umweltzerstörung. In unserem Selbstverständnis heißt es: „Der Kapitalismus ist für uns nicht das Ende der Geschichte. Wir stehen ein für die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung und stellen ihr unsere handlungsbestimmende Perspektive einer sozialistischen Gesellschaft entgegen.“ Lokal verankert… SDS-Gruppen gibt es bundesweit an ca. 45 Hochschulen. In den Hochschulgruppen wird ein großer Teil der Arbeit gemacht. Ob Lesekreise zu sozialistischen Klassikern und aktuellen Problemen, Organisation von politischen Bildungsveranstaltungen, Arbeit in den Unigremien, Unterstützung von Geflüchteten oder Anti-Naziproteste: die Bereiche und Aktionen der lokalen Gruppen sind vielfältig. …und bundesweit aktiv. Der SDS ist keine Ansammlung autonomer Kleingruppen, sondern ein bundesweiter Akteur. Durch unsere handlungsfähige Bundesstruktur können wir aktiv in das politische Geschehen eingreifen. Wir haben den Frauen*kampftag mit initiiert und auch bei Blockupy oder dem Bündnis „Aufstehen gegen Rassismus“ eine wichtige Rolle gespielt. Bundesweite Aktivität erschöpft sich bei uns aber nicht darin, ein paar Demos mitzugestalten. Auf unserer Jährlichen Akademie diskutieren wir gemeinsam und bilden uns weiter. Darüber hinaus hat der SDS mehrere Arbeitskreise, in denen wir uns vertieft mit einem bestimmten Thema auseinandersetzen. Ob zu Feminismus, Hochschulpolitik oder dem Kampf gegen die AfD: In vielen Bereichen diskutieren und entwickeln wir Alternativen. Und das Produkt eines Arbeitskreises hältst du gerade in der Hand: die critica. Insgesamt gibt es derzeit fünf Bundesarbeitskreise (BAKs) im SDS: • BAK Antirassismus • BAK Feminismus • BAK Hochschulpolitik • BAK politische Bildung • critica-Redaktion Aktiv werden! Die Welt verändert sich nicht von allein. Eine bessere Gesellschaft braucht Menschen, die sich mit Begeisterung dafür engagieren. Support your local SDS!
3.–4. Dezember | Kassel
Bundesweiter Friedensratschlag Der Bürgerkrieg in Syrien eskaliert immer weiter, die Ukraine findet nicht zum Frieden und in Deutschland werden fleißig Waffen exportiert und die Bundeswehr aufgerüstet. Das Streiten für den Frieden ist und bleibt eine wichtige Aufgabe. Deshalb trifft sich die deutsche Friedensbewegung mit internationalen Gästen am ersten Dezemberwochenende in Kassel zum jährlichen Friedensratschlag. Infos unter: friedensratschlag.de
So erreichst du uns:
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