Essay Madeline & Franz Anton

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MadelineRitterundFranzAntonCramer Tanzfonds Erbe. Eine Förderinitiative der Kulturstiftung des Bundes zur Geschichte des Tanzes

Der Tanz hat sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer der wichtigsten Kunstformen des westlichen Kanons entwickelt. Aber er hat keine Monumente geschaffen. Während es kunst- und kulturhistorische Museen aller Art in fast jeder Stadt gibt und die Bewahrung von Denkmälern als vornehmste Aufgabe staatlicher Kulturpolitik gilt, ist die geschichtliche Dimension des Tanzes kaum sichtbar. Das ist nicht nur dem Rang der Kunstform unangemessen, es schwächt auch seine gesellschaftliche Anerkennung. Diesem traurigen Befund hat sich TANZFONDS ERBE gestellt. Gewissermaßen als Nachfolgeprojekt zum Tanzplan Deutschland, der sich einersubstantiellenVerbesserungderinstitutionellenundderAusbildungsstrukturen für den Tanz verschrieben hatte, entstand das Vorhaben, die Geschichte des Tanzes in die lebendige Mitte der Gesellschaft zu rücken. Die Pflege des Tanzerbes sollte in derkulturellenGesamtarchitekturendlicheinenfestenPlatzerhalten.

TANZFONDS ERBE, initiiert und gefördert von der Kulturstiftung des Bundes, konzipiertundrealisiertvonder ProjektleiterinMadelineRitterund ihremdamaligen Mitgesellschafter Ingo Diehl, startete 2011 mit einer Laufzeit von insgesamt neun Jahren. Das Programm hat die Frage der Überlieferung, des Wissens um die Geschichte des Tanzes und ihre Pflege auf die kulturpolitische Bühne gebracht, noch ehe der Vorhang sich auf das künstlerische Geschehen selbst öffnen konnte. Auf der Webseite tanzfonds.de heißt es: „Lange Jahre war die Geschichte des modernen Tanzes in der Öffentlichkeit nur begrenzt sichtbar – ungeachtet der Tatsache, dass der Weltruf zahlreicher Künstlerpersönlichkeiten wie Mary Wigman, Dore Hoyer, Tatjana Gsovsky, Rudolf von Laban, William Forsythe oder Pina Bausch seinen AusganginDeutschlandnahm.“

DochdasTanzerbe,magesauchimmateriellsein,benötigtzuseinemErhaltebenfalls Spezialwissen, finanzielle Ressourcen und dauerhafte Auseinandersetzung: „Die Aufarbeitung von historischem Material ist aufwendig, Urheberrechte sind häufig nicht geklärt und Nutzungsrechte, etwa für Originalmusiken, teuer. Um diese Lücke zuschließen,initiiertedieKulturstiftungdesBundesTANZFONDSERBE.“

„ACureforDanceLoss“nenntderTanzfondsselbstseinVorhabeniminternationalen KontextundbeschreibtdieStrategiemitbestechendeinfachenWorten:

„Involvemanypeoplefromdiversebackgrounds.“

„Makeiteasytoaccessavailablefunding.“

„Talkaboutitfrequentlyandtoasmanypeopleaspossible.“

Neuerung und Norm

Wenn der Tanz also die Zukunft will, steht er vor großen Aufgaben – das war die Diagnose. Hatten wir uns doch im Namen des Zeitgenössischen ins allzu Gegenwärtige verliebt, in die beständige Neuschöpfung; wir huldigten einer Überbietung des Gewesenen durch das Aktuelle. Diese Rhetorik gehört zum modernen Tanz seit der Zeit um 1900 untrennbar dazu. Ja, sie ist in der Folge durchaus auch zum neoimperialistischen Instrument geworden, die Entwicklung der Welt und deren künstlerische Hervorbringungen zu bewerten. Das hatten die Pionier*innen der Tanzmoderne sicherlich gar nicht im Sinn. Im Gegenteil ging es ihnenumgesellschaftlichenFortschritt,jaumdieUtopieeinesbesserenLebens.Man denkenuranIsadoraDuncansManifest Der Tanz der Zukunft von1904.Einersolchen RhetorikhuldigtenaberauchRudolfvonLaban,MaryWigman,RuthSt.Denisundall die vielen anderen: Es ging in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts darum, aus der Gegenwärtigkeit der Körper eine lebenswerte, eine bessere Zukunft zu schlagenwiehumanistischeFunkenausdemFeuersteinderKreativität.

Aber im Unterschied zur Denkmalpflege oder zum Kunstbestand eines Museums ist den „Monumenten“ des Tanzes nicht mit technischem Wissen und wissenschaftlichem Instrumentarium alleinbeizukommen. Denn so leicht gehtnichts verloren im Gedächtnis des Körpers. Dessen Bildung und Formung, seine Gebärden und Haltungen, sein Potential und seine Zerbrechlichkeit – „die feinen Nuancen des menschlichen Empfindens“, wie es der französische Dialektforscher und Leiter des Pariser Museums der Stimme und der Gebärden, Roger Dévigne, 1935 nannte –stelleneinengigantischenFundusanErfahrungdar.

Jedoch begegnet uns dabei ein Problem, genauer gesagt ein Überlieferungsproblem: AusderVerbindunggegenwärtigen KunstwollensmitdenWertenund Tatsachen der geschichtlichen Entwicklung entsteht eine Kategorie, die immer wieder für Unruhe sorgt – die Norm. Gleich ob akademisch, neoklassisch, modern oder zeitgenössisch: Stets stehen normative Vorgaben im Raum, an denen sich zu messen allen Akteur*innen auferlegt zu sein scheint. Hin und hergerissen zwischen den Polen der Bewahrung und der Veränderung, der Kanonisierung und der Reform, dazu noch bedrängt und in allem Tun überwacht von den Instanzen Geschmack, Kritik, Öffentlichkeit und Moral, lässt sich die Geschichte des modernen Bühnentanzes vor allemalsVerhandlungzwischenRegelundRegelverletzungdarstellen.Dasgiltfürdie Aneignung von Geschichte und den Umgang mit vergangenen Werken nicht minder. VieleFragenstellensichindiesemProzess:Wennwirzurückschauen,waskönnenwir eigentlichsehen,waskönnenwirhören,waskönnenwirwahrnehmen?Befassenwir uns mit den Werken? Den Gefühlen? Den Formen? Geht es um so immaterielle Werte wie die Hoffnung, welche aus dem Tanz der Moderne sprach, geht es um die Träume? Oder geht es doch eher um die materiellen Erscheinungen, also um die Körper, die darin geborgenen Möglichkeiten? Um das Archivgut? Um die AufführungsorteunddasPublikum?

DieRealitätdesTanzesistgeprägtvomsubjektivenErleben –desTänzers,aber auch des Zuschauers. Sie definiert sich jedoch ebenso durch das jeweilige Regime der Sichtbarkeit, das den Tanz überhaupt erst ermöglicht – auch in seinen historischen Speicherformen.ZudiesenFormenderErinnerungzählennichtnurdieWerkeselbst. Vielaussagekräftiger istwomöglich der Mittel-und Hintergrund:dieSchulenund die Lehrer*innen, die Techniken und Methoden der Ausbildung, die wirtschaftliche Lage und die Unterhaltungsindustrie, das soziale Ansehen der Kunst, der Einfluss von Medien auf das Sehen und das Zeigen, die Schönheitsbegriffe, die Rollenbilder und die Machtverhältnisse, nicht zu vergessen die Körperideale und Geschlechterordnungen.MagauchdergesamteKontextderKunst,sowieersichseit derNeuzeitimabendländischenRaumentwickelthat,immereinzelneFigureninden Vordergrund rücken: Ohne die Gesamtheit der künstlerischen Verhältnisse ist das Einzelne der Kunst,undnatürlichauchderTanzkunst,nichtverständlichund habhaft zu machen. „Es gibt einen Zusammenhang zwischen Kabinettsbeschlüssen und der Art, wie sich Bewerber bei Aufnahmeprüfungen bewegen – diesen Zusammenhang gilt es zu verstehen“, schreibt Gérard Mayen 2012 in seiner Studie über die zeitgenössischeTanzausbildunginFrankreich.

Aufforderung zum Tanz TANZFONDS ERBE war eine „Aufforderung zum Tanz“ – mit der Geschichte. Sie, die Carl Maria von Webers berühmte Komposition gleichen Namens aus dem Jahr 1819 zitiert, aus der knapp 100 Jahre später Vaslav Nijinskys erotische Choreografie Der Geist der Rose wurde, erging nach weiteren 100 Jahren an viele Akteur*innen: Künstler*innen, Institutionen, Behörden, Archive, das Publikum. Sie sollten sich mit derFragedereigenenVergangenheit,derGeschichteihrerDisziplin,derÄsthetikder Aneignung und dem Studium der Quellen befassen. Dabei waren die Vorgaben weitgefasst. Auf der Webseite heißt es: „Ritter und Diehl [die Projektträger von TANZFONDS ERBE] einigten sich bewusst darauf, keinen Kanon bedeutender historischerWerkefestzulegen.Siewollten,dassdieAntragstellerselbstentscheiden und argumentieren, warum die von ihnen ausgewählten historischen Choreografen, Werke und Themen für die Gegenwart von Bedeutung sind. Durch diese offene HerangehensweisewerdenverschiedensteZugängezurTanzgeschichteermöglicht.“

Tatsächlich haben alle Interessierten unterschiedlich reagiert; darüber legen die 60 geförderten Erbeprojekte ein beredtes Zeugnis ab. Sowohl die Namen der historischen Bezugspersonen wie auch die Liste der Werke, schließlich auch die Vielfalt der entwickelten Formate für Recherche, Präsentation, Vermittlung und DokumentationerzählenihrerseitsvonderKomplexitätdeshistorischenGeschehens in der Gegenwart. Dabei verteilte sich das in den Anträgen formulierte Interesse nahezu paritätisch auf die Vor- und Nachkriegsmoderne: etwa 20 Positionen auf die Zeit bis 1940 und 20 auf die Zeit nach 1950. Mit diesen Figuren und ihren Werken –dieListeenthältrund35Stücke–befassten sichinsgesamtandie60zeitgenössische Künstler*innen unterschiedlicher Sparten, darunter natürlich Choreografie, aber

gemäß dem übergreifenden Ansatzdes Förderprogramms auchFilm, Regie, Literatur und Wissenschaft. „Insgesamt wurden 60 Projekte ausgewählt, die exemplarisch für einen künstlerischen Umgang mit dem Tanzerbe stehen: Die geförderten Künstler nutzen unterschiedlichste Archive für ihre fundierten Recherchen, arbeiten eng mit Experten zusammen und tragen darüber hinaus zur Klärung urheberrechtlicher Fragen bei. Die künstlerischen Ergebnisse dieser Prozesse eröffnen dem Publikum denZugangzueinerlebendigenTanzgeschichte,diebishereinigenwenigenExperten vorbehalten war. Die entstehenden Produktionen werden Spielplan-Elemente der beteiligten Theater und Kompanien. Eine 2014 eingerichtete Gastspielförderung für TANZFONDS ERBE-Projekte unterstützt die überregionale Sichtbarkeit der Werke.“ (tanzfonds.de)

Und das ist zugleich der wichtigste Befund des Projektes: Die Geschichte des Tanzes kommt in ihrer heutigen Gestalt nicht dogmatisch daher, es gibt keine feste Form, keineeherneVorgabe,wiediehistorischeVergegenwärtigungsichzuvollziehenhabe oderwasüberhauptdazuzählt.OhnehinwarTANZFONDSERBEnichtaneinemneuen Kanon interessiert (auch wenn aus dem Projekt ein solcher entstanden beziehungsweiseeinalterbestätigtwordenseinmag).DieVielfaltderkünstlerischen Interessen spiegelt sich vielmehr in der Vielfalt der Antworten auf die Frage danach wider,wasdenndieGeschichtedesTanzeseigentlichseiundwosiezufindenwäre.

Insgesamt also 60 geförderte Projekte im Zeitraum von 2012 bis 2019; sie bearbeiteten in den unterschiedlichsten Formen die Bedeutungdes Erbesheute. Die Formate umfassen Ausstellung, Buch, Film, Installation, Konzert, Lecture Performance, Neueinstudierung, Neukreation, Online-Projekt, Partizipation, Performance, Re-Enactment, Re-Kreation, Rekonstruktion, Symposium, Textdokumentation und Vortrag, dargeboten in Einzelpräsentationen und Festivals, ProgrammreihenundHochschulmodulen,freienProduktionshäusernundstädtischen Bühnen,Museen,ArchivenundöffentlichenRäumen.

InsgesamtwurdennachinternenStatistikenalleinindererstenFörderphase2012bis 2014 rund 100.000 Zuschauer erreicht – sowohl mit lokalen Produktionen als auch mit Gastspielen. Zählt man die rund 1.800 projektbeteiligten künstlerischen Akteur*innen sowie die etwa 500 sonstigen Mitwirkenden (Forschung, Vermittlung, Archivunddergleichen)hinzu,ergibtsicheinbeeindruckendesRezeptionspanorama. Das setzte sich auch in der zweiten Förderphase fort, an der zwar weniger große Häuser beteiligt waren, in der die Reichweite mit 90.000 Zuschauer*innen aber nahezukonstantblieb.AufdiesesInteressehatteanfangsniemandzuhoffengewagt. AbernichtnurdasPublikumentdeckteseineLeidenschaftfürdieÜberlieferung,auch die Künstler*innen überwanden ihre anfängliche Skepsis und legten immer neue ForschungsthemenundStückkonzeptevor.

Arbeit an der Geschichte

So wurde auf breiter Front die Arbeit an der Geschichte aufgenommen. TANZFONDS ERBE hat deshalb vor allem gezeigt, wie leichtfüßig diese komplexen vergangenen Erlebnisse für neue Körper, neue Betrachter*innen, neue Erfahrungen zugänglich werden können, wie rasch das Begehren nach der Vergangenheit entfacht werden konnte. Besonders das Element des Erlebens als unstofflicher Hülle der Erscheinungen hat vielen Künstler*innen Anlass geboten, sich dem flüchtigen CharakterdesTanzwerkszustellen,istdochletztenEndesnichtdieFormvergänglich, sonderndieWirkung,dieesaufdieBetrachter*innenausübt.

Der Zusammenhang von Geschichte und Gegenwart ist im Tanz deshalb so kompliziert,weilkeinMenschjeaußerhalbderGeschichtestehtundauchdaseigene ŒuvresichinderZeitständigverändert.SogesehengibtesimTanzgarkeinOriginal, sondern immer nur die Umformung, die Weitergabe von Material – sei es visuell überliefert, gedanklich, somatisch, ästhetisch oder sonst wie. Immer sind es Eindrücke und Erfahrungen, welche sowohl die Wirkung als auch die Interpretation von Tanzwerken prägen; sie tauchen als momenthafte Konstellationen zu einem bestimmtenZeitpunktaufundbehaltenfastnieeinebleibendeGestalt.

Deshalb folgerte Rudolf von Laban 1929: „Unter die Menschen gelangt [...] diese Kunst durch Tanzwerke, die nach schriftlicher Aufzeichnung reproduzierbar sind.“ Denn, so hatte er richtig erkannt, um sich innerhalb einer Kultur des Monumentalen behaupten zu können, musste der Tanz sich jenseits seiner ephemeren und erlebnisbasierten Erscheinungsweise objektivieren; Laban selbst war einer der glühendsten Verfechter dieser Idee. Seinem Arbeitsprogramm gemäß konnte ein Werknur,oderdoch ambesten,in schriftlicherFormüberliefertsein, alsoalsQuelle im weitesten Sinne. Zu diesem Verständnis zählte aber auch das Überpersönliche: „Heute sehen noch wenige das unpersönliche Tanzwerk, die meisten sehen nur den TänzerundseinepersönlichenBesonderheiten“,fügteerhinzu.

Doch hier irrte Laban, wie wir heute wissen: Das Tanzwerk muss vor allem getanzt sein, denn nur im Jetzt der Vorstellung, in der Erlebniskonstellation der Aufführung kann seine Absicht zum Tragen kommen, kann es seine ganze sinnliche Wirkung entfalten, kann es sich an die tanzenden Körper schmiegen wie ein wehendes Gewand. Nicht umsonst gelten die Schleiertänze einer Loïe Fuller als die erste Manifestation des modernen Tanzes, nicht umsonst istder Schleiertanz, der zugleich verhüllt und offenlegt, der Bilder gibt und Formen nimmt, mit einer Situation der Verführungverknüpft (weshalb Salomes„Tanzder SiebenSchleier“zueinem Symbol des Jugendstils werden konnte) – nur in der Aufführung kann das Werk gelesen, genossen,geliebt,jabegehrtwerden.

Wenn man davon ausgeht, dass Innerlichkeit und Visualisierung entscheidende Elemente der Überlieferung im Tanz sind, dann ist damit aber noch kein Problem nachhaltig gelöst. Im Gegensatz zu vielen anderen Kunstformen nämlich sind

Innerlichkeit und Visualisierung nicht in einer wie auch immer gearteten Form enthalten, die man als Werk im Gegensatz zum bloßen Vollzug bezeichnen könnte. Tanzwerke können nur unmittelbar erlebt werden, es sei denn, man überträgt sie in andere Medien, etwa Fotografien oder Notationen, an erster Stelle aber Film und Video. Neben den Vorstellungen in Theatern und den zahlreichen UnterrichtsangebotensindesgeradedieseBildzeugnisse,diemanheute,ineinervon den Medien beherrschten Welt, immer irgendwo sehen kann – auf YouTube, in Musikvideos, in Kinofilmen, in Bibliotheken und Archiven oder eben in neuen Werken.

Ein besonderer Stellenwert kommt in diesem Kontext dem Dokumentationskonzept von TANZFONDS ERBE unter der Leitung von Isabel Niederhagen zu. Alle FörderprojektewurdenvonderVideodokumentaristinAndreaKeizfilmischbegleitet, es entstanden Mitschnitte der Aufführungen, Prozessdokumentationen und Experteninterviews.Für die Veröffentlichung der Videos wurden die Rechte bei allen Mitwirkenden eingeholt und Musiklizenzen bei den Komponisten beziehungsweise Musikverlagen erworben. Das digitale Archiv tanzfonds.de stellt ein umfassend aufbereitetes und vielschichtiges Wissen zur Verfügung. Die Filmdokumente ermöglichen einen niedrigschwelligen Zugang, ohne Abstriche bei der inhaltlichen Qualität zu machen. Nicht zuletzt dieser Aspekt hat 2016 zur Verleihung des European Union Prize for Cultural Heritage / Europa Nostra Award geführt. Die Jury hat damit zum allerersten Mal das Tanzerbe als Europäisches Erbe anerkannt –gleichaufmitProjektenderDenkmalpflegeundMuseumspraxis.

Künstlerische Antworten

Ein großer Teil der geförderten und realisierten Projekte zielte auf die Wiederbelebung, Neueinstudierung, Neukreation oder Überarbeitung meist abendfüllender choreografischer Werke. Mit großer Sorgfalt und helfend beraten durch ehemalige Tänzer*innen, Weggefährt*innen oder Pädagog*innen der jeweiligen Tanzschaffenden ginges darum, ein möglichst getreues Bild der Werke zu geben,dieBühnengeschichtegeschriebenhaben.DaswohlprominentesteBeispielist Oskar Schlemmers Das Triadische Ballett (1922) in der Neufassung von Gerhard BohnerausdemJahr1977,nungetanztvomBayerischenJuniorBallettMünchen:Mit Ivan Liška und Colleen Scott waren zwei unmittelbar an Bohners Projekt Beteiligte eingebunden, ebenso wie Nele Hertling von der Akademie der Künste, Berlin, als InitiatorinbeiderFassungen1977und2014.DasWerkwirdinTheatern,Museenund auf Festivals gezeigt und prunkt mit den neuangefertigten Kostümen besonders im Bauhausjahr2019.

Aber auch Vertreter*innen der Nachkriegsmoderne und des Tanztheaters waren Thema. Auf der Liste der geförderten Projekte stehen Werke von Uwe Scholz, Susanne Linke, Reinhild Hoffmann, Pina Bausch, Kenneth Macmillan und Johann Kresnik.ZuJochenUlrichunddessen1990entstandenemBallett Lulu erarbeitetedas

Ballett Rossa an der Oper Halle 2015 eine Neufassung, und mehrere Werke Mary Wigmans waren Themen auf den Bühnen in Osnabrück (Städtische Bühnen), Berlin (Sophiensaele)undDresden(Societaetstheater).

DerGrüneTisch

Aber es ging nicht immer um eine Präsentation von Werken in voller Länge und möglichst originaler Gestalt. Viele Projekte widmeten sich anderen Aspekten des LebenschoreografischerArbeiten:derWirkungsgeschichteetwa.KurtJooss’Klassiker Der Grüne Tisch (1932) stand im Mittelpunkt der Recherchen von Olga de Soto. Im Gegensatz zu den Arbeiten in der Kategorie „Rekonstruktion / Neueinstudierung“ ist Der Grüne Tisch nie von den Spielplänen verschwunden. De Soto fragte nach den Gründen dafür, dass dieses Anti-Kriegsballett in der ganzen Welt so viele Jahrzehnte langlebendigbleibenkonnte.Bereitsseitdenfrühen2000erJahrenforschtedeSoto zurRezeptionsgeschichtevonSchlüsselwerkenderTanzgeschichte,in Histoires (2003) über Der junge Mann und der Tod (1946)vonRolandPetit,in Une introduction (2010) sowie Débords. Reflections on The Green Table (2012)über Der Grüne Tisch.Dankder Förderung durch TANZFONDS ERBE konnte sie weltweit Interviews mit Zeitzeug*innen führen und eine installative Aufführung entwickeln, die eine große Zahl an Augenzeugenberichten inszeniert und so die Entstehung des Mythos nachzeichnet,zudem Der Grüne Tisch gewordenist.

Undo,RedoandRepeat

Die Arbeit an der Erinnerung und der Weitergabe von Tanzerfahrung verfolgten ChristinaCiupkeundAnnaTillmitihremProjekt undo, redo and repeat (2014).Esging um die Frage, welche Anteile von Tanzwissen, Erfahrung und Körperlichkeit über die Generationen hinweg weitergegeben werden und künftig den Kenntnisrahmen bilden, in dem das tänzerische Werk in seiner Sinnlichkeit bestehen bleiben kann. Dabei waren nicht nur unmittelbare Zeitzeug*innen und künstlerische Wissensträger*innen wichtig, sondern auch Zuschauer und „Außenstehende“ kamen zuWort.

GertrudBodenwieser

Jochen Rollers Projekt The Source Code (2014), eines derjenigen, die bis heute weiterlaufenundsichgleichsamselbstübertroffenhaben,waralsaktiveArchivierung angelegt.DieösterreichischeAusdruckstänzerinGertrudBodenwiesergingnach1938 ins Exil nach Australien und baute sich dort eine neue künstlerische Existenz auf. Roller unternahm eine breitangelegte Recherche zu Bodenwiesers neuem Leben, führte Interviews, sammelte Archivalien, sichtete Korrespondenzen und arbeitete an ihren Choreografien. Eine „Rekonstruktion“ schloss er aus, auch wenn die Choreografien Gertrud Bodenwiesers (insbesondere Errand into the Maze, 1954) im ProjektgroßenRaumeinnahmen–aberebenals„Non-Reconstruction“.DerUmgang mit Quellen, insbesondere Filmaufzeichnungen, die konzeptionelle Schwierigkeit von Rekonstruktionen wie auch der technische und historische Abstand veranlassten Roller zu dieser Umkreisung desWerks, anstatt es in einer spezifischen Form wieder

zu behaupten. Nachvollziehbar wird dieser Prozess nicht auf der Bühne, sondern im Wissensmodusder Webseite.Die Form choreografischerWerke inderZeitbleibt ein ungelöstesProblembeziehungsweiseeinenieabgeschlosseneAufgabe–daskannals Ergebnis nicht nur von The Source Code, sondern von TANZFONDS ERBE überhaupt bezeichnetwerden.

JustinTime

Ganz abseits von einzelnen Werken oder Künstler*innen arbeitete der Künstlerzwilling deufert & plischke mit dem Projekt Just in Time (2016). Menschen aus zunächst drei Städten – Berlin, Tel Aviv, New York – haben auf Einladung der beiden „Briefe an den Tanz“ geschrieben und ihre persönliche Bindung, ihre Erfahrungen, ihre Sehnsüchte, ihr Erleben von Tanz dokumentiert. Daraus ist zum einen ein Buch geworden, zum anderen gibt es gemeinsame Tanzveranstaltungen, Tanzerbe-Bälle gewissermaßen, in denen das Gemeinschaftliche der Erinnerungsbildunggefeiertwird(zuletzt2019inBrüssel).

Deutlich wird an diesen wenigen Beispielen, dass im gegenwärtigen Verständnis die Geschichte des Tanzes nicht mehr ohne weiteres als Geschichte von kanonischen Werken diskutiert werden kann. Vielmehr sind die vielschichtigen Prozesse der Aneignung und der Auswahl Gegenstand kritischer Befragung – einer Befragung, die das Geschichtsverständnis generell problematisiert und die Existenz von Werken nicht als überzeitliche Offenbarung akzeptiert, sondern in die Zeitlichkeit selbst, und alsoauchindieGegenwart,immerneueinschreibenwill.

DepotErbe

Dieser Ansatz leitete auch die vielleicht am offensten angelegte Auseinandersetzung mitdemErbethema,nämlichdasAusstellungs-undDiskursprojekt„DepotErbe“2017 amTheaterFreiburgunddemdortigen Museumfür Neue Kunst. Darinbefasste man sich eigentlich überhaupt nicht mehr mit den einzelnen Werken oder dem künstlerischen Vermächtnis prominenter Choreograf*innen, sondern stellte die übergeordneten Aspekte des Erbens in den Mittelpunkt. In Vorträgen und künstlerischen Interventionen ging es um die Machtverhältnisse und die Interpretationsleistungen, das heißt die jeweilige Aneignung von Vererbtem, um jenes „wirre Archiv von verschwiegenen und verborgenen Hinterlassenschaften, in das sich unsere Stimmen flechten“, wie es in der Beschreibung heißt. Ähnlich wie in der bahnbrechenden partizipativen Ausstellung „Familienmacher. Vom Festhalten, Verbindenund Loswerden“überdieimmateriellenVerhältnissevonVerwandtschaft, FamilieundErbe,diezeitgleichmitderGründungdesTANZFONDSERBE,2011/12im Wiener Museum für Völkerkunde zu erleben war, erweist sich, dass die Verhältnisse von Besitz, Wissen und Tradition im Wesentlichen immateriell konstituiert sind und wirnur jeweilszeitgebundeneSpurenund Materialisierungendavonzur Handhaben können. Wir basteln uns gleichsam unsere Verhältnisse, wir machen uns die Geschichte zurecht. So wird deutlich, dass die Gegenwärtigkeit tänzerischer Realität und dasinihr enthaltene dialogische Prinzip, dasPrinzip der Gleichzeitigkeit und der

Teilhabe, auch im Zeitalter der immerwährenden Gegenwart des Digitalen nach analogen Gedächtnisräumen verlangten. Dazu zählen Briefwechsel, Archive oder Denkschriften zu Aspekten des Tanzes, zu den Protagonist*innen und den gesellschaftlichenRealitäten.Siebewahrendas,wassichdemreinenErlebenundder schieren Sichtbarkeit entzieht. Das eigentlich Immaterielle des Tanzes – seine spezifische Verbindung von Präsenz, Geistigkeit und Materialität – wird aber nur im Handelnaufgehobenwerdenkönnen.

Material der Ewigkeit

Kein Tanzwerk kann mit sich identisch sein. Das Wissen wir ganz direkt aus der jüngsten Vergangenheitetwainden Werken vonPina BauschoderWilliamForsythe, diefortwährendÄnderungenvornahmenundbeidenenesletztlichkeine„endgültige Werkgestalt“ gab und gibt. Es ist aufschlussreich, dass gerade für diese beiden Künstler die Anstrengungen zur Selbstarchivierung besonders groß sind und neue Technologien wie auch neue archivische Konzepte entwickelt werden, um diesem ständigen Veränderungsprozess, der zugleich die wesentliche künstlerische Ressourceist,gerechtzuwerden.

Deshalbwird in Fachkreisen der Begriff Rekonstruktion höchst ungernverwendet.Es gibt ja im engeren Sinne kein Original; und selbst wenn es das gäbe, kann eine bloß formale Übereinstimmung nicht hinreichen, schließlich geht es immer auch um die Erlebnisqualitäten, die Erinnerungen, eben das subjektive Sehen und Erinnern. Darin liegen spezifische Formen der Weitergabe und der Aneignung, also der Verfertigung vonGeschichte,dienichtnurindenTANZFONDSERBE-Projektenverhandeltwerden. Das 2012 entstandene und seither weltweit gezeigte Ausstellungsprojekt

„Retrospective by Xavier Le Roy“ befasst sich ebenfalls mit genau dieser Frage. Auf der Webseite von Xavier Le Roy findet man folgende Kurzbeschreibung zu

„Retrospective“: „Retrospective is an exhibition involving 6 performersunfoldingin 3 galleryspaces.Eacheditioniscreatedwithlocalartistsandproducedbythemuseum invitingthework.“

Im Kern des Projekts stehen zwei Aspekte: die Durchführung in einem Museumskontext und die Beteiligung von wechselnden Performern aus den jeweiligenlokalenKontexten.ThemaderAusstellungsinddieSoloarbeitenvonXavier Le Roy seit 1996. Jedoch geht es gerade nicht darum, diese Soloarbeiten in voller Länge zu zeigen beziehungsweise aufzuführen. Indem alle Mitwirkenden ihre jeweils eigene, subjektive Sicht auf den Ausstellungsgegenstand entwickeln und präsentieren, werden Transformation, Veränderung, Anpassung und das Performative unmittelbar in die Ausstellung integriert, ja sie werden der eigentliche Gegenstand. Damit sind sowohl die subjektiv erlebte Präsenz der Aufführung (das „Immaterielle“) als auch die historische Evidenz, gleichsam das Faktische des Gewordenen (das „Materielle“ der Werkgestalt), im Medium des Körpers und des Zuschauensaufgehoben.

Rekonstruktionen, so sagte es einmal der künstlerische Aktivist Emil Hrvatin alias Janez Janša, seien schon deshalb unmöglich, weil das Publikum nicht rekonstruiert werdenkann. WasdasPublikumzuerleben vermag,istaufdasengsteverknüpft mit den vielen Ebenen, auf denen das Individuum sich konstituiert – Bildung, sozialer Hintergrund, Geschlecht und viele andere mehr. Zeitgenössisch ist der Tanz, auch wenn er historisch ist, auch wenn er der Ewigkeit entrissen wurde, um im Jetzt zu erscheinen,zeitgenössischsinddieWerke,umGiorgioAgambenzubemühen,immer und zuallererst dem eigenen Körper. Den kann keine kulturpolitische Maßnahme in die Ewigkeit überführen. Aber die Spannungen zwischen der zeitgebundenen Erscheinung des Tanzes und dem fortdauernden inneren Antrieb, in dem sich die Geschichte behauptet – diese Verhältnisse können sehr wohl bewahrt werden. Das hatsichinderInitiativeTANZFONDSERBEgezeigt.

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