Die Geschichte einer unbeugsamen Frau von Paul Glaser Ein TANZFONDS ERBE Projekt Uraufführung
„Ein Satz hatte sich in meinem Kopf festgesetzt: Man muss erst ausgestoßen werden, bevor man auserwählt sein kann. Und ich kam zu dem Schluss: Ich werde auserwählt sein. Wenn mich niemand will, dann will ich auch niemanden, nur mich selbst.“ Roosje Glaser
Spielzeit 2015/2016 Joy Kammin und Olaf Reinecke
EIN LEBEN DURCH DEN TANZ von Daniela Zinner
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Roosje Glaser wird am 10. September 1914 in Nijmegen (Niederlande) geboren. Kurz nach dem Ersten Weltkrieg ziehen ihre Eltern mit ihr und ihrem Bruder nach Kleve, so dass sie bereits in früher Kindheit Deutsch lernt. Bereits mit fünf Jahren erhält sie ihren ersten Tanzunterricht und mit Anfang zwanzig beginnt sie als Tanzlehrerin zu arbeiten. Aus dem eigensinnigen, musikalisch interessierten Kind wurde schnell eine emanzipierte, temperamentvolle junge Frau, die den Tanz als Leidenschaft entdeckte. Gemeinsam mit ihrem ersten Mann Leo führt sie sehr erfolgreich eine Tanzschule. Da Leos Bruder Mitglied der niederländischen Nazipartei (NSB) ist und Roosje jüdisch, kommt es zur Trennung, da sich Leo immer mehr den Überzeugungen seines Bruders annähert. Am 10. Mai 1940 marschiert die deutsche Wehrmacht in die Niederlande ein und damit wird der Alltag der Juden dramatisch verändert – sie müssen den Davidstern a sichtbar auf der Kleidung tragen, es gibt Einschränkungen und Verbote. Trotz der hohen Strafen, die auf der Verletzung dieser Vorschriften standen, entschließt sich Roosje, diese zu ignorieren. Sie leitet weiterhin ihre Tanzschule, zum Teil illegal auf dem Dachboden ihres Elternhauses. Doch Roosje wird von Leo und seinem Bruder verraten. Da sie sich weigert, den Davidstern sichtbar auf ihrer Kleidung zu tragen, wird sie verhaftet und kommt für sechs Wochen in ein SS-Gefängnis. Danach entschließt sie sich unterzutauchen. Sie nimmt eine neue Identität an und zieht mit ihrer Mutter in eine andere Stadt, in der sie bei einem Ehepaar – die Frau Deutsche, der Mann bei der NSB – einziehen. Doch werden sie erneut verraten und kommen in
das Lager Westerbork. Dank Roosjes Ehrgeiz und Selbstbewusstsein erhält sie eine Stelle als Krankenschwester und die beiden werden nicht direkt nach Auschwitz deportiert. Die Zeit im Lager vertreibt sich die unbeugsame junge Frau, indem sie Kabarettabende organisiert. Während ihrer Tätigkeit als Sekretärin lernt sie einen jungen SS-Offizier kennen, mit dem sie eine Affäre beginnt. Nach dessen Versetzung wurde auch Roosje in ein anderes Lager gebracht. Von nun an sollte sie im Arbeitslager Vught ihren Dienst tun und wurde von dort aus am 10. September 1943 direkt nach Auschwitz deportiert. Sie landet im Block 10, der dafür bekannt ist, dass dort Experimente an jungen Frauen vollzogen werden. Unter anderem wird sie mit Typhus infiziert und von Dr. Caulberg sterilisiert. Da sie diese Experimente nicht weiter über sich ergehen lassen kann, wird sie ins Lager Birkenau gebracht, wo sie in den Gaskammern arbeiten musste. Immer wieder kann sie ihre Leidenschaft für den Tanz ausleben, indem sie beispielsweise deutschen SS-Männern Tanzunterricht gibt. Dadurch verbesserte sich auch kurzzeitig ihre Position im Lager – sie bekam eine Extraration Brot – und als das Lager geräumt wurde, konnte sie deshalb den sogenannten Todesmarsch überleben. Sie gibt sich als Dänin aus und gelangt mit Hilfe des Roten Kreuzes nach Schweden. Dort bleibt sie bis zum Ende ihres Lebens. In die Niederlande will sie nie mehr zurückkehren. „Ich habe kein Pech, dass ich als Jüdin geboren bin, sondern weil ich als Niederländerin geboren bin.“ Roosje Glaser
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Roosje Glaser achtzehnjährig, 1932
ALLES BEGANN MIT EINEM KOFFER von Daniela Zinner
ICH FINDE INTERESSANT, DASS ROOSJE EIN SEHR STARKES GESPÜR DAFÜR HAT, WANN SIE EINE ENTSCHEIDUNG TREFFEN MUSS.
Interview mit Regisseurin Bianca Sue Henne und Choreographin Jutta Ebnother
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Ein Mann besucht während einer Tagung in Krakau gemeinsam mit Freunden die KZ-Gedenkstätte Auschwitz. In Block 10 fällt sein Blick auf einen braunen Koffer, der sehr weit vorn steht. Auch seine Freunde entdecken diesen Koffer und konfrontieren ihn daraufhin mit Fragen. Der Mann trifft eine Entscheidung: Er wird das lang gehütete Familiengeheimnis öffentlich machen. Der Mann ist Paul Glaser und der Neffe von Roosje Glaser, der „Tänzerin von Auschwitz“. Er wächst gut behütet mit seinen Geschwistern in den Niederlanden auf. Von seinen jüdischen Wurzeln weiß er nichts. Als seine Frau und er einen Namen für ihr Kind suchen, stoßen sie bei ihrer Recherche im Verwandtenkreis auf den Namen „Samuel“ – den Zweitnamen seines Vaters. Die jüdische Abstammung dieses Namens macht beide stutzig, jedoch ist es kein ungewöhnlicher Name. Erst einige Zeit später kommen sie erneut darauf zu sprechen und ein österreichischer Kollege von Paul erklärt ihm, dass „Glaser“ vor dem Krieg ein häufiger und typisch jüdischer Name in Wien gewesen sei. Angesprochen darauf, verweigert Pauls Vater ihm die Antwort. Erst seine Großmutter mütterlicherseits bestätigte Paul in seiner Vermutung, er hätte jüdische Wurzeln. Während einer Dienstreise, zwei Jahre später, trifft er in Brüssel auf einen Namensvetter, der an Paul sehr interessiert ist. Beide versuchen herauszufinden, ob und inwiefern sie verwandt sind. Es stellt sich heraus, dass beide über die in Schweden lebende Tante Roosje miteinander verwandt waren. Zudem entdeckt Paul Glaser kurz danach in einem Gedenkbuch, welches in Nijmegen erschienen war, diverse Foto verstorbener Familienmitglieder. Das Geheimnis, welches so lange von seinem
Vater gewahrt wurde, enthüllt sich mehr und mehr. Ein weiteres Puzzleteil findet sind in Form von Briefen, welche im Nachlass der Deutschen Magda Coljee gefunden wurden. Tante Roosje schrieb ihr fast wöchentlich aus den Lagern Westerbork und Vught. Diese Briefe wurden Paul übergeben und er beginnt, sich näher mit seiner Tante Roosje zu beschäftigen. Nach dem Lesen der Briefe und weiteren Nachforschungen kommt es in Stockholm zu einem Treffen zwischen den beiden. Auch wenn sich Roosje anfangs weigert, Paul zu empfangen, gelingt es ihm doch, sie zu überzeugen. Sie gibt ihm Einblicke in ihr Leben, zeigt Fotos und erzählt von ihren Erlebnissen. Dies ist das erste und letzte Treffen der beiden. Als Roosje im März 2000 stirbt, reisen Paul und seine Geschwister nach Stockholm, um ihr die letzte Ehre zu erweisen. In ihrer Wohnung stoßen sie auf Ordner voller Texte, Gedichte und Lieder, die Roosje in Westerbork, Vught, Auschwitz, Birkenau und später auch in Schweden geschrieben hatte. Auch ihr Tagebuch finden sie. Diese Aufzeichnungen werden von Paul Glaser gesammelt, gesichtet und zusammengestellt. Er veröffentlicht „Tante Roosje. Het oorlogsgeheim van mijn familie“, welches das Leben seiner Tante Roosje, der „Tänzerin von Auschwitz“ aufzeigt. Der Auslöser für die Entstehung des Buches war der braune Koffer im Block 10 mit der Aufschrift „Glaser. Niederlande“. „Aber ich bin natürlich ganz neugierig, wie Ihr Theaterstück aussieht, und wie die Besucher des Theaters unterm Dach es finden.“ Paul Glaser in einer E-Mail an das Theater Nordhausen
Bianca, du inszenierst „Die Tänzerin von Auschwitz“. Wieso fiel deine Wahl auf diesen Stoff?
leben. Aktiv gegen Rechtsextremismus, Gewalt und Menschenfeindlichkeit“, gefördert. Im Rahmen dieser Förderung Patrick Jech, einer unsere Spieler ist auf kam es auch zur Kooperation mit der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora. den Stoff gestoßen. Es gab bei „Titel, Thesen, Temperamente“ einen kurzen Es handelt sich bei der Inszenierung um Beitrag zu diesem Buch, welches gerade vor der deutschen Erstpublikation eine Mischform – Puppenspiel, Schauspiel und Tanz. Wie kam es zu dieser stand. Jutta und ich hatten nach dem Sehen des Beitrags sofort das Gefühl, Entscheidung, und wie gestaltete sich die Umsetzung? dass es sich dabei um etwas handle, bei dem wir beide ganz intensiv mitBianca: Kreative Prozesse entstehen oft einander künstlerisch tätig werden gar nicht am Schreibtisch, sondern eher könnten. Zu diesem Zeitpunkt war jeintuitiv. Es gibt viele Dinge, die man doch die Planung für die Spielzeit einfach weiß, entweder von Anfang 2015/2016 bereits abgeschlossen, so an oder irgendwann plötzlich. Andere dass wir für die Realisierung Fördermit- Dinge entstehen im Probenprozess. Wir tel beantragen mussten. Diese Förder- folgen einer Vision. Wenn das Denken gelder stammen zum größten Teil aus aufhört, entsteht die Kunst. Es war den Tanzfonds Erbe, welche sich der immer klar, dass wir mit sprechenden, Förderung von künstlerischen Projekschauspielernden Tänzern und Puppenten zum Tanz im 20. Jahrhundert verspielern arbeiten wollen. Zudem sollte schrieben haben. Weiterhin wird diese die Form eher collageartig sein. Produktion noch durch „Demokratie Jutta: Dadurch lässt sich auch die Komplexität dieses Themas und dieser Frau für uns gut darstellen. Viele Dinge kann man sehr gut mit Hilfe des Tanzes erzählen, andere Momente können durch die Puppen intensiver gefüllt werden. Beispielsweise brechen Puppen an manchen Stellen gern mal das Schwere, dass dieser Stoff mit sich bringt und an anderen Stellen können sie die Dramatik, die dem Stoff innewohnt, auch wieder verstärken. So bieten wir den Zuschauern auch viel Freiraum für die eigene Phantasie. Jutta, worin bestand für dich der Reiz des Stücks? Welche Herausforderungen gab es während der Probenzeit?
Caroline Kühner und Patrick Jech
Besonders reizvoll für mich war tatsächlich das spartenübergreifende Arbeiten – das ist mir als solches ja nicht
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unbekannt, ich habe schon sehr oft spartenübergreifend gearbeitet, aber die Kombination mit dem Puppenspiel war mir neu. Daher war ich anfangs etwas unsicher, aber dann dachte ich mir, dass das schon funktionieren kann. Und ich bin sehr froh, dass die Szenen nun so ineinander übergreifen, sich die Übergänge von einer Kunstform in die nächste so logisch erklären und das Stück keinen Revuecharakter bekommen hat. Weiterhin war für mich reizvoll, mit zwei mir völlig unbekannten Tänzern zu arbeiten: einem sehr reifen Tänzer mit viel Erfahrung und einer sehr jungen, frischen Tänzerin. Das ist immer eine spannende Erfahrung und es gab Momente, die mich selbst überraschten. Herausfordernd und spannend war ein Solo, welches ein Medley aus verschiedenen (Gesellschafts-) Tanzstilen ist, welches Roosje als Tanzlehrerin zeigt. Dieses Solo habe ich auch gleich zu Beginn der Probenzeit einstudiert. Ich genoss in der Zusammenarbeit mit Bianca eine Freiheit, die diese sehr enge und gleichzeitig intensive Arbeit mit sich brachte. Bianca, was war für dich das Reizvolle an der Zusammenarbeit mit Jutta? Nach den vielen Jahren, die wir schon in den unterschiedlichsten Konstellationen zusammengearbeitet haben und in denen sich ein ganz großer Respekt für die jeweils andere Arbeit entwickelt hat, haben wir nun die Möglichkeit, unsere beiden doch sehr unterschiedlichen Ansätze und Blickweisen auf (Theater-) Kunst zusammenzubringen. Das fand ich besonders reizvoll. Jede von uns hat ihren Freiraum in ihrer Arbeit und trotzdem hat jede von uns beiden einen Blick für das, was die jeweils andere macht. Durch Kommentare und Vorschläge entsteht so in dieser engen Zusammenarbeit immer etwas Neues.
Joy Kammin
Ihr habt ein Stück über den mutigen Überlebenskampf einer ungewöhnlichen Frau gestaltet. Inwiefern ist die Frage nach der Schuld, konkret ihrer Schuld, präsent innerhalb des Stücks? Bianca: Es gibt Momente, in denen von außen auch innerhalb der Geschichte kommentiert wird – die sind so auch im Buch vorhanden. Man muss sich vorstellen, dass Roosje mit den Dingen, die sie getan hat, mit den Entscheidungen, die sie getroffen hat, auch immer auf Unverständnis bei ihren Mitmenschen gestoßen ist. Sie hat von vielem gewusst. Sie war als Funktionshäftling Teil der Maschinerie. Hätte sie das nicht getan, hätte sie nicht überlebt. Das ist ganz klar. Sie wäre weder gesundheitlich noch emotional in der Verfassung gewesen, den KZ-Aufenthalt und den anschließenden Todesmarsch durchzustehen. Roosje half nach ihren Möglichkeiten aber auch immer anderen, aber sie entschied sehr genau, wem – in den Lagern sorgt sie für ihre Familie, für sich selbst und für ihre engsten Freunde. Für mehr hätte es nicht gereicht und es lag auch immer ein Risiko darin. Sie selbst ist nicht die große Planerin; sie versuchte einfach immer, ihre Situation ein bisschen zu verbessern. Sie hat aber auch ein Gewissen. Das zeigt sich an ein paar Dingen innerhalb
des Buches, beispielsweise der Gedanke an den kleinen Jungen, den sie in die Gaskammer führt. Der Gedanke an dieses Kind kehrt immer wieder und lässt eine große Schuld in ihr entstehen. Diese Schuld bzw. dieses Gewissen treten immer dann zutage, wenn sie etwas innerlich anrührt. Wie auch der Tod ihrer Freundin Rachel. Das ist auch der einzige Moment im ganzen Buch, in dem sie weint. Jutta: Ich finde interessant, dass Roosje ein sehr starkes Gespür dafür hat, wann sie eine Entscheidung treffen muss. Und wenn sie diese Entscheidung getroffen hat, dann ist sie darin auch sehr klar. Bezüglich der Schuldfrage: Wir sprechen diese Momente innerhalb des Stückes an, jedoch bewerten bzw. beurteilen wir sie nicht. Das hat auch Paul Glaser in seinem Buch nicht getan. Tanzen um zu überleben – inwieweit half der Tanz Roosje Glaser tatsächlich zu überleben? Jutta: Ich würde sagen, sie benutzt den Tanz. Es ist eine bewusste Entschei-
Joy Kammin
dung, dass sie dem jungen SS-Offizier davon erzählt, dass sie früher Tanzlehrerin war. Dadurch kam es, dass sie den anderen Offizieren anfing, Tanzunterricht zu geben, sie sogar in Benimmfragen zu unterrichten. Bianca: Plötzlich drehte sich das „Machtverhältnis“ um – sie stellte Regeln auf, sie gab den Ton an. Die Hierarchie veränderte sich. Sie ist die Lehrerin und die Nazis sind ihre Schüler, die sie belehren muss. Jutta: Tanz war vor der Kriegszeit Freiheit und wurde dann während des Krieges zu einem Machtmittel, ein Mittel zum Zweck. Das Tanzen gab ihr aber auch Kraft in dieser Zeit – sie hat Kabarettabende organisiert, um sich und ihren Mitmenschen die Zeit zu vertreiben. Ganz am Ende, als sie den Bolero tanzt, weiß sie, dass sie in Freiheit ist, dass sie alles überstanden hat.
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NÄHE UND FERNE von Lisa Ohl
„Die gegenständlichen Verbrechen sind ja Massenverbrechen, nicht nur, was die Zahl der Opfer anbelangt, sondern auch in Bezug auf die Anzahl der Mittäter.“ Hannah Arendt
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ferne ließ seine banal-böse Gedankenlosigkeit zu. Dabei war Eichmanns Tätigkeit im Grunde genommen völlig harmlos: Er stellte Listen zusammen. Listen, wie es sie in kleinerem Maßstab auch in den einzelnen KonzentrationsSo heißt es im Urteil, welches am 15. De- lagern gab. Tatsächlich geschrieben zember 1961 in Jerusalem über Adolf wurden sie dort zumeist von Häftlingen Eichmann verhängt wurde. Als „Schreib- wie Roosje Glaser. tischtäter“ war Eichmann im Dritten Roosje trägt keine Schuld am Schicksal Reich an der Ermordung der vielen Milihrer Mitgefangenen, die auf Grundlage lionen Juden maßgeblich, wenngleich der von ihr verfassten Listen deportiert auch niemals unmittelbar, beteiligt. wurden; sie ist nicht verantwortlich für Hannah Arendt kehrt den banalen ihren Tod. Doch frei von Schuld ist sie Charakter seiner vermeintlichen Bosheit nicht. Indem Roosje im Konzentrationsund Grausamkeit hervor, die Gedanlager Westerbork als Sekretärin die vorkenlosigkeit, mit der Eichmann seine läufigen Listen der zu Deportierenden Arbeit tat. Ihm oblag die Planung der schrieb, nahm sie bewusst Teil an Deportation und Vernichtung der Juden; jenem System, das sie selbst bedrohte. er befasste sich gleichsam mit der Somit trägt sie eine Mitschuld am Funkendgültigen Klärung der „Judenangele- tionieren seiner Mechanismen, deren genheiten“. Adolf Eichmann agierte aus Perfidie gerade in der Möglichkeit eines der Distanz, hantierte mit Mengen und (vorübergehenden) Rollenwechsels zuZahlen, ohne mit den Menschen und tage tritt. Vorübergehend, da derjenige, Schicksalen dahinter in Berührung zu der die Listen schrieb, als Häftling (trotz kommen. Gerade diese Wirklichkeitsseiner privilegierten Stellung) damit
Olaf Reinecke, Patrick Jech, Caroline Kühner
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Caroline Kühner und Patrick Jech
rechnen musste, bald selbst auf ihr zu stehen. Trotz der Tatsache ihres Mitwirkens ist Roosje jedoch nicht weniger Opfer des Nationalsozialismus. Doch war Roosjes Handeln nie auf den Erhalt der bestehenden Ordnung ausgerichtet oder gar von Pflichtgefühl geleitet. Sie passte sich lediglich den Umständen an, um zu überleben. Auch sie war gedankenlos bei ihrer Arbeit, ob als Sekretärin in Westerbork oder später vor den Gaskammern von Birkenau. Roosjes Gedankenlosigkeit rührte jedoch von der Notwendigkeit und dem Willen zu überleben her. Und soweit es ihr möglich war, nutzte sie ihre Position, um die Lage ihrer Mithäftlinge zu verbessern und Schaden von ihnen abzuwenden. „Meine Aufgabe zu jener Zeit war es, Kisten mit den fertigen Granaten zu einem Depot in der Nähe zu tragen, wo sie gezählt und in Listen erfasst wurden. Eines Tages war die Frau, die die Listen führte, nicht anwesend, deshalb ging ich zu dem zuständigen SS-Offizier, um ihm die Zahlen zu nennen. […] Ich sah meine Chance, erzählte ihm, dass ich als Kind in Deutschland gelebt hatte und dass ich mit Büroarbeiten vertraut war. Daraufhin forderte er mich auf, ihm in die Schreibstube zu folgen,
wo er mir kurz die Arbeit erläuterte. Von da an war ich für die Verwaltung der Granatenproduktion verantwortlich.“ Roosje Glaser Während ihrer Gefangenschaft ging Roosje immer wieder Wagnisse ein, um ihre Situation zu verbessern oder ihr zu entkommen. Sie wurde dabei nie zu einer aktiven Mittäterin, die ihren Mitgefangenen direkt und absichtlich Schaden zufügte, gleichwohl entschied und handelte sie stets bewusst. Sie blieb selbst in ihrer Machtlosigkeit selbstbestimmt. „Ich war fest entschlossen, mich seelisch abzuschotten. Deshalb bemühte ich mich, mein Denken abzuschalten, das heißt nicht ganz, denn ich musste mich ja darauf konzentrieren, zu überleben – nur darum ging es jetzt.“ Roosje Glaser Roosje musste sich die Distanz zur Wirklichkeit künstlich aufbauen, um die tatsächliche Nähe zu ihr zu ertragen, schließlich war sie selbst Häftling. Ihre Schuld wiegt dadurch umso leichter und zugleich schwerer.
ZWISCHEN SOLIDARITÄT UND KOLLABORATION Funktionshäftlinge im System der Konzentrationslager von Dr. Regine Heubaum
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Die SS zwang KZ-Häftlinge, sie beim Betrieb der Konzentrationslager, der Organisation der KZ-Zwangsarbeit und bei der Kontrolle der anderen Häftlinge zu unterstützen. Zu diesen sogenannten Funktionshäftlingen gehörten etwa die Lager- und Blockältesten, die Kapos und Vorarbeiter in den Arbeitskommandos und die Schreiber in der Lagerund Arbeitsverwaltung. Das System der Funktionshäftlinge war parallel zur hierarchisch gegliederten SS-Verwaltung des Lagers aufgebaut. Der Lagerälteste, der aus den Reihen der Häftlinge bestimmt wurde, nahm seine Anweisungen vom Schutzhaftlagerführer der SS entgegen, dem die Blockführer der SS unterstanden. Diese erteilten ihre Befehle den Blockältesten, die wiederum unter den Häftlingen rekrutiert wurden. Die Funktionshäftlinge erhielten dafür Privilegien, etwa besseres Essen oder auch bessere Kleidung. Der SS erlaubte das System der Funktionshäftlinge, die Lagerverwaltung relativ personalsparend zu organisieren. Außerdem gelang es der SS auf diese Weise, die Lagerbelegschaft zu spalten, denn mit der Übergabe der (stets von der SS abgeleiteten) Macht an ausgesuchte Häftlinge wurde immer auch Schuld delegiert. Funktionshäftlinge waren in den Augen zahlreicher Mitgefangener korrumpiert, selbst wenn sie ihre von der SS abhängige Macht nutzten, um anderen Mithäftlingen zu helfen. Und tatsächlich trug dieses System dazu bei, die Konzentrationslager funktionsfähig zu erhalten. Der Widerspruch zwischen Solidarität mit der Masse der Gefangenen einerseits und Kollaboration mit der SS andererseits war daher nicht auflösbar. Indessen ging es für jeden Häftling – auch für die Funktionshäftlinge – vor
allem um das eigene Überleben, und die Übernahme eines Postens erhöhte die Überlebenschancen erheblich. Die Funktionshäftlinge bildeten innerhalb der Lagerbelegschaft nur eine kleine Minderheit. Ihre scheinbare Macht war immer von der SS abhängig. Funktionshäftlinge waren der Willkür der SS ausgesetzt und konnten jederzeit von ihren Posten abgelöst werden. Häufig bekleideten sie ihre Posten nur für relativ kurze Zeit und lebten ständig in der Furcht, abgelöst und einem schlechteren Funktionsposten oder sogar einem Arbeitskommando zugewiesen zu werden. Anlässe für die Ablösung waren unter anderem: Denunziationen konkurrierender Funktionshäftlinge, Intrigen, eine Verschlechterung der Beziehungen zur SS oder Willkürakte von SS-Angehörigen. Häufig hatte auch ein Wechsel in der
SS-Lagerführung den Austausch von Funktionshäftlingen zur Folge. Funktionsposten wurden formal immer durch den Kommandanten oder die SS-Schutzhaftlagerleitung vergeben. Bei der Vergabe von Funktionsposten waren für die SS rassistische Prinzipien und deutsche Sprachkenntnisse ausschlaggebend. Hohe Funktionsposten, etwa die der Lagerältesten, wurden in allen Lagern nahezu ausschließlich mit nichtjüdischen deutschen Häftlingen besetzt. Nachgeordnete Funktionsposten besetzte die SS auch mit Nichtdeutschen. Das war vor allem dann der Fall, wenn Fachkenntnisse erforderlich waren. In der Praxis erfolgte die Ernennung jedoch meist auf Empfehlung anderer Funktionshäftlinge, häufig durch den Lagerältesten oder den Oberkapo eines Lagerkommandos. Dadurch entwickelte sich in der Häftlingsverwaltung
ein enges Netz von Abhängigkeiten, und oftmals eine ausgeprägte Klientelwirtschaft. Verstärkt wurde diese Entwicklung durch die weitreichenden Einflussmöglichkeiten, über die viele Funktionshäftlinge verfügten. Auf diese Weise förderten die Vollmachten der Funktionshäftlinge die Herausbildung organisierter Strukturen, die es einzelnen Häftlingsgruppen gestatteten, sich gegenseitig bestimmte Posten und damit die Chance auf das Überleben zuzuspielen.
Im Rahmen des 71. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora bietet die Gedenkstätte folgende Veranstaltungen an: Sonntag, 10. April 2016 11.00 Uhr Gedenkveranstaltung KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora, rekonstruierte Baracke Anschließend Kranzniederlegung Gedenkplatz vor dem ehemaligen Krematorium 15.00 Uhr Gedenkveranstaltung am ehemaligen Außenlager Ellrich-Juliushütte Ellrich, Gedenkort Ellrich-Juliushütte Montag, 11. April 2016 11.00 Uhr Einweihung von Informationstafeln an ehemaligen Barackenstandorten KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora, ehemaliges Häftlingslager Anschließend Thematische Führung zur Neugestaltung im ehemaligen Häftlingslager Samstag, 16. April 2016 14.00 Uhr „Funktionshäftlinge und Kunst im KZ“ Sonderführung in der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora
Joy Kammin
Begleitveranstaltung zur Aufführung des Theaterstücks „Die Tänzerin von Auschwitz“.
Eine Kooperation zwischen der KZ-Gedenkstätte MittelbauDora und dem Theater Nordhausen. Die etwa vierstündige Führung wendet sich an alle historisch Interessierten und ist kostenfrei. Um vorherige Anmeldung wird gebeten: Telefon: 03631-495820, E-Mail: besucheranmeldung@dora.de
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MENSCH(ZU)SEIN
DIE STADTBIBLIOTHEK
von Lisa Ohl
„Warum hatte all dies geschehen müssen – warum? Nur weil ich die bin, die ich bin.“ Roosje Glaser
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Statt einfachhin zu sein, scheint der Mensch sein zu wollen, wer er ist. Er ist auf der Suche nach (s)einer Identität, der er sich durch allerlei Entwürfe nähert, gleich einem Künstler, der sich selbst portraitiert. Mal ähneln diese Entwürfe gedankenlosen, einlinigen Skizzen, mal sind sie wohlbedacht, detailliert und plastisch. Der Mensch wird zum Lebenskünstler. Geworfen in die ihr fremde Rolle der Jüdin, versucht Roosje ihren Selbst-Entwurf zu bewahren. Dies tut sie lachend, wenn sie die im Rassenwahn erdachten Beschränkungen ignoriert und in Cafés ungeniert vor Schildern mit der Aufschrift „Juden verboten!“ posiert und auch, wenn sie auf dem Dachboden ihres Elternhauses unerlaubterweise weiterhin Tanzunterricht gibt. Sie will leben. „Ich wäre gern ein Hündchen Recht puschelig und klein Mir scheint nichts angenehmer Als puschelig zu sein.“ Aus dem Gedicht „Tiere“ von Roosje Glaser Später als Häftling, als dieser Drang zu leben dem Willen zu überleben weichen muss, nimmt Roosje die Realität ihrer neuen Welt an, ohne sich ihr zu ergeben. Sie überlebt durch ihre Kunst, die nicht allein das Tanzen umfasst, sondern die Fähigkeit zur Annahme einer Gegenwart ohne Zukunft, den Optimismus absoluter Gegenwärtigkeit. Durch die Annahme oder Ablehnung einer Rolle nähert oder entfernt sich
„Rudolf Hagelstange“, Nikolaiplatz 1, Tel. (0 36 31) 69 62 62, hält zu „Die Tänzerin von Auschwitz“ u. a. folgende Medien bereit:
der Mensch von seiner inneren Identität, die im Wandel der Entwürfe einer Konstanten bedarf. Diese Konstante, der Wesensgrund des Selbst-Seins, ist für den Menschen die Menschlichkeit.
Literatur Glaser, Paul: Die Tänzerin von Auschwitz: die Geschichte einer unbeugsamen Frau/Paul Glaser. – 2. Aufl. – Berlin: Aufbau Verl., 2015. – 286 S.
Maldoom, Royston: Tanz um dein Leben: meine Arbeit – meine Geschichte/ Royston Maldoom. In Zusammenarbeit mit Jacalyn Carley. – 2. Aufl. – Frankfurt am Main: Fischer , 2010. – 315 S.
„Ich ließe mich dressieren Im Zirkus ne Saison Und wenn ich alles könnte Dann liefe ich davon.“ Aus dem Gedicht „Tiere“
Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem: ein Bericht von der Banalität des Bösen/Hannah Arendt. – 1. Aufl. – Leipzig: Reclam, 1990. – 468 S.
Wagner, Jens-Christian: Produktion des Todes/Jens-Christian Wagner; hrsg. von der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. – Göttingen: Wallstein Verlag, 2015. – 662 S. Enth. u.a.: Kulturelle Überlebensstrategien
Roosje lehnt alle Rollen ab, die man ihr aufzuzwingen versucht: Die Rolle der untermenschlichen Jüdin, diejenige des unterwürfigen Häftlings, aber auch die Rolle der egoistischen Opportunistin, die ihr ihre Mitgefangenen in Westerbork aufgrund ihrer Tätigkeit als Funktionshäftling (und Geliebte eines SSOffiziers) zuschreiben. Obwohl sie sich äußerlich den unmenschlichen Bedingungen der Lagerwelt anpasst, um zu überleben, bleibt Roosje Mensch: Im Umkleideraum vor einer Gaskammer, wo sie Handtücher an die Unwissenden verteilen muss und einem kleinen Jungen aufmunternd zulächelt in dem Wissen, dass sie seine Leiche kurze Zeit später ins Freie wird schaffen müssen. Wenn sie sich berechnend doch ehrlich fühlend auf eine Affäre mit einem SS-Offizier einlässt. Wenn sie tanzt. Mehr noch als die Kunst des Tanzens beherrscht Roosje jedoch die Kunst des Menschseins und des Menschbleibens. „Die Chance, je ein Tier zu sein Ist leider mehr als klein Die größte Kunst auf Erden Ist es, Mensch zu sein.“ Aus dem Gedicht „Tiere“
Arendt, Hannah: Eichmann war von empörender Dummheit: Gespräche und Briefe/Hannah Arendt; Joachim C. Fest. – München: Piper, 2011. – 206 S. Galliard-Risler, Francine: Todesmarsch in die Freiheit durch den Harz/Francine Galliard-Risler. – Sonnefeld: Iatros Verlag & Services, 2015. – 149 S. Koren, Yehuda: Im Herzen waren wir Riesen: die Überlebensgeschichte einer Liliputanerfamilie/Yehuda Koren; Eilat Negev. – Düsseldorf: ECON Verl., 2003. – 303 S.
Film Rhythm is it!/Regie: Thomas Grube u. Enrique Sánchez Lansch. – 2004. – 1 DVD Multimedia Zeugen der Shoah. Fliehen – Überleben – Widerstehen – Weiterleben. Lernsoftware mit Video-Interviews – Bonn: Bundeszentrale für pol. Bildung, 2012. – 4 DVD-ROM + 4 DVD-Video
Quellen: S. 3: Roosje Glaser zit. nach Paul Glaser in: Die Tänzerin von Auschwitz, Berlin 2015 (S. 74). S. 4: Roosje Glaser zit. nach www.tante-roosje.com, Roosje Glasers Leben wurde erzählt nach Paul Glaser: Die Tänzerin von Auschwitz, Berlin 2015. S. 5: Originalbild, entnommen aus Paul Glaser: Die Tänzerin von Auschwitz, Berlin 2015. S. 6: zusammengestellte unter Verwendung von Paul Glaser: Die Tänzerin von Auschwitz, Berlin 2015. S. 10, 11: zit. nach Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München/Berlin 1964 (S. 364). Sowie Roosje Glaser zit. nach Paul Glaser in: Die Tänzerin von Auschwitz, Berlin 2015 (Seiten 168 und 163). S. 14: Roosje Glaser zit. nach Paul Glaser in: Die Tänzerin von Auschwitz, Berlin 2015 (Seiten 69 und 282). S. 16: zit. nach Sachs, Nelly: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden, Berlin 2010 (S. 36f ) Die Probenbilder entstanden zur ersten Kostümprobe. Urheber ist András Dobi (www.adobivisual.com). Der Abdruck des Bildes von Rosa Glaser erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Paul Glaser.
„O wir hilflosen Trauerfalter Eingefangen auf einem Stern, der ruhig weiterbrennt Wenn wir in Höllen tanzen müssen. Unsere Marionettenspieler wissen nur noch den Tod.“ Nelly Sachs
Impressum: Herausgeber: Theater Nordhausen/Loh-Orchester Sondershausen GmbH Intendant: Lars Tietje, Käthe-Kollwitz-Str. 15, 99734 Nordhausen, Tel.: (0 36 31) 62 60-0, Programmheft Nr. 9 der Spielzeit 2015/2016, Premiere: 7. April 2016 Redaktion und Gestaltung: Lisa Ohl und Daniela Zinner Layout: Landsiedel | Müller | Flagmeyer, Nordhausen