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Loops and Lines Das Laban-Tanz-Projekt von Stephan Thoss mit dem Ensemble Modern
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Alles Sein ist Bewegung. Alles Handeln ist Tanz. Im Sein herrscht der Rhythmus der natürlichen Kräftebeziehungen. Im menschlichen Handeln wirkt die tänzerische Regelung und Bändigung dieser natürlichen Kraftordnung. Der tänzerische Sinn gestattet dem Menschen den klaren Einblick in die rhythmische Beschaffenheit des Naturgeschehens und ist das Mittel, um den natürlichen Rhythmus in künstlerisch-kulturelle Wohlgeordnetheit zu verwandeln. Rudolf von Laban
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Ballettdirektor Stephan Thoss Choreografische Assistenz Romy Liebig Probenleitung Mia Johansson, Uwe Fischer Musikalische Assistenz Daniel Lett Korrepetition Waldemar Martynel Bühneneinrichtung Gerhard Lorenz-Häusling Licht Ralf Baars Inspizienz Kenneth Pettitt Kostümassistenz Sabrina Leichle Ballettorganisation Johannes Grube Dramaturgie Stephan Steinmetz Technische Gesamtleitung Dominik Maria Scheiermann Technischer Inspektor Christoph Lettow Leitung der Beleuchtungsabteilung Andreas Frank Leitung der Dekorationswerkstätten Sven Hansen Produktionsleitung Karin Bodenbach Leitung der Tonabteilung Stephan Cremer Videoprojektion Gérard Naziri Leitung der Requisite Simone Eck Chefmaskenbildnerin Katja Illy Leitung der Kostümabteilung Jürgen Rauth Gewandmeister Damen Claudia Dirkmann, Jutta Ehrenberg Gewandmeister Herren Claudia Christophel, Eva Zimmermann Putzmacherei Viviane Riechelmann Schuhmacherei Theoharis Simeonidis Rüstmeister Michael Hertling, Joachim Kutzer Herstellung der Dekoration und Kostüme in den Werkstätten des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden
Premiere am 26. Oktober 2013, 19.30 Uhr, Großes Haus Aufführungsdauer: ca. 1 1/2 Stunden, eine Pause
Loops and Lines Das Laban-Tanz-Projekt von Stephan Thoss mit dem Ensemble Modern Musik von John Adams und Steve Reich Choreografie, Bühnenbild und Kostüme Stephan Thoss Musikalische Leitung Benjamin Schneider / Wolfgang Ott Bühnenbild- und Kostümmitarbeit Jelena Miletić Video/Kamera Andreas J. Etter / Fabio Stoll Klangregie Norbert Ommer Ballett des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden Ensemble Modern
Ein Tanzfonds Erbe-Projekt Gefördert vom Kulturfonds Frankfurt RheinMain
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Loops and Lines Gates (Tore) – Bewegungsqualität Musik: John Adams, China Gates für Klavier solo Improvisation mit Kontraforte
Loops (Bögen) – Bewegungsfluss Musik: John Adams, Shaker Loops für 7 Streicher Werbung
Pause
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Bridges (Brücken) – Raum Musik: Bläserquintett-Improvisationen
Lines (Linien) – Energie Musik: Steve Reich, Eight Lines für 2 Klaviere, 2 Flöten, 2 Klarinetten und Streicher
Videoeinspielung – Kind: Anna Bender Choreografisches Coaching: Andrea Simon, Tanzplan Aufführungsrechte: Shaker Loops – Edition Wilhelm Hansen Hamburg (Sikorski). Originalverlag: Associated Music Publishers Inc. New York Eight Lines & China Gates – Boosey&Hawes Bote&Bock GmbH, Berlin, für Hendon Music Inc. Hessisches Staatstheater Wiesbaden
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Loops and Lines Das Laban-Tanz-Projekt von Stephan Thoss Warum bewegen wir uns? Diese Frage steht am Anfang der Tanzforschung von Rudolf von Laban (1879-1958), und sie lässt sich ganz unmittelbar beantworten: weil wir das Bedürfnis danach haben, weil der menschliche Körper und das menschliche Bewusstsein es uns ermöglichen. Menschen bewegen sich nicht nur instinktiv, wie es andere Lebewesen tun, sondern sind in der Lage, ganz bewusst Bewegungen auszuführen. Hier beginnt schon der Tanz. Lange Zeit wurde im Bühnentanz ein sehr begrenztes und ästhetisch normiertes Bewegungsrepertoire eingesetzt, das auf das 17. Jahrhundert zurückgeht. Erst Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde systematisch damit begonnen, den klassischen Bewegungskanon aufzubrechen und weitreichend Möglichkeiten menschlicher Bewegung für den Bühnentanz zu erforschen, einzusetzen und weiterzugeben. Dieses Ziel verfolgte Rudolf von Laban. Jede Bewegung des täglichen Lebens setzt sich aus der Kombination unterschiedlicher Komponenten zusammen. Jede Qualität der Bewegung bedingt auch schon einen inhaltlichen Ausdruck, und wechselnde Antriebe und Dynamiken verändern auch den Ausdruck: keine Form ohne Inhalt. Für Laban war das lebendige Erbe seiner Forschung und Lehre ein wichtiges Anliegen. Keineswegs wollte er dogmatisch an seinem System hängende Schüler heranziehen, sondern eigenständige, verantwortungsvolle Künstler, die auf der Grundlage seiner Forschung ein Bewusstsein für die umfassenden Möglichkeiten der Bewegung besitzen und es nach ihren Vorstellungen weiterentwickeln. Deshalb lebt „Laban“ weniger in seinen Lehrbüchern als vielmehr in prägenden Persönlichkeiten weiter, die seiner Lehre in ihrer persönlichen Sicht und Gestaltung folgen: Kurt Jooss, Sigurd
Leeder, Jean Cébron, Patricio Bunster. Nicht zu vergessen das aus der von Jooss begründeten Folkwang-Schule entwickelte deutsche Tanztheater, etwa das von Pina Bausch, oder auch der Tanz von William Forsythe. „Laban“ ist also kein bestimmter Tanzstil, sondern eine zeitlose Grundlage, aus der sich Stile entwickeln können – wie etwa der von Stephan Thoss. Seit Beginn seiner choreografischen Laufbahn arbeitet er mit den Erkenntnissen und Techniken aus der Laban-Bewegungslehre. Um diesen Zusammenhang ganz ausdrücklich in den Mittelpunkt zu stellen und das lebendige Tanz-Erbe sichtbar zu machen, hat Stephan Thoss den Ballettabend Loops and Lines im Rahmen des Förderprojektes „Tanzfonds Erbe“ der Kulturstiftung des Bundes entwickelt. Unter Verzicht auf jegliche Handlungsschablone stützt sich die Choreografie auf die technischen Elemente aus der Lehre Labans. Erzählerische Aspekte ergeben sich natürlich dennoch und lösen Eindrücke und Emotionen aus. Sie sind jedoch nicht der Ausgangspunkt. Kreis und Linie gehören zu den choreografischen Grundformen der Bewegungslehre und weisen auf die beiden großen Musikwerke des Abends: Shaker Loops von John Adams und Eight Lines von Steve Reich. So wird die Laban-Lehre von den Körperaktionen auch auf die Klangkörper übertragen. Dank einer weiteren Förderung durch den Kulturfonds Frankfurt RheinMain konnte das Ensemble Modern für diesen Ballettabend als Kooperationspartner gewonnen werden, das neben seinem zeitgenössischen Repertoire auch stets interdisziplinären Projektformen verpflichtet ist.
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Kulturfonds Frankfurt RheinMain
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Begegnungen von Forschung und Kunst, Theorie und Praxis sind meist äußerst anregend für Mitwirkende wie Publikum. In Loops and Lines nehmen die künstlerisch Verantwortlichen die Bewegungslehre des Choreografen und Tanztheoretikers Rudolf von Laban zum Ausgangspunkt für ein Kooperationsprojekt. Das „Denken in Bewegung“ (so lautete zunächst der Arbeitstitel des Vorhabens) hat Folgen auch für das Arbeitsfeld zwischen Musik und Bewegung, das hier einen speziellen Akzent erhält. Tänzer und Musiker setzen von Labans Ideen, Übungen und Techniken in Bewegung und Klang um. Loops and Lines führt zwei Institutionen zusammen, die in der Region im Bereich der zeitgenössischen Künste tätig sind: das Staatstheater Wiesbaden mit seinem Ballett unter der Leitung des Ballettdirektors Stephan Thoss und das in Frankfurt ansässige Ensemble Modern. Immer wieder hat das Ensemble Modern in der Vergangenheit über den Tellerrand zeitgenössischer Musikproduktion geschaut und dabei neue (performative) Wege beschritten. Das Staatstheater wiederum bemüht sich unter anderem mit seiner Musiktheaterwerkstatt engagiert um die aktuelle Kunst. Der Kulturfonds Frankfurt RheinMain setzt sich nicht nur für die interdisziplinäre Vernetzung in besonderem Maße ein, sondern fördert auch Kooperationen verschiedener Institutionen. Zwei Ensembles aus zwei Städten bringen Tanz und Musik, Ballett- und Konzertpublikum zusammen. Im Rahmen des Projektes „Transformator der Moderne“ geschehen hier also tatsächlich Transformationen auf mehreren Ebenen – dafür wünscht der Kulturfonds gutes Gelingen!
„Von der morgendlichen Dehnübung zum HipHop Spin, von den Gesten eines Politikers bis zu den Bewegungsmustern eines Krabbelkindes, als Erben Labans sehen wir Alltagsbewegungen und Bühnentanz in einem anderen Licht.“ So beschreibt Tanzwissenschaftlerin Karen K. Bradley den Einfluss des großen Tänzers und Choreografen Rudolf von Laban (1879-1958) auf den Tanz der heutigen Zeit. Genauso wie wir spätestens ab der zweiten Generation in der Familie rätseln, von wem das Kind die Sommersprossen geerbt hat, ist auch das Erbe Labans – und seiner Zeitgenossen – im heutigen Tanz nur wenigen bewusst. Doch jede Kunst, auch die Tanzkunst, sollte ihre Vergangenheit kennen. Denn Erben, also die Arbeit mit den Erfahrungen der Vorgängergeneration weiter führen, ist die Grundvoraussetzungen für jeglichen Fortschritt. Deswegen hat die Kulturstiftung des Bundes 2011 den Tanzfonds Erbe ins Leben gerufen. Er stellt freien Kompanien und Stadttheatern Mittel zur Verfügung, um künstlerische Projekte rund um das Kulturerbe Tanz zu ermöglichen. Dass Erben dabei nicht bedeutet, in der Vergangenheit zu leben, zeigt die Vielfalt der Themen und Formate der insgesamt 32 durch Tanzfonds Erbe geförderten Projekte. Eines davon ist der Ballettabend Loops and Lines. Stephan Thoss, die Kompanie des Hessischen Staatstheaters und das Ensemble Moderne haben sich der Aktualisierung von Rudolf von Labans Bewegungslehre mit zeitgenössischen Mitteln verschrieben. Als Projektleiterin des Tanz-fonds Erbe wünsche ich Ihnen erkenntnisreiche Einblicke in Vergangenheit und Zukunft des Tanzes – und einen unterhaltsamen Abend. Madeline Ritter
Projektleiterin Tanzfonds Erbe
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Rudolf von Laban Die Werdejahre des 1879 in Preßburg geborenen Tänzers, Choreografen und Theoretikers Rudolf von Laban (Rezső Laban de Váraljas) waren langwierig: Nach einem abgebrochenen Studium an der Militärakademie in Wiener Neustadt wandte sich Laban ab 1900 in München und ab 1904 in Paris Studien der bildenden Kunst zu. Seit 1910 in München ansässig, gründete er 1911 ein Atelier für Bewegungskunst, wo er unter anderem Harmonische Bewegungslehre unterrichtete. 1913 eröffnete er eine Schule für Kunst auf dem Monte Verità (einer Künstlerkolonie am Lago Maggiore; dort erprobten Künstler eine neue, naturbezogene Lebensform). Die Kriegsjahre verbrachte Laban in der Schweiz. Seine missliche finanzielle Situation ließen ihn wiederholt seinen Standort, den Schulnamen sowie das Lehrangebot wechseln. Zu den wichtigsten Mitstreitern dieser Zeit zählen Suzanne Perrottet, Mary Wigman, Katja Wulff und Dussia Bereska. Schon in München hatte sich Labans lnteresse an den unterschiedlichsten Formen theatralischer Darbietungen, großangelegte Freilichtaufführungen wie kammerartige Vorführungen, gezeigt. 1920 gelang es Laban, in Stuttgart eine Schule zu eröffnen. Hier zählten Kurt Jooss, Albrecht Knust, Julian Algo, Jens Keith, Edgar Frank und Hertha Feist zu seinen Schülern. Diese Tänzer gehörten der Tanzbühne Laban an, die 1921 in das Theater von Mannheim integriert wurde und ab 1922 in Hamburg ihre Basis hatte, wohin Laban seine Schule verlegte. Seit 1924 unternahm die Kammertanzbühne Laban ausgedehnte Tourneen. 1923 entstand in Hamburg das erste chorische Werk für Laien, ebenfalls in Hamburg wurde das erste Institut für Bewegungsnotation gegründet. In Würzburg entstand 1926 ein Choreographisches Institut, dieses übersiedelte 1927 nach Berlin, wurde dort zur Zentralschule Laban und zog schließlich 1929 nach Essen, um sich hier unter der
Leitung von Kurt Jooss mit der Folkwanghochschule zu verbinden. 1930 wurde Laban Ballettdirektor der Berliner Staatsoper, 1934 Direktor der Deutschen Tanzbühne. Nach der Aberkennung aller seiner Ämter 1936 emigrierte Laban 1937 nach Paris und 1938 nach England. 1946 wurde in Manchester das Art of Movement Studio mit Lisa Ullmann als Leiterin gegründet. Laban wurde Präsident der Laban Art of Movement Guild, die im anglo-amerikanischen Raum den pädagogischen Aspekt seines Werks vertreten sollte. Laban starb 1958 in England.
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Labans auratische Ausstrahlung sowie seine vielseitigen Interessen, die allesamt als Versuch zu sehen sind, „mit Hilfe des Geistes dem Tanz seine ursprünglich zentrale Stellung wiederzuerobern“, ließen ihn zur wichtigsten Persönlichkeit des Ausdruckstanzes werden. Überzeugt von der Eigenständigkeit der Kunstgattung Tanz – mit seinem kämpferischen Diktum, den Tanz von der Musik befreit zu haben, hatte er sich programmatisch dem Sog der um 1910 dominierenden „Rhythmuswelt“ von Émile Jaques-Dalcroze entzogen –, wandte sich Laban einem (Tanz-)Raum zu, den er mit körperlicher Bewegung, Zeit und Energie in Bezug brachte. Ab 1920 begann der rasche Aufstieg, der dadurch begünstigt wurde, dass der charismatische Laban für seine so verschiedenartigen Interessen jeweils Mitarbeiter fand, die seine Anregungen aufnahmen, weiterführten und zu einem Ergebnis brachten. Labans Ruhm hatte sich durch eine bedeutende tanzschriftstellerische Tätigkeit, wo es ihm auch um die Etablierung von Tanztermini ging (Choreologie, Choreutik, Eukinetik) geweitet. Zudem hatte er schon früh nach Methoden, Tanz zu verschriftlichen gesucht, um ihn sowohl für weitere Einstudierungen als auch für eine wissenschaftliche 11
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Analyse verfügbar zu machen. Die Schrift, erstmals 1928 in dem von der Universal Edition herausgegebenen Schrifttanz gedruckt, wurde von den Nationalsozialisten verboten. Im anglo-amerikanischen Raum weiterentwickelt, gab man ihr den Namen Labanotation. Labans weiteres Interesse galt einem „Laientanz“, dessen Ziel es war, durch die Erfahrung des gemeinsamen chorischen Erlebens in einen Zustand des höheren Seins zu gelangen. In England wandte sich Laban der Erkundung von Arbeitsbewegung, der Bewegungsanalyse und einer Raumharmonielehre zu. Sein Wirken erzielte in der Übernahme seiner effort and shape theories an öffentlichen Schulen Anerkennung. Diese wurden wiederum zur Basis für die Bildung einer Tanztherapie, wie sie sich vor allem in den USA entwickelte. Allgemeine Anerkennung erhielt Laban schließlich im nach ihm benannten Laban Centre London. Ab den 1980er Jahren wandte man sich im deutschen Sprachraum wieder Laban zu; sein Gedankengut hat sich auch einen Platz in zeitgenössischen Tanzkonzepten erobert. Gunhild Oberzaucher-Schüller
Vom Stil im Tanz Gedanken über Stilfragen von Kurt Jooss (1957) Woran erkennen wir im allgemeinen einen Stil? Ohne Zweifel an der charakteristischen Form der Darstellung des Gedankens. Jene Form, die in der Hervorhebung oder Unterdrükkung gewisser, in der Natur bunt gemischter Elemente entsteht. Kein Zweifel, dass der Einseitigkeit des Formstrebens eine Gesinnung, ein Ethos der Periode, zugrunde lag. Von der neuentstandenen Tanzkunst können wir eigentlich erst nach der Mitte des 17. Jahrhunderts sprechen, als in Paris durch Ludwig XIV. ein Stil entstand, der die Unmasse des vorhandenen Bewegungsmaterials einer kritischen Sichtung unterzog und dabei gut von schlecht, schön von hässlich, erlaubt von unerlaubt schied. Durch Weglassen alles Unköniglichen entstand der Stil des Klassischen Tanzes. Die überwundene Erdenschwere, perfekte Beherrschung des Gleichgewichts, Stabilität, spielerisch leichte Vitalität, stets frontale Erscheinung und aufrechte Haltung mit stark ausgedrehten Beinen: alle bewegungs- und haltungsmäßigen Charakteristika des edlen und souveränen Menschen wurden im klassischen Tanz hervorgehoben – alles Gegensätzliche ist verboten, ausgemerzt, existiert nicht. In der Hochblütezeit der Romantik und der schwärmerischen religiösen Sehnsucht erhebt sich ein feminin betonter Stil der Schwerelosigkeit, der traumhaft reinen Leichte und drängt den vital menschlichen Ausdruck zurück zugunsten des phantastischen Luftgebildes. Auf diesen, in der Folge mehr und mehr entmenschlichten, abgekühlten, mechanischen Tanzstil trifft am Anfang unseres Jahrhunderts eine Generation tanzbesessener Künstler, die weder den Grand Seigneur, noch der Luftgeist, noch auch die
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technischen Wunder der lebenden Puppe suchte, sondern den Menschen schlechthin, den leidenden, ringenden, fehlenden, siegenden, bodenständigen oder erdverketteten einfachen Menschen. In gewaltigem inneren Umbruch vollzieht sich, zusammen mit der äußeren Katastrophe von Weltkrieg und Revolution, eine Neuorientierung in der ganzen Breite des geistigen und kulturellen Lebens. Der sogenannte „Ausdruckstanz“ sieht bei jedem seiner Träger anders aus, da er aus ganz persönlichen Quellen entspringt. Wo früher nur traumhafte Leichte galt, lebt der Tanz sich jetzt in erdverbundener Schwere aus. Das und vieles andere sind die Charakteristika des neuen, mit dramatischer Ausdruckskraft geladenen Stils. Das zentrale Erlebnis im Tanz bildet die Erfahrung des innigen Zusammenhangs der körperlichen Geste, überhaupt jeder äußeren Bewegung, mit einem inneren, mit der Gemütsbewegung. Von dieser zentralen Erfahrung der körper-seelischen Entsprechung aus eröffnet sich eine neue Sicht auf das gesamte Gebiet des Tanzes: vom Neuen her zeigt sich das Alte wieder in seinem wahren lebendigen Sinn, und uns Heutigen formt sich aus alt und neu die lebendige Gegenwart. Die Analyse des klassisch-romantischen Erbes einerseits und des „modernen Tanzes“ andererseits hat uns einen Reichtum des Bewegungsmaterials beschert von bisher unbekannter Farbigkeit – und im Bewusstsein dieses Reichtums schöpfen wir aus dem Vollen. Es sind Heilige und Schurken, schwache und starke, kühle und heiße Charaktere, aus denen sich das große, herrliche Leben baut. Hoch und tief, stark und schwach, langsam und schnell, eng-weit, groß-klein, schwer-leicht, stabil-labil, dunkel und hell – es sind die Kontrastpaare, die uns faszinieren, in krass dramatischen Gegensätzen oder in feinst gemischten Nuancen. Keine Auswahl also. Demnach kein Stil? Hessisches Staatstheater Wiesbaden
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Nachdem wir, was wir bisher über echte Merkmale von Stil gesagt haben, müssten wir zugeben: Wir haben keinen Stil, wir wollen keinen. Das Prinzip der Wahl ist ein anderes als früher. Gut ist nicht immer gut und unpassend ist nicht unter allen Umständen unpassend. Unsere Wertung ist relativ geworden. Wie äußert sich dann der Geist unserer Zeit? In jedem Fall in einem rücksichtslosen Streben nach Wahrheit, in einem illusionslosen Suchen nach der wirklichen Natur der Dinge, nach ihrem wahren Wesen. Aus dieser Forderung ergibt sich ein schmaler Weg – der harte Pfad des Wesenhaften, der Essenz. Und wenn die Welt ein großartiges Spiel Gottes ist, dann ist die Kunst die Fortführung und Verherrlichung dieses Spiels der Schöpfung durch den Menschen mit eigenen Mitteln. Darum ist uns im Tanz wie in jeder Kunst die höchste darstellerische Leistung, die Virtuosität, die schmucklose Reinheit müheloser Perfektion gerade gut genug – gut allerdings nur dann, wenn sie den Sinn klarer und strahlender als üblicherweise enthüllt.
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Zur Tanzforschung Labans Rudolf von Labans Bewegungslehre begründet sich in der vielfältigen Thematik des Tanzes, die primär durch die Bewegung des menschlichen Körpers vollzogen wird. Er erforschte folgende sechs Kategorien der Bewegung: Körper Raum Antrieb Form Phrasierung Beziehung Werbung
Was bewegt sich? Wohin geht die Bewegung? Wie wird die Bewegung ausgeführt? Mit welcher Formveränderung? Wie ist der zeitliche Ablauf der Bewegung? Wie setzt sich die bewegende Person in Bezug zu etwas oder jemandem?
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Ein Aspekt von Labans Forschungen und Lehre war, neben den räumlichen und technischen Ansätzen, das Wie, die Qualität der Bewegung, zu erforschen. Er suchte nach der Art und Weise des Antriebs, die er Eukinetik (aus dem griechischen eu = „wohl, gut“ und kineon = „Bewegung“, Lehre der schönen und harmonischen Bewegung) nannte. Durch diese war es Laban dann möglich, die dynamische und energetische Qualität einer Bewegung auf verschiedenen Ebenen zu erforschen, um sie als handwerkliches Element des Bewegenden bewusst werden zu lassen. Dabei liegt der Fokus nicht darauf, was, woher oder wohin sich etwas bewegt, sondern losgelöst vom Körperort (modus operandi), wie sich etwas bewegt. Analysiert man die verschiedenen Antriebselemente, so ist es möglich die drei Elemente Schwerkraft, Zeit, Raum jeweils in zwei Komponenten aufzuteilen. Dabei ist die eine nach außen wirksam und objektiv messbar, die andere persönlich und klassifizierbar. So sind die Komponenten der Schwerkraft „fest“ und „zart“. In der Zeit findet man die Antriebsele18
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mente „plötzlich“ und „allmählich“. Der Raum kann „direkt“ oder „flexibel“ beschreiben werden. Kombiniert man jeweils drei der sechs Bewegungselemente, so ergeben sich die acht, nach Laban benannten, elementaren Antriebsaktionen. Drücken – fest, direkt, allmählich Flattern – zart, flexibel, plötzlich Stoßen (Stechen) – plötzlich, direkt, fest Schweben (Fliegen) – allmählich, flexibel, zart Wringen – flexibel, allmählich, fest Tupfen – direkt, plötzlich, zart Peitschen – plötzlich, fest, flexibel Gleiten – allmählich, zart, direkt Ersetzt man bei den acht elementaren Aktionen einzelne Elemente, so ergeben sich gattungsähnliche Aktionen. So wird zum Beispiel aus Stoßen (plötzlich, direkt, fest) Drücken (allmählich, direkt, fest), wenn man die Komponente „plötzlich“ mit „allmählich“ austauscht. Die Forschung über Bewegung lässt keinen Stillstand zu und findet im Tanz eine temporale, aufführungsgebundene Verlaufskunst, die sich in jeder Vorstellung, mit jedem Interpreten aber vor allem durch die Arbeit der Choreografen als lebendige Gegenwartskunst definiert. So ist es nachvollziehbar, dass Schüler von Rudolf von Laban, wie Kurt Jooss, Sigurd Leeder oder auch Pina Bausch, sich von seinen Ideen haben anstecken lassen und sie durch ihr zeitgenössisches Bewusstsein weiterentwickelt und geformt haben. Auch die Bewegungslehre Labans ist keine abgeschlossene Methode, die als Doktrin zu verstehen ist, sondern eine Arbeit, die immer weiter erforscht wird, in der jeden Tag im Ballettsaal, ausgelöst durch die Tänzer, durch die Musik, durch menschliche Emotionen, ähnlich dem Wachstum eines Baumes, täglich neue Zweige mit Gesetzmäßigkeiten gefunden werden. Fione A. Darby-Rettenberger Hessisches Staatstheater Wiesbaden
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Begegnungen Sucht man nach dem Kern der Arbeit von Stephan Thoss, so kommt man unweigerlich auf die Bewegungsanalysen Rudolf von Labans zurück. Beschäftigt man sich mit der Frage, wer in der heutigen Zeit weiterhin damit arbeitet und somit Teil des lebendigen kulturellen Gedächtnisses ist, so findet man in Stephan Thoss einen Vertreter, der seinen künstlerischen Weg in der Welt des Tanzes mit dem Wissen über Labans Bewegungsanalysen weiter verfolgt. In seiner Arbeit verspürt man den unermüdlichen Drang auszuschöpfen, was möglich ist, die Grenzen des menschlich Machbaren auszureizen. Der Gedanke „Was benötigen wir, um Bewegung herzustellen?“ führt direkt zu den Forschungen Rudolf von Labans. Es war ein entscheidender Moment in der Ausbildung von Stephan Thoss, als der chilenische Choreograf und Ballettmeister Patricio Bunster 1979 als Gastlehrer an die PaluccaSchule nach Dresden kam. Bunster hatte in den 1950er Jahren bei Kurt Jooss gelernt und getanzt. Jooss war ein Schüler Labans und hatte dessen Theorien und Analysen weiterentwickelt und an seinen Tänzern weitergegeben. Am bekanntesten wurde Jooss durch seine berühmte Anti-Kriegs-Choreografie Der grüne Tisch. Patricio Bunster, der 1973 nach dem Pinochet-Putsch politisches Asyl in der DDR fand und seine, von seinen Lehrern Kurt Jooss, Sigurd Leeder und Jean Cébron inspirierten Trainingsetüden an seine Schüler weitergab, lernte in Stephan Thoss einen jungen Mann kennen, der möglichst alles Theoretische über Bewegung wissen wollte und mit ihm nicht nur Loops and Lines
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innerhalb des regulären Unterrichts, sondern auch in täglichen Gesprächen der Frage nachging: „Was ist Bewegung?“. Denn nicht nur der Tänzer bewegt sich, sondern jeder Mensch – sei es das Kind, das seinem natürlichem Wunsch nach Bewegung nachkommt oder die Zuschauer im Stadion, die sich, getrieben von der Macht ihrer Emotionen, gemeinsam erheben. Auch in der Tierwelt findet man mehrere Ansatzpunkte für die Bewegungsforschung, doch unterscheidet sich der Mensch in seiner Fähigkeit, darüber nachzudenken, warum er sich bewegt und welche Emotion er ausdrücken möchte. Die akribische Analyse des Tanzes war auch im kulturellen Kontext für Patricio Bunster ein wichtiger Bestandteil seiner täglichen Arbeit. Bunster machte seinen Schülern klar, wie stark die Anregung aus den Nachbarkünsten und der Literatur die Formung der Figuren und Szenen, der Arrangements, ja sogar der einzelnen Bewegungen prägte. Selbst umfassend gebildet, versuchte er, über einen gewissen Fachbereich hinausgehendes Wissen zu vermitteln und seinen Schülern Anstöße zu geben, sich selbständig weiterzubilden. Im Mittelpunkt seiner Arbeit mit seinen Schülern stand für ihn das Studium der Eukinetik (Lehre des Bewegungsantriebs) und der Choreutik (Lehre vom Raum). Es ging ihm vor allem um die Grundbegriffe der Bewegungsanalyse und um die psychophysische Analyse von Bewegung. Warum bewegt man sich? – Was bewegt sich? – Wo beginnt die Bewegung? – Wie bewegt sich der Körper? – Wohin geht die Bewegung? –
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Bewegungsmotivation Körper(teil) Bewegungsursprung Energie, Zeit Raum
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Gleichzeitig befassten sich seine Schüler mit den choreografischen Aspekten: Wie findet, erfindet man Bewegung? Was kann Quelle einer Bewegung sein? (z.B. Musik, literarische Idee, Requisit, das Bewegungsmotiv, die Bewegungsidee, etc.) In seiner Arbeit gab es nie eine Trennung von theoretischer und praktischer Arbeit. Alles, was besprochen wurde, wurde auch sofort angewendet. Bunster hatte große Ehrfurcht vor geistigen Leistungen, formulierte nur sehr zögerlich, zog alles sofort wieder in Zweifel und veröffentlichte nie etwas. Vergleicht man den aus Labans Studien resultierenden Ausdruckstanz mit dem Material des klassischen Tanzes, werden die wenigen Elemente menschlicher Bewegungsmöglichkeiten bewusst, die hier zum Einsatz kommen. So verneint der klassische Tanz die Erdanziehungskraft, um stets im leichten und ätherischen Stil und im Gleichgewicht zu bleiben. Im Vergleich dazu arbeitet der Ausdruckstanz mit der Schwerkraft und lässt Labilität zu. So ist es nicht nur erlaubt, sondern erwünscht, locker zu lassen, sich fallen zu lassen und durch die Bewegung eine emotionale Regung auszudrücken. Jede Bewegung transportiert Inhalt, wodurch der Betrachter eine authentische Emotion erleben kann. Eines der wichtigsten Elemente der Bewegung für Laban war, neben der Eukinetik, die Harmonie der Bewegung im Raum (Choreutik). Die ganze Komplexität der Bewegung und des Tanzes kann in einfache Richtungen, durch die wir unsere Orientierung im Raum wahrnehmen, eingeteilt werden. So erschließt sich unser räumliches Empfinden aus der Relation unseres Körpers zu den Vertikalen und Horizontalen der drei Dimensionen (frontal, sagittal, horizontal).
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Werbung Bewegen wir uns, so verlassen wir diese Dimensionen und wenden uns diagonalen und diametralen Richtungen im Raum zu. Labans Prinzipien konkretisierte er am zwölfeckigen Ikosaeder, der komplexesten der fünf platonischen Formen.
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Er empfand das Gerüst des Ikosaeders, das mit der Struktur des menschlichen Körpers korrespondiert, als das geeignetste um harmonische Bewegungssequenzen zu üben, da es den Raummöglichkeiten, die die Extremitäten unseres Körpers zeichnen können, entspricht. Laban unterscheidet den Raum nochmals in den allgemeinen, unendlichen Raum und den Raum, den unseren Körper unmittelbar umgibt – den er persönliche Kinesphäre nannte. Fione A. Darby-Rettenberger
Der Ikosaeder und seine innere Struktur (3 Sagittalebenen) Hessisches Staatstheater Wiesbaden
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Der Sündenfall als Bewegungsantrieb
Rudolf von Laban: Die Kunst der Bewegung (1950) Der Mensch bewegt sich, um ein Bedürfnis zu befriedigen. Mit seiner Bewegung zielt er auf etwas hin, das für ihn von Bedeutung ist. Das Ziel seiner Bewegung ist leicht zu erkennen, wenn diese sich auf ein konkretes Objekt richtet; es können aber auch immaterielle Dinge sein, die eine Bewegung auslösen. Als unsere Stammutter Eva den Apfel vom Baum der Erkenntnis pflückte, richtete sich ihre Bewegung sowohl auf ein greifbares als auch auf ein nicht-greifbares Ziel. Sie begehrte den Apfel, sie wollte ihn besitzen, weil sie Appetit danach hatte und ihren Appetit stillen wollte – aber nicht allein deswegen. Die Schlange, der Versucher also, hatte ihr gesagt, sie werde durch den Genuss des Apfels Allwissenheit erlangen: Diese Erkenntnis war letztlich der Wert, den sie begehrte. Kann eine Schauspielerin Eva beim Pflücken des Apfels so darstellen, dass ein Zuschauer, dem die biblische Geschichte unbekannt ist, sich der beiden Ziele Evas bewusst wird, des greifbaren wie auch des nicht-greifbaren Ziels? Vielleicht nicht ganz überzeugend, doch die betreffende Künstlerin könnte den Apfel auf vielerlei Art und Weise, mit Bewegungen von unterschiedlichem Ausdruck pflücken. Sie kann ihn rasch und gierig pflücken oder träge und sinnlich. Ihr ausgestreckter Arm, ihre zugreifende Hand, ihr Gesicht und Körper könnten beim Pflücken aber auch einen Ausdruck von Gleichgültigkeit zeigen. Viele andere Spielarten sind möglich, und jede von ihnen erhält ihre charakteristische Ausprägung durch eine andere Art von Bewegung. Indem der Zuschauer die Art der Bewegung als gierig, als träge oder gelangweilt definiert, bezeichnet er nicht nur das,
was er wirklich gesehen hat – was er gesehen hat, war vielleicht nur ein eigenartiger, schneller Ruck oder ein langsames Gleiten des Armes. Der Eindruck von Gier oder Sinnlichkeit ist die persönliche Interpretation des Zuschauers von Evas Gemütszustand in einer gegebenen Situation. Wenn nun also Eva den Apfel auf gierige oder träge Weise pflückt, wird sie ihren inneren Zustand durch das Bewegen einzelner Körperpartien zum Ausdruck bringen. Bei Gier strecken sich vielleicht ihre Arme oder gar der ganze Körper jäh in ein und dieselbe Richtung, dem heißbegehrten Apfel entgegen. Träge Begehrlichkeit könnte durch ein lässiges, gemächliches Heben des Armes charakterisiert werden, indes der übrige Körper teilnahmslos vom Objekt abgewandt bleibt. Es ist fast eine tänzerische Bewegung, bei der die äußere Aktion der seelischen Empfindung untergeordnet wird. Um diese Empfindung dem Zuschauer zu vermitteln, bedarf es keiner Worte.
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Wenn Eva nach dem Apfel greift, dann ist dies noch keine dramatische Szene. Dramatisch wird es erst, wenn sie Adam den Apfel anbietet. Drama braucht stets zwei oder mehr Menschen – deswegen erschließt sich hier ein Arbeitsfeld für die Gruppenbewegung. Selbst ein Monolog oder ein Solotanz sind in Wirklichkeit Dialoge zwischen den zwei Polen eines einzelnen Menschen, der von persönlichen Gedankengängen bewegt oder von wechselnden Stimmungen ergriffen wird. Die Gegensätzlichkeit der beiden Pole wird in Bewegungen sichtbar, welche die inneren Spannungen zum Ausdruck bringen. 43
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John Adams
Shaker Loops
John Adams, einer der beliebtesten und meistaufgeführten amerikanischen Komponisten, wurde 1947 in Worcester/ Massachusetts geboren. Nach seinem Studium an der HarvardUniversität siedelte er 1971 nach Kalifornien über, wo er zehn Jahre lang als Dozent am Konservatorium von San Francisco und von 1979 bis 1985 als Composer-in-Residence des San Francisco Symphony Orchestra tätig war. Während dieser Zeit errang er Erfolg mit Werken wie Harmonium und Harmonielehre.
Das Werk entstand zuerst als Streichquartett Wavemaker. Hatte ich in den frühen 1970er Jahren einige bahnbrechende Stücke amerikanischer Minimal Music erlebt, empfand ich die Kombination des reduziert harmonischen und rhythmischen Diskurses wegweisend. Nach und nach entwickelte ich ein Kompositionsschema, das zum einen auf den sich immer wiederholenden Strukturen der Minimal Music und zum anderen auf meinem Interesse an Wellenformen beruht. Die „Wellen“ in Wavemaker sollten zu längeren Sequenzen schwingender melodischer Zellen werden, ähnlich einer leicht bewegten Wasseroberfläche. Bei der Umarbeitung für Streicherensemble hielt ich mich an die Idee der schwingenden Muster und kreierte eine Struktur, die eine größere Vielfalt und emotionale Bandbreite umfasste. Am Wichtigsten war, dass aus dem Quartett ein Septett wurde, wodurch ein akustisches Volumen für mehr Klangleistung gegeben war. Die „Schleifen“-Idee beruhte auf einer Technik aus der Zeit der Musikkassetten, in der man von aufgenommenen Kassettenbändern die Enden miteinander verband und dadurch melodische und rhythmische Muster ad infinitum wiederholen konnte. (Steve Reichs It’s Gonna Rain ist ein Musterbeispiel dieser Technik.) Die „Shaker“ kamen zum einen wegen des Begriffs „vibrato“ hinzu, was zum einen bedeutet, ein Tremolo mit dem Streicherbogen auf der Saite zu erzeugen oder schnell durch das Vibrieren der Hand von einem Ton zum anderen zu wechseln. Dieses dynamische, fast elektrisch aufgeladene Element, weit weg von der geordneten mechanischen Welt der Minimal Music, führte letztendlich zur Umsetzung dieses Stückes. Shaker Loops ist nach wie vor eines meiner meistaufgeführten Stücke.
Seine eigene Stimme fand Adams schließlich in der lockerexperimentellen Atmosphäre der kalifornischen Bay Area. Die minimalistische Ästhetik wies ihm den Weg, wie er das energetische Pulsieren und die tonalen Grundlagen des Jazz und Rock wiederbeleben konnte. Dabei blickte Adams von Anfang an über die Beschränkungen hinaus, die dem Minimalismus anhafteten, hin zu einer größeren musikalischen Vision, die in dem wegweisenden Streichseptett Shaker Loops (1978) offenbar wurde. In den Orchesterwerken für das San Francisco Symphony Orchestra, die ihm den Durchbruch verschafften und in Harmonielehre einen Höhepunkt erreichten, bewies Adams seine außerordentliche Fähigkeit, die erhabenen Stilmittel der Romantik und der großen musikalischen Formen zu neuem Leben zu erwecken. Gleichzeitig entwickelte sich seine frühe Faszination für elektronische Musik weiter, hinein in eine technologisch bereicherte Klangpalette, in der sich Akustisches mit Synthetisiertem verband. Seine Laufbahn kann man, mit seinen eigenen Worten, als das Streben betrachten, „aus dem Kompost des amerikanischen Lebens eine neue Sprache zu formen, so wie Walt Whitman“.
John Adams
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Steve Reich
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Steve Reich (*1936) wurde als „größter lebender Komponist Amerikas“ (The Village VOICE) und „originellster musikalischer Denker unserer Zeit“ (The New Yorker) und „einer der großen Komponisten des Jahrhunderts“ (New York Times) bezeichnet. Seine Musik hat großen Einfluss auf Komponisten und Mainstream-Musiker in der ganzen Welt ausgeübt. Er ist ein führender Wegbereiter des Minimalismus, der schon als Jugendlicher mit dem „Establishment“ des Serialismus brach. Seine Musik ist bekannt für regelmäßigen Puls, Repetition und eine Faszination an Kanons; sie kombiniert strenge Strukturen mit vorwärts treibenden Rhythmen und verführerischer Instrumentalfarbe. Sie umfasst auch Harmonien nicht-westlicher und amerikanischer Volksmusik (insbesondere des Jazz). Seine Studien umfassten bislang das Gamelan, afrikanisches Trommeln (an der Universität Ghana) und traditionelle Gesangsformen der hebräischen Heiligen Schriften. Different Trains und Musik für 18 Musiker haben ihm jeweils den Grammy Award eingebracht, und seine Werke der Gattung „dokumentarische Video-Oper“ – The Cave („Die Höhle“) und Three Tales („Drei Erzählungen“), die in Zusammenarbeit mit dem Videokünstler Beryl Korot ausgeführt wurden – haben die Grenzen des Mediums Oper erweitert. Hinsichtlich sowohl ausgeweiteter Harmonien als auch der Instrumentation ist seine Musik über die Jahre erheblich gewachsen, was in einem Pulitzer-Preis für sein 2007 komponiertes Double Sextet mündete. „Es gibt bloß eine Handvoll lebender Komponisten, die zu Recht für sich beanspruchen können, den Verlauf der Musikgeschichte geändert zu haben, und Steve Reich ist einer von ihnen.“ (Guardian)
Eight Lines ist eine Bearbeitung meines Werkes Octet. Octet wurde vom Hessischen Rundfunk in Auftrag gegeben und im April 1979 fertiggestellt. Die Uraufführung fand am 21. Juni 1979 durch einzelne Mitglieder des Nederlands Blazers Ensemble unter der Leitung von Reinbert de Leeuw beim Hessischen Rundfunk statt.
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Eight Lines ist in fünf Abschnitte unterteilt. Von diesen fünf Abschnitten weisen der erste und dritte durch die treibenden Figuren des Klaviers, des Cellos, der Bratsche und der Bassklarinette Ähnlichkeiten auf, während sich der zweite und vierte aufgrund der länger gehaltenen Töne im Cello ähneln. Der fünfte und letzte Abschnitt fügt alles zusammen. Die Übergänge zwischen den einzelnen Abschnitten sind so nahtlos wie möglich gestaltet. Manchmal überschneiden sie sich, sodass man nicht genau sagen kann, wo der eine Abschnitt aufhört und der nächste beginnt. Im ersten, dritten und fünften Abschnitt gibt es etwas längere melodische Phrasen der Flöte und/oder Piccoloflöte. Mein Interesse an längeren melodischen Phrasen, die jedoch aus gebündelten kürzeren musikalischen Einheiten bestehen, geht auf meine frühere Musik sowie meine Studien über die Kantillation (Art des musikalischen Vortragens) der hebräischen Schriften in den Jahren 1976–1977 zurück. Steve Reich
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Stephan Thoss Stephan Thoss wurde 1965 in Leipzig geboren und erhielt seine Tanz-Ausbildung an der Palucca Schule in Dresden. Dort prägte ihn besonders die Zusammenarbeit mit Patricio Bunster, ehemaliger Solist bei Kurt Jooss und später Leiter des chilenischen Nationalballetts. In einem dreijährigen Zusatz-Studium vermittelte er Stephan Thoss die Jooss-Leeder-Technik, basierend auf den Theorien Rudolf von Labans. Nach Engagements als Tänzer an der Staatsoper Dresden, der Komischen Oper Berlin und dem Staatstheater Kassel – dort erste choreografische Arbeiten –, kehrte er 1990 zurück nach Dresden und wurde 1992 zum Haus-Choreografen ernannt. 1998 trat Stephan Thoss seine erste Ballettdirektion an den Bühnen der Landeshauptstadt Kiel / Thoss-TanzKompanie an. Von 2001 bis 2006 war er Ballettdirektor der Staatsoper Hannover, vor er 2007 in gleicher Funktion ans Hessische Staatstheater nach Wiesbaden kam. Stephan Thoss choreografierte als Gast unter anderem für das Stuttgarter Ballett, das Bayerische Staatsballett München, dem Hamburg Ballett, Nederlands Dans Theater II, Aalto Ballett Theater Essen, Saarländisches Staatstheater Saarbrücken, Chemnitz, Innsbruck sowie mehrfach für Les Grands Ballets Canadiens in Montréal. In seiner Wiesbadener Zeit entstanden Neu-Interpretationen von Dornröschen und Romeo und Julia sowie zahlreiche Neukreationen, unter anderem Professor Unrat, heim suchen, IrrGarten, Blaubarts Geheimnis, Testing Machine, La Chambre Noire, Kommen und Gehen, Fast Play sowie True or not True für den Ballettabend Ein Winternachtstraum.
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Zwischen Mitternacht und Morgen: Schwanensee wurde 2004 von ARTE aufgezeichnet, auf dem ZDF-Theaterkanal lief die Porträtreihe „Choreografische Avantgarde“, in der mit Thoss sieben ausgewählte Choreografen vorgestellt wurden. Stephan Thoss erhielt unter anderem den Bayerischen Theaterpreis 1999 für Schlaraffenland ist abgebrannt… und den Deutschen Theaterpreis DER FAUST in 2007 für Giselle M. Im November 2011 war er mit Blaubarts Geheimnis zum dritten Mal für den Theaterpreis DER FAUST nominiert, in den Kategorien „Beste Choreografie” und „Bester Darsteller Tanz”. (Giuseppe Spota in der Titelrolle erhielt den Preis.) Blaubarts Geheimnis war 2012/13 nicht nur in der Schweiz, Spanien und Polen auf Gastspiel, sondern wurde im Dezember 2012 vom Ballett der Wiener Staatsoper einstudiert und wird ab März 2014 beim Ballett Basel zu sehen sein. Das Zürcher Junior Ballett und das Ballett des Theaters Regensburg nahmen 2012/13 Carmencita/Bellulus in ihr Repetoire auf, Les Grands Ballets Canadiens de Montréal haben Stephan Thoss im Mai 2013 erneut eingeladen, die Neukreation Rêve basierend auf dem Stück Nightbook zu erstellen. Boléro in Stephan Thoss’ Choreografie wurde 2013 von Gauthier Dance in Stuttgart und vom Ballet du Rhin Strasbourg / Mulhouse ins Repertoire übernommen. Ab Dezember 2013 wird auch Zwischen Mitternacht und Morgen: Schwanensee wieder in Wiesbaden zu sehen sein. Loops and Lines
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Ensemble Modern Das Ensemble Modern (EM), 1980 gegründet und seit 1985 in Frankfurt am Main beheimatet, zählt zu den weltweit führenden Ensembles für Neue Musik. Seit 1987 ist das EM eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) mit den MusikerInnen als Gesellschaftern. Zurzeit vereint das EM 19 Solisten verschiedener Nationalitäten: Argentinien, Bulgarien, Deutschland, Großbritannien, Indien, Japan, Polen und die Schweiz bilden den kulturellen Hintergrund dieser Formation. Das EM ist bekannt für seine weltweit einzigartige Arbeitsund Organisationsweise: Es gibt keinen künstlerischen Leiter; Projekte, Gastmusiker, Koproduktionen und finanzielle Belange werden gemeinsam entschieden und getragen. Jeder Gesellschafter bringt seine persönlichen Erfahrungen und Vorlieben in die Planung ein, woraus eine einzigartige und unverwechselbare programmatische Bandbreite resultiert. Diese umfasst Musiktheater, Tanz- und Videoprojekte, Kammermusik, Ensemble- und Orchesterkonzerte. So entstanden außergewöhnliche und oftmals langjährige Zusammenarbeiten wie u.a. mit John Adams, George Benjamin, Peter Eötvös, Heiner Goebbels, Hans Werner Henze, Mauricio Kagel, Helmut Lachenmann, György Kurtág, György Ligeti, Benedict Mason, Karlheinz Stockhausen, Steve Reich oder Frank Zappa. Tourneen führten das EM nach Afrika, Australien, China, Indien, Japan, Korea, Südamerika, Taiwan, Russland und die USA. Regelmäßig tritt es bei renommierten Festivals und herausragenden Spielstätten in ganz Europa auf. An der Alten Oper Frankfurt gibt es seit 1985 eine Abonnementreihe und in Kooperation mit der Oper Frankfurt finden regelmäßig Opern-produktionen sowie unter dem Titel „Happy New Ears“ Werkstattkonzerte statt, innerhalb derer
zentrale Werke der zeitgenössischen Musik vorgestellt und erläutert werden. Jährlich gibt das EM ca. 100 Konzerte. In enger Zusammenarbeit mit den Komponisten, verbunden mit dem Anspruch nach größtmöglicher Authentizität, erarbeiten die Musiker jedes Jahr durchschnittlich 70 Werke neu, darunter etwa 20 Uraufführungen. Seit 2000 erscheinen unter dem Label Ensemble Modern Medien (EMM) Audio- und Video-Produktionen des EM. Mit der Internationale Ensemble Modern Akademie, die 2013 ihr zehnjähriges Bestehen feiert, fördert das EM mit unterschiedlichsten Programmen junge Nachwuchskünstler.
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Das Ensemble Modern wird gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes, die Stadt Frankfurt sowie über die Deutsche Ensemble Akademie e.V. durch das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst, die Deutsche Bank Stiftung und die GVL. Ausgewählte Projekte werden gefördert durch den Kulturfonds Frankfurt RheinMain. Die Musikerinnen und Musiker des Ensemble Modern danken der Aventis Foundation für die Finanzierung eines Sitzes in ihrem Ensemble. www.ensemble-modern.com
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Literatur und Quellen
S.6/7: Originalbeitrag von Stephan Steinmetz; S.16/17, S.37-41: Originalbeiträge von Fione A. Darby-Rettenberger; Fritz Böhme: Rudolf von Laban und die Entstehung des modernen Tanzdramas. Tanzarchiv Leipzig/ Edition Hentrich 1996; Gunhild Oberzaucher-Schüller: Rudolf von Laban. In: MGG - Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Bärenreiter Kassel 2003; Kurt Jooss: Gedanken über Stilfragen. (1958) erschienen in: Tanzdrama 38; Rudolf von Laban: Die Kunst der Bewegung. Noetzel Wilhelmshaven 1996; John Adams, Steve Reich: www.boosey.com. Übersetzung Eight Lines von Elisabeth Hufnagel; John Adams: Shaker Loops, www.earbox.com, Übersetzung von Fione A. Darby-Rettenberger
Abbildungen
S.1: www.danceteacherwebblog.com; S.14/15: Laban Movement Analysis: teach.alimomeni.net. Übersetzung von Fione A. Darby-Rettenberger; S.37,41: Inge Baxmann und Franz Anton Cramer: Deutungsräume, Bewegungswissen als kulturelles Archiv der Moderne, Tanzarchiv Leipzig, K. Kieser Verlag München 2005; S.38/39: http://seeding-projects.blogspot.de; S.41: Vera Maletic: Body-Space-Expression, The Development of Rudolf Laban’s Movement and Dance Concepts, Mouton de Gruyter, Berlin 1987; S.42/43: www.neue-dresdnerkammermusik.de
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Fotos
Die 1. Hauptprobe am 22. Oktober 2013 fotografierte Lena Obst. Portrait Stephan Thoss: Fione A. Darby-Rettenberger Umschlag vorne: S.21: S.22/23: S.24/25: S.26/27: S.28/29: Anna Bender im Video von Andreas J. Etter Falz: Zeichnungen von Rudolf von Laban, Universitätsbibliothek Leipzig/ Tanzarchiv Leipzig,
Nachlass Rudolf von Laban. Rudolf von Laban und Kurt Jooss, Dance Notation Bureau Photograph Collection. S.34/35: S.36:
Hessisches Staatstheater Wiesbaden ist
Programmheft zur Premiere von Loops and Lines von Stephan Thoss. Herausgegeben zur Premiere am 26. Oktober 2013. Herausgeber: Hessisches Staatstheater Wiesbaden, Spielzeit 2013/2014. Intendant Dr. Manfred Beilharz. Redaktion Stephan Steinmetz, Fione A. DarbyRettenberger Typographisches Konzept Maarten Evenhuis. Gestalterische Umsetzung Cornelia Temlitz. Druckerei Dinges & Frick. Hessisches Staatstheater Wiesbaden
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Miß Sara Sampson
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Das Wesen der Bewegung Bewegung ist das Resultat von Befreiung von Energie durch eine muskuläre Antwort auf einen inneren oder äußeren Reiz. Diese Antwort erzeugt ein visuelles Ergebnis in Zeit und Raum. Jean Cébron