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pax 2013

BALLETT VON MARIO SCHRÖDER UND UWE SCHOLZ MUSIK VON JOHANN SEBASTIAN BACH UND UDO ZIMMERMANN Ein Tanzfonds Erbe Projekt


pax 2013


BLÜHENDE LANDSCHAFT

BLÜHENDE LANDSCHAFT

ronan dos santos clemente

urania lobo garcia | leipziger ballett


leipziger ballett

F BLÜHENDE LANDSCHAFT


BLÜHENDE LANDSCHAFT

BLÜHENDE LANDSCHAFT

nikolaus tudorin

lou thabart


pax 2013 | mario schröder, uwe scholz

BLÜHENDE LANDSCHAFT

pax 2013 —

Ballett von Mario Schröder und Uwe Scholz Musik von Johann Sebastian Bach und Udo Zimmermann

leipziger ballett

TEIL 1: BLÜHENDE LANDSCHAFT TEIL 2: PAX QUESTUOSA

Ein tanzfonds Erbe Projekt

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TEIL 2

Szenenfolge

Szenenfolge

BLÜHENDE LANDSCHAFT —

PAX QUESTUOSA (DER KLAGENDE FRIEDE) —

ANKUNFT

I EXCLAMATIO I

Johann Sebastian Bach, Cantata bvw 21, Sinfonia: »Ich hatte viel Bekümmernis « Udo Zimmermann: Lieder von einer Insel 1: Ich hab im Traum geweinet (»Ich hab im Traum geweinet«, Heinrich Heine)

Aufschrei Czesław Miłosz, Das Lied vom Weltende

II IMPLORATIONES

pax 2013 | mario schröder, uwe scholz

pax 2013 | mario schröder, uwe scholz

TEIL 1

Zeugen unter Tränen

reflexion Udo Zimmermann, Lieder von einer Insel 2: Reflexion Johann Sebastian Bach, Doppelkonzert (Violine und Oboe) bvw 1060, 1. Satz

VERSÖHNUNG Udo Zimmermann: Lieder von einer Insel 3: Versöhnung (»Es wird ein großer Stern in meinen Schoß fallen «, Else Lasker-Schüler) Johann Sebastian Bach, Doppelkonzert (Violine und Oboe) bvw 1060, 3. Satz

AUFBRUCH Udo Zimmermann: Lieder von einer Insel 4: Aufbruch (Hyperions Schicksalslied, Friedrich Hölderlin) Johann Sebastian Bach, Cantata bvw 156, Sinfonia: »Ich steh mit einem Fuß im Grabe«

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Wolfgang Borchert, Generation ohne Abschied »Wir begegnen uns auf der Welt und sind Mensch« Rudolf Hagelstange, Sonett 1 »Ich habe lange, lange wie ein Stein geschwiegen« Else Lasker-Schüler, Versöhnung »Es wird ein großer Stern in meinen Schoß fallen …« Marie Luise Kaschnitz, Steht noch dahin Nelly Sachs, Chor der Geretteten Heinrich Böll, Gib Alarm Franz von Assisi, Friedensgebet

ERINNERUNG

III EXcLAMATIO II

Udo Zimmermann: Lieder von einer Insel 5: Erinnerung Johann Sebastian Bach, Konzert für Oboe d’amore bvw 1055, 2. Satz

Aufschrei

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ankunft und suche —

Tänzerinnen und Tänzer sind immer auf der Suche nach einem Ort, an dem sie sich selbst mit ihrem Körper dafür einsetzen können, emotional und intellektuell Türen zu öffnen, in der Reflexion ihrer Erfahrungen auch dem Publikum ungewohnte Wahrnehmungen zu ermöglichen. In den vielen Mitgliedern der Company, die neu nach Leipzig gekommen sind, erkenne ich mich selbst wieder, auf der Suche nach einer Identität, die nur im Wechselverhältnis mit einer Stadt und einem bestimmten Lebensumfeld entstehen kann.

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Mario Schröder, 2013

das fürstenkind  | franz lehár

pax 2013 | mario schröder, uwe scholz — Pax 2013 Leipziger Ballett, Plakatmotiv (Foto: Kirsten Nijhof)

Blühende Landschaft —

Ballett von Mario Schröder Musik von Johann Sebastian Bach und Udo Zimmermann — Ankunft Reflexion Versöhnung Aufbruch Erinnerung

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I Johann Sebastian Bach, Cantata bwv 21, Sinfonia: »Ich hatte viel Bekümmernis« II Udo Zimmermann: Lieder von einer Insel 1: »Ich hab im Traum geweinet« Ich hab im Traum geweinet, Mir träumte, du lägest im Grab. Ich wachte auf, und die Träne Floss noch von der Wange herab. Ich hab im Traum geweinet, Mir träumt', du verließest mich. Ich wachte auf, und ich weinte Noch lange bitterlich. Ich hab im Traum geweinet, Mir träumte, du wärst mir noch gut. Ich wachte auf, und noch immer Strömt meine Tränenflut. Heinrich Heine

reflexion —

III Udo Zimmermann, Lieder von einer Insel 2: Reflexion Lieder von einer Insel (Ingeborg Bachmann)

das fürstenkind  | franz lehár

ANKUNFT —

… Wenn einer fortgeht, muss er den Hut mit den Muscheln, die er sommerüber gesammelt hat, ins Meer werfen und fahren mit wehendem Haar, er muss den Tisch, den er seiner Liebe deckte, ins Meer stürzen, er muss den Rest des Weins, der im Glas blieb, ins Meer schütten, er muss den Fischen sein Brot geben und einen Tropfen Blut ins Meer mischen, er muss sein Messer gut in die Wellen treiben und seinen Schuh versenken, Herz, Anker und Kreuz, und fahren mit wehendem Haar! Dann wird er wiederkommen. Wann? Frag nicht. …

IV Johann Sebastian Bach, Doppelkonzert (Violine und Oboe) bwv 1060, 1. Satz

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V Udo Zimmermann, Lieder von einer Insel 3: Versöhnung (Else Lasker-Schüler) Es wird ein großer Stern in meinen Schoß fallen … Wir wollen wachen die Nacht. In den Sprachen beten, die wie Harfen eingeschnitten sind. Wir wollen uns versöhnen die Nacht – So viel Gott strömt über. Kinder sind unsere Herzen, die möchten ruhen müdesüß. Und unsere Lippen wollen sich küssen. Was zagst du? Grenzt nicht mein Herz an deins – immer färbt dein Blut meine Wangen rot. Wir wollen uns versöhnen die Nacht, wenn wir uns herzen, sterben wir nicht. Es wird ein großer Stern in meinen Schoß fallen.

indulgeam ubi est culpa Lass mich verzeihen, wo Schuld ist (Franz von Assisi)

VI Johann Sebastian Bach, Doppelkonzert (Violine und Oboe) bwv 1060, 3. Satz

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aufbruch —

VII Udo Zimmermann, Lieder von einer Insel 4: Aufbruch (Hyperions Schicksalslied, Friedrich Hölderlin)

das fürstenkind  | franz lehár

versöhnung —

Doch uns ist gegeben, Auf keiner Stätte zu ruhn, Es schwinden, es fallen Die leidenden Menschen Blindlings von einer Stunde zur andern, Wie Wasser von Klippe Zu Klippe geworfen, Jahr lang ins Ungewisse hinab.

VIII Johann Sebastian Bach, Cantata bwv 156, Sinfonia: »Ich steh mit einem Fuß im Grabe«

erinnerung —

Ix Udo Zimmermann, Lieder von einer Insel 5: Erinnerung X Johann Sebastian Bach, Konzert für Oboe d’amore bwv 1055, 2. Satz

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ZEITGESCHICHTE

Den Titel für den ersten Teil des Abends, »Blühende Landschaft«, betrachte ich zum einen als ironische Anspielung auf die schöne Zukunft, die 1990 versprochen wurde. Schauen wir uns heute um, dann sehen wir, dass dieses Versprechen sich nur teilweise erfüllt hat. Ich meine das nicht nur auf Deutschland bezogen. Wir müssen globaler denken. Wie viele Kriege – auch unter deutscher Beteiligung – sind in den letzten Jahren geführt worden? Ich denke darüber hinaus an Syrien und an den NSA-Skandal. Überall auf der Welt finden Kämpfe um die Freiheit statt, ähnlich wie in Leipzig 1989. Andererseits verstehe ich unter  »Blühende Landschaft« aber auch die Menschen, von denen und für die dieser Abend gemacht ist. Ich habe lange nach einer passenden Musik gesucht, die meine choreografischen Ideen zu diesem Thema widerspiegelt und die zugleich in Verbindung zu »Pax Questuosa« steht. Uwe Scholz’ Choreografie zu diesem Werk von Udo Zimmermann ist ja im zweiten Teil des Abends als Rekonstruktion zu sehen. Fast zufällig kam ich dann auf Zimmermanns »Lieder von einer Insel«. So verwenden die beiden Teile des Ballettabends Musik derselben Komponisten (Udo Zimmermann und Johann Sebastian Bach), und dennoch werden zwei unterschiedliche Geschichten erzählt. Schon allein, weil die Zeit weitergelaufen ist, weil die Konflikte auf der Welt sich in ihrer Struktur verändert haben. Auch die Tanzsprache hat sich weiter entwickelt und am Leipziger Ballett haben wir junge Menschen aus 25 Nationen und Kulturen. In einigen der Heimatländer unserer Tänzerinnen und Tänzer ist (Un) Freiheit ein aktuelles Thema. Davon ausgehend wird in »Blühende Landschaft« auch das Verhältnis der Tänzer zur Stadt Leipzig und ihrer Geschichte thematisiert: Wir als Künstler wollen die Stadt verändern und sie verändert uns.

Mit »Pax Questuosa« (Der klagende Friede) wird erneut ein Werk aufgeführt, das in den 1990er Jahren für den Komponisten Udo Zimmer­ mann und das Leipziger Ballett eine besondere Bedeutung hatte: als Herausforderung des Produktionsapparates mit der Besetzung für Soli, drei Kammerchöre und Orchester, sowie als intensive körperliche Auseinandersetzung mit zeitgeschichtlichen Erfahrungen. Nach ihrer Premiere 1992 wurde die eigens für Leipzig entwickelte »Pax«-Choreografie von Uwe Scholz mehrfach wieder aufgenommen, kombiniert mit Musik aus Richard Wagners »Tannhäuser«, später mit Zimmermanns »Dans la marche«. Der Komposition »Pax Questuosa« liegen Texte zugrunde, die um traumatische Erfahrungen und das Vergessen oder Verschweigen existenziellen Leidens kreisen: Dichtungen u. a. von Czesław Miłosz, Nelly Sachs und Heinrich Böll. Im 1944 entstandenen Sonett von Rudolf Hagelstange heißt es »Wie kann man singen, wenn aus allen Kehle / der Angstschrei und die Klage bricht?« Diese für das Werk insgesamt programmatischen Verse markieren die Herausforderung, vor der eine tänzerische Auseinandersetzung mit »Pax Questuosa« steht: Wie kann eine Choreografie die Schrecken unserer (un)menschlichen Existenz thematisieren, ohne sie einfach zu verdoppeln oder mit »schönen Bildern« zu verharmlosen? Bereits zur Premiere seiner Choreografie 1992 hatte Scholz notiert, dass man zehn Jahre nach der Uraufführung der Komposition von 1982 doch meinen könnte, »die Jahre hätten die Aktualität des Stoffes reduziert, – das Gegenteil ist der Fall«. So hat sich das Stück seit seiner Entstehung weiter aufgeladen mit Zeitgeschichte, von der noch auf den Zweiten Weltkrieg zurückgehenden Realität des Kalten Krieges und der Bedrohung durch atomares Wettrüsten über den Jugoslawienkrieg und die Ausländerfeindlichkeit im vereinigten Deutschland bis hin zu den Golfkriegen. Zu Beginn von »Pax Questuosa « erscheint

Mario Schröder —

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Patrick Primavesi —

das fürstenkind  | franz lehár

über PAX 2013

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KOMPOSITION UDO ZIMMERMANN 2009 —

> War es schwer, das Komponieren nach so langer Pause wieder aufzunehmen? < Meine letzte kompositorische Arbeit liegt immerhin zwölf Jahre zurück. Eine so lange Pause zwischen zwei Kompositionen hatte es bei mir noch nie gegeben. … In der Zwischenzeit hat sich viel verändert. Die Ästhetik ist eine ganz andere. Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem wir die totale Irritation erleben: Es gibt einfach alles, alles ist möglich. Es existiert kein verbindliches Stilprinzip. Und es wird immer schwieriger, das Eigene im Vielen zu bestimmen und zu formulieren. Was dieses Stück letztlich ausmacht, ist eine seltsame Balance zwischen dem Eigenen und dem Fremden. … > Was hat es mit dem Titel auf sich? < Bei mir muss immer zuerst ein Titel da sein, mit konkreten, beinahe szenischen Assoziationen. Erst daraus entwickelt sich dann eine Vorstellung von der Musik. Ingeborg Bachmann »Lieder von einer Insel« von 1954 ist ein Text, der große Assoziationsräume öffnet, der eine Struktur vorgibt und der bei mir eine starke Affinität ausgelöst hat, weil er meiner Befindlichkeit entspricht. Es ist ein in besonderem Maße metaphysischer Text, weil es um Tod und Leben geht. Wir können nicht bleiben an diesem Ort. Alles ist Kommen und Gehen. Wie wir auch nicht wissen, wo diese Insel liegt – irgendwo im Ungewissen. Aber außer einem Gebets-Zitat von Franz von Assisi (Indulgeam ubi est culpa) spielen noch drei weitere Texte für das Stück eine wichtige Rolle: Heine  /  Schumanns »Ich hab im Traum geweinet«, die »Versöhnung« von Else Lasker-Schüler und eine Passage aus »Hyperions Schicksalslied« von Hölderlin, dieses »Doch uns ist gegeben  / Auf keiner Stätte zu ruhn«. Diese Texte kreisen um Liebe Abschied, Trauer und Unbehaustheit und sind im Grund alle miteinander verwandt, weil sie von einer großen Sehnsucht bestimmt sind.

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eine Reproduktion von Edvard Munchs Lithographie »Der Schrei« (1895), die das ganze Bühnenportal einnimmt und schließlich von den Tänzern herabgerissen wird, was den Blick auf die Chöre an der Rückwand freigibt. Für Mario Schröder und das Leipziger Ballett geht es mit der Rekonstruktion zugleich um eine Positionsbestimmung zur eigenen Gegenwart, die den ersten Teil »Blühende Landschaft« prägt. Dabei wird durchaus mit Parallelen gearbeitet, angefangen bei der musikalischen Komposition (einer Montage aus Zimmermanns »Lieder von einer Insel« und Instrumentalkonzerten oder Vorspielen zu Kantaten von Johann Sebastian Bach). Korrespondenzen ergeben sich außerdem über Zimmermanns Arbeit mit den Versen von Else Lasker-Schüler und Franz von Assisi, die in beiden Werken vorkommen. Hier greift auch Schröders neue Choreografie mit Zitaten auf Bewegungsmaterial aus Scholz’ »Pax Questuosa« zurück. Umso deutlicher wird die Differenz, im Umgang mit der Körperlichkeit der Tänzer, in der spielerischen Ausformung alltäglicher Gesten durch größere Gruppen und nicht zuletzt in der Öffnung des Raumes. Die von Paul Zoller und Andreas Auerbach (mit)gestaltete Inszenierung von Raum und Licht bzw. Videotechnik und Kostümen variiert das Thema der Projektion, wobei außer Textelementen auch Ausschnitte aus den Filmen von Gerd Kroske zu sehen sind, der die desolaten Lebensverhältnisse in Leipzig Anfang der 90er Jahre dokumentiert hat. So weist der Beginn von »Blühende Landschaft« bereits voraus auf das Ende von »Pax Questuosa«, wo ein Bild der demonstrierenden Menschenmenge vom Oktober 1989 zu sehen ist. Ausgehend vom Motiv der Ankunft, der Orientierung der Tänzer in der Stadt, reflektiert die neue Arbeit zugleich das Potential imaginärer Orte wie Landschaft und Insel als Formen des Imaginären und der Projektion, zwischen Utopie und Heterotopie, Traum und Wirklichkeit, Innenwelt und Außenwelt, Isolation und Gemeinschaft. Wie die »Lieder von einer Insel« von dieser her oder aus der Distanz gesungen oder gehört werden und zugleich die Insel selbst besingen können, bleibt auch die Bedeutung der Landschaft offen: das Theater der Körper wird zu einer Landschaft in Bewegung.

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KEHRAUS

Fast ließe sich von einem » Anti-Konzert « sprechen: Im Gegensatz zum gewohnten Solokonzert, in dem sich der Solist als individuell Gestaltender darstellt, um mit dem Orchester dramatisch dialogisieren zu können, verlegt der erfahrene Opernkomponist Udo Zimmermann diese szenische Komponente nach innen. Bei ihm überwiegen die leisen Töne, und den Einstieg bildet nicht nur die »nichtöffentlichste« Gattung der Musik, sondern gar ein eher geflüstertes als gesungenes Lied. Fünf Texte unterschiedlicher Länge und unterschiedlichen Charakters sind mottohaft vorangestellt und wollen mit der Musik in Zusammenhang gebracht sein. Anfangs kann man mitsingen, später lockert sich die TonWort-Beziehung und fordert auf, nach anderen Assoziationspunkten, Einstiegen zu suchen. Das wird zunehmend schwerer; nach dem Wort für Wort nachvollziehbaren Schumann-Zitat geht es immer tiefer in die Musik hinab, man muss nach Ausdruckslagen, Befindlichkeiten, stimmungshaften Momenten Ausschau halten. Die Anfangsworte des Gedichts von Else Lasker-Schüler stehen am Beginn des großen, kanonisch gefügten Mittelteils nach der ersten Kadenz des Solisten. Wohin die Worte von Ingeborg Bachmann und Franz von Assisi gehören, können wir nur mutmaßen – vielleicht nicht oder nicht nur an eine bestimmte Stelle? Mit Abschied, Trauer, Nacht, Unbehaustheit kreisen die Texte in benachbarten Themenbereichen; die Musik schafft einen Hintergrund, vor dem die Texte wie Kommentare stehen. Tief eingesenkte Vokalität prägt die Struktur des Cellokonzerts. … Fast scheint es, als sei der Komponist von einer nahezu systematischen Stufung des Wortbezugs ausgegangen. Insofern wäre es zu einfach, von polyphon ausgefalteten Liedern ohne Worte zu sprechen – schon, weil hier, anders als zumeist bei Mendelssohn, bestimmte Texte mitgedacht sind.

1990 nachts auf den Straßen von Leipzig. Die Straßenkehrer Gabi, Stephan und Henry räumen weg, was keiner mehr braucht, Straßenmüll und Wahlplakate. Endzeitstimmung macht sich breit. Das was kommen soll klingt vielversprechend, ist aber noch nicht fassbar.

peter gülke —

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Film von Gerd Kroske —

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Lieder mit Texten

0:03:30 Fahnen schwenkende Zuschauer vor dem Opernhaus von dem aus Helmut Kohl spricht (halbtotal) (O-Ton) »Helmut, Helmut, Helmut« . Im Off Helmut Kohl weiter (O-Ton) »Aber liebe Freunde, warum denn auch nicht …«. Umschnitt 0:04:00 Straßenfeger treffen vor dem Opernhaus am Karl-Marx-Platz (Augustusplatz) ein (halbtotal). Plakatständer »Helmut Kohl kommt« und Wahlflugblätter auf dem Bürgersteig (halbtotal). Straßenfeger kehren die Wahlflugblätter in den Abendstunden zusammen (halb-total). Reinigungswagen bearbeitet die Straße vor dem Opernhaus …

— Gerd Kroske, Kehraus Nach der Kundgebung 1990 vor der Oper Leipzig

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wahlversprechen. Helmut Kohl, Fernsehansprache des Bundes-kanzlers am 1. Juli 1990

» Aus Ideen werden Märkte.« Das ist die absolut brutalste Formel für das was jetzt passiert. Heiner Müller, 1990

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Blühende Landschaften Peter Richter —

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Es wird niemandem schlechter gehen als zuvor – dafür vielen besser. Nur die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion bietet die Chance und die Gewähr dafür, dass sich die Lebensbedingungen rasch und durchgreifend bessern. Durch eine gemeinsame Anstrengung wird es uns gelingen, MecklenburgVorpommern und Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen schon bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln, in denen es sich zu leben und zu arbeiten lohnt.

Ein Kernbestandteil des Programms »Stadtumbau Ost« ist der Abriss von Wohnungen. Kein schönes Wort. Wird deshalb auch nur ungern verwendet. Der gebräuchlichste Euphemismus lautet gegenwärtig »vom Markt nehmen«. Und vom Markt zu nehmen wären in Ostdeutschland mehr als eine Millionen Wohnungen – weil die erforderlichen Mieter abgewandert sind und immer noch abwandern. Ins Grüne, in größere Städte, in den Westen. Für die örtliche Wohnungswirtschaft ist das eine existenzielle Bedrohung. Und fast so häufig, wie früher die Aktuelle Kamera feierliche Schlüsselübergaben für außerplanmäßig schnell zusammengeschusterte Zehngeschosser gezeigt hat, kann man sich jetzt in den Regionalprogrammen des Ostens ansehen, wie diese Plattenbauriegel wieder eingerissen werden. … Die im Vergleich zum maroden Altbaubestand einst komfortablen Großsiedlungen am Rande der Städte verlieren jetzt ebenfalls immer mehr Einwohner. Damit hat vor allem Leipzig ein Problem, wo es das größte ostdeutsche Plattenbauviertel außerhalb Berlins gibt – aber auch eine unvergleichliche Menge Gründerzeitbauten, von denen ebenfalls viel zu viele leer stehen. Leipzig ist allerdings die Stadt, die mit ihren strategischen Überlegungen bisher am weitesten gekommen scheint. Ihr Konzept geht von einer »perforierten Stadt« aus und dreht sich um die Ausdünnung des urbanen Gewebes. Während dabei die Planer im Rathaus möglichst die städtische Syntax aus Block und Quartier bewahren wollen, propagieren jüngere, wie das Büro l 21, fast provokativ ein umherwaberndes Plasma

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innenwelt Paul Virilio —

Wenn man die ländliche Gegend betrachtet, dann gibt es da mehr Landschaft als Ereignisse. Wenn man die städtische Gegend betrachtet, gibt es da mehr Ereignisse als Landschaften. …Wie soll man auf das Bezug nehmen, was dort passiert, wo sich wenig oder gar nichts bewegt? Wie soll man den Raum als eine Bühne für die Menschen bewahren und nicht einfach als Objekt der mehr oder weniger nostalgischen Kontemplation? Man muss die Dramaturgie der Landschaft neu erfinden. Man muss ein Bühnenbild der Landschaft mit Handelnden und nicht einfach Zuschauern wiederfinden. … das Wort Landschaft [paysage] kommt von Gemälde [peinture], d.h. ins Bild setzen. Es ist vor allem die Einführung einer Ästhetik der Landschaft. »Die Landschaft ist ein Seelenzustand.« Sagte Henri-Frédéric Amiel. Es handelt sich nicht einfach um das Problem, die Perspektive zu organisieren. Es geht auch darum, was geschieht. … Ich bin weder Pantheist noch Naturalist, sondern trete für eine Ereignislandschaft ein. Der Ausdruck kommt aus einer theologischen Sichtweise. Für Gott ist die Geschichte eine Ereignislandschaft. Die Schlachten und die großen Ereignisse sind gleichbedeutend mit den großen Wäldern und den großen Bäumen. Es ist ein Bild der Landschaft der Handlung, die irgendwo stattfindet und die man wiederfinden muss. Andernfalls wird man das, was in den Vorstädten passiert, nicht lösen. Weil es keine Landschaften sind. Es gibt dort keine Investition. Wenn es einen Seelenzustand geben sollte, so ist er grässlich, es ist eine Hölle. Es gibt dort jeden beliebigen Komfort, aber es gibt keinen Seelenzustand außer dem infernalen Charakter dieses von allen verlassenen Ortes. Jeder Mensch hat eine innere Landschaft. Es gibt diejenigen, die für das Meer sind, andere für die Berge, das Land oder sogar die Wüste. Jeder hat eine geistige Landschaft, die seinen Bezug zur Welt organisiert. Jeder hat sein inneres Gemälde.

das fürstenkind  | franz lehár

zwischen den Kernen und damit letztlich wieder die modernistische Idee von der frei fließenden Stadtlandschaft. … Abschiedsschmerz liegt da über einem Land, das fünfzig Jahre lang zwischen seinen Depressionen immer wieder ein erstaunlich trotziges Aufbruchspathos hervorgebracht hatte. Abschied von Überzeugungen und Hoffnungen, je nach politischer Haltung in die alte oder in die neue Stadt im Osten. Und generell der Abschied von dem menschheitstypischen Glauben, dass grundsätzlich angebaut werden muss, dass Städte wachsen. Sie schrumpfen aber, weil das Leben in ihnen und seine Zukunftsoptionen geschrumpft sind. Mitten in Friedenszeiten geschieht etwas, das man sonst nur als Folge weltgeschichtlicher Umwälzungen kennt. Das kommt dem Eingeständnis eines Scheiterns gleich und einer Anerkennung der Tatsache, dass das wirtschaftliche Ungleichgewicht aus den Zeiten des Kalten Krieges bis heute seine Opfer fordert. …Tatsächlich sind es oft die sichtbaren Ausläufer des ökonomischen Rückstands, die dem Osten seit langem einen beklemmenden ästhetischen und in gewisser Weise auch touristischen Wert verleihen. Zuerst war das ein erstaunter Blick von Reisenden aus Westdeutschland, inzwischen funktioniert diese Haltung prinzipiell auch für die Ostdeutschen, die zwischen den explosionsartig über das Land gekommenen Investorenarchitekturen ihr Heimat kaum noch wiedererkennen: ein romantisierender Blick, der im leisen Verfall die Patina erkennt und in den Schatten der Aufbau-Ost-Torsi die Reste einer schwermütigen-idyllischen Erinnerungslandschaft, eine Region erahnter Kindheitsmuster. Das eigene Land und das eigene Leben irgendwann früher … Den Osten mag man; die Ostdeutschen, solange sie befremdlich anders sind, nicht so sehr. Aber genau dieses Problem scheint sich ja mit der Zeit von alleine zu lösen: Das eine bleibt, das andere wandert ab. Dieser romantisierende Blick ist auch nur solange eine Zumutung für die Leute in den verarmten Städten, wie sie selber da wohnen. Das kann sich ändern, wenn sie wegziehen, selbst Westdeutsche werden und mit allen anderen gemeinsam aus einem übervölkerten Landesteil in einen gänzlich leeren schauen – wo dann, endlich, wirklich die Landschaften blühen, und zwar rings um sehr malerische Ruinen.

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Paul Virilio —

Die Information muss militärisch verwaltet werden. Sie stellt eine solche Macht dar, dass das Militär sie verwalten muss. Alle heute geführte Arbeit besteht darin, die ganze Macht der Information voranzutreiben, um aus ihr eine richtige Waffe der globalen Abschreckung zu machen. Die Atombombe hat zur Informationsbombe geführt. Aus dem Zwang zur Abschreckung und unter der Bedingung, dass man sich ihrer nicht bedienen würde, war die Atombombe nützlich. … Heute wird die Abschreckung durch die Atombombe obsolet durch das Ende der Blockpolitik. Aber im Gegensatz dazu erreichen die Informationsbombe und die Macht der Information beachtliche Größe. Es stellt sich also das Problem einer Abschreckung durch die Informatik, das Wissen und die Kenntnisse. Wie Goebbels, der Propagandameister des Dritten Reiches, sagte: »Wer alles weiß, braucht nichts zu fürchten.« Die Macht der Informatik muss zu einer totalen Macht werden. Mithilfe der Informatik muss man eine ausreichend fähige Macht bauen, um diejenigen abzuschrecken, die Schäden in dieser Weltstadt verursachen und den gesellschaftlichen Frieden in Frage stellen wollen. Nach der atomaren Abschreckung wäre es notwendig, eine gesellschaftliche Abschreckung durch die Information zu erfinden. Wenn die Informatik mithilfe ihrer Drohnen und ihrer Satelliten alles wissen kann, dann stellt sie eine solche Macht der Abschreckung dar, dass sich die Völker nicht mehr rühren werden. Das ist eine Utopie die gut den Weg dieses technologischen Irrsinns zeigt … und alles deutet darauf hin, dass ein Informationskrieg bald den klassischen Krieg ablösen wird.

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AUSSPÄHEN UNTER FREUNDEN, DAS GEHT GAR NICHT.

das fürstenkind  | franz lehár

Militarisierung

transparenz. Angela Merkel, Bundeskanzlerin 2013

Wir treten ein in Kontrollgesellschaften, die nicht mehr durch Internierung funktionieren, sondern durch unablässige Kontrolle und unmittelbare Kommunikation. … Das Wichtige wird vielleicht sein, leere Zwischenräume der Nicht-Kommunikation zu schaffen, störende Unterbrechungen, um der Kontrolle zu entgehen. kontrolle. Gilles Deleuze 1990

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das fürstenkind  | franz lehár — Pax Questuosa 1992 Plakatmotiv (© Helmut Brade), Ausschnitt

aktualität —

»Pax Questuosa« war ein zentraler Moment im Schaffen von Uwe Scholz, choreografisch und inhaltlich. Hier hat sich Ballett ganz radikal mit Zeitgeschichte auseinandergesetzt. Dazu die Musik von Udo Zimmermann: seine Vertonungen der Verse von Nelly Sachs, Wolfgang Borchert oder Heinrich Böll. Da sprachen plötzlich die großen, kritischen Stimmen der Kriegsgeneration im Heute: Der Friede beklagt immer noch den Krieg. So gesehen ist Uwes Werk von 1992, in dem ich damals selbst getanzt habe und das mich stark geprägt hat, auch heute immer noch aktuell.

PAX QUESTUOSA — Ballett von Uwe Scholz Musik von Udo Zimmermann

Mario Schröder, 2013

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Aufschrei

[Soli, Chöre]

Exsurge Domine, quare obdormis Wach auf, Herr, was schläfst du [Psalm 44, Vers 24]

[Chöre]

Exsurge Domine, quare obdormis Wach auf, Herr, was schläfst du

II IMPLORATIONES Zeugen unter Tränen [Soli] Am Tag des Weltendes kreist eine Biene über der Kapuzinerkresse, flickt der Fischer das glitzernde Netz, springen im Meer die fröhlichen Delphine, junge Sperlinge krallen sich an der Rinne fest, und die Schlange hat eine goldene Haut, wie sich das gehört. Am Tag des Weltendes gehen Frauen unter Sonnenschirmen übers Feld, schläft der Säufer am Rasenrand ein, rufen Gemüsehändler auf der Straße, und das Boot mit dem gelben Segel inselwärts ist bestellt, der Klang der Geige hängt in der Luft, und die Sternennacht fliegt vorbei. Und die auf Blitze und Donnerschläge gewartet haben, sind enttäuscht. Und die auf Zeichen und Posaunen der Erzengel gewartet haben, glauben nicht, dass es bereits geschieht.

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Solange man Sonne und Mond droben sieht, solange die Hummel die Rose befliegt, solange rosige Kinder geboren werden, glaubt niemand, dass es bereits geschieht. Nur der grauhaarige Greis, der ein Prophet sein könnte, aber er ist keiner, denn er hat anderes zu tun, verkündet beim Anbinden der Tomaten: Ein anderes Weltende wird es nicht geben. [Czesław Miłosz, Das Lied vom Weltende]

[Mezzosopran] Wir begegnen uns auf der Welt und sind Mensch mit Mensch – und dann stehlen wir uns davon, denn wir sind ohne Bindung, ohne Bleiben und ohne Abschied. Wir sind Diebe, die Angst haben vor dem Schrei ihres Herzens. Wie sind ohne Heimkehr, denn wir haben nichts, zu dem wir heimkehren können, und wir haben keinen, bei dem unser Herz aufgehoben wäre … Vielleicht sind wir voller Ankunft auf einem neuen Stern, in einem neuen Leben. Voller Ankunft unter einer neuen Sonne, zu neuen Herzen, voller Ankunft unter einem neuen Lieben, einem neuen Lachen, zu einem neuen Gott … [Wolfgang Borchert, Generation ohne Abschied]

das fürstenkind  | franz lehár

I EXCLAMATIO I

[Chöre]

Fac me, Domine, pacis instrumentum Herr, mache mich zum Werkzeug deines Friedens

[Bariton]

Ich habe lange, lange wie ein Stein geschwiegen und mehr noch als ein Stein, in dessen Schweigen Vergangenes fortlebt wie an kahlen Zweigen, die noch berührt sind von der Vögel Wiegen. Denn noch ist Krieg, und Blut wird ausgegossen. Wie aus der Wolke stürzt es aus den Leibern und wird nicht aufgefangen von den Weibern, für die es süßer wallend einst geflossen. Vergessen schießt wie Unkraut um die Kinder,

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[Chöre]

Ut diligam, ubi odium Lass mich Liebe bringen, wo Hass ist

[Sopran] Es wird ein großer Stern in meinen Schoß fallen … Wir wollen wachen die Nacht. In den Sprachen beten, die wie Harfen eingeschnitten sind. Wir wollen uns versöhnen die Nacht – So viel Gott strömt über. Kinder sind unsere Herzen, die möchten ruhen müdesüß. Und unsere Lippen wollen sich küssen. Was zagst du? Grenzt nicht mein Herz an deins – immer färbt dein Blut meine Wangen rot. Wir wollen uns versöhnen die Nacht, wenn wir uns herzen, sterben wir nicht. Es wird ein großer Stern in meinen Schoß fallen. [Else Lasker-Schüler, Versöhnung]

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[Chöre]

Indulgeam, ubi est culpa Lass mich verzeihen, wo Schuld ist

[Bass]

Ob wir davon kommen, ohne gefoltert zu werden, ob wir eines natürlichen Todes sterben, ob wir nicht wieder hungern, die Abfalleimer nach

[Chöre]

Kartoffelschalen durchsuchen, ob wir getrieben werden in Rudeln, ob wir die Zellenklopfsprache erlernen, den Nächsten belauern, vom Nächsten belauert werden, und bei dem Wort Freiheit weinen müssen. Ob wir uns fortstehlen rechtzeitig auf ein weißes Bett oder zugrunde gehen am hundertfachen Atomblitz, ob wir es fertigbringen mit einer Hoffnung zu sterben, steht noch dahin, steht alles, alles noch dahin. [Marie Luise Kaschnitz, Steht noch dahin]

das fürstenkind  | franz lehár

und Sorge wuchert üppig in den Seelen, und die Zerstörung maßt sich an, Gericht zu sein, und Urteil spricht der Überwinder. Wie kann man singen, wenn aus allen Kehlen der Angstschrei und die Klage bricht? Wer baut, wenn noch bei letzten Brandes Scheine ein Gott dem Würger in die Zügel fällt, aus diesem Chaos eine neue Welt? [Rudolf Hagelstange, Sonett 1]

Ut coniungam, ubi discordia Lass mich vereinen, wo Zwietracht herrscht

[Sopran, Mezzosopran] Wir Geretteten, Aus deren hohlem Gebein der Tod schon seine Flöte schnitt, an deren Sehnen der Tod schon seinen Bogen strich – unsere Leiber klagen noch nach mit ihrer verstümmelten Musik. Wir Geretteten, immer noch hängen die Schlingen für unsere Hälse gedreht vor uns in der blauen Luft – immer noch füllen sich die Stundenuhren mit unserem tropfenden Blut. Wir Geretteten, immer noch essen an uns die Würmer der Angst. Unser Gestirn ist vergraben im Staub. Wir Geretteten bitten euch: Zeigt uns langsam eure Sonne. Führt uns von Stern zu Stern im Schritt. Lasst uns das Leben leise wieder lernen … O dass nicht einer Tod meine, wenn er Leben sagt – und nicht einer Blut, wenn er Wiege spricht – [Nelly Sachs, Chor der Geretteten]

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[Tenor] Gib Alarm sammle deine Freunde nicht wenn die Hyänen heulen nicht wenn der Schakal dich umkreist oder die Haushunde kläffen nicht wenn der Ochs unterm Joch einen Fehltritt tut oder der Muli am Göpel stolpert. Gib Alarm sammle deine Freunde wenn die Karnickel die Zähne blecken und ihren Blutdurst anmelden wenn die Spatzen Sturzflug üben und zustoßen. Gib Alarm. [Heinrich Böll, Gib Alarm] [Chöre]

Ut fidem praedicem, ubi tenebrae. Lass mich Glauben bringen, wo Finsternis ist. [Franz von Assisi, Friedensgebet]

Das Gedächtnis der Menschheit für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz. Ihre Vorstellungsgabe für kommende Leiden ist fast noch geringer. Der Regen von gestern macht uns nicht nass, sagen viele. Diese Abgestumpftheit ist es, die wir zu bekämpfen haben, ihr äußerster Grad ist der Tod. Allzu viele kommen uns schon heute vor wie Tote, wie Leute, die schon hinter sich haben, was sie vor sich haben, so wenig tun sie dagegen …

das fürstenkind  | franz lehár

Verum fatear, ubi est error Lass mich Wahrheit bringen, wo Irrtum ist

[Chöre]

vergessen. Bertolt Brecht, Zum Völkerkongress für den Frieden, Wien 1952

Wenn alles zu Ende geht, wenn das nach Milliarden Jahren drohende Weltende anbricht und unser Planet stirbt und erlischt, muss doch irgendein Weltbewusstsein aus Leere unsere Musik und unseren Gesang vernehmen. hoffnung. Tschingis Aitmatow, Die Richtstatt, 1986

III EXCLAMATIO II Aufschrei [Soli, Chöre]

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Dona nobis pacem. Gib uns Frieden.

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Udo Zimmermann —

… Wache und kritische Geister unserer Zeit sind längst der Überzeugung, dass wir bereits mitten in der Katastrophe leben. Sie besteht darin, dass sich der Mensch unvorstellbare Potenzen seiner Selbstvernichtung und damit die Vernichtung allen Lebens auf der Erde verfügbar gemacht hat. … Als mir der Auftrag zuteil wurde, aus Anlass des 100-jährigen Bestehens des berühmten und bewunderten Berliner Philharmonischen Orchesters ein Werk zu schaffen, war mir bewusst, dass ein solches Werk den besonderen zeitgeschichtlichen Bezug haben muss … In meiner Komposition kommt dem Friedensgebet des heiligen Franziskus tragende Bedeutung zu. Ihm sind assoziativ Stimmen des »klagenden Friedens « zugeordnet, Gedichte unseres Jahrhunderts, die mir in ihrer Eigenart, ihrer emotionalen Kraft, ihrem unverwechselbaren Ton und ihrer Gestik nahekamen. … Ich bekenne mich durch meine Komposition zur persönlichen Verantwortung des Einzelnen, aus seinem Gewissen heraus mit dem Frieden Ernst zu machen.

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Pax Questuosa Fritz Hennenberg —

Ein Friedensgebet, das dem Franz von Assisi zugeschrieben wird, ist die inhaltliche Achse. Die altüberlieferten, fast versteinten Formeln werden durch die Gegenüberstellung mit den modernen Texten lebendig. »Exclamatio I« setzt »wie ein großer Aufschrei« in den unisono geführten Streichern mit einem Anklang an das »Dona nobis pacem« aus Bachs h-Moll-Messe ein. Der Kopf des Motivs gleicht der gregorianischen Weise »Wo Liebe ist und Güte, dort ist Gott« – so tief liegen die historischen Wurzeln. Nach dem klanglichen Gipfel wiederum eine Entlehnung, diesmals sehr verhalten: das Bachsche »Agnus Dei«. Röhrenglocken führen in einen sakralen Raum, und mit größter Kraft rufen alle Stimmen: »Wach auf, Herr, was schläfst du« . Die maßgeblichen Intervalle sind durch die Zitate bereits festgelegt: Große Sekunde, kleine Terz, Tritonus. Sie formieren sich zu einer Zwölftonreihe, aus der in quasi-gregorianischem Stil die sieben Zeilen des Friedensgebets des Franz von Assisi entwickelt werden. Vorerst wird die Weise, den Versen von Czesław Miłosz über den »Tag des Weltendes« zugeordnet, in straffen rhythmischen Formeln instrumental exponiert. Der Mittelteil »Implorationes« ist in der deutschen Übertragung erläutert: »Zeugen unter Tränen«. »Exclamatio II« zitiert das »Donna nobis pacem« aus Bachs h-Moll-Messe, hier nun original und mit der wichtigen Wendung der Mollterz [»Exclamatio I«] nach Dur. Aber die Bitten [denen Bach die Verheißung einschreibt] brechen auf dem Höhepunkt ab. Der Schluss ist eine Frage, die beschwörend Antworten herausfordert. Das Thema geht auf Leben und Tod und wird in einer Dramatik dargestellt, die den Konzertsaal sprengt.

das fürstenkind  | franz lehár

Mitleiden um den Frieden 1982

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BEKENNTNIS 1985

Ich habe meinen Balkon geschlossen, weil ich nicht hören will die Klage, doch hinter dem grauen Gemäuer hört man nichts andres als die Klage.

Als ich im Herbst 1977 an meiner »Sinfonia come un grande lamento« arbeitete, waren es Verse des spanischen Dichters Federico Garcia Lorca, die mein Komponieren fast zwanghaft begleiteten: Verse aus dem Gedichtband »El divan del tamarit«, dem letzten Zeugnis Lorcascher Empfindungen und Gedanken, vielleicht auch einer schrecklichen Vorahnung seines eigenen Endes. Ich musste versuchen, mit Tonfolgen und Klängen etwas auszusagen, was Lorca in diesen Versen nicht mehr aussprechen konnte oder wollte: Trost und Hoffnung. Aber je mehr ich versuchte, mich von der von Lorca angesprochenen Empfindung zu lösen, umso stärker geriet ich in ihren Bann. … Ob ich es wollte oder nicht: Ich hatte Lorcas Empfindungen letztlich annehmen müssen, aber ich empfand keine Verzweiflung, keine Resignation, keine Traurigkeit. Nein, echte Trauer ist immer solidarisch, sie trägt Schmerz um andere, sie ist innere Erneuerung der Menschlichkeit und will die Kräfte des Lebens bewegen – zum Kampf für das Leben. Federico Garcia Lorcas Leben und dichterisches Werk waren Ausdruck eines solchen Kampfes und sie sind es heute mehr denn je. Als ich um Jahre später an der Partitur zu »Pax Questuosa« arbeitete, entstand unwillkürlich eine Beziehung zu der 1977 komponierten »Lorca-Sinfonie«, ging es doch mit dem neuen Werk um die brennendste aller Fragen, wie denn dem leidenden, dem geschändeten und immer wieder bedrohten Frieden durch uns geholfen werden könne.

FEDERICO GARCIA LORCA —

Nur wenig Hunde gibt es, welche singen, nur wenig Hunde gibt es, welche bellen, die Fläche meiner Hand hat Platz für tausend Violinen. Die Klage aber ist ein ungeheurer Hund, die Klage ist ein ungeheurer Engel, die Klage – eine ungeheure Violine, die Tränen knebeln selbst den Wind, und man hört nichts als nur die Klage.

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udo zimmermann —

das fürstenkind  | franz lehár

klage / Gesang

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zu pax 2013

» Pax Questuosa «, der klagende Friede. Uraufgeführt 1982, vor zehn Jahren. Man könnte meinen, die Jahre hätten die Aktualität des Stoffes reduziert, – das Gegenteil ist der Fall. »Pax Questuosa« musste ich jetzt choreografieren. Zu deutsch heißt dieses Werk »Der klagende Friede«, es ist für meine Begriffe ein unglaublich zeitgemäßer Aufschrei des Humanismus. Obwohl ich mich nie danach gedrängt habe, mit »Zeitaufrufen« zu arbeiten, sehe ich mich jetzt dazu gezwungen, da ich unsere Realität wie einen schlechten Horrorfilm empfinde, und schlimmer als einen Alptraum. Was in Jugoslawien passiert, geht mich ebenso an wie die wachsende Ausländerfeindlichkeit hierzulande. Darum habe ich Udo Zimmermann angetragen, sein Werk »Pax Questuosa « auf die Bühne zu bringen. Die Szene macht möglich, Liebe und Hass, Menschlichkeit und Brutalität gegeneinanderzustellen – in ständiger Kommunikation mit dem Zuschauer. Ihm muss überlassen bleiben, ob er die visuellen und musikalischen Zeichen als Hilferuf oder Appell versteht, das heißt, wie erheblich sein innerer Seelen-Frieden gestört wird. In Zeiten, in denen man sich ernsthaft überlegen muss ob man den Fernseher zu Nachrichtensendungen einschalten kann, ob man den unmenschlichen Katastrophen und brutalstem Abschlachten (»ethnische Säuberung« !) gewachsen ist, muss es die Verpflichtung der Kunst sein sich zu äußern, den verstanden-geglaubten Gedanken des Humanismus aufzurufen. Die Bilder in Udo Zimmermanns »Pax Questuosa« sind erschreckend zeitgemäß, sei es Afrika, Jugoslawien, Rostock …

Die »Pax Questuosa«- Choreografie von Uwe Scholz war ein singulärer Glücksfall. Dass sie rekonstruiert in einen neuen Kontext gestellt wird, halte ich für ausgesprochen wichtig und wertvoll. Die Verpflichtung und Verantwortung, die der künstlerischen Arbeit heute zukommt, ist seit den 1990er Jahren eher noch größer geworden. Warnung allein reicht nicht. Die Verbrechen, die täglichen Morde sind geblieben und gehen weiter. Durch die permanente mediale Überflutung mit Bildern und Nachrichten stumpfen wir ab. Kunst hingegen vermag uns menschliche Tragödien nahezubringen, uns erfahrbar zu machen. Sie kann sensibilisieren und uns helfen, wach zu bleiben. Ein wesentliches Element der »Pax« -Komposition ist die Klage. Eine Klage hat immer zugleich Appellations- und tröstenden Charakter. Das ist ähnlich wie im Eingangschor der »Matthäuspassion«, wo es heißt: Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen. Nach der gemeinsamen Klage verlassen die Frauen mit lächelndem Gesicht die Kirche. Das gemeinsame Klagen verschafft Trost und inneren Frieden – der dann wiederum nach außen wirken kann. In der Verknüpfung von »Pax Questuosa« mit den »Liedern von einer Insel« wird die Frage nach der Innenwelt und einem möglichen »Innenwelt-Schutz« noch verstärkt, wobei jeder Zuhörer  /Zuschauer seine eigene Erfahrungswelt mit dem, was er hört und sieht, konfrontiert. Wir wissen nicht, wo diese Insel ist. Sie ist ein imaginärer Ort, der unsere Hoffnungen spiegelt. Die Bedeutung dieses Doppelabends für die Zukunft des Leipziger Balletts liegt gerade in der tänzerischen Auseinandersetzung mit der Intensität und Emotionalität dieser Musik. Im Zusammenspiel von Musik und körperlichem Ausdruck ist es auf ganz besondere Weise möglich, sich unmittelbar sinnlich mit Problemen auseinanderzusetzen, die uns heute betreffen. Nur wenn wir bewegt werden, bewegt sind, können wir – vielleicht – etwas bewegen.

Uwe Scholz 1992 —

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udo zimmermann —

das fürstenkind  | franz lehár

Annotationen

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In Kooperation mit tanzarchiv leipzig e.  v. Die Produktion ist gefördert von tanzfonds erbe – Eine Initiative der kulturstiftung des bundes.

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pax QUESTUOSA

S. 4, S. 10, S. 11 – 12, S. 22 und S. 35 Originalbeiträge für dieses Heft | S. 13 udo zimmermann im Gespräch mit peter zacher, in: Programmheft Lieder von einer Insel im musica viva -Konzert vom 15. Mai 2009 | S. 14 peter gülke, udo zimmermann. Lieder von einer Insel, in: udo zimmermann: Lieder von einer Insel , CD Booklet, neos music, 2010 | S. 15 gerd kroske, kehraus | S. 16 heiner müller, Zur Lage der Nation, Berlin 1990, S. 89f. | S. 17 – 18 peter richter, Blühende Landschaften, in: philipp oswalt (Hg.), Schrumpfende Städte, Bd. 1, Ostfildern 2004, S. 643 – 648 | S.  19  – 20 paul virilio, Vom wahrscheinlichen Krieg zur zurückeroberten Landschaft, in: Cyberwelt, die wissentlich schlimmste Politik, Berlin 2011, S. 108 –  125 | S. 21 gilles deleuze, Kontrolle und Werden, in: Unterhandlungen, Frankfurt /  Main 1993, S. 250ff. | S. 24 – 28 Gedichte zit. n. udo zimmermann, Pax Questuosa, Partitur, musikverlag peer 1982  |  S. 29 bertolt brecht, in: Werke, hg. von werner hecht u. a., Berlin u. Frankfurt  / Main 1993, Bd. 23, S. 215 | S. 29 tschingis aitmatow, die richtstatt, Leipzig 1988 | S. 30 udo zimmermann und S. 31 fritz hennenberg, beide in: Pax Questuosa, Programmheft des berliner philharmonischen orchesters, Spielzeit 1982 / 83 | S. 32 federico garcia lorca, kasside von der wehklage, 1936, übers. von enrique beck, in: Gedichte, Leipzig 1971 | S. 33 udo zimmermann, Bekenntnis zum Frieden, in: Brennender Friede. Ballett-Uraufführung am 15. Februar 1985, Programmheft zur Spielzeit 1984 / 85, semperoper dresden | S. 34 uwe scholz, Annotationen zur Aufführung, Typoskripte 1992, leipziger ballett. Filmprojektionen und -stills: gerd kroske, kehraus (1990), Rechte: progress film-verleih berlin; gerd kroske, kehrein kehraus (1996), Rechte: realistfilm berlin. Fotos der Hauptprobe am 11. 11. 2013 von ida zenna. Copyright für edward munchs Lithographie »Der Schrei« : munch museum /munch – ellingsen group / bono, Oslo 2012.

laura costa chaud  | tyler galster  | oliver preiss  | piran scott

pax 2013 | mario schröder, uwe scholz

Nachweise


pax QUESTUOSA

pax QUESTUOSA

isis calil de albuquerque 

tyler galster | piran scott


leipziger ballett

40 pax QUESTUOSA


pax QUESTUOSA

pax QUESTUOSA

oliver preiss | laura costa chaud

laura costa chaud


spielräume schaffen.  ⁄

— Ihre sparkasse & Oper leipzig

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06 impressum oper leipzig intendant und generalmusikdirektor Prof. Ulf Schirmer Ballettdirektor und ChefChoreograf Mario Schröder herausgeBer Dramaturgie der Oper Leipzig und Ballettdirektion redaktion Patrick Primavesi, Mitarbeit: Annika Strümper spielzeit 2013/ 14 Heft 6 premiere 16. November 2013 gestaltung formdusche, Berlin druCk Werbe- und Sofortdruck GmbH, Leipzig


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