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MARY WIGMAN, MARCO GOECKE, MAURO DE CANDIA

DANSE MACABRE


Titelfoto: Ernst Ludwig Kirchner Totentanz der Mary Wigman, Hier: Totentanz II Ensemble

MARY WIGMAN, MARCO GOECKE, MAURO DE CANDIA

DANSE MACABRE PREMIERE 11.2.2017, THEATER AM DOMHOF


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BESETZUNG Totentanz I (1917/1921)

Totentanz II (1926)

Choreografie Rekonstruktion Kostüme Rekonstruktion der Kostüme Licht Musik Klavier Choreografische Assistenz Projektleitung

Choreografie Rekonstruktion Kostüme Masken Rekonstruktion der Kostüme Masken Licht Musik Schlagzeug Choreografische Assistenz Projektleitung

Mary Wigman Henrietta Horn (verantwortl.), Susan Barnett, Christine Caradec, Katharine Sehnert Mary Wigman Margrit Flagner und Kostümabteilungen, Ltg. Christine Saurbier und Thorsten Budischewski, unterstützt von Susan Barnett Uwe Tepe, Julian Rickert Camille Saint-Saëns Denys Proshayev, Nadia Mokhtari Leonardo Centi Patricia Stöckemann

Mary Wigman Henrietta Horn (verantwortl.), Susan Barnett, Katharine Sehnert Mary Wigman Victor Magito Margrit Flagner und Kostümabteilungen, Ltg. Christine Saurbier und Thorsten Budischewski, unterstützt von Susan Barnett Maskenabteilung, Ltg. Thorsten Kirchner Uwe Tepe, Julian Rickert Frank Lorenz nach Ideen von Will Götze Frank Lorenz/Ingo Reddemann Leonardo Centi Patricia Stöckemann

Uraufführung 18. Juni 1917, Zürich /14. Januar 1921, Dresden

Uraufführung Februar 1926, Königsberg

Mary Wigman Yvonne Georgi Gret Palucca Berthe Trümpy

Dämon Weibliche Gestalt Lemuren

Marine Sanchez Egasse/Keith Chin Cristina Commisso/Lennart Huysentruyt Katherine Nakui/Neven Del Canto Rosa Wijsman/Péter Matkaicsek

Jayson Syrette/Keith Chin Marine Sanchez Egasse/Cristina Commisso Cristina Commisso/Marine Sanchez Egasse, Neven Del Canto, Lennart Huysentruyt, Katherina Nakui, Péter Matkaicsek, Rosa Wijsman


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Supernova (2009) Choreografie Einstudierung Musik Bühne/Kostüme Licht

Technischer Direktor Wesko Rohde Assistent der Technischen Leitung Stefan

Marco Goecke Ralitza Malehounova, Fabio Palombo Pierre Louis Garcia-Leccia, Antony & the Johnsons Marco Goecke Udo Haberland

Uraufführung 25. Februar 2009, Scapino Ballet Rotterdam Mit Keith Chin, Cristina Commisso, Neven Del Canto, Lennart Huysentruyt/Péter Matkaicsek, Katherina Nakui, Marine Sanchez Egasse/Rosa Wijsman, Jayson Syrette Sacre (Uraufführung) Choreografie Mauro de Candia Musik Igor Strawinsky Bühne/Licht/Kostüme Mauro de Candia Klavier Denys Proshayev, Nadia Mokhtari Choreografische Assistenz Leonardo Centi Dramaturgie Patricia Stöckemann Mit Keith Chin, Cristina Commisso, Neven Del Canto, Lennart Huysentruyt, Péter Matkaicsek, Katherina Nakui, Marine Sanchez Egasse, Jayson Syrette, Rosa Wijsman

Preuhsler Bühnentechnische Leitung Thomas Buller Technischer Produktionsleiter Andreas Kaiser Leiter Beleuchtungsabteilung Uwe Tepe Tontechnik Thilo Priess Requisite Volker Witte Damenschneiderei Christine Saurbier Herrenschneiderei Thorsten Budischewski Maske Thorsten Kirchner Werkstättenleiter Alexander Heilscher Stellv. Werkstättenleiter Alexander Janisch Tischlerei Michael Schwarz Schlosserei Wolfram Bergmann Dekorationswerkstatt Hans-Michael van Eijsden Malersaal Fritz Heinrichs Theaterplastik Alexander Gehring

DANCE COMPANY THEATER OSNABRÜCK Künstlerischer Leiter und Choreograf Mauro de Candia Dramaturgie und Management Patricia Stöckemann Trainingsleiter/Choreogr. Assistent Leonardo Centi Korrepetitor Wladimir Krasmann Sportarzt Stefan Schilling

Premiere 11. Februar 2017, Theater am Domhof Aufführungsdauer ca. 2 Stunden, Pause nach Totentanz II und Supernova Aufführungsrechte Igor Strawinsky: Le sacre du printemps, Boosey & Hawkes Bote & Bock GmbH, Berlin, für Hawkes & Son (London) Ltd. Danse macabre - Transkription für 2 Pianos, Durand-Editions Musicales

Die Rekonstruktion von Mary Wigmans Totentanz I und Totentanz II wird gefördert von TANZFONDS ERBE – Eine Initiative der Kulturstiftung des Bundes TANZFONDS Erbe/Kulturstiftung

Ausstattungsassistenz Margrit Flagner Theaterpädagogische Betreuung Simon Niemann Inspizienz Luisa Rubel Bühnenmeister Dettmar Jankowski Beleuchtung Uwe Tepe Projektleiter Andreas Kaiser

Das Fotografieren sowie Film-, Video- und Tonaufnahmen und die Benutzung von drahtlosen Kommunikationsmitteln während der Vorstellung sind nicht gestattet. Bitte schalten Sie Ihre Mobiltelefone für die Dauer der Vorstellung aus.

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MARY WIGMAN/MARCO GOECKE/MAURO DE CANDIA

DANSE MACABRE Wie könnten die Choreografien der Totentänze I und II von Mary Wigman aus den 1920er Jahren ausgesehen haben? Was vermitteln sie uns über den Ausdruckstanz und Mary Wigman (1886-1973) als wichtigster Repräsentantin und Wegbereiterin dieser modernen Tanzbewegung? Um eine Antwort auf solche und viele andere Fragen zu finden, hat sich die Dance Company Theater Osnabrück, nach der erfolgreichen Rekonstruktion des Spätwerks Le Sacre du Printemps (1957) von Mary Wigman 2013, ein weiteres Mal auf tanzhistorische Spurensuche begeben. Diesmal um die „frühe“ Wigman genauer kennenzulernen und mehr über die Anfänge des modernen Tanzes zu erfahren. Den Totentanz I choreografierte Wigman als Tanzgroteske für vier Tänzerinnen bereits 1917 und brachte ihn 1921 erneut zur Musik von Camille Saint-Saëns‘ Danse Macabre heraus. Wenige Jahre später entstand ihr Totentanz II in Dresden, wo sie ihre berühmte Schule leitete. Als „stummer Partner“, „immer spürbar und immer inspirierend“ saß der Maler Ernst Ludwig Kirchner dabei, zeichnete, entwarf Skizzen, aus denen das Ölgemälde Totentanz und viele weitere Bilder zu Wigman hervorgingen. Ihr Pianist und Komponist Will Götze entwarf die Schlagzeugmusik zu dem Gruppenstück für acht Tänzerinnen, das 1926 uraufgeführt wurde. Während die Toten im Totentanz I noch einmal – auf bizarre Weise – ihre Lebendigkeit spüren wollten, erschienen sie im Totentanz II als Wesen, die ihre Ruhe nicht finden dürfen. Das Rekonstruktionsteam unter der künstlerischen Leitung der Choreografin Henrietta Horn zusammen mit ihrer engsten

Totentanz II Marine Sanchez Egasse

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Mitarbeiterin und choreografischen Assistentin Susan Barnett, der Wigman-Schülerin Katharine Sehnert und der Tanznotatorin Christine Caradec hat ein weiteres Mal Spurensuche betrieben, um die beiden Totentänze wieder zum Leben zu erwecken: zum Auftakt des dreiteiligen Tanzabends Danse Macabre. Ihnen sind zwei zeitgenössische Choreografien gegenübergestellt: Supernova von Marco Goecke, 2009 für das Scapino Ballet in Rotterdam kreiert, und Sacre, eine Uraufführung von Mauro de Candia zu Strawinskys Version Le Sacre du Printemps für zwei Klaviere. Beide Stücke knüpfen thematisch an die Totentanz-Idee an und stellen sie zugleich in einen heutigen Kontext. Geht es bei Goecke um die existentielle Frage von Sein und Nicht-Sein, so bei de Candia um die dem Sacre-Libretto immanente Todes- und Opferthematik im Hinblick auf unsere heutige Gesellschaft. Eine Supernova ist ein sich selbst vernichtender Stern, der am Ende seines Lebens noch einmal explosiv aufleuchtet. Ein physikalisches Phänomen, das die Grenze zwischen Existenz und deren Verlöschen, zwischen Leben und Tod, Licht und Dunkel sichtbar macht. Marco Goecke, einer der international renommiertesten deutschen Choreografen der Gegenwart, versinnbildlicht dieses makrokosmische, galaktische Ereignis im Mikrokosmos der Bühne: das Auftauchen, die Materialisierung und das Verschwinden der Bewegung im schwarzen Nichts. Die neu entstandene Choreografie von Mauro de Candia zu Igor Strawinskys Klavierfassung von Le Sacre du Printemps beschließt den Tanzabend. De Candia fasziniert der mitunter metallisch wirkende Klang der selten verwendeten Klavier-Version. Daraus bezieht er die Anregung zu einer Umdeutung des ursprünglichen Sacre-Szenarios. Bei ihm sind wir alle Opfer unserer Gesellschaft.

Wir opfern unsere Identität und Individualität dem Konformismus, wir erstarren in Automatismen und werden zu Produkten der von uns selbst produzierten Bilder. Sacre drücke den Wahnsinn der Subjektlosigkeit präzise aus und entspreche insofern der gesellschaftlichen Lage, analysierte Adorno die Musik Strawinskys. In Mauro de Candias choreografischer Fassung wird dieser Gedanke im Dialog mit der Musik sichtbar und der rituelle Opfertod zu einem Tod des eigenen Ichs. In Kooperation mit dem Felix-Nussbaum-Haus, dem Diözesanmuseum und der Kunsthalle Osnabrück setzt sich das Projekt Danse Macabre in Ausstellungen, Installationen, Symposium und weiteren Formaten mit der Totentanz-Thematik auseinander. Patricia Stöckemann

Totentanz I Rosa Wijsman, Katherina Nakui, Cristina Commisso, Marine Sanchez Egasse

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Totentanz I Katherina Nakui, Rosa Wijsman, Cristina Commisso, Marine Sanchez Egasse

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ÜBER DIE REKONSTRUKTION TOTENTANZ I UND II Henrietta Horn im Gespräch mit Patricia Stöckemann

Zusammen mit Susan Barnett, Katharine Sehnert und Christine Caradec widmest du dich ein weiteres Mal der Rekonstruktion zweier Choreografien von Mary Wigman. Nach Le Sacre du Printemps (1957) geht es diesmal um zwei „frühe“ Stücke der Protagonistin des Ausdruckstanzes: Totentanz I (1917/1921) und Totentanz II (1926). Worin unterscheiden sich diese beiden Rekonstruktionen von der Sacre-Rekonstruktion? Ein wesentlicher Unterschied ist, dass es für die Totentänze aus den 1910/1920er Jahren keine Zeitzeugen mehr gibt. Und man spürt: Diese beiden Stücke kommen aus einer anderen Epoche, haben einen anderen Stil. Insbesondere Totentanz I scheint mit sehr viel Überschwang und jugendlicher Begeisterung kreiert und umgesetzt worden zu sein, getanzt von Mary Wigman und ihren Schülerinnen Gret Palucca, Yvonne Georgi und Berthe Trümpy. Totentanz II, für eine Gruppe von acht Tänzerinnen, kommt mir dagegen viel kontrollierter vor. Ein großer Unterschied ist für mich auch der, dass Wigman in diesen Stücken selbst getanzt hat. Ich habe dadurch das Gefühl einer ganz anderen Verantwortung, denn ich muss versuchen, in ihre Bewegungsqualität hineinzugehen. Also nicht nur in ihre Gedankenwelt und ästhetischen Ideen. Ich muss mich physisch in ihre Bewegungen hineinarbeiten. Sie ist in beiden Stücken eine der Zentralfiguren. Eine Rolle der Mary Wigman zu tanzen ist noch mal was ganz Besonderes. Das gab es in Sacre nicht.

Was war die Ausgangslage, was die Herausforderung? Die erste Frage war: Was haben wir wirklich an Quellen? Ich muss sagen, dass ich es diesmal über lange Zeit sehr schwierig fand, mir ein ungefähres Bild von den Stücken zu machen, insbesondere vom Totentanz II. Wir haben uns im Team getroffen, um wirklich alle Materialien von allen Seiten zu betrachten: die Fotos, die Beschreibung von Wigman, die Zeichnungen von Ernst Ludwig Kirchner aus den Proben zum Totentanz II. Aber die Dokumente waren widersprüchlich. Es kam erst Schwung in den Prozess, als ich gezwungen war, die „grüne Figur“, den Dämon oder Tod, zu gestalten. Und als du diesen tollen Text von Arthur Michel gefunden hast, der den Ablauf des Stücks detailreich beschreibt. In den Skizzen von Kirchner waren dann doch viel mehr Informationen als ich anfangs dachte. Inspirierend wurde es, als ich versuchte, den Dämon mit den Tänzer/innen zu gestalten. Da ist was entstanden. Aber so abstrakt im Vorfeld haben wir uns sehr schwer getan. Das war beim Totentanz I einfacher. Da ging es zunächst darum, die vorhandene Tanznotation zu dem Stück zu entschlüsseln und sie mit der Musik Danse Macabre von Saint-Saëns zu vergleichen. Trotz Ungereimtheiten gab es etwas Konkretes woran man arbeiten konnte. Es entstand ein Gerüst. Wie habt ihr euch als Team in Wigmans Bewegungsart hineingefunden? Und wie lief der Übertragungsprozess auf die Tänzer? Die Fakten, die wir hatten, waren den Tänzern schnell vermittelt. Wigmans Bewegungen sind ja wenig virtuos, brauchen aber Gestaltungskraft und Gestaltungswille. Für die jungen Tänzer/innen war schwierig herauszufinden: Wie mach ich das jetzt? Wer bin ich in dem Stück? Wie übersetze ich Hintergrundinformationen in meine Rolle? Hinzu kommt, dass es für uns heute befremdliche Bewegungsangaben zu den Stücken gibt, wie Schreckpantomime oder Taumelpantomime. Das sind Begriffe, mit denen wir nicht mehr

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arbeiten und nur noch wenig anfangen können. Aber sie geben Hinweise auf bestimmte Ausdrucksqualitäten. Nicht nur den Tänzern, auch mir fiel es schwer, eine Schreckpantomime reizvoll zu finden. Oder die permanent gespreizten Finger, die in den Kinetogrammen beschrieben und für den Stil der Zeit so typisch sind. Ich habe nach einer Möglichkeit gesucht, es für die Tänzer „attraktiver“ zu machen. Irgendwann während des Prozesses dachte ich aber: Es ist hundert beziehungsweise neunzig Jahre her, dass Totentanz I und II entstanden. Warum sollen wir sie jetzt nicht so zeigen, wie wir sie anhand der vorhandenen Informationen rekonstruieren können? Ich habe immer versucht, über den rein physischen Weg zur Aussage der Bewegung zu gelangen und von dem vordergründig Expressiven wegzukommen. Begreift man die Bewegungen als physische Herausforderung, dann sind sie sehr anspruchsvoll. Dann wird es auch für die Tänzer wieder interessant, weil es um eine physische Arbeit geht. Von dort kehrt man später zur Gestaltung zurück, die die Rollen der beiden Totentänze trotzdem verlangen. Denn allein mit der Bewegung ist es nicht getan. Man muss die Rolle erspüren. So abstrakt man bleiben kann, man muss es sein, was man in der Rolle ist. Man kann sich nicht drücken. Das hat über den physischen Zugang der Erarbeitung funktioniert. Für den Totentanz II gab es mehr Leerstellen als Quellenmaterial. Womit konntest du die Leerstellen füllen? Das habe ich mich auch gefragt und ich bin immer noch überrascht, dass es den Totentanz II jetzt gibt. Ich dachte anfangs, das geht überhaupt nicht. Tatsächlich war der besagte Text von Arthur Michel sehr hilfreich. Erst von dem Moment an war die Dramaturgie des Stückes erkennbar und dass es vier ineinandergreifende Teile gibt. Der Text beschreibt sehr bildhaft und präzise den Verlauf. Ich habe mir dann irgendwann den Text genommen und die Fotos und Skizzen von Kirchner danach sortiert. So habe ich das Material in eine Chronologie gebracht und versucht die Bewegungsqualitäten

Totentanz II Jayson Syrette

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herauszuziehen. Arthur Michel hatte die Bewegungen der Lemuren im Verhältnis zur grünen Figur, dem Dämon, sehr klar beschrieben: Sie werden durch den Raum gezogen oder durch den Raum gedrückt. Für das Wigman-Solo gab es eine ganze Reihe von Fotos, die sich aber fast alle auf dieselbe Situation beziehen. Ich habe mich drauf konzentriert, erst einmal von Bild zu Bild zu kommen und eine Bewegungsabfolge zu erkennen. Und wir zeigten den Tänzern die Bilder, die sie in Bewegung umsetzten. Danach haben wir uns dann weiter getastet. Letztendlich wissen wir nicht, ob es so ausgesehen hat. Wahrscheinlich nicht, denn dafür ist die Materiallage zu dünn. Ist der Totentanz II noch eine Rekonstruktion? Im Prinzip schon, denn ich hätte ihn mir alleine nicht so ausgedacht und nicht ausdenken können. Ohne die zugrundeliegenden Informationen gäbe es ihn nicht. Wir haben ihn nicht erfunden, sondern uns so eng wie möglich an den Fotos, Kirchner-Zeichnungen, inhaltlichen Beschreibungen usw. orientiert. Es gibt das berühmte Gemälde von Kirchner, Totentanz der Mary Wigman, bei dem wir dachten: Irgendwo muss die darauf abgebildete Szene im Stück doch auftauchen. Aber wo gehört sie hin? Ich habe sie dann der Chronologie zuordnen können. Und das ist keine Neuerfindung. Aber es ist auch nicht wirklich eine Rekonstruktion, denn dazu ist das zu fragil. Eine rekreative Annäherung ...? Vielleicht eine Rekreation, aber auf der Basis von den Informationen, die da waren. Ich würde auf viele Ideen in dem Stück nicht kommen, auch was die Kostüme angeht. Das ist ja gerade so toll daran: Es ist wirklich eine ganz eigene Welt und die ist in sich stimmig und schlüssig. Wigman und ihre Mitstreiterinnen waren wirklich an etwas dran zu ihrer Zeit und das spürt man. Wenn man einmal den Eintritt gefunden hat, kommt man zu einer gewissen Chronologie der Dokumente und zu einem Ergebnis. Das finde ich immer erstaunlich.

Der Totentanz I hatte weniger Leerstellen. Vor allen Dingen hatte er eine durchgehende Musik. Das machte es beim Totentanz II zusätzlich schwierig: dieses völlige Fehlen von Musik. Die musste im Laufe des Rekonstruktionsprozesses ja erst geschaffen werden. Beim Totentanz I gibt es eigentlich keine Stellen, die absolut unverständlich waren. Die Musik vermittelte auch eine Idee, und Wigman choreografierte rhythmisch, atmosphärisch sehr eng an der Musik entlang. Saint-Saëns‘ Danse Macabre gab den Rahmen vor, den sie choreografisch nutzte. Die Musik zum Totentanz II ist mit dem Schlagzeuger Frank Lorenz zusammen während der Proben entstanden. Frank war von Anfang an in den Proben dabei und hat erst einmal nur zugeschaut. Irgendwann kam er mit dem von ihm ausgewählten Schlagwerk-Instrumentarium in den Tanzsaal. Er hat gespürt, dass wir Musik schon für den Probenprozess brauchen. Es war unglaublich hilfreich, als er angefangen hat die Bewegungen klangrhythmisch zu begleiten. Es war ein sich gegenseitiges „Befeuern“. Er hat tolle Klänge gefunden. Beim Totentanz I hat euch Christine Caradec als Notatorin unterstützt ... … Totentanz I zu rekonstruieren wäre undenkbar ohne Christine und auch ohne Katharine, die sich intensiv mit der Kinetographie (Tanznotation) auseinandergesetzt hat. Dadurch hatten wir zwei starke Meinungen. Christine besitzt sehr viel Wissen über die Zeit der 1920er Jahre, in der Rudolf von Laban seine Kinetographie entwickelte. Und das ist wichtig, um das Notierte einordnen und auswerten zu können. Katharine war unentbehrlich mit ihrem Wissen um Wigmans Bewegungsstil und mit ihren Kinetographie-Kenntnissen. Susan und ich können die Tanzschrift nicht lesen. Wir wären ohne die beiden völlig aufgeschmissen gewesen. Sie haben uns diese Mysterien erschlossen und uns die Bewegung auch verfügbar gemacht.

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TOTENTANZ I Aus Rezensionen zum Tanzabend von Mary Wigman

Berliner Börsen Courier, 22. Januar 1921 Einmal tanzt sie den Saint-Saënschen „Totentanz“ mit drei sehr begabten Schülerinnen. Sie hat ihn komponiert als ein ewig wechselndes Ornament vier geisterhafter Körper, Totenmarionetten, Totenharlekins, die zwischen Schlaf und Wachen, Gespenstigkeit und Tollheit, Angst und Freude alle nur denkbaren Kombinationen ihrer Körperglieder, ihre Körpergruppen erleben, von einer staunenswert phantasievollen und doch gesetzmäßigen Regie geleitet. Hier ist in dem Ensemble dieselbe Notwendigkeit der linearen und stereometrischen Entwicklung, derselbe Organismus des modernen strengen Stils, wie in ihrem Eigentanze. Alle Interessenten für unsere Bühne müßten sich das ansehen. Es ist eine vollkommene Lösung. Ich bin glücklich, endlich einmal das Positive sagen zu können. Was wir alle vielfach, unklar, problematisch ersehnten, hier ist es vom Standpunkt der körperlichen Plastik zu einem Ende geführt. Jede Bewegung ist zu Ende geführt, ausgekostet, durchgedacht, und jede Kombination ist es. Nun wünsche ich, dass sich auch ihre Kunst durchsetzt. Der Beifall des übervollen Saales schien es zu bestätigen. Neue Hamburger Zeitung, 24. Januar 1921 (…) sahen endlich, von ihr mit drei Schülerinnen aufgeführt, den „Totentanz“, eine dreimalige, immer engere Einkreisung, aus der sie vampirisch aufsprang, in einem fahlen Licht, daß die erdig und keimhaft glänzenden spitzen Hüte und die intensiven Gewänder mit wächserner Blässe überzog.

MARY WIGMAN

TOTENTANZ II „Die Gräber öffnen sich und geben ihre Toten frei“… soweit war ich auf der Suche nach einem Thema gekommen. Bewegung brach auf, unheimlich, dämonisch, untergründig. Kräfte und Gegenkräfte, ausgelöst im Spannungsfeld eines Raumes, der den Vorstellungen eines Totenreiches kaum noch entsprach. Diesseitiges und Jenseitiges voneinander abdrängend schob er sich vielmehr wie eine undefinierbare Zwischenstufe vor den inneren Blick. Es widerstrebte mir, die dominierende Figur dieses Raumes als „Tod“ zu kennzeichnen. Diese Endgültigkeit vertrug sich mit den ins Gleiten geratenen Bewegungsvorstellungen schon nicht mehr. Es drängte eher zu einem barbarischen, ins Tierische hinüber spielenden Geschöpf, das gierig, lüstern, grausam, sich im Dschungel des unbekannten Raumes vorzutasten schien, das untergründige Leben dort aufscheuchend und die unsichtbare Peitsche darüber schwingend. (…) Im Anschluss an eine Schlesien-Tournee hatte ich in der Lausitz getanzt. Bis dorthin waren dereinst die Mongolen vorgedrungen. (…) Hatte sich von den heraufbeschworenen Bildern jener wilden Reiter etwas in die führende Totentanz-Figur eingeschlichen und sie, wenn auch nur andeutungsweise, ins Mongolische umgefärbt? Mehr und mehr begannen die raumbewegenden Kräfte sich in ihren figürlichen Erscheinungen zu verdeutlichen. Bestimmend für den tänzerischen Gesamtablauf aber war und blieb, als einziges aktives Prinzip, die tierhafte Maskengestalt. Sie erhielt ihren passiven Gegenpol in einer Figur, die wie ein Fremdkörper im Raum stand, wie eine Durchgangserscheinung, die lediglich zum Spielball des irrationalen Geschehens berufen schien. Denn so wie dieses Maskengesicht menschlich betonte Züge erhalten hatte, so wurde auch die ganze Gestalt immer wieder von

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Bewegungsstößen durchbebt, die wie von fernher an ein einstmaliges Menschsein erinnerten. Zwischen den beiden solistischen Exponenten bewegte sich die Gruppe der larvenhaften Geschöpfe – lemurenhaft entseeltes Leben, das in passivem Getriebensein unter die Herrschaft des aktiven Prinzips gestellt war. (…) Der Beginn des Tanzes griff in seiner Bildhaftigkeit auf meine allererste Vorstellung eines Totentanzes zurück. Sieben Gestalten auf dem Boden hingestreckt, starr und leblos. In der fahlen Zwielichtigkeit mochte ihre reihenhafte Anordnung an vergessene und verfallene Grabsteine erinnern, die, von ihren Sockeln gestürzt, auf einem ebenso verlassenen und in Vergessenheit geratenen Friedhof dahindämmerten. Es dauerte eine Weile, bis sie zum Leben erwachten. Wie unter dem Zwang eines fremden Willens – ferngesteuert gewissermaßen – hoben sie die Köpfe vom Boden, eine Gestalt nach der anderen. Die Rücken richteten sich auf, und ohne einander wahrzunehmen, starrten die blicklosen Maskenaugen ins Leere. Im Hintergrund aber lauerte gierig, lüstern, gefräßig das Wesen, das sich willkürlich zum Herrn über den Raum gesetzt hatte: das Tier trat seine Herrschaft an. Es ließ die Toten tanzen. Ursprünglich hatte ich diesen Tanz wohl doch als einen gespenstischen Reigen gesehen, der im Aufzucken und Aufflackern der Gestik, im Vorbeihuschen und Vorübergleiten der tanzenden Füße durch den Raum gejagt wurde. Nun aber standen die Maskengestalten vor mir und diktierten mir ihr eigenes Gesetz. Sie waren nicht individualistisch geprägt, sondern wirkten, im Einzelnen gesehen, eher wie die Abwandlungen eines Themas, das sich in seinen verschiedenen Phasen verselbständigt, um in den geballten Gruppierungen zu einem vielköpfigen Körper zusammenzuschmelzen. Drei Spielebenen: das Hintergründige – das Vordergründige – das Untergründige – sie mussten unter allen Umständen in Einklang miteinander gebracht werden. (…)

Trotzdem, der Gestaltungsprozess war in vollem Gang, und in immer wieder erneuten experimentellen Versuchen gelang es, eine Stileinheit herauszuarbeiten, die dem irrationalen Charakter des Tanzes gerecht wurde. (…) Und wenn das Tier mit scheinbar überdimensionalen Fangarmen in das Gewirr der verknäulten Leiber einbrach, sie auseinander sprengend und in eine Raum-Verlorenheit werfend, in der sie sich zu verschatten und auszulöschen schienen, dann vermochte Niemand mehr zu sagen, wer was und was wen bewegte. Meine eigene Aufgabe in diesem seltsamen Spiel bestand in der Verkörperung jener noch an Menschliches erinnernden Gestalt, die, in einer bis zur Erstarrung hochgetriebenen Passivität, zwischen Tier und Gruppe gestellt war. (…) Es gelang mir nicht auf Anhieb, mich mit diesem Geschöpf zu identifizieren und jene völlige Empfindungsleere in mir hervorzurufen, in der man sich der Besitzergreifung durch die entfesselten dämonischen Kräfte preisgeben konnte. (…) Meine Gestalt sollte an Menschliches erinnern, aber nicht menschlich reagieren. Ohne aufzubegehren, sollte sie das teuflische Spiel über sich ergehen lassen, sollte es erdulden, aber nicht erleiden. Dem Sadismus ihres Gegenspielers, des Tieres, ausgeliefert, musste sie sich treiben, jagen und überwältigen lassen. Und durfte doch nicht Puppe werden, durfte die ihr zugeordnete Ebene nicht verlassen. (…) Der Totentanz nahm seinen Lauf, er erfuhr seine rhythmischen Gliederungen, seine dynamischen Steigerungen, er glitt ins Untergründige, er schob sich ins Vordergründige und verlor nie den Zusammenhang mit dem bedrohlich unheimlichen Hintergrund, der auf ihm lastete. Und er erlosch, wie er begonnen hatte, im Bild seines Anfangs: Die Erde nahm erneut Besitz von dem, was ihr gehörte.

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Supernova Cristina Commisso und Ensemble

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NADJA KADEL

SUPERNOVA VON MARCO GOECKE Die eindrucksvolle Eingangsszene, in der die Tänzer weiß gleißende Salzfontänen durch die Luft schleudern, spielt auf den Titel an: Eine Supernova ist das helle Aufleuchten eines Sterns, der am Ende seiner Lebenszeit explodiert und sich dabei selbst vernichtet. Die Grenze zwischen dem, was noch da ist, und dem Verschwinden hat den Choreografen immer schon interessiert. Das Licht für seine Stücke, das er zusammen mit dem Designer Udo Haberland entwickelt und das fast wie ein Markenzeichen zu Goeckes Arbeiten gehört, dient ihm als Metapher für die Zone der Ununterscheidbarkeit zwischen Sehen und Nicht-Sehen, Existieren und Verschwinden. Das wird in Supernova durch sehr langsame Fade-Outs ins Extrem gesteigert. „Was ist dein letzter Schritt, bevor die Dunkelheit dich auffrisst?“ fragt Marco Goecke eine Tänzerin während der Proben zu Supernova. In dieser, nur mit drei Tänzerinnen und vier Tänzern besetzten Choreografie gilt sein Interesse dem Entstehen, Sichtbarwerden und Verschwinden von Bewegung und Licht im Mi­ krokosmos der Bühne. Goecke begnügt sich nie mit dem Vorhandenen. Er sucht das Unsichtbare, die dunkle Seite des Mondes, das Extreme, was nicht nur an den Titeln früherer Arbeiten wie Alles oder Nichts zu erkennen ist, sondern vor allem an seiner Bewegungssprache. Er sucht etwas Neues, will das Unmögliche möglich machen. Er zitiert Einstein, der sagte, das einzig Gute an der Zeit sei, dass nicht alles auf einmal passiere. Doch in Goeckes Händen wird dieser Satz eines Physikers zum Anlass, die Gesetze der Physik außer Kraft zu setzen: „In dieser Szene sollte alles auf einmal passieren. Kannst du diese Bewegung tausend Mal schneller machen, so dass sie am Ende kaum noch existiert, weil sie so schnell ist“, so seine Anweisung in einer Rotterdamer Probe, um ein schon

Supernova Lennart Huysentruyt

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Supernova Keith Chin

schnelles Solo ohne Verlust der Präzision weiter zu beschleunigen. In Supernova spielt der Choreograf, der seine Tänzer oft mit dem Rücken zum Publikum auftreten lässt, mit weiteren ungewohnten Ansichten. Bereits in seinem Stück Whiteout für Les Ballets de Monte Carlo hatte er ein Solo in die Horizontale gekippt. Hier entwickelt er diese Idee weiter, zeigt einen Pas de deux sogar aus zwei verschiedenen Perspektiven – mit stehenden und auf dem Boden liegenden Tänzern. Auch der Tänzer des auf die Eröffnungsszene folgenden Solos liegt auf dem Boden, und seine schnellen, messerscharfen Arm- und Beinbewegungen bringen die auf den Hosen als Knochenskelett und sogar auf den Schuhsohlen angebrachten Silberpailletten zum Leuchten. In einem anderen Solo zieht die Tänzerin, von einem undefinierten grauen Wolkengebilde umspielt und beschattet, ihre Bahnen. Die explosive Energie der Akteure wird durch die pulsierende Jazzmusik verstärkt. Die Ausstattung ist auf wenige elementare Requisiten reduziert: Salz, Luft und Feuer. Die Tänzer halten ein brennendes Streichholz in jeder Hand, das bereits am Verglühen ist. „Ich liebe dieses kleine bisschen Leben“, sagt Goecke, während er konzentriert das letzte Glimmen dieses kleinen, erlöschenden Sterns betrachtet. So lange, bis es ganz dunkel ist.

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ÜBER DIE ARBEIT MIT MARCO GOECKE Ralitza Malehounova im Interview

Marco Goecke hat Supernova 2009 für das Scapino Ballet in Rotterdam kreiert. Du warst eine der sieben Tänzer/innen in dem Stück. Erinnerst du dich, wie er euch in das Stück eingeführt hat? Er sagt am Anfang nicht alles, das kommt in kleinen Portionen. Durch die Musik, die er einsetzt, durch die Stimmung, die er einbringt, durch seine Persönlichkeit spüren wir, wohin es gehen könnte. Er macht Bewegungen vor, hat schon eine Ahnung. Bestimmte Bewegungsphrasen kehren im Stück immer wieder, allerdings permanent transformiert, indem sie beispielsweise auf dem Boden ausgeführt werden, oder doppelt so schnell oder von hinten nach vorne. Er spielt mit dem Bewegungsmaterial, kombiniert es immer wieder neu, versetzt es gegeneinander. Was ist in der Bewegungssprache von Marco Goecke das Herausfordernde und Spezifische? Das Spezifische sind die kleinen parallelen Bourrés, das Rein- und Rausgehen der Tänzer von der Bühne während des Stücks. Das Verschwinden und Wiederauftauchen, wie aus dem Nichts. Herausfordernd finde ich die sehr komplexe Koordination. Man muss daran arbeiten, dass sie zum Automatismus wird, aber trotzdem muss es immer ein „Kampf “ um die Präzision der Bewegung bleiben. In Marcos Sprache spielen sehr schnelle Bewegungen eine große Rolle, Schüttelbewegungen im ganzen Körper. Man muss entspannt sein und trotzdem eine Spannung haben, sonst kann man sie nicht schnell genug ausführen und es entsteht dann eine andere Qualität. Spezifisch ist auch das Flattern der Hände. Wenn das in einem bestimmten Licht geschieht, ergibt sich der Eindruck, als hättest du viele Hände und als würde der Raum vibrieren. Und besonders ist sein Umgang

mit dem Atem, der nicht die ganze Zeit organisch ist, sondern sehr unregelmäßig. Es gibt Momente, da bist du am Hecheln. Deswegen wird es nie bequem. Und soll es auch nicht sein. Du hast Supernova auf die Osnabrücker Kompanie übertragen. Wie muss man sich das vorstellen? Man muss zurückgehen und sich fragen: Wo kommen die Bewegungen her? Wodurch waren sie inspiriert? Wer hat das getanzt? Was meint er damit? So bringt man erst einmal das „Skelett“ des Stücks zurück, die Schritte. Dann geht es darum, diesem „Skelett“ Leben einzuhauchen und die spezielle Stimmung zu erarbeiten, die Marco geschaffen hat. Das finde ich immer aufregend, aber auch schwierig. Marco selbst hat oft mit wenigen Worten viel gesagt. Man spürte durch seine Präsenz, was man machen soll. Das muss ich nun suchen und es für die Tänzer finden. Die Schritte sind die Basis, aber darüber hinaus gibt es viele Ebenen, die ein Stück von ihm ausmachen. Wichtig ist, dass wir sehr nah an dem bleiben, was Marco meint. Supernova Neven Del Canto

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Sacre Lennart Huysentruyt, Jayson Syrette, Keith Chin, Katherina Nakui, Rosa Wijsman, Cristina Commisso

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ÜBER SACRE Interview mit Mauro de Candia

War das Projekt Danse Macabre Auslöser für dich, Sacre zu choreografieren? Sacre gehört – wie Schwanensee oder andere Klassiker – zu den Stücken, die ich eines Tages gerne choreografieren wollte. Es musste nur der richtige Moment kommen. Als wir 2013 Mary Wigmans Fassung von Le Sacre du Printemps hier rekonstruiert haben, wurde mir klar: Wenn ich einen Sacre mache, würde ich die Klavierfassung der Musik nehmen und nicht die Orchesterfassung. Als wir den Danse Macabre-Abend planten, dachte ich, Sacre könnte gut passen anlässlich unserer zweiten Rekonstruktion von WigmanChoreografien, diesmal ihren Totentänzen. Gibt es eine Verbindung zwischen deinem Sacre und dem Thema „Totentanz“? Ich sehe den Bezug im Rituellen, genauer gesagt im Ritual des Tanzes. Sacre ist ein Opfer-Ritual, ein ritueller Todes- beziehungsweise Opfertanz. Das Rituelle ist in die Musik durch diesen treibenden, pulsierenden, motorischen Rhythmus eingeschrieben. Dadurch entsteht eine Energie, der etwas Mechanisches, Sogartiges, De-individualisierendes anhaftet. Ich wollte mit Sacre auf dieser abstrakt musikalischen Ebene des Rituellen bleiben. Ritual und Tanz hängen zusammen. Auf einer tänzerischen Ebene opfern wir uns auch jeden Tag in unserer Arbeit für das, was wir mögen, den Tanz. Auch das ist eine Verbindung mit dem Thema „Totentanz“. Warum die Entscheidung für die Klavierfassung und nicht für die Orchesterfassung von Le Sacre du Printemps? Ich habe selber den Sacre von Béjart getanzt, dann den von Stephan

Thoss, der zum Teil auf mich choreografiert wurde. Hier in Osnabrück erlebte ich die Rekonstruktion von Wigmans Sacre und natürlich kenne ich die Fassungen von Pina Bausch, Uwe Scholz, Glen Tetley und vielen anderen Choreograf*innen zur Orchesterversion. Die ist überwältigend, fast überbordend. Die Instrumente in all ihren Farben vermitteln sehr deutlich das zugrunde liegende Szenario, die rituelle Handlung mit dem Tanz der Auserwählten und dem Opfertod als Höhepunkt und Schluss. Denn Sacre ist wie ein Handlungsballett zu einem Libretto konzipiert. Wenn ich ein Stück wie Sacre choreografiere, dann frage ich mich als jemand, der aus einer Tradition kommt: Wie kann ich diese Tradition weiter denken? Welchen Zugang finde ich zu so einem musikalischen und choreografischen Signaturwerk des 20. Jahrhunderts, ohne Gedachtes zu wiederholen und ohne einer Neufassung nur neue Schritte hinzuzufügen? Ich wollte mich nicht auf das Libretto beziehen, sondern mich mit der Musik auseinandersetzen. Denn für mich liegt die Kraft dieses Werkes in der Musik und weniger im Libretto. Die Klavierfassung hat mir geholfen, mich von dem zugrundeliegenden Szenario und den choreografischen (Vor-) Bildern zu befreien. Die hätten mich auch nicht zu Fragen herausgefordert, wie es die Klavierfassung bis zuletzt getan hat. Und komischerweise kann ich diese Musik von Sacre immer noch hören, obwohl ich sie schon hundert Mal gehört habe. Das geht mir mit anderer Musik selten so. Die Klavierfassung fasziniert mich noch immer. Vielleicht weil sie so puristisch ist, sie lässt mir Raum und den Platz hineinzukommen. Sie bringt mich nicht in einen geschlossenen Raum. Es gibt jedes Mal neue Gedanken zu visualisieren. Gibt es dennoch eine Erzählung in deinem Sacre? Inzwischen kann ich sagen, dass ich ein Choreograf bin, der auch in eher abstrakten Stücken von Menschen erzählt, von Gefühlen. Mein Sacre spielt in einem Raum, der durch einen goldenen Tanzboden, ein Quadrat, markiert ist, auf dem der Tanz stattfindet. Gold verbin-

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Sacre Jayson Syrette

det sich für mich mit der Idee von rituellen, kultischen Handlungen und mit der Idee von Ikonen, Icons. Ich habe mich gefragt: Wer sind heute die Opfer? Wir leben in einer Gesellschaft, in der man erfolgreich, produktiv, schnell sein muss, um mithalten und etwas erreichen zu können. Wenn du diesem Rhythmus und diesem gesellschaftlichen Druck nicht entsprechen kannst, dann gehörst du nicht (mehr) dazu, dann bist du sofort außen vor. Wir müssen dem angesagten Tempo und Rhythmus folgen und deshalb opfern wir uns, ohne uns unbedingt zu fragen, ob das nötig ist, ob wir das wirklich wollen. Vielleicht wissen wir, dass es nicht richtig ist, aber wir leben in einer Konsumgesellschaft, die uns zwingt, sich zu fügen. Diese Dynamik finde ich in ihrer Ritualität interessant und versuche sie besonders im ersten Teil von Strawinskys Sacre zu visualisieren. Denn dort ist sie in der rhythmischen Motivik und Struktur der Musik angelegt und ausgedrückt. Es geht Strawinsky in seinem Sacre ja nicht um das Individuum, das Persönliche, sondern um das Mechanische, Kollektive einer Gesellschaft. Der erste Teil ist von einer asymmetrischen Rhythmik bestimmt. Dazwischen gibt es menschliche Situationen, Momente – Solos, die aus dieser Struktur, aus diesem Korsett ausbrechen. So empfinde ich die Musik. Der zweite Teil löst sich phasenweise von dieser kollektiven, ritualhaften Struktur. Es entstehen kurze Beziehungen zwischen Menschen, die aber wieder abgebrochen werden. Am Ende kehrt der maschinelle Rhythmus, die Ritualität zurück. Niemand kann sich ihrer Kraft entziehen, niemand sich exponieren und eine individuelle Entscheidung treffen.

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PHILINE LAUTENSCHLÄGER

IGOR STRAWINSKYS LE SACRE DU PRINTEMPS Schon Strawinskys frühe Ballettkompositionen sind in einer Weise komponiert, die sich auf nur wenige Vorbilder stützen konnte, wie er selbst schrieb: „Ich war im Sacre von keinerlei System geführt. Wenn ich an die anderen Komponisten der Zeit denke, die mich interessieren – Berg, der synthetisch ist, Webern, der analytisch und Schönberg, der beides ist – um wieviel mehr scheint ihre Musik theoretisch als der Sacre; und diese Komponisten waren gestützt durch eine große Tradition, wohingegen nur eine sehr kleine unmittelbare Tradition hinter Le Sacre du Printemps liegt. Ich hatte mein Ohr, um mir zu helfen. Ich hörte, und ich schrieb, was ich hörte. Ich bin nur das Gefäß, durch das Sacre durchging.“ An die Stelle des persönlichen Ausdrucks, des subjektiv bekennenden Elements in der Musik, tritt bei Strawinsky das Mechanische, Motorische, Kollektive. Damit machte er produktiven Gebrauch von den Erfahrungen, mit denen der Mensch in der modernen Gesellschaft konfrontiert ist: Maschine, Technik, Massengesellschaft. Auf der kompositorischen Ebene betonte er das Handwerkliche statt des Künstlerischen und entmystifizierte damit den Kompositionsprozess. Dem Ballett verwandt ist Strawinskys Musik insofern, als sie auf kurzen Bewegungseinheiten und Gesten basiert, also im Prinzip tänzerischer Natur ist. Mit der rhythmischen Regelmäßigkeit des Balletts brach der Komponist jedoch: Der Einfluss der russischen Volksmusik mit ihren wechselnden Metren, der Vorliebe für ungerade Takte und der daraus resultierenden Asymmetrie führte zu einer rhythmisch komplizierten Struktur, die schwer tanzbar ist.

Im Le Sacre du Printemps, dem dritten der für die Ballets Russes komponierten und 1913 in Paris uraufgeführten russischen Ballette, wandte Strawinsky die neuen rhythmisch-metrischen Prinzipien am radikalsten an. Während die Orchesterfassung mit neuen Spieltechniken experimentiert und die klanglichen Kombinationsmöglichkeiten der Instrumente auf bahnbrechende Weise nutzt, tritt in der Fassung für zwei Klaviere die innovative Rhythmik in den Vordergrund. Weite Partien des Werks sind von pulsierenden Rhythmen bestimmt, und gerade diese Partien gehören zu den mitreißendsten des Werkes, weil sich die animalische Kraft der dargestellten rituellen Handlung unmittelbar überträgt. Für die Verbreitung des Werkes und seine Wirkung auf zeitgenössische Komponisten war die Klavierfassung sogar wichtiger als die Orchesterfassung.

Sacre Marine Sanchez Egasse

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Sacre Rosa Wijsman

DANCE COMPANY THEATER OSNABRÜCK

Mauro de Candia

Patricia Stöckemann

Leonardo Centi

Cristina Maree Commisso

Keith Chin

Neven Del Canto Lennart Huysentruyt

Ayaka Kamei

Péter Dániel Matkaicsek

Katherina Nakui Marine Sanchez Egasse

Jayson Syrette

Rosa Wijsman


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KOOPERATIONSPARTNER …

IMPRESSUM UND NACHWEISE

… DES PROJEKTES DANSE MACABRE

Städtische Bühnen Osnabrück GmbH

FELIX-NUSSBAUM-HAUS, OSNABRÜCK Ausstellung: Danse Macabre. Tanz und Tod in der Kunst des frühen 20. Jahrhunderts 12. Februar bis 25. Juni 2017

Intendant Dr. Ralf Waldschmidt Kaufmännischer Direktor Matthias Köhn Generalmusikdirektor Andreas Hotz Redaktion Patricia Stöckemann Probenfotos Jörg Landsberg Konzept & Gestaltung KLARTEXT grafikbüro, Osnabrück Druck STEINBACHER DRUCK GmbH Spielzeit 2016/17 Programm Nr. 15

DIÖZESANMUSEUM DES BISTUMS OSNABRÜCK Ausstellung: Im Angesicht des Todes. Begegnung zwischen Schicksal und Hoffnung. 11. Februar bis 25. Juni 2017 KUNSTHALLE OSNABRÜCK Ausstellung: Icaro Zorbar. Verweile doch (Ein Abgesang) 29. Januar bis 2. April 2017

… DER REKONSTRUKTION TOTENTANZ I UND II VON MARY WIGMAN Mary-Wigman-Archiv der Akademie der Künste Berlin Deutsches Tanzarchiv Köln Mary-Wigman-Stiftung im Deutschen Tanzarchiv Köln Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln Dank an Thomas Betz, Stephan Dörschel, Dr. Hedwig Müller, Dr. Frank-Manuel Peter, Garnet Schuldt-Hiddemann, Didari Mikeladze, Gabriele Ruiz, Ulrike Schumann, Thomas Thorausch, Galerie Henze & Ketterer, Tanzarchiv Leipzig /Universitätsbibliothek Leipzig Weitere Informationen: www.dansemacabre-osnabrueck.de

Textnachweise Gespräch und Interviews mit Henrietta Horn, Ralitza Malehounova und Mauro de Candia sind Originalbeiträge von Patricia Stöckemann und den Gesprächspartnern für dieses Programmheft. Auszüge aus Originalkritiken zum Totentanz I: Berliner Börsenkurier 22.1.1921; Neue Hamburger Zeitung 24.1.1921. Text von Mary Wigman und Zitate zu E.L. Kirchner im Text Wigman/Goecke/de Candia Danse Macabre aus: Mary Wigman, Totentanz, Typoskript (ca. 1962), Mary-Wigman-Archiv der Akademie der Künste Berlin. Nadja Kadel, Supernova, in: Nadja Kadel (Hg.), Dark Matter. Choreografien von Marco Goecke, Würzburg 2016. Igor Strawinskys Le Sacre du printemps von Philine Lautenschläger ist ein Auszug aus ihrem Beitrag Stravinsky: Le Sacre du printemps für das Booklet zur CD Igor Stravinsky, Le sacre du printemps; Béla Bartók, Sonata for Two Pianos and Percussion. Klavier: Frank-Immo Zichner, Frank Gutschmidt. Percussion: Dominic Oelze, Torsten Schönfeld. Deutschlandradio 2010. Die verwendeten Texte sind in sich gekürzt. Das Theater wird gefördert aus Mitteln der Stadt Osnabrück, des Landes Niedersachsen sowie des Landkreises Osnabrück.

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WOHIN DANACH? Natürlich in die David Lounge … im Walhalla!

Lounge mit Garten – täglich geöffnet von 12.00 – 24.00 Uhr Küche Freitag + Samstag von 12.00 –24.00 Uhr, Sonntag–Donnerstag 12.00 –23.00 Uhr Am Rathaus . Bierstraße 24 . 05 41 . 3 4 91 0 . www.hotel-walhalla.de

1690–2015


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