Wohlstandsverwahrlosung - Nr. 23

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23. Ausgabe November 2012

WOHLSTANDS VERWAHRLOSUNG

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Die grosse Wohlstandsverwahrlosungs-Liste

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Don't trust anyone

Woher unsere Generation den genüsslichen Lebensstil kennt.

Was zum Teufel hat Lana Del Rey mit Wohlstandsverwahrlosung zu tun?

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Nicht unser Niveau «Ran an die Möpse» - jung, wild und sexy ist nicht nur dummes Trash-Fernsehen.


INHALT

23. Ausgabe, November 2012

EDITORIAL

IMPRESSUM

seite 03: wohlstandsverwahrlosung

REDAKTION verein dieperspektive, zentralstrasse 167, simon jacoby, conradin zellweger, manuel perriard, 8003 zürich TEXT

HINTERGRUND

p.w. | s.a.j. | c.w. | c.z. | j.n. | m.c. | m.b. | l.h. | d.h. | d.v. | a.h.b. ILLUSTRATION / BILD

seite 04: das duell #13 - wohlstandsverwahrlosung seite 05: der unsinn der politikvermessung

s.e. | d.r. COVER linda s. LAYOUT

HEIMAT

per rjard LEKTORAT

seite 06: die grosse wohlstandsverwahrlosungs-liste seite 07: wohlstandsverwahrlosung seite 08: ich steh auf seite 08: wann bin ich kapitalist geworden seite 09: don't trust anyone seite 10: nicht unser niveau seite 11: der kreuzritter des kapitalismus seite 11: easy scheisse seite 12: suicidal pill

cornelia reinhard & noemi heule WEBDESIGN conradin zellweger REDAKTIONSMITARBEITER selina howald & jonas ritscher & konstantin furrer DRUCK zds zeitungsdruck schaffhausen ag AUFLAGE 4000 ARTIKEL EINSENDEN artikel@dieperspektive.ch

KULTUR

WERBUNG simon@dieperspektive.ch

seite 13: die entlegene tonleiter seite 14: es duftet nach advent seite 15: fwz - first world zombie seite 16: leserbrief

ABO abo@dieperspektive.ch LESERBRIEFE leserbriefe@dieperspektive.ch THEMA DER NÄCHSTEN AUSGABE stress GÖNNERKONTO pc 87-85011-6, vermerk: gern geschehen REDAKTIONSSCHLUSS donnerstag 15. november 2012, 23.55 uhr

Illustratorin des Monats

Name: Linda S. Lebt und studiert in: Zürich Über mich; Genauso wie Du, bin auch ich wohlstandsverwahrlost. Seiten: 1 | 9 & 12 Vielen Dank an Linda S. für die Illustrationen zu den Texten und das Titelbild. Möchtest auch du das Titelbild gestalten und die Texte grafische unterlegen? Melde dich auf info@dieperspektive.ch

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EDITORIAL

23. Ausgabe, November 2012

Verwahrloste Gedankenspiele Machen wir uns nichts vor. Diese Zeitung ist ein absolutes Wohlstandsprodukt. Böse als «gschpürschmi, fühlsch mi Zitig» betitelt, oder von besser Gesinnten als «Plattform für spezielle Denker» bezeichnet. Was erbringt dieperspektive für einen Nutzen? Wohl keinen grossen. Vielleicht regen wir ein paar Leute auf, oder zum denken an. [Isch ebä gäil will mer sind wie mer sind] Wir existieren auf dem Wohlstand unserer Vorfahren. Sie haben unsere Heimat so aufgebaut, dass wir nun tun und lassen können, was wir gerade wollen. [Gschisse tue und umepurzle] Ob wir nun jeden Abend durch Beizen zechen, einen eigenen Blogg schreiben oder in einem Kaffee die Zeit zwischen dem ersten und zweiten Studium überbrücken – egal. Die Miete wird anfangs Monats bezahlt. Wenns knapp wird ist‘s scheisse, aber wie soll uns das Angst machen, wenn wir in drei, vier Jahren 8‘000 CHF aufwärts verdienen? Also seinen Freunden schön weiter Gin-Tonics für 16 Stutz spendieren, sonst hält man diese Beats ja kaum aus. Sind wir Verwahrlost? Wurde uns, als kleine Goofen, zu viel Playmobil gekauft? Warum lassen wir uns jetzt so gehen? Weil’s nicht darauf an kommt. Am morgen geht der Strassenputzer durch die Langstrasse und liest unsere Scherben zusammen. [Was bruchi? Schlafe frässe schieb Panik ume, es chunt scho guet, aber mues zerscht no Tusche] Wir sind Wohlstandsverwahrlost, weil wir alles können, aber nichts

müssen. Wir können sinnvolles tun – wir können. Aber wenn man nichts muss, verliert die Freiheit manchmal den Reiz etwas konstruktives zu tun. Ich könnte mir jetzt weiter über Wohlstandsverwahrlosung Gedanken machen, dabei käme vielleicht noch das eine oder andere schlaue heraus. Aber ich muss nicht. [Hier wäre die äusserst durchdachte Analyse über Wohlstandsverwahrlosung. Aber der Redaktor ist vom Lied «UFO Jugend» abgelenkt worden und zappt jetzt auf Youtube umher: h t t p : / / w w w. y o u t u b e . c o m / w a t c h ? v = b f t 2 h I m h Q r k ]

Conradin Zellweger Für die Redaktion

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HINTERGRUND 23. Ausgabe, November 2012

Das Duell #13 - Wohlstandsverwahrlosung {Text} * Simon A. Jacoby und Peter Werder

Simon Jacoby: Lieber Herr Werder, im November geht es um die Wohlstandsverwahrlosung. Wir haben alles, während andere nichts haben. Ich höre Sie schon rufen: «Sie und ihre linken Freunde mit ihrem ewigen schlechten Gewissen». Aber schön der Reihe nach. Sie besitzen zwei Mobiltelefone. Brauchen Sie das wirklich? Wie viele Gadgets haben Sie sonst noch? Peter Werder: Ein Mobiltelefon fürs Geschäft, eines privat - tatsächlich brauche ich beide. Ich habe noch viele weitere Gadgets, die mir teilweise viel Freude bereiten. Und jetzt? SJ: Geht es um Freude? Geht es darum, was Sie brauchen? Ich weiss es nicht. Aber was ich weiss ist, dass unser ganzer Elektroschrott nachher irgendwo in Afrika landet. Dort also, wo alle fünf Sekunden ein Kind verhungert. Jean Ziegler sagt immer und zu recht: «Wir lassen sie verhungern.» Also auch Sie, Herr Werder, haben alle fünf Sekunden ein Kind auf dem Gewissen. Ist das egal, solange Ihnen die Geräte Freude bereiten? PW: Es ist wichtig, dass Elektroschrott richtig entsorgt und wiederverwertet wird. Auch in Afrika kann das Arbeitsplätze schaffen. Wenn Elektroschrott nicht fachgerecht entsorgt wird, ist das unverantwortlich - ob in Afrika oder Europa. Ich sehe aber gerade den Zusammenhang zum Hungertod nicht - ist das linke Logik? Würde das heissen: Kaufe ich ein Gadget weniger, rette ich einem afrikanischen Kind das Leben? SJ: Sie wissen genau, was ich meine. Sie müssen sich da nicht doof stellen, Herr Werder. Den Link zu Afrika mit dem Elektroschrott habe ich gemacht, weil es ein sehr kleveres Sinnbild ist. Ein Sinnbild dafür, dass wir uns unseren Wohlstand und die Wohlstandsverwahrlosung nur auf Kosten von anderen leisten können. Ja, wenn Sie und ich weniger Elektrogeräte kaufen, retten wir Leben. PW: Nein. Eben nicht. Das ist genau der Punkt: Wenn man die leicht dümmliche Sozialromantik mal mit etwas gesundem Menschenverstand hinterfragt, dann kommt eben nichts mehr. Kaufen wir weniger, geht es keinem Kind besser. Wir brauchen keine Sinnbilder, wir brauchen Wirksamkeit. SJ: Also mehr kaufen. Jaja, das ist Ihr grosser neoliberaler Traum. Alle konsumieren und allen geht es besser. Sehen Sie es doch endlich ein, der Kapitalismus funktioniert nicht. Nahrungsmittelspekulation und Kinderarbeit

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- sind das gute Beispiele? Entweder habe ich recht, oder Sie müssen mich belehren. PW: Wirksamkeit passiert im Konkreten, nicht im Abstrakten. Natürlich ist Kinderarbeit schlimm, aber genauso schlimm ist es, wenn sie Fabriken schliessen, in denen Kinder gearbeitet und mit ihrem Einkommen ihre Familien ernährt haben. Sie brauchen in diesem konkreten Fall einen schlauen Übergang - weg von der Kinderarbeit. Diese Kinder brauchen zum Beispiel eine Ausbildung. SJ: Da bin ich ausnahmsweise mit Ihnen einverstanden. PW: Der Kapitalismus funktioniert übrigens super. Noch nie ging es so vielen Menschen so gut. Noch nie waren die Armen so reich und den Reichen ging’s auch nie besser. Es gibt vor allem kein besseres System als den Kapitalismus. SJ: Blabla. Und noch nie war die Schere zwischen arm und reich so gross wie heute. Und es ist im Fall nicht alles schön und gut. Noch ein komisches Beispiel: Afrikaner bauen Soja an, damit wir Bio-Diesel machen können. Der gleiche Afrikaner kann sich aber kein Soja mehr leisten, weil wir mit seinem Essen spekulieren und Gewinne einfahren müssen. Haben Sie noch was zur Nahrungsmittelspekulation? Unterschreiben Sie die Juso-Initiative? Oder wollen Sie keine gerechte Welt? PW: Die Schere ist gross, und das ist auch ok, denn den Armen geht es immer besser. Hören Sie auf mit diesem Gerechtigkeitswahn - es gibt keine solche Gerechtigkeit. Was Sie am Beispiel der Nahrungsmittelspekulation ansprechen, ist das Problem des Anstandes. Während Sie und die Juso-Guerillas nach Vorschriften schreien, sehe ich auch da einen Markt, wo Anstand und Wettbewerb spielen. DAS, lieber Herr Jacoby, ist eben der Unterschied: Ich verfalle nicht in diese selber gestrickte Bio-Aufgeregtheit. Ich versuche, das Problem auf Basis von Anreizen zu lösen. SJ: Also gut, ich spiele da mal kurz mit. Wie wollen Sie den Afrikaner reizen, damit er und seine Kinder essen können? Da können Sie Anreize setzen, wo Sie wollen. Es bringt nichts, solange Glencore und Kollegen die Welt kontrollieren.

engagieren Sie sich für die Sache. Die Anreize braucht es bei uns: Richtiges Verhalten wird belohnt. Gute Beispiele: Fairtrade, Ökostrom. Wer darauf setzt, tut etwas Gutes. Das gibt Anerkennung. SJ: Genau, engagieren Sie sich. Empören Sie sich. Stehen Sie ein, für das, was richtig und wichtig ist. Und ja, belohnen Sie gutes Verhalten. Nur leider, Herr Werder, funktioniert das wohl nur in Ihrem abgehobenen Rotary-Club. In der richtigen Welt reicht das einfach nicht. Falsches Handeln muss betraft und verboten werden. Falsch ist es dann, wenn andere benachteiligt sind. Ich spreche da von Chancengleichheit. Und falsch ist es dann, wenn unser ganzer Wohlstand, den wir nicht mal brauchen, auf dem Buckel der Ärmsten produziert wird. Da reichen Anreize nicht, weil Anreize immer auf Gewinn aus sind. Wo jemand gewinnt, muss auch jemand verlieren. Das ist in jedem Spiel so. PW: Wenn Sie Vorschriften und Verbote einführen, dann gibt es immer Leute, die das hintergehen. DAS ist das Problem. Sie produzieren mit Ihrem Ansatz noch viel mehr Verlierer – vor allem aber verdeckt. Da habe ich es lieber offen. Apropos Rotary: Wir haben weltweit Polio ausgerottet. Ganz freiwillig. Und pragmatisch. Ohne sozialreligiös-rhetorische Nebelgranaten. SJ: Wo Menschen zusammenleben, braucht es Respekt und Regeln. Sonst sind wir bei Hobbes im Naturzustand. Und das bedeutet Krieg. Da sind wir jetzt. Herr Werder, ich gebe Ihnen in allen Punkten recht. (Beim lokalen Schiesswettbewerb hat Simon Jacoby gegen Peter Werder verloren. Der Unterlegene – das war die Abmachung – muss dem Gewinner in allen Punkten recht geben.)

Das Duell: Beim Duell stehen sich jeden Monat Peter Werder und ein Mitglied der Redaktion zum aktuellen Thema der Ausgabe gegenüber.

* Simon A. Jacoby, 23, Co-Chefredaktor von dieperspektive, Student der Politologie und Publizistik- & Kommunikationswissenschaft und aktiver Politiker, aus Zürich

PW: Nein, falsche Frage. Es nützt nichts, wenn Sie auf Handy, Nespresso-Kapseln und Ferien verzichten. Lernen Sie was Anständiges, machen Sie Politik (in der richtigen Partei) und

* Dr. Peter Werder ist bürgerlicher Politiker, Dozent an der Universität Zürich und leitet die Kommunikation eines Konzerns im Gesundheitswesen

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POLITKOLUMNE 23. Ausgabe, November 2012

Der Unsinn der Politikvermessung {Text} * Cédric Wermuth

8.6, das ist also mein offiziell vermessener politischer Standpunkt gemäss Politrating der NZZ. Damit gibt es genau sieben Nationalrätinnen und Nationalräte, die noch weiter links stehen als ich und logischerweise 192 die weiter rechts positioniert sind. Gut, dass wir das nun alle wissen – könnte man meinen. Schade nur, dass solche Politikvermessungen glatter Unsinn sind. Der einleuchtendste Grund, warum solche vermeintlich objektiven Statistiken in die Irre führen liegt an der Parlamentsarbeit selber. Diese bringt es logischerweise mit sich, dass Taktik und Strategie eine bedeutende Rolle spielen. Ob ich einem Kompromissvorschlag zustimmen, kann wesentlich davon abhängen, was die Alternative ist. Zusätzlich sind beispielsweise die Erläuterungen, die der oder die zuständige BundesrätIn in der Debatte gibt, genauso wichtig. Kündigt der Bundesrat an, die Verordnung für ein Gesetz in eine bestimmte Richtung zu lenken, kann dies das Abstimmungsverhalten ganz unabhängig vom

vorliegenden Gesetzestext beeinflussen. Solche «Ratings» bilden also die Parlamentsrealität nicht nur ungenau, sondern sogar falsch ab. Solche Missverständnisse passieren, wenn man Wissenschaft mit Excel-Tabellen im Hinterzimmer betreibt. Viel schlimmer ist aber die dahinter liegende, verkehrte Vorstellung von Politikwissenschaft im Generellen. In vermeintlicher «Objektivität» wird der Nullpunkt in der so genannten «politischen Mitte» festgelegt. Also ob es so was wie eine objektiv feststellbare «Mitte» an politischen Positionen gäbe. Die Mitte ist vielmehr das Ergebnis widerstreitender Deutungshoheiten um die Politik. Ein einfaches Beispiel: Vor 40 Jahren war es absolut «Mitte» gegen das Frauenstimmrecht zu sein – heute könnte sich kein CVPler oder FDPler diese Position mehr leisten. Die «Politikwissenschafter» hinter solchen Ratings vergessen, dass wir keine Sozialwissenschaften von einem objektiven Standpunkt aus betreiben können. Die Art und Weise, wie wir die Frage stellen

(Was zum Beispiel ist denn links?), beeinflusst bereits das Resultat. Im Endeffekt ist damit niemandem geholfen – oder doch. Die Ratings ersparen den Wissenschaftern und leider auch vielen Journalisten sich mit den Positionen der einzelnen ParlamentarierInnen auseinandersetzen zu müssen. Man hat ja eine objektive Zahl - dass sie wenig aussagt bis falsch ist, scheint niemanden zu stören.

* Cédric Wermuth ist sozialdemokratischer Nationalrat aus dem Kanton Aargau, er schreibt monatlich zum Thema Politik. Antworte Cédric Wermuth auf leserbriefe@dieperspektive.ch.

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WOHLSTANDSVERWAHRLOSUNG 23. Ausgabe, November 2012

Die grosse Wohlstandsverwahrlosungs-Liste {Text} * Conradin Zellweger

Von wo hat unsere Generation eigentlich ihren Lebensstil? Diverse Lieder, Bücher, Filme, Aussagen und Bilder beschäftigen sich mit der Wohlstandsverwahrlosung. Wir haben dir einige Leckerbissen zusammengestellt:

sten eine neuartige Gehirnwäsche ausprobiert. Als Folge erträgt er keine Gewalt mehr und möchte sich das Leben nehmen. Da hat sich Burgess um 1962 eine düstere Zukunft für uns ausgemalt.

neues Phänomen. Der Filmklassiker "Das grosse Fressen" von 1973 zeigt drei Wohlstandsmänner, welche ihrem Leben ein Ende setzen wollen. Was bietet sich dazu mehr an, als sich zu überfressen und der Wollust hinzugeben?

Musik Larry F. - Lieder der versch(n)upften Zürcher Jugend Zürich gilt als Metropole der Wohlstandsverwahrlosung. Im Zürcher Abwasser wird zum Beispiel die höchste Kokainkonzentration weltweit nachgewiesen. Larry F., ein junger Zürcher Hip-Hopper hat sich seiner Heimatstadt musikalisch angenommen. Trotz stimmungshebenden Beats lassen die Texte wohl dem einen oder anderen einen Klos im Hals zurück. Besonders empfehlenswert sind die Songs "Ufo Jugend" oder "Schebegail". h t t p :/ / ww w. yo u tu b e. c om / w a t c h ? v = b f t 2 h I m h Q r k

Bilder

h t t p :/ / ww w. yo u tu b e. c om / w a t c h ? v = Q B s I 0 a Q u 9 b 4

Die spinnen die Römer Die Römer der Verfallszeit - Thomas Couture 1815-1879. Scheinbar ist Wohlstandsverwahrlosung nicht nur eine aktuelle Modeerscheinung. Schon die wohlhabenden Römer trieben es bunt. Die Welt geht unter, doch bei uns ist Party Hally Gally Auch in Deutschland findet die Verwahrlosung statt. So singen Culcha Candela in "Schöne neue Welt" über Drogen, Schönheits-OPs und AKWs. Der Refrain "Wir feiern bis alles zerfällt" ist ein schöner Ausdruck der Wohlstandsverwahrlosung. h t t p :/ / ww w. yo u tu b e. c om / w a t c h ? v = V Q o Z a Q e _ R e U Buch Die Wohlstands-Uhr tickt Die schockierende Zukunftsprognose im Roman von Anthony Burgess "A Clockwork Orange" lässt einem das Blut in den Adern gefrieren. Aus Spass wird geprügelt und Drogen konsumiert. Im Gefängnis wird am Protagoni-

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Was Grosseltern auf Youtube dazu sagen Sucht man auf Youtube «Wohlstandsverwahrlosung» stösst man an erster Stelle auf einen komischen Kauz namens Klaus Rainer Röhl, ein in die Jahre gekommener deutscher Journalist. Ein Opa, der sich über die wohlstandsverwahrloste Jugend erzürnt. Ob die Kids für seine Moralpredigt empfänglich sind, bleibt ungewiss. Ganze 38 Mal wurde das Video nach der Veröffentlichung angeschaut. h t t p : / / w w w. y o u t u b e . c o m / w a t c h ? v = m 5 X G 0 X m y 8 m Y Zitate «Wohlstand ist das Durchgangsstudium von der Armut zur Unzufriedenheit.» Helmar Nahr (*1931), einem deutschen Naturwissenschaftler.

Die Bildungselite macht’s vor Ein Donnerstag mitten im Semester 11:00 Uhr, Zürcher Studenten essen Frühstück.

«Geld allein macht nicht glücklich. Aber es gestattet immerhin, auf angenehme Weise unglücklich zu sein.» Jean Marais (1913-98) einem französischer Schauspieler.

Filme Das grosse Fressen Nein, Wohlstandsverwahrlosung ist kein allzu

* Conradin Zellweger, 23, Student in Publizistik & Kommunikation, Redaktor dieperspektive, aus Zürich

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WOHLSTANDSVERWAHRLOSUNG 23. Ausgabe, November 2012

{Foto} Stassi Eleonora

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WOHLSTANDSVERWAHRLOSUNG 23. Ausgabe, November 2012

Ich stehe auf {Text} * Simon A. Jacoby

Ich stehe auf, dusche und habe die Wahl zwischen drei Duschmitteln. Alle fünf Sekunden stirbt ein Kind. Ich frühstücke Brot, Haferflocken, Apfel. Alle fünf Sekunden stirbt ein Kind. Ich ziehe mich an und mache mich auf den Weg an die Universität. Unterwegs lasse ich am Automat eine Hunderternote raus. In der Apotheke kaufe ich mir Lutschtabletten, damit ich im Winter nicht krank werde. Alle fünf Sekunden stirbt ein Kind. Im Zug höre ich Manu Chao. Er singt «Panik, Panik». Alle fünf Sekunden stirbt ein Kind. Ich trinke einen Kaffee, rauche eine Zigarette

und schaue auf dem iPhone nach der Uhrzeit. Alle fünf Sekunden stirbt ein Kind. Im Hörsaal klappe ich den neuen und flachen Laptop auf und nicke auf dem Tisch ein. Alle fünf Sekunden stirbt ein Kind. Ich sitze im Tram und lese eine politische Zeitschrift. Während ich einen Artikel lese, lasse ich 60 Kinder verhungern. Alle fünf Sekunden stirbt ein Kind. Ich bestelle einen Kebab ohne Zwiebeln, damit ich beim Küssen nicht stinke. Später gibt es einen Cappuccino. Alle fünf Sekunden stirbt ein Kind. Eine Kürbissuppe, Fussball an die Wand projiziert mit einem HD-Beamer. Dazu ein Bier aus

der Dose. Alle fünf Sekunden stirbt ein Kind. Während Messi spielt lasse ich 1080 Kinder verhungern. Alle fünf Sekunden stirbt ein Kind. Ich fahre mit dem Velo heim, eigentlich könnte ich mir ein neues kaufen. Alle fünf Sekunden stirbt ein Kind. Obwohl der Text mit «Ich» beginnt, geht es nicht um mich.

* Simon A. Jacoby, 23, Co-Chefredaktor von dieperspektive, Student der Politologie und Publizistik- & Kommunikationswissenschaft und aktiver Politiker, aus Zürich

Wann bin ich Kapitalist geworden {Text} * Julia Nauer

Ich überlegte mir den Pappbecher vor der knienden, vornübergebeugten Bettlerin mit meinem rechten Fuss wegzutreten. Mit meinem rechten Fuss, der in einem neugekauften Designerschuh steckte. Einfach reintreten, so dass das wenige Kleingeld auf der Strasse zerstreut würde mit lautem Geklimper. Alle zehn Meter hat es dieselbe Bettlerin auf der Champs-Elysées. Ich frage mich, ob sie dieses Geschäftsmodell schon patentiert haben. Und ich ohne richtigen Job, mal ein bisschen Fotoshooting, ein bisschen Hostessing, ich mit meinen neuen Schuhen, finanziert aus Papas Tasche, ich überlegte mir das wenige Kleingeld mit Füssen zu treten. Als ich in Paris angekommen war, hatte ich mir selbst das Verbot auferlegt, zu Starbucks zu gehen. Erstens: ScheisskapitalistenGrosskette, zweitens: du bist in Paris, nirgends gibt es so viele Strassenkaffees. Und ich begann wieder zu rauchen, trank Kaffee an den runden Tischchen, die man zuhauf an Strassenecken und den sie abbildenden Postkarten findet. Eine solche schrieb ich an einem dieser Tischchen, adressierte sie an meine Grossmutter und

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Schlimmeres. Denn der Druck zermürbt dir den klaren Kopf, der dir den Weg zeigen könnte und so bleiben unzählige Versuche, noch unzähligere Möglichkeiten und ganz zuletzt die Leere, das schlechte Gewissen, mit dem du allein bleibst. Denn in Paris ist es selten, dass jemand Zeit hat und noch seltener, dass dir jemand diese Zeit schenkt um dir zuzuhören. Bei neuen Be«der Druck zermürbt dir den klaren Kopf, kanntschaften verhält es sich so, dass sie Bemerkungen über meider dir den Weg zeigen könnte und so nen Akzent machen und zu Bebleiben unzählige Versuche, noch unzählanglosigkeiten oder Beschwerden ligere Möglichkeiten und ganz zuletzt die über ihre Arbeit, die Regierung oder das Wetter wechseln. Da setLeere, das schlechte Gewissen, mit dem ze ich mich lieber mit einem Tall du allein bleibst.» Soy Cappuccino und einer Zigarette an die Seine und schweige in die Gewässer hinein.

war zufrieden, denn Telefonate mit ihr wurden von Monat zu Monat unerträglicher. Senil und schwerhörig und die Kommunikation stirbt zuerst. Ich telefoniere viel mit Mama. Die Sehnsucht nach der Mutterbrust, gestillt mit

täglichen Telefonaten aus der tummelnden Einsamkeit von Paris; ich spreche aus der Seele, aus der suchenden, teils verlorenen. Ich sage ihr: Alles zu haben. Zeit, Geld, Talente, das Vertrauen deiner Eltern(!). Es gibt nichts

* Julia Nauer, 24, germanistik-,philosophiestudentin mit 60ects wirtschaft. hab zudem eine vergangenheit als profitänzerin und theaterfrau

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WOHLSTANDSVERWAHRLOSUNG 23. Ausgabe, November 2012

Don't trust anyone {Text} * Monsieur Croche {Illustration} Linda S.

Ich komme diese Tage nicht um sie herum: Lana del Rey, das singende Schlauchboot-Gesicht wirbt seit neustem für H&M und ist deshalb auf unzähligen Werbeflächen abgebildet. So kommt es, dass ich sie manchmal notgedrungen studiere. Wenn ich auf den Bus warten muss, wenn ich Vorlesungen schwänze oder mich ziellos in der Stadt umhertreibe. Ich begreife diese Person nicht wirklich. Zwar ist mir schon klar, dass sie nur ein Kunstobjekt ist. Dennoch verkörpert sie etwas Reales und widerspiegelt den Zeitgeist. Ihr ganzes Erscheinen wirkt pathologisch; so als ob irgendein einschneidendes Erlebnis ihre Psyche tiefgreifend verstört hätte. Eine Borderline-Persönlichkeit — jederzeit bereit, sich oder ihrem Gegenüber etwas anzutun. Unberechenbar, wie die Protagonisten in einem David-Lynch-Film (DavidLynch-Filme = Überbewertet, im Fall). Ferner sticht ein, ihr Handrücken zierendes, Tattoo ins Auge. In Schnörkelschrift steht da «Don‘t trust anyone» geschrieben. Diese Tätowierung ist üblich bei Gefängnisinsassen; doch was verbindet Lana del Rey mit einem Knacki? Der Sinn will mir zunächst nicht recht klar werden. Ich überlege, schlendere

«Die Avantgarde junger Menschen umgibt sich diese Tage gerne mit dem Anschein des Anrüchigen. Suicide Boys and Girls.»

herum und gebe den Hans Guck-in-die-Luft. Dann plötzlich erschliesst sich mir das Bild zu einem ganzen und ich begreife die Del Rey und ihre Verbindung zum Zeitgeist: Die Avantgarde junger Menschen umgibt sich diese Tage gerne mit dem Anschein des Anrüchigen. Suicide Boys and Girls tragen Tattoos und üben sich im Habitus jener, die das Leben gezeichnet hat. Manche von ihnen sind es wohl tatsächlich, wohingegen ein Grossteil von ihnen in normalen, funktionierenden Familien aufgewachsen ist und sich vom Chic des Abgefuckten anziehen lässt und mit ihm - wage ich zu behaupten - gerne etwas angibt. Vermutlich wird es nun langsam Zeit, eine Verbindung zum Titelthema dieser Ausgabe zu ziehen: Wohlstandsverwahrlosung. Damit bezeichnet man gemeinhin den Umstand, dass Eltern zwar für das materielle

Wohl ihrer Kinder sorgen, aber emotionale Zuwendung und Liebe vernachlässigen. Dies wiederum ruft, so die Theorie, bei den Sprösslingen allerlei psychische Störungen hervor, wobei Reizsucht und die Fixierung auf das Lustprinzip als Beispiele zu nennen wären. Dies führt vermehrt dazu, dass wohlstandsverwahrloste Kinder früher oder später mit Drogen in Kontakt und mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Sind nun also junge Menschen mit auffallenden Tätowierungen wohlstandsverwahrlost? Natürlich nicht. Die Jugendkultur hat sich bloss beim Habitus - also beim Aussehen und Verhalten - Wohlstandsverwahrloster bedient und diesen ästhetisiert. Man kann über diese Entwicklung der Jugendkultur denken, was man will. Sicherlich aber ist sie kein Symptom für eine zunehmende Wohlstandsverwahrlosung. Im Fall!

* Monsieur Croche, 26, ist Student der Nabelschau und Nestbeschmutzerei. Er bloggt unter www.monsieurcroche.ch

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WOHLSTANDSVERWAHRLOSUNG 23. Ausgabe, November 2012

Nicht unser Niveau {Text} * Marco Büsch

«Nicht unser Niveau!» – Warum ich «Jung, wild & sexy» schaue Wenn ich an Wohlstandsverwahrlosung denke, denke ich sofort an «Jung, wild & sexy». JWS ist ein Phänomen. Viele haben es geschaut, noch mehr haben es versucht zu ignorieren. Aber alle wussten Bescheid. Diese Sendung polarisierte wie kaum ein anderes Sendegefäss in der spärlichen Schweizer Fernsehlandschaft. Und nun ist auch die dritte Staffel vorbei und ich weiss nicht recht, was ich jetzt mit meinem freigewordenen Donnerstagabend anfangen soll. Denn ich bin ein bekennender Fan der vielleicht besten Trash-TV-Sendung der Schweizer Fernsehgeschichte. Verzeiht mir deshalb, wenn der Artikel zu einer Art Huldigung verkommt. Ich versuche halbwegs sachlich zu argumentieren. «Ran an die Möpse!» – kultiger Trash Es ist billig produziert, die Protagonisten sind Laienschauspieler und die Dialoge sind grösstenteils gescriptet. Trotzdem tut die Sendung so, als würde sie direkt aus dem Wochenendleben der heutigen Jugend berichten. Nennen wir das Kind also gleich beim Namen: JWS ist feinster Trash-TV. Da wurde einfach die unterste Schublade des Schweizer Fernsehens geöffnet und lässt sich seit nunmehr drei Staffeln nicht mehr schliessen. Dabei läuft die Sendung immer ungefähr gleich ab: Egal ob in Basel, Luzern, Wien oder Lloret de Mar, die Protagonisten werden stets dabei gefilmt, wie sie in den Ausgang gehen, eigentlich immer mit dem Ziel an diesem Abend eine flachzulegen beziehungsweise flachgelegt zu werden. Das passiert in den seltensten Fällen und so enden die meisten Folgen mit Frustration, Enttäuschung, gegenseitigem auf die Schulter Klopfen und Kopfhochparolen. Dazwischen fallen Sprüche wie «Diese Frauen haben nicht unser Niveau: Viel zu kleine Brüste!» oder «Blasen ist meine Leidenschaft». Diese geben dem Ganzen erst die nötige Würze. So primitiv und peinlich war Schweizer Fernsehen selten zuvor und trotzdem - oder gerade deswegen - weiss so gut wie jeder junge Schweizer zwischen 15 und 25, was «de Blick» von Güney ist und kann Cyrills «Ran an die Möpse!»-Spruch ohne mit der Wimper zu zucken zitieren. War die erste Staffel zu schauen noch mit einem äusserst starken gesellschaftlichen Gruppenzwang verbunden, so war bei der zweiten ein bisschen die Luft draussen und nun bei der dritten Staffel schauen tatsächlich nur noch die Hardcore-Fans mit. Unter anderem ich. Was genau in der Staffel passiert, wissen aber dann wiederum doch die Meisten. Kommen wir aber nun zur Kernfrage dieses Artikels: Warum tue ich mir eine solche Sendung überhaupt an? Viele Leute haben mich

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das seit Anbeginn der Sendung gefragt und ich hatte selten eine passende Antwort. Ich komme nun zum Schluss, dass es eine Mischung aus verschiedenen Gründen ist: In erster Linie gelingt es JWS eine unfreiwillige Komik zu schaffen, wie sie kaum eine andere Sendung überbieten kann. Zum Zweiten fragt man sich stets, wie weit sich die Protagonisten denn noch erniedrigen wollen und wird dann immer wieder überrascht, dass es nicht wenige Menschen gibt, die für ein bisschen Berühmtheit so ziemlich alles machen würden. Ganz nach dem Motto: Auch schlechte Publicity ist Publicity. Wobei

en Ideen für JWS suchen und plötzlich einer schreit «Heureka! Ich habs! Lassen wir die eine sagen, dass Blasen ihre Leidenschaft sei!» – und die anderen klatschen, klopfen ihm (ihr) auf die Schulter und freuen sich nach Feierabend über den erfolgreichen und produktiven Arbeitstag. Entschuldigung, aber wenn das die Zukunft des Fernsehens ist, dann schmeiss ich alles hin und werde Dialogschreiber für solche Serien. Vielleicht für Staffel 16 von JWS. JWS ist kaum mit der Realität vergleichbar, auch wenn ältere Semester anderes behaupten würden. Jedoch findet man sich zwischen

«Sich vorzustellen, dass fünf bis zehn erwachsene Männer (vielleicht auch Frauen?) an einem Tisch sitzen und hartnäckig nach neuen Ideen für JWS suchen und plötzlich einer schreit ‹Heureka! Ich habs! Lassen wir die eine sagen, dass Blasen ihre Leidenschaft sei!›» man nicht weiss, wie viel Geld die Protagonisten hinter den Kulissen dafür erhalten. Hoffen wir für sie, dass es sich um Unsummen handelt. Ich gebe zu, es ist schon ein bisschen voyeuristisch, sich diese Sendung anzusehen, mit dem feinen Unterschied, dass zumindest ich meistens mehr zu sehen bekomme als ich eigentlich sehen will. Man fasst sich an den Kopf, spürt eine gewisse Fremdscham aufkommen, kann aber nicht wegschauen – wie bei einem Autounfall. So ungefähr ist das Sendegefäss JWS zu verstehen. «Blick am Abend» im TV-Format Eine allgemeine Theorie des Erfolgs des TrashTV ist ja, dass sich die Zuschauer danach besser fühlen, im Wissen, dass es da draussen Menschen gibt, denen es noch schlechter geht, die noch dümmer und peinlicher sind. Das ist ein sehr beruhigendes und gutes Gefühl. Dies gilt aber bei JWS nur bedingt, denn alle Zuschauer wissen ja, dass das alles nur gespielt ist. Der interessante Punkt dabei ist, dass niemand genau weiss bis zu welchem Grad es gespielt ist. Wenn 20Min und «Blick am Abend» nach und während der dritten Staffel über die Protagonisten berichten, sie interviewen und diese dann zu Protokoll geben, die einen seien nun ein Pärchen, verschwimmt das Gespielte mit der Realität. Aber auch hier weiss man nicht, inwieweit auch das nur gespielt ist. Und so fällt es dem Zuschauer zuweilen schwer, eine klare Grenze zwischen gespieltem und tatsächlichem peinlichem Gehabe zu erkennen. Aber genau das macht es für mich so faszinierend: Sich zu überlegen, wieviel davon gespielt ist. Und vor allem sich vorzustellen, dass fünf bis zehn erwachsene Männer (vielleicht auch Frauen?) an einem Tisch sitzen und hartnäckig nach neu-

den Zeilen, oder besser zwischen den Szenen, manchmal wieder, denn jedem, der jemals betrunken im Nachtleben umhergetorkelt ist, kommt die eine oder andere Szene peinlich vertraut vor. Vielleicht in der Sendung ein wenig mehr aufgebauscht, aber grundsätzlich vertraut. Dabei hilft auch, dass die Protagonisten schweizerdeutsch sprechen. Bei vergleichbaren deutschen Sendungen wie «Berlin – Tag & Nacht» taucht stets das Argument auf, dass das halt die Deutschen seien und die Deutschen sind halt so. Die leben alle von Hartz 4 und benehmen sich im Ausland unmöglich. Und dann kommt dieses JWS und man ist plötzlich peinlich berührt, weil man merkt, dass sich die Schweizer Jugend genau gleich verhält. Auch wenn es nur gespielt ist. Aber das ist «Berlin – Tag & Nacht» auch. JWS ist vielleicht nicht die intelligenteste Sendung im Schweizer Fernsehen, aber sie bietet lustigerweise Anlass zu Diskussionen über unsere Jugend, ihrem Verhalten und dem Umgang damit. Dabei ist die Sendung grösstenteils gespielt. Für die einen ist JWS eine Dystopie, für andere spiegelt sie die Realität wider. Für mich ist und bleibt JWS ein Zeitvertreib zur geistigen Entspannung. Denn trotz allem sollte man diese Sendung zu keinem Zeitpunkt auch nur ein bisschen ernst nehmen. So bleibt mir nur, all den Kritikern der Sendung entgegenzuhalten: Es kommt schliesslich nicht darauf an, was man schaut, sondern wie man es schaut.

* Marco Büsch, 21, Politologiestudent aus Zürich, Filmfan und Hobbyrapper marcob@cubic.ch

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WOHLSTANDSVERWAHRLOSUNG 23. Ausgabe, November 2012

Die Kreuzritter des Kapitalismus {Text} * Lars Heinzer

Die Reichen: Was treibt sie an? Wissen sie überhaupt noch, wer in ihren Fabriken arbeitet? Und: Haben wirklich die Könige das siebentorige Theben gebaut? Die ungleiche Verteilung von Reichtum sei ein Segen, kein Fluch. Das meint zumindest Edward Conard. Der ehemalige Geschäftspartner von Mitt Romney erläutert in seinem Buch «unintended consequences», wie die Oligarchie (Herrschaft der Reichen) als von Gott gesandtes Wesen die Wirtschaft stärkt. Dank dem Bedarf an Luxusgütern und Putzpersonal sollen am Ende alle profitieren. Trickle-Down Effect heisst dieser Heilige Gral des Neoliberalismus. Zudem stellen die Großverdiener Risiko-Kapital zur Verfügung, welches der Mittelstand nicht hat. Die Folgen von kurzsichtigen Spekulationen mit eben diesem Geld sind bekannt. Die Finanzblase platzt, die unteren tragen die Last, die oberen weinen Krokodilstränen «unintended consequences» eben, unbeabsichtigte Folgen.

«‹Wer baute das siebentorige Theben? In den Büchern stehen die Namen von Königen. Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?›»

«Wer baute das siebentorige Theben? In den Büchern stehen die Namen von Königen. Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?», das berühmte Zitat von Bertold Brecht ist aktueller denn je. Dankbarkeit für ihren Sitz auf dem Olymp kann man von den Reichen kaum erwarten. Den Bezug zur Realität haben einige von ihnen schon lange verloren. Wer kann es ihnen verübeln? Sie haben Geld, Macht und Neider. Sie verkehren in ex-

klusiven Kreisen mit exklusiven Leuten und leisten sich exklusiven Luxus. Sie kennen die Nullen auf ihren Konten, aber nicht die Arbeiter in ihren Fabriken. In ihrer wohlbehüteten Parallelgesellschaft zählen Zahlen, Werte sind nichtig. Aber sind das nur larmoyante Vorurteile? Spricht hier der Neid aus mir? Ich stelle mir einfach gerne vor wie Edward Conard Freunden, Geschäftspartnern, Verwandten und Bekannten von seinem Buch erzählt. Niemand hat ihn wohl darauf aufmerksam gemacht, dass die pauschale Heiligsprechung der Reichen, als Kontrast zu medialen Schlagworten wie Steuerhinterziehung und Finanzkrise, momentan keinen grossen Anklang in der Bevölkerung findet. Natürlich ist es marketingtechnisch immer klug zu provozieren, aber mehr Geld braucht der Multimillionär sicherlich nicht. Das Buch ist eine Rechtfertigung, die so wahrscheinlich von vielen Reichen überall auf der Welt unterschrieben werden würde.

Easy Scheisse {Text} * Daniela Karin Raffl

* Daniela Karin Raffl, Illustratorin, nela.raffl@gmail.com

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WOHLSTANDSVERWAHRLOSUNG 23. Ausgabe, November 2012

Suicidal Pill {Text} * Julia Nauer {Illustration} Linda S.

«Doesn’t the pill make you suicidal?», fragte mich Vicky und ich war unsicher, was ich ihr antworten sollte. Ein «Ja» wäre schockierend und gelogen, ein «Nein» wäre gelogen. Ein «Maybe» war die Antwort. Doch meine Brüste waren schön gross geworden und mein Prinz – wie ich ihn nenne und wie unheimlich kitschig, unheimlich – machte mir ständig Komplimente dafür. Nichts Wichtigeres als ihn an mich zu binden? Paranoia Pill. Hormone und du wirst neurotisch. Einsamkeit und du wirst neurotisch. Was bleibt mir? Zigaretten, Kaffee, Alkohol, meine Liebe, meinen Körper, an dem ich ständig etwas ändern will, meine verwirrte Seele, meine Verachtung für die Schweiz und mein Heimweh. Kann ich jemals sesshaft werden? Kann ich erwachsen werden? 24 und noch ein verwirrtes, verlorenes, verwöhntes Kind. Ich werde immer sicherer, dass die Gesellschaft keinen Platz für mich bereitzuhalten scheint. Ausser eine plötzliche, dimensionsüberschreitende, transzendentale Entscheidungsbaumtüre öffnet sich und ich kann wieder vorwärts gehen. Mein Problem scheint also mein Warten zu sein: Aus Angst vor der Leere hab ich mir eine unglaublich grosse Ungeduld angeeignet, die ich gerne mit Schlaf lähmen würde, jedoch mit Essen bekämpfe. Und die Waage versetzt mich in Zweifel. Wann werde ich meine Mitte (wieder) finden? Balance Parisienne? Pilule Parisienne? Suicide parisien? Sind nicht ohnehin alle Pariser leidend und ein kleines bisschen suizidal? Wahre Romantik entsteht vielleicht nur aus süss-saurem Kummer und einem Leben zwischen bitterem Kaffee, stinkender Metro, Champagner und Foie gras mit anschliessendem unglaublichen Sex. Kinderlosem Sex. Wir sind erwachsen, jung und werden nie wieder so frei sein. * Julia Nauer, 24, germanistik-,philosophiestudentin mit 60ects wirtschaft. hab zudem eine vergangenheit als profitänzerin und theaterfrau

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KULTUR 23. Ausgabe, November 2012

Die entlegene Tonleiter {Text} David Howald

Sie kauern in den toten Winkeln der Gesellschaft. Sie schleppen merkwürdige Lasten von A nach B. Durch das Haderwerk ihres entrückten Verstandes vor Dingen fliehend, die nicht so mancher verstehen könnte. Die Verrückte mit dem frisch gewaschenen roten Haar sitzt federleicht am verstimmten Piano. Die verzerrten Harmonien scheinen ihr, und dem was sie sagen will, entgegen zu kommen. Eine entlegene Tonleiter. Ich sträube mich dagegen ihr Spiel in irgendeiner Weise anzunehmen. Es als schön zu empfinden wäre sowieso nicht möglich. Aber trotzdem ist diese verklärte Elegie in ihrer sanft irrlichternden Manier sehr treffsicher. Als würden kleine, bleiche Händchen sich öffnend wahnsinniges Strahlen enthüllen. Ein betäubendes, fliessendes Licht. Die Rothaarige im Patientenhemd wählt weiter mit schwebenden, spitzen Fingerkuppen ihre Auswahl an Klängen an. Als würde alles was sie

berührt von der eigenartigen und zerfressenden Magie ihres Wahns befallen - und auch ich werde von dieser Melodie berieselt und befallen. Ein glühender Sprühregen ihrer Wahrheit fällt in meine Sinne ein. Es ist mir als übe diese heimtückische Gewalt sich darin, meine Seele «Es ist mir als übe diese heimtückische zu übermannen. Panische Stösse drängen mich dazu den Raum Gewalt sich darin, meine Seele zu überzu verlassen. Dann wird die immannen. Panische Stösse drängen mich mer noch ruhig und kindlich dazu den Raum zu verlassen.» spielende Frau von einem Pfleger aufgefordert vom Piano abzulassen um wieder ihren Pflichten nachzukommen. Sie faucht trocken wie ein gehetzter Vogel und muss hart vom wackelnden Holzstuhl gehievt werden. Beim Verlassen des Raums streift mich ihr schlimmer und tiefer Blick. Immer noch voller verzweifelt, oszillierender Faszination, doch gebremst und gedroschen, ihrer gänzlichen Entfaltung beraubt.

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GENUSSKOLUMNE 23. Ausgabe, November 2012

Es duftet nach Advent {Text} * Dorrit Voigt

Wenn die Tage kürzer werden und die Temperatur fällt, dann ist der Winter nicht mehr fern und mit ihm die Adventszeit. In den Geschäften quellen die Regale mit Guetzli und Gebäck über, in der Hiltl-Küche werden wieder feine Vermicelles-Törtchen zubereitet und überall zieht ein herrlich verlockender Duft durch die Strassen… Es gibt viele Gewürze, deren Aromen untrennbar mit der Adventszeit verbunden sind; Zimt ist eines davon. Wer denkt bei dem süsslich-warmen Duft der Zimtstangen nicht gleich an feine Zimtsterne, Brunsli, Glühwein oder Punsch? Aber Zimt ist nicht gleich Zimt! Wahre Kenner und Geniesser ziehen den fein aromatischen, süsslichen Ceylon-Zimt seinem robusten Bruder Kassia-Zimt vor. Ceylon-Zimt, auch «echter Zimt» genannt, stammt von der wohlriechenden Innenrinde eines Baumes, der in Sri Lanka wächst, und ist heller in der Farbe und teurer als Kassienrinde, die vor allem in gemahlener Form verkauft wird. Kassia-Zimt ist in Assam und Nord-Myanmar beheimatet. Die Stangen haben einen etwas süsslicheren, aber auch gröberen Geschmack, da sie aus der Aussenrinde hergestellt werden. Trotz des geschmacklichen Unterschieds können sie gut als Ersatz für «echten Zimt» benutzt werden. Auch in der Hiltl-Küche spielt Zimt eine grosse Rolle - und das nicht nur zur Weihnachtszeit. Denn Zimt bereichert nebst Süssem wie Zimt-Parfait, Zwetschgen-Kompott oder Apfel-Crumble mit seinem besonderen Aroma auch herzhafte Gerichte wie indische Curries, marokkanische Tajines oder unseren beliebten Basmatireis, bei dem die ganzen Zimtstangen mitgedämpft werden. Beim Einkauf sollte man ebenfalls ganze Zimtstangen dem gemahlenen Pulver vorziehen, da dieses schnell an Aroma verliert. Für selbstgemachten Zimtzucker dann einfach die Stangen zusammen mit Zucker mischen und schon nach einigen Tagen kann man den Gewürzzucker beliebig zum Aromatisieren verwenden – vielleicht für ein feines Birnen-Zimt-Chutney, das wir auch bei unserem Weihnachtskochkurs im Hiltl Kochatelier im Dezember zubereiten werden? In diesem Sinne eine besinnliche Adventszeit mit vielen kulinarischen Genüssen. * Dorrit Voigt ist im Haus Hiltl verantwortlich fürs Hiltl Kochatelier und schreibt jeden zweiten Monat die Genusskolumne. Antworte Dorrit Voigt auf leserbriefe@dieperspektive.ch.

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STADTKOLUMNE 23. Ausgabe, November 2012

First World Zombie {Text} * Apachenkönig Huntin’Beer

Wir schreiben das Jahr 2012. Wir alle haben schon ein paar Apokalypsen überlebt und die Grösse der Fernseher hat sich überproportional zu unserem Verstand entwickelt. Ich sage dir das und schaue dabei zu tief ins Glas. We’re sober, not dry! Geblendet, gebräunt und gespritzt sucht man nach einem verzerrten Ideal und findet es sauber gegliedert im Supermarktregal. Immer schön angefixt vom vielgliedrigen Rattenschwanz des Konsums. Grüezi! Wir sind deine Kinder. Es mutet seltsam an, dass Medikamentensucht mit Medikamenten behandelt wird. Die Diagnose lautet also in etwa: Übermedikamentiert! Die Behandlung folglich: Medikamentieren! Konsum funktioniert in etwa gleich. Du bist satt? Niemals! Friss weiter! Sogar bei deinem Lieblings-Italiener hättest du irgendwann genug gegessen. Glaubt’s mir, ich hab’s probiert. Spätestens wenn sich dein Bauchnabel gefährlich wölbt solltest du stoppen, bevor er zu furzen beginnt. Nein, nicht dein Lieblings-Italiener. Und nein! Das hat nichts mit Karma zu tun! Man ist schlicht und

einfach überdosiert. Nimm dir eine Cola, Pepsi, scheissegal, einfach kein ZERO und pimp sie mit einer Handvoll Zucker - keiner Nasevoll - und trink sie leer. Wenn du nicht erblindet bist, lies nun bitte weiter. Sonst bitte vorlesen lassen... Es ist eine Perversion zu glauben oder zu denken, man könne seine innere Leere mit Konsum verstopfen. Das soll nicht heissen, dass du nicht mal einen Snickers essen darfst. Aber nach fünfzehn von diesen Dingern hast du Verstopfung oder du kotzt. Mich wundert‘s nicht, wenn Mr. T alias B.A. in der Werbung brüllt: «GET SOME NUTS.» Yep. Der weiss wie das schmerzt, wenn du die wieder abdrücken must. Genau, die Nüsse im Snickers. Egal. Aber jedes gottverdammte Mal, wenn Zalando in der Kiste kreischt, möchte ich kotzen. Das musste raus. Danke. Ist Zalando Versand-oder Verstandfrei? Ich weiss es nicht. Ich weiss es einfach nicht! KREISCH! Wann nistet sich eine schleichende Wohlstandsverwahrlosung jedoch ein? Keine Ahnung? Kein Urteil? Heute schon. Blasser als bleich oder brauner als Scheisse, es genü-

gen nur noch die Extreme. Ob politisch oder als Freund oder Feind des Solariums. Sie malträtieren oder kaufen dich bis du verblasst oder verbrennst. Die überallgegenwärtigen Angebote sind wie gefährliche Pfeifen, die dir ein Lied solange vorträllern, bis du dämlich bist und wie eine Marionette zu ihnen tanzt. Et voilà, du bekommst den Hals nicht mehr voll. Ob blass oder braun, du darfst nun jedenfalls für 3+ in Lloret del Mar tanzen. Wie ein zu lange in Wasser eingelegtes Gummibärchen. Du schwabbelst dich gross, bis du in dir zerfällst. Wenn Einstein sagt «M=C2», sagt mir MC Hammer «U can’t touch this!». Da muss ich ihm beipflichten. Da reicht mein Grips nicht aus. Aber Wohlstandsverwahrlosung durch Überdosierung? Nein danke! In Liebe und Ahoi

* Apachenkönig Huntin’Beer ist aus Zürich, deshalb schreibt oder inszeniert er auch die Stadtkolumne. Antworte dem König auf leserbriefe@dieperspektive.ch

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{Foto} Laura Frey


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