Optimismus - September 10

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1. Ausgabe September 2010

OPTIMISMUS

05 RELIGION OHNE PERSPEKTIVE Wieso Religion Dreck am Stecken hat und wie man ihn wieder weg bringt.

10 URBI&ORBI Von Murmelifickern und 14er Tr채mmer.

16 OPTIMISMUS MAXIMUS Dahin siechende Ideologien, explodierende Bundesr채te, Perspektivlosigkeit auf dem Arbeitsmarkt und und und.

1. AUSGABE


2 1. Ausgabe, September 2010

Inhalt

EDITORIAL 03 Damit du da bist, wo deine Zeitung ist

HINTERGRUND 04 Abzocken! Die Abzocker-Schutz-Partei und ihre Maschen. 05 Wieso Religion keine Perspektive bietet. 07 AIDS und Elend im Land der Weltmeisterschaft. 08 iPhone - das neue Schwarz?

KULTUR 10 URBI & ORBI 11 Nordw채rts - Eine filmische Reise durch das Baltikum. 13 My Home Disappeard

THEMENSEITE 14 Lohnt es sich, optimistisch zu sein? 16 Optimismus Maximus 18 Handkraft - Spiel mir das Lied des Lebens. 20 Das optimistische Kamel, verloren in der p채dagogischen W체ste.

KREATIVES 22 Das Gewissen 23 Media Detour 24 Gute Nacht Sabrina

REISEN 28 Trommeln im Hammam


Editorial

3 1. Ausgabe, September 2010

Damit du da bist, wo deine Zeitung ist.

Impressum Redaktion Manuel Perriard, Simon Jacoby, Conradin Zellweger Bremgartnerstrasse 66 8003 Zürich

Text H.J.F. | P.Z. | B.G.| Y.C. | M.R. | J.H. | M.S.| F.G. S.G. | RG.&theS. | G. z. O. | N.H. | S.M. | J.A.H. A.W. | D.H. | M.B. | J.W. | M.M.

Illustration/Bild I.J. | J.M. | E.U. | M.H. | K.

Foto J.H. | P.B.

Titelbild

Ein unbeschreibliches Gefühl ist es die erste Ausgabe der eigenen Zeitung druckfrisch in den Händen zu halten. Zumindest in der Vorstellung. Das erste Editorial schreibe ich exakt neunundzwanzig Tage und zweihundertsiebenundsechzig Minuten bevor das dünne Papier in Schaffhausen durch die Walzen flitzt. Ein Jubelschrei hallt durch Zürich. Auf diese Zeitung haben alle gewartet. «dieperspektive» birgt für alle die Möglickeit, direkt die Meinung zu posaunen. Ohne Zwischenstation. Du schreibst, wir publizieren. Die echteste Leserzeitung also. Aus dieser Optik ist «dieperspektive» die Zeitung mit dem wohl grössten Arsenal an freien Journalisten und Journalistinnen. Frisch und fründlich kommt «dieperspektive» daher, indem die Gelüste und sehnsüchtigsten Wünsche scheinbar von den Lippen abgelesen werden. Wir sind neu und unerfahren. So müssen wir nichts aus der Medienwelt übernehmen, das uns missfällt. Deshalb sind wir die wirklich neueste Zeitung. Wir werden die Gemüter erregen, Geheimnisse verraten, Herzen erobern und Perspektiven bieten, bis aus jedem Winkel geschrieben, gefötelet und illustriert wurde. Das stimmt doch optimistisch. Wir sagen uns vom Herkömmlichen los und packen die Chance beim Schopf. Nur aus dem Willen, Gutes zu tun; natürlich. Optimistisch stimmt ebenfalls, dass wir mit dem Prinzip der Leserzeitung den Zeitgeist mitten ins Gesicht treffen. Getippt, gepostet, gezwitschert und gesimst. Das ständige Mitteilungsbedürfnis unserer Gesellschaft und die wiederauflebende Schreibkultur bringen wir symbiotisch zurück auf das Zeitungspapier.

Peter Baracchi

Layout Per Rjard

Webdesign Timo Beeler

Druck ZDS Zeitungsdruck Schaffhausen AG

Auflage 4000

Artikel einsenden artikel@dieperspektive.ch

Werbung info@dieperspektive.ch

Thema der nächsten Ausgabe Le vent nous portera

Redaktionsschluss 11.10.2010, 23.59 Uhr Wir korrigieren nur orthografische und gramatikalische Fehler, der Rest ist Sache des Autors.

Simon Jacoby Perspektivischer Redaktor


4 1. Ausgabe, September 2010

Hintergrund

ABZOCKEN! {Text} Hans-Jürg Fehr

Wir haben im Laufe dieser Sommersession beobachten können, wie im Bundeshaus eine neue Partei entstanden ist – die Abzocker-Schutz-Partei (ASchP), entstanden aus der Fusion von FDP, SVP und CVP. Die Abzocker-Schutz-Partei hat ein einziges Ziel: Sie will die Abzocker, Steuerhinterzieher und kriminell handelnden Akteure gewisser Banken unter politischen Schutz stellen. Sie will diesen Leuten ersparen, die Konsequenzen ihres verantwortungslosen und volkswirtschaftlich schädlichen Verhaltens tragen zu müssen. Die Abzocker-Schutz-Partei ist bisher ausserordentlich erfolgreich gewesen:

Sie hat verhindert, dass vorsätzliche Steuerhinterziehung zur Straftat erklärt wird. Sie hat die Anti-Abzocker-Initiative von Thomas Minder auf die lange Bank geschoben und dafür gesorgt, dass es vor den Wahlen 2011 keine Volksabstimmung darüber geben wird (die zum Beispiel den Ober-Abzocker Christoph Blocher in eine ungemütliche Situation gebracht hätte). Sie hat verhindert, dass eine Parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) die ehemalige Konzernspitze der UBS durchleuchtet, die verantwortlich ist für den Mega-Schaden, den der Staat Schweiz nun auszubaden hat. Sie hat dafür gesorgt, dass es auf absehbare Zeit hinaus keine Bonus-Steuer geben wird, obwohl alle wissen, dass die exzessiven Boni zu den wichtigsten Risiko-Treibern gehören, die zum Absturz der Investmentbanken führten. Sie hat wirksame Massnahmen gegen das GrossbankenRisiko abgelehnt, obwohl ein fixfertiger Gesetzestext der vom Bundesrat eingesetzten hochkarätigen Expertenkommission zur Verfügung stand.

Diese Puzzleteile fügen sich nahtlos zu einem stimmigen Bild: Die bürgerlichen Fraktionen wollen nach der grössten Finanzund Wirtschaftskrise aller Zeiten rein gar nichts ändern. Sie wollen keine Konsequenzen ziehen. Sie wollen denen, die den ganzen Schlamassel angerichtet haben, weiterhin freie Hand lassen. Es ist diese Dominanz des Abzocker-Schutzes, die die SP dazu bewogen hat, den Staatsvertrag mit den USA in Sachen UBS nicht einfach bedingungslos zu akzeptieren. Natürlich ist es richtig, dass mit dieser einmaligen Aktion rückwirkend für 4500 mutmassliche amerikanische Steuerhinterzieher das Bankgeheimnis aufgehoben werden soll. Aber es wäre eben mindestens so wichtig zu verhindern, dass die Grossbanken unser Land erneut in eine derart schwierige Lage bringen können. Darum wollten wir zwei wichtigen Risiko-Treibern den Riegel schieben durch die Einführung einer Bonus-Steuer und durch Massnahmen zur Verminderung des Grossbanken-Risikos. Der Bundesrat hat das sehr wohl begriffen und deutlich zu verstehen gegeben, dass bald solche politische Entscheidungen gefällt werden müssen. Die ASchP hat es verhindert. Die einzige echte Reform, die von beiden Räten beschlossen worden ist, versteckt sich in den zehn revidierten Doppelbesteuerungsabkommen. Sie bringt die Aufhebung des Bankgeheimnisses gegenüber ausländischen Steuerbehörden im Falle von vermuteter Steuerhinterziehung. Selbstverständlich wurzelt diese Reform nicht im freien Willen der AbzockerSchutz-Partei. Sie ist das Resultat von massivem ausländischem Druck. Es brauchte die graue Liste der OECD und die mit ihr verbundene Androhung von wirtschaftlichen Sanktionen der Staatengemeinschaft gegen die Schweiz, bis der Bundesrat und die ASchP endlich ihren Widerstand aufgaben und eine Norm akzeptierten, die das Steuerhinterziehungsgeheimnis beseitigt. Selbstverständlich hat die ASchP über diesen ausländischen Druck lautstark geklagt und gejammert, aber wir wissen ja seit dem Einmarsch der napoleonischen Truppen vor mehr als 200 Jahren, dass mancher Fortschritt hierzulande von aussen kam. •


Hintergrund

5 1. Ausgabe, September 2010

Wieso Religion keine Perspektive bietet. {Text} Peter Zottl

Gibt es einen Gott? Was geschieht mit mir, wenn ich das Zeitliche segne? Fragen über Fragen. Religion ist ein Thema, bei dem sich die Geister wohl bekanntlich scheiden. Meine Antwort auf religiöse Fragen im Allgemeinen: Scheiss drauf! Ich bin Agnostiker und damit lässt es sich gut leben. Allerdings bezieht sich mein Agnostizismus nur auf Fragen theologischer Natur. In politischen Fragen der Religion, bin ich schon lange nicht mehr geneigt zu sagen: Scheiss drauf. Der Einfluss von Religionen auf die Legislative machte sich in der Schweiz zuletzt im November des letzten Jahres, in Form einer Volksabstimmung zur Minarett-Initiative bemerkbar. Für mich ein Sinnbild dafür, welche Perspektivlosigkeit Religion fördert. Ich möchte damit keinesfalls behaupten, dass der Ausgang der Wahlen ausschliesslich von religiösen Kräften orchestriert oder beeinflusst worden sei. Jedoch halte ich es für wichtig festzuhalten, dass es in dieser „Volksabstimmung“ um die immateriellen Sorgen der Bevölkerung ging. Dies stellt in der Politik eine Seltenheit dar, so sehr man sich auch wünschen mag, dass Menschen gemäss ihren Idealen abstimmen, so tun sie es meist gemäss ihres Portemonnaies. Bei Abstim-

mungen geht es meistens um materielle Sorgen. Nicht so in diesem Fall, nein, in diesem Fall ging es um die Angst vor islamischem Gedankengut, der von Unwissenden mit Terrorismus gleichgesetzt wird. Es ging darum, die Fronten abzuklären, die Grenzen in einem fiktiven Krieg der Werte zu ziehen. Was für ein ausgemachter Blödsinn! Was hat diese Initiative gebracht? Gar nichts (Bis auf jede Menge Fernsehauftritte von fanatischen Vollidioten, ob nun SVP oder muslimische Konservative)! Gäbe es nicht wichtigere Dinge zu besprechen oder wichtigere Probleme, für die es sich lohnen würde die Initiative zu ergreifen? Na mit Sicherheit! Aber nein, wir mussten darüber entscheiden, ob es okay ist oder nicht, einen beschissenen Turm auf ein Gebäude zu bauen. Denn genau das ist es, ein Türmchen mehr nicht. Eins der fundamentalsten Probleme, die ich mit Religion habe, ist, dass man irgendwelchen Dingen einen Wert zuschreibt, die keinen besitzen. Wie gesagt einfach nur hirnrissig! Man beschäftigt sich mit Dingen, die einem einfach nichts nützen, Religion ist der Anti-Fortschritt, Stagnation, Perspektivlosigkeit, ein intellektueller Sumpf, eine fortlaufende kreisförmige Bewegung der

Jede Menge Fernsehauftritte von fanatischen Vollidioten

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Hintergrund

6 1. Ausgabe, September 2010

Gedanken und am Ende ist man keinen Deut weiter. An diesem Punkt möchte ich hinzufügen, dass ich Religion keinesfalls gleichsetze mit Glaube, nur verstehen das die meisten nicht. Glaube ist eine Sache, Religion eine ganz, ganz andere. In seiner Rohform ist Glaube etwas potenziell Gutes, wie eine Frau, ein Mann oder Sex. Religion wäre dann so etwas wie Prostitution, die Kirche und andere religiöse Institutionen deren Zuhälter. Es ist das älteste Geschäftsmodell der Welt, man nehme etwas Gutes, mache etwas Schlechtes daraus und das Resultat nenne man Profit. Menschen sehnen sich nach sozialen Kontakten, das haben wohl auch die aller ersten Zuhälter gemerkt, als sie das sogenannte älteste Gewerbe der Welt gründeten. Religion operiert auf genau derselben Ebene wie organisierte Prostitution, Kirchen und Kathedralen sind nichts weiter als überdimensionierte Bordelle. Menschen prostituieren ihren Glauben bereitwillig, mangels sozialer Kontakte, Bestes aktuelles Beispiel hierfür ist ICF. Nun mag man sich Fragen: Was ist so schlimm daran? Wenn sich diese Menschen dank ihrer Religion, in eine soziale Gemeinschaft eingebettet fühlen und sich subsequent besser fühlen, wer bin ich, das zu verurteilen? Die Antwort ist simpel: Es ist alles aufgebaut auf einer grossen, fetten Lüge! Wer glaubt, dass irgendeine Religion auf diesem Planeten Antworten auf die am Anfang dieses Artikels gestellten Fragen nach Gott und dem Leben nach dem Tod hat, liegt schlichtweg falsch. Es gibt diese Antworten nicht und jeder, der das Gegenteil behauptet, ist ein Lügner. Niemand, den ich kenne, ist jemals von den Toten zurückgekehrt; kein anderer Mensch auf diesem Erdklumpen weiss mehr über Gott oder den Tod als DU und ICH, auch die Scharlatane in ihren weissen Roben, mit ihren grossen beeindruckenden Hüten

nicht. Schlimm an Religion ist, dass sie keinesfalls gewillt ist, soziale Kontakte und Gemeinschaft ohne einen bestimmten Preis anzubieten. Ob es sich dabei nun um die Prostitution des eigenen Glaubens, der Aufgabe des eigenen Ichs oder wie im Falle von ICF, um einen konkreten Prozentsatz des Lohnes handelt, ist dabei irrelevant. Religion hat ihren Preis. Die Zuhälter nutzten die Urängste der Menschen aus und halten Antworten bereit, die nichts weiter sind als beruhigende, einlullende Lügen. Ich bin weder ein Prophet noch ein Volksverhetzer, dennoch erscheint es mir wichtig, endlich klarzustellen, dass Toleranz gegenüber Religion in jedweder Form kontraproduktiv ist. Man sollte sich nicht schlecht fühlen müssen, weil man die Religion einer Person kritisiert, denn Religion ist nichts Persönliches. Ich greife niemandes Glauben an, nur dessen Religion. Religion ist Verlust von Individualität und jeglicher Verlust von Individualität ist ein Schritt in Richtung Totalitarismus. Religion bietet keinerlei positive Perspektiven für die Zukunft. Genau so wie Eltern irgendwann aufhören, ihren Kindern Märchen vom Weihnachtsmann aufzubinden, müssen wir aufhören so zu tun, als ob Menschen, die an einen unsichtbaren Mann im Himmel glauben, der zu jeder Zeit über sie wacht, nicht zu einem ernsten Problem werden können, weil sie nun mal echt ne Schraube locker haben. Ich meine, was würdet ihr von einem 30-Jährigen halten, der noch an den Weihnachtsmann glaubt? Versteht mich nicht falsch, ich sage ja nicht, ich weiss es besser, nein, diese Arroganz besitzen nur Vertreter bestimmter Religionen. Als Agnostiker behalte ich mir einfach nur das Recht vor, zu sagen: Ich habe keinen blassen Schimmer, ob da oben einer hockt und ehrlich gesagt, ist es mir egal. •

In seiner Rohform ist Glaube etwas potenziell Gutes, wie eine Frau, ein Mann oder Sex.

Der Mond {Illustration & Idee} Isabel Jakob

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Hintergrund

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AIDS und Elend imLand der Weltmeisterschaft – für viele ein Tabuthema {Text} Benjamin Gleue

Mandeni /Neustadt: Während in Südafrika die Fußball-Weltmeisterschaft in vollem Gange war, berichtete der katholische Diakon Thomas Müller im Eine-WeltLaden in Neustadt am Rübenberge bei Hannover von seinen Erfahrungen im Zusammenleben mit AIDS-kranken Kindern und Erwachsenen in Südafrika. Organisiert wurde der Vortrag von Marie-Theres Crone, die den Diakon aus Garbsen im Namen des gemeinnützigen Vereins „Asseitun Werkstatt für die Welt“ eingeladen hatte. Von 2005 bis 2008 hatte der Diakon im Zululand in Südafrika gelebt und in der Region kwaZulu-Natal, ungefähr 100 km nördlich von Durban, im Malteserorden Hilfsdienst geleistet. Südafrika – das Land der FußballWeltmeisterschaft. Ein Land, in dem viele Europäer jährlich ihren Urlaub verbringen. Ein Land mit hochmodernen Metropolen und einer atemberaubenden Vielfalt an Landschaften, wie Wüsten, Regenwäldern, Trockensavannen, Mittelgebirgen, fruchtbaren Tälern und zahllosen Traumstränden. Aber auch ein Land des Elends, der Armut und einer tödlichen

„Da stirbt ein ganzes Volk. Es gibt keine Familie, die nicht 10 - 15 AIDS-Tote zu beklagen hat.“

Kindern die Möglichkeit zu geben und ihnen einen Weg aufzuzeigen, wie sie trotz ihrer Krankheit nach dem Verlassen des Kinderheimes aus Altersgründen, ihren weiteren Lebensweg beschreiten können. Dafür ist eine gute Schulbildung unerlässlich. Von den knapp 49 Millionen Einwohnern Südafrikas haben 27 Millionen keine Schulbildung, obwohl seit Ende der Apartheid, Anfang der 1990er Jahre, eine Schulpflicht besteht. In Afrika mangelt es im Schulwesen an allen Ecken und Enden. Es gibt viel zu wenig Lehrkräfte. „Wir brauchen eine afrikanische Lösung für Afrika.“, hofft Müller darauf, dass es schnellstmöglich mehr Zulu-Lehrer gibt. Immerhin gibt es im Care-Zentrum mittlerweile schon einen gelernten Zulu-Arzt und eine gelernte Zulu-Krankenschwester. „Wir gehen Schritt für Schritt“, betont der Diakon und zeigt auf, wie langwierig der Weg sein wird, ein umfassendes und funktionierendes Hilfssystem auf die Beine zu stellen. Damit dies gelingt, hofft Müller auch auf Hilfe aus seinem Heimatland. „In Deutschland und Europa ein Bewusstsein zu schaffen, ist genauso wichtig, wie vor Ort zu handeln“, lobte Müller die Arbeit des Vereins Asseitun, der sich für einen fairen Handel in der Welt einsetzt und damit zu Gerechtigkeit und Frieden beitragen will. Diese Ziele und die Hilfe von Diakon Thomas Müller dürften ganz im Sinne des früheren Anti-Apartheid-Kämpfers und ersten farbigen Präsi-

Thomas Müller

Krankheit. „Man kann über Südafrika nicht reden, ohne auch über Aids zu reden.“, begann Müller seinen Vortrag. Das südliche Afrika ist die am stärksten betroffene Gegend der Welt. Allein in Südafrika sind nach staatlichen Angaben 33% der Bevölkerung mit dem HI-Virus infiziert. In der Region kwaZulu-Natal sogar jeder Zweite. „Da stirbt ein ganzes Volk. Es gibt keine Familie, die nicht 10-15 AIDS-Tote zu beklagen hat.“, verriet Thomas Müller. Der Diakon arbeitete im Blessed Gérard’s Care-Zentrum in Mandeni, in welchem ein Hospiz und ein Kinderheim untergebracht sind. Zur Hauptaufgabe machte er sich die Betreuung der Kinder im Kinderheim, in welchem kranke, vernachlässigte, misshandelte, missbrauchte, unterernährte, ausgesetzte und verwaiste Kinder untergebracht sind. Fast alle von ihnen sind mit dem HI-Virus infiziert. Dennoch haben sie, nicht zuletzt durch die Arbeit der Freiwilligen aus dem Malteserorden, die Chance auf eine Zukunft. Das Care-Zentrum verabreicht die notwendigen Medikamente, die das HI-Virus zwar nicht abtöten, aber zumindest in Schach halten können. Die Kinder lernen den Umgang mit ihrer Krankheit, aber auch sich auf ihr zukünftiges Leben vorzubereiten. Die Hauptaufgabe besteht darin, den

Thomas Müller mit einem Schüler während des Unterrichts.

denten in Südafrika, Nelson Mandela, sein, der einst sagte: „Einem Menschen seine Menschenrechte verweigern, bedeutet, ihn in seiner Menschlichkeit zu missachten...“ Vielleicht konnte ja gerade ein solch großes Medienspektakel, wie die Fußball-Weltmeisterschaft mit ihrer Glanz- und Glitzerwelt dazu beitragen, dass die Welt ihre Augen auch ein wenig auf die bestehenden Schattenseiten in Südafrika wirft. •


8 1. Ausgabe, September 2010

Hintergrund

iPhone - das neue Schwarz? {Text} Peter Zottl {Illustration} Julia Marti

Anm. Dem geneigten Leser möchte ich versichern, dass dies keineswegs nur ein weiterer Artikel, in einer langen Reihe von Artikeln, zum iPhone, dem Apple-Konzern, Marketingstrategien und Konsumentenverblödung ist, da mir bewusst ist, dass diese Themen in den Medien schon zu Genüge durchgekaut wurden. Obwohl ich nicht ganz umhin konnte, einige der erwähnten Gegenstände zumindest zu tangieren, will ich versuchen, dem

Leser neue Perspektiven im Angesicht der Materie zu eröffnen. Des Weiteren muss ich vor dem sarkastischen Unterton warnen, den der geneigte Leser, hoffentlich, zwischen den Zeilen oder meist mitten auf den Zeilen, zu erkennen hat. Auch die paranoiden Befürchtungen, die der Autor gegen Ende des Artikels auszudrücken versucht, sind keinesfalls Ernst zu nehmen. Es sei denn, man möchte es.

Ah das iPhone! Ahs und Ohs, ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen; lauter Ausrufe der Verwunderung und des Staunens begleiteten das iPhone auf seinem Eroberungsfeldzug, quer durch die reichere Hemisphäre. Und was das Ding nicht alles kann! Sogar telefonieren kann man damit. Und wie es erst aussieht! Eingefasst in einen glänzenden Rahmen, aus Edelstahl, der gleichzeitig als Antenne fungiert, kommt das neue iPhone 4 mit seinen 9.3 Millimeter, übrigens 3 Millimeter dünner als das Vorgängermodell, äusserst schlank daher. Vorder- und Rückseite sind zudem aus einem speziell versiegelten und somit besonders kratzfesten Sicherheitsglas. Zugegeben, das erklärt die ganze Aufregung noch nicht ganz. Als

anno dazumal das erste iPhone auf den Markt kam, begeisterte etwas anderes die Massen. Apple erfand (oder liess ihn sich zumindest patentieren) den Multi-Touch. Halleluja! Der kapazitive Bildschirm oder auch Touchscreen, war eigentlich nichts Neues; neu war allerdings die Art der Bedienung. Der Touchscreen des iPhones sass unter einer Abdeckung aus optischem Glas und war in der Lage, bis zu zwölf Berührungsimpulse gleichzeitig zu verarbeiten. Die Bedienung erfolgte ausschliesslich durch einfache Bewegungen der Finger über die grafische Benutzeroberfläche. Diese unkomplizierte, intuitive, neue Bedienungsart, durch die den Nutzern locker von der Hand oder in diesem Fall vom Finger ging, war sicherlich mitverantwortlich für den grandiosen Erfolg des iPhones. Nebst


Hintergrund

der innovativen Bedienung sorgten zahlreiche Sensoren im Innern des Geräts dafür, dass man aus dem Staunen nicht mehr raus kam. Diese Sensoren teilten dem iPhone beispielsweise mit, ob es gerade gekippt wurde (dank Drei-Achs-Beschleunigungssensor) oder ob es vertikal oder horizontal gehalten wird, was für Lichtverhältnisse draussen herrschen und ob es gerade ans Ohr gehalten wird. Dieses iPhone, fast schon schien es, als sei es intelligent, sicher intelligenter als manch einer der Besitzer. Habe ich bereits erwähnt, dass man damit sogar telefonieren kann? Um gleich von Anfang an etwas klarzustellen: nein, ich besitze kein iPhone. Dennoch war es selbst mir nicht möglich, mich dem Phänomen des iPhones gänzlich zu entziehen (und ich bin ein ziemlicher Technikmuffel), scheisse. Dazu müsste man nun wirklich hinter dem Mond leben. Ich muss einräumen, dass auch ich anfangs durchaus bereit war, masslose Begeisterung für dieses Wunder der Technik (oder doch des Marketings?) an den Tag zu legen. Das fast schon überirdische Gespür des Apple CEO Steve Jobs für die Bedürfnisse der breiten Massen, für den genius saeculi, den Zeitgeist , erweist sich, wie schon beim iPod, als Erfolgsgarant. Es ist dieser Zeitgeist, auf den ich zu sprechen kommen möchte. Zeitgeist versucht die Denk- und Fühlweise eines Zeitalters zu beschreiben. In unserer westlichen Konsumgesellschaft scheint sich ein Zeitgeist der Mobilität und Aktualität so wie der zu-jeder- Zeit-erreichbar in extremis etabliert zu haben. Schneller, besser, digital. Das iPhone ist das ultimative Kind dieses Zeitgeistes. Ausserdem scheint eine Form von akzeptierter Oberflächlichkeit und Banalität der Inhalte damit einherzugehen, dass ich jederzeit in der Lage bin mich aller Welt mitzuteilen. Apple erfindet im Sinne dieses Zeitgeistes; Geräte oder Produkte, die zwar schlicht aussehen und einfach zu bedienen sind, aber einen perfiden Sog auf die Nutzer ausüben, durch den sie tiefer und tiefer in die digitale Welt hineingeraten. Susanne Beyer verglich das iPhone in ihrem Artikel „Leben im Stand-by-Modus“ , erschienen im SPIEGEL 19/7/2010, mit dem Mitte der 90er Jahren äusserst populären Tamagotchi Spielzeug. Das iPhone verhungert zwar nicht, wenn man sich nicht mit ihm beschäftigt, aber es fordert den Nutzer, weil es immer noch besser werden kann. Immer bessere Upgrades, unzählige Apps, nützliche wie auch unnützliche, ziehen einem hinab in die digitale Apple-Welt, in der Steve Jobs von seiner Kanzel an der Macworld Conference & Expo das AppleEvangelium unter die treue Gefolgschaft seiner Apple-Community bringt. Amen! Tausende hirnlose Zombies stehen beim Verkaufstart des iPhones 4 vor den Applestores Schlange, um eines der begehrten Geräte zu ergattern! Durch einen genialen Marketing-Schachzug macht Apple die hungrige Konsumentenmeute noch iPhone-geiler und lässt verlauten, dass man mit einem solchen Ansturm nicht gerechnet hatte. Von wegen. Die Geräte seien nur noch in limitierter Stückzahl erhältlich. Alles, was zwei Beine und nur ein halbes Hirn hatte, stürmte daraufhin die Applestores

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und seltsamerweise reichte es dann doch für Jeden.Ohnehin ist der Apple Konzern ein Meister darin, dem Kunden den drei Tage alten Fisch als frisch zu verkaufen. Sie stecken den Fisch einfach in ein Hühnchenkostüm. Wie beim iPod war auch die Technologie für das iPhone schon seit einer Weile verfügbar. Sogenannte Smartphones gab es schon rund 3Jahre vor dem ersten iPhone. Doch ich schweife ab, lasst uns zurück zum Thema Zeitgeist kommen. 1876 erfand der Schotte Alexander Graham Bell das Telefon, oder liess sich die Erfindung zumindest patentieren. Tatsächlich basierte die Konstruktion auf den Unterlagen des Italieners Antonio Meucci. Das Telefon erlaubte es den Menschen, nun über weite Distanzen hinweg miteinander zu kommunizieren. Die Erfindung des Telefons entsprach dem damaligen Zeitgeist. Es war eine Zeit des Aufbruchs, der Industrialisierung, der Wissenschaft, der Nationalstaaten, des Imperialismus und Kommunikation über weite Distanzen wurde zwecks Organisation zu einer imperativen Notwendigkeit. 1946/1947 schrieb George Orwell an den Küsten Schottlands den Roman „1984“, in dem es um die Angst, die Antiutopie eines totalitären Überwachungs- und Präventionsstaates ging. Auch Orwells Roman stellt eine Art Spiegel des damaligen Zeitgeistes dar. Der Grund, weshalb ich gerade diese beiden Beispiele zum Thema Zeitgeist als erwähnenswert erachtet habe ist folgender: Die geistigen Produkte, die aufgrund des zu dem Zeitpunkt ihrer Erfindung oder Fertigstellung vorherrschenden Zeitgeistes zustande kommen, sind einerseits beeinflusst durch den Zeitgeist selbst, nehmen aber gleichzeitig eine avantgardistische, eine Vorreiterrolle ein. Das Telefon ermöglichte erst die Handys und iPhones, Orwells Vorstellung des Überwachungsstaates realisierte sich zumindest teilweise in verschiedenen Formen, unter anderem in der DDR.Womit ich nun hadere und was ich auch in Perspektive zu setzen versuche, ist, wie schal und hohl mir das iPhone als Kind des heutigen Zeitgeistes erscheint. Ich sehe darin keinerlei Substanz. Wenn überhaupt, dann sehe ich einige beunruhigende Elemente und Vorboten (wie z. B. Standortbestimmung mittels AGPS, platzierte Werbung aufgrund von persönlicher Nutzerinformation usw.), bei denen sich Orwell im Grab umdrehen würde. Das iPhone ist ein clever vermarktetes Produkt, ein stylisches Accessoire, ein Gadget, ein Alleskönner, ein Spielzeug für Erwachsene, die sich wie kleine Kinder fühlen und freuen, wenn sie es benutzen (mich eingeschlossen). Es ist Sinnbild einer prätentiösen, reichen, infantilen Gesellschaft, in der alles möglichst schnell gehen soll und der Bedarf an Ablenkung gross ist; in der die Leute aufgehört haben sich zu fragen, warum etwas funktioniert und sich damit begnügen, das es funktioniert. Wir leben heute in einer Gesellschaft, in der wir kaum noch Freizeit haben. Unsere Zeit wird derart von unseren Facebook- und Twitteraccounts in Anspruch genommen, dass wir beizeiten regelrecht vergessen, uns die neueste Version der Evernote-Application im App-store runterzuladen. •

Es ist Sinnbild einer prätentiösen, reichen, infantilen Gesellschaft.


Kultur

10 1. Ausgabe, September 2010

URBI & ORBI Der Autor bewirbt sich als Stadtpabst und entschuldigt sich im vornherein für das folgende, grammatikalische Fiasko, allfällige Blasphemie und Sonstiges, welches er dem Leser zumutet. Es ist ein Resultat aus der Liebe zu Züri, Geselligkeit am Tresen und aus Phobie von der Schulbank. {Text} Yves Champion

Als ich vor 8 Jahren aus dem Ostblock nach Züri gezogen wurde, war das manchmal schon ein kleines Abenteuer. Ich konnte das 14er nur schwer vom 4er Tram unterscheiden, und bemerkte das manchmal erst an der Endstation. Zwischen Züri-Seebach und Bahnhof Tiefenbrunnen liegen Welten! Die Bezeichnung Murmelificker kannte ich auch noch nicht, aber mit der Zeit empfindet man es als Kompliment. Auch weil es wahrscheinlich einfacher ist ein Murmeltier, als eine heisse Katze, zu vögeln. Egal… Deinemeine Stadt ist auch meinedeine Stadt, also unser Züri. Meine persönliche Affinität zu Züri ist nicht nur der Zoo, wo man Tiger, Elefanten, Pinguine, Nashörner, Zoowärter/ innen, Schlangen, Ponys, Ziegen, Hirsche, Bambis, Eltern mit ihren Knirpsen, Affen, Zürcher, Löwen, Wölfe, Zebras, Touristen, Kamele und sonstige Wesen aus Fauna und Zivilisation beobachten kann, sondern auch die Vielfalt und die daraus re-

sultierenden Kontraste. Züri ist Liebenswert, trotz oder gar wegen der dort heimischen Spezies. Sie sind laut, leise, arrogant, blöd wie Brot, sexy, Raucher, Nichtraucher, Ex-Raucher, fett, gestresst, clever und freundlich. Züri ist ein wundervolles Fresko. Also…Wieso gopfertami haben also Papa Staat und Mama Kanton mit ihren Hampelmänner/innen und Lakaien nichts Besseres zu tun, als dieses Fresko mit ihrer roten, grünen und braunen Scheisse zu verschmieren? Dort ein Versprechen, hier ein Verbot…. Dörfs bizli meh sii? NEIN VERDAMMT! Sie pfuschen an der Gravitation. Man pfuscht aber nicht an der Gravitation! Man spürt sie und hört ihr zu. Sonst bringt man Urbi und Orbi nur durcheinander… Murmeltiere gibt’s im Zoo übrigens auch. Bisher kam ich aber noch nicht in Versuchung mich an ihnen zu vergehen. Und wer dort mal hin will steigt am besten ins 6er Tram bis Endstation. Hiermit gebe ich Züri meinen Segen. Amen. •

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Wolfbach / DIE REIhE / hERausgEbER MaRkus bunDI

In Garzettis Gedichten steckt eine poetische Kraft, die von einer dunklen Romantik herrührt, die sich am nüchternen Realismus reibt. Er setzt beim Verlust an und schickt das lyrische Ich auf die Suche nach gestohlenen Wörtern.

Das im Moment Erfahrene wird eingefärbt und überblendet durch Erinnerungen. Svenja Herrmann entdeckt Orte, wo Innen- und Außenräume ineinander verschmelzen, wo Worte sich im Karussell drehen und neue Wurzeln schlagen.

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BIST DU WIRKLICH NICHT BLÖD?

hier könnte dein inserat stehen.


Kultur

11 1. Ausgabe, September 2010

‚Nordwärts’ Eine filmische Reise durch das Baltikum. {Text} Max Reho | Jessica Hefti | Maximilian Speidel | Flavio Gerber | Silvio Gerber

Synopsis Sven, Lena, Valerie und Tim haben eigentlich nichts gemeinsam und führen grundverschiedene Leben. Doch alle vier wollen ihrem Alltag entfliehen und lernen sich durch einen Zufall kennen. So kommt es, dass sie sich gemeinsam auf eine spontane Reise durch die Baltischen Staaten begeben. Mit gestohlenen Fahrrädern machen sie sich auf durch Litauen, Lettland und Estland. Erst mit der Zeit wird ihnen bewusst worauf sie sich eingelassen haben: Auf fremde Menschen angewiesen zu sein, denen man nicht vertrauen kann. Was zuerst nach Spass und Abwechslung ausgesehen hat, wird bald schon Realität. Die vier muüssen feststellen, dass ein Abenteuer ins Ungewisse nicht vor Langeweile bewahrt. Ohne Plan fahren sie weiter nordwärts Richtung Tallinn, auf der Suche nach Ablenkung, Zugehörigkeit und ein bisschen Glück.

Für den Spielfilm ‚Nordwärts’ begaben sich die Darsteller sowie die gesamte Crew nur mit dem Fahrrad auf eine Reise durch die Baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland. Das gesamte Filmequipment musste auf Anhänger mittransportiert, die Drehorte, Statisten und Requisiten direkt vor Ort organisiert werden. Das Interessante an einem solch einzigartigen Projekt war die Herausforderung, einen Film zu drehen ohne genau zu wissen was einen erwartet, hineinzutauchen in eine fremde Kultur und das Arbeiten in einer fremden Umgebung. Nebenbei mussten wir pro Drehtag eine Strecke von ca. 50 km meistern. Die genaue Route und das nächste Tagesziel mussten zudem von Tag zu Tag neu geplant werden. Durch diese 1:1 Situation hat der Spielfilm einen dokumentarisch-realistischen Charakter bekommen und liess uns während dem Dreh viel Raum für Improvisation. Der «Rote Faden» lieferte aber trotzdem ein 90-seitiges Drehbuch. Dienstag, 11. August: Es herrschte Wetter, wie man eine Stadt gerne entdecken möchte. Azurblauer Himmel, die vereinzelten weissen Wolken wie hingemalt, es leuchtete in anderen Farben als gewohnt: ockerbraune Häuser, senfgelbe Busse, türkisfarbene Giebelungen. Unsere erste grenzüberschreitende Erfahrung war dann der Dreh in einem Hinterhof, bei dem uns die Fronten der Armut trafen. Mit der Zeit wurde uns mit der teuren Kamerausrüstung dann doch etwas unwohl. Donnerstag, 13. August: Im Lauf des Tages die Abfahrt vom Hotel. Erster Halt: Ein Einkaufszentrum. Dies schien von aussen unscheinbar, eröffnete uns beim Betreten aber das Tor zu einer anderen Welt. Von

den verwahrlosten Hochhäuserkomplexen gab es einen radikalen Wechsel zur Welt der Luxusgüter. Später war noch die erste längere Velostrecke an der Reihe. Nach gut 5 Kilometern der erste platte Reifen. Bald darauf erfolgte unser nächster Zwischenhalt und gleichzeitige Drehort: Der Berg der Kreuze. Darauf steckten oder hingen gut eine Million Jesuskreuze! Jessica Hefti - Aufnahmeleitung

Freitag, 14. August: Es ist meine erste längere Pause zwischen all dem Radeln und Schauspielern. Hinter mir kann ich das sanfte Möwengekreisch wahrnehmen, welches in mir das Gefühl auslöst, endlich am Meer angekommen zu sein. Gegen die Landschaft Litauens ist sicher nichts auszusetzen, doch hatte ich Mühe, mit der Kluft zwischen reich und arm klarzukommen. Auch war es nicht ganz einfach, als aufgestellte Film-Crew gegen die, ich würde fast sagen, düsteren und hoffnungslosen Gemüter, anzukommen. Deshalb ist es auch einleuchtend, weshalb wir alle überglücklich waren, als wir mit dem Zug davon

«Velofahre isch wie Gras us Bsezistei rupfe - so huere medidativ. Da machsch dr voll die Gedanke, aber spötr chasch di a nüt meh erinnere...» Maximilian Speidel

fuhren, unsere Köpfe aus dem Zugfenster ragten und die Gedanken ganz der Natur gewidmet waren - zumindest meine. Weite Felder von ungeschnittenem Gras dehnten sich vor unseren Augen aus. Immer wieder verschwand die sinkende Sonne hinter den Fichtenwäldern. Ja, der Sonnenuntergang war gelungen, unsere Gemüter geheilt


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und erlöst von den Bildern der herabziehenden Gesichter. Nun waren wir bereit für das nächste Abenteuer. Das Möwengekreisch ist verstummt, der Laptop hat kein Akku mehr, ich glaube ich muss mal los!

Kultur aus und fuhren nach Limbazi. Die Schuhe haben heute noch feuchte Stellen. Dort angekommen, fanden wir eine sportliche Herberge am See, wo wir zwei Ruderboote mieteten. Jessica Hefti - Aufnahmeleitung

Maximilian Speidel- Rolle des Tim

Samstag, 15. August: Riga. Diese Stadt, eine Metropole. Sie ist an der Grenze von mehr westlichem statt östlichem Flair. Von allem ein wenig, Italienisch

Samstag, 22. August: Die Architektur der Häuser hat einen skandinavischen Touch und nicht zuletzt ist hier die Stimmung um einiges frischer als in Lettland oder Litauen.

«Und bei dieser Szene dachte ich verdammt, du hockst auf Mövenscheisse und wirst mit Möhren beschossen! » Petra Auer

Kurze Verschnaufpause.

da, Spanisch hier, sie lässt sich nicht kategorisieren und ihr fehlt der eigene Charakter wie ihn beispielsweise Vilnius hat. Sie ist lebendig, die Leute lachen mehr, sind herzlicher, ja teils Bitten werden geradewegs übernatürlich hilfsbereit behandelt. Doch das kommt uns und dem Film zu Gute. Wir bekommen Drehbewilligungen, gestern Abend schon beim ersten angesteuerten Nachtclub. Mit der grossen Kamera und auffallend mehr Gepäck bewegten wir uns zwischen der feiernden Meute. Wir filmten, wir tanzten, wir tranken und einer liess es sich sogar nicht nehmen, sich absichtlich zu übergeben. Was tut man denn nicht alles für eine gute Szene. Donnerstag, 20. August: Es war ein Dienstag, als uns Petrus zeigen wollte, was er so konnte. Es regnete, so dass man Angst haben musste, plötzlich mehr Konsistenz an Wasser auf sich zu haben, als es an Erde unter den Rädern gab. Kalt und nass und weit und breit kein Restaurant. Es war in Ledurga in einem Gemeindezentrum, wo man uns warmen Kaffee kochte. Durchgeweicht bis auf die Unterhosen rüsteten wir uns nochmals wassertauglich

Die Route nach Pärnu betrug ziemlich genau 70 Kilometer, welche wir stolz und fast ohne Zwischenfall mit gut 27 km/h fuhren. Aber ja, eben nur fast ohne Zwischenfall: Schon nach den ersten 500 Metern nahm ich ein lautes CHHHHHHHHRrrrrrrr wahr und jemand rief lauthals „Stop“! Mit Schrecken musste ich feststellen, dass sich das Rad meines Anhängers selbstständig gemacht hatte und während der Fahrt den Anderen entgegenrollte. Gut, das war noch witzig. Als ich auf der Hauptstrasse ein weiteres „Stop!“ vernahm und mich daraufhin umdrehte, sah ich zwei Fahrräder mitten in der Strasse und nicht weit davon entfernt unseren Kameramann liegen. Zum Glück kam er nur mit Schürfungen davon. Anscheinend hatte sich das Windschattenfahren nicht so bewährt und so fuhren wir von da an mit zwei Sekunden Abstand und erreichten auch so relativ schnell unser Ziel.

Alle Blogeinträge können unter www.operationbaltikum.blogspot.com nachgelesen werden. Weitere Informationen sowie der Trailer und ein Making Of sind auch unter www.nordwaerts-derfilm.ch zu finden.

Maximilian Speidel - Rolle des Tim

Samstag, 29. August, 15:15 Uhr: Die Dreharbeiten im Baltikum sind abgeschlossen. Nun haben wir nach 20 Tagen, ca. 250 Arbeitsstunden pro Crewmitglied, 100 verschiedenen Drehorten, dutzenden Eindrücken von Ländern und Leuten, 2 platten Reifen, ein paar 100 Kilometer auf dem Fahrrad, und mindestens 400 „Actions“ und „Cuts“ unser Bier und Abendessen besonders verdient. Lasst uns feiern bevor wir morgen mit Sack und Pack bzw. mit Saccoschen und Fahrräder wieder in die Schweiz zurückkehren. Flavio und Silvio Gerber - Produzent und Regisseur

Fahrradfahren und am Links und Rechts lugen.


Kultur

13 1. Ausgabe, September 2010

My Home Disappeard {Text | Melodie} RG & the Silhouettes

And when I walked down the street the other day I turned around the corner and freezed from disbelieve My home just disappeared Only the walls were standing no furniture inside And the air just wasn’t the same anymore A feeling had gone away Someone once told me It’s got to be that way But I never believed him and laughed at what he said Even the sky now looks different to me More clouds flying by And every evening when I look out of my Window I see nothing but the night That big black sheet Covering all life Force it to slow down and take a little break The world won’t stop turning Just because you walked away I still have to do some learning To operate straight And now that you’re gone it just don’t feel the same And every day I have to look away When your pillow cross my eyes The one you left behind Because it fit so nice The bed you slept in My home just disappeared Disappeared in the night

www.myspace.com/rgandthesilhouettes


14 1. Ausgabe, September 2010

Optimismus

Lohnt es sich, optimistisch zu sein? {Text} Graf zu Orsini

Ich wache auf, es ist Dienstagmorgen. In meiner Brust verspüre ich einen beängstigend stechenden Schmerz. Mein Rachen hat wahrgenommen viele offene Wunden. Nach einem kurzen Blick auf mein Mobiltelefon weiss ich, es ist sieben Uhr. Das Atmen fällt mir schwer. Ich

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erwache wieder, diesmal schweissgebadet. Fünf Minuten später. Mein Kopf fühlt sich innerlich leblos an. Langsam wieder einnickend überlege ich mir, nicht doch aufzustehen. Ich stelle den Wecker aus. Den kleinen grauen Rucksack fülle ich mit einem Handtuch, einem Paar Hallenschuhe, dem Hausschlüssel und dem Portemonnaie. Ins vordere Fach lege ich das dicke Schloss. Mir hat einmal jemand gesagt, dass Sport am Morgen den besten oder den optimalen Start in den Tag ermöglicht. Ich schwinge den grauen Rucksack über die Schulter und erklimme mit einer halben Banane in der Hand und der anderen Hälfte im Mund den nahen Hügel. Wieder meldet sich mein linker Lungenflügel. Kurz wird mir schwindelig. Ich fühle mich angeschlagen, gebrechlich, verwundbar. Angstschweiss auf der Stirn. Ich schlucke leer, was ein ungutes Gefühl bezüglich meines Halses auslöst. Nach kurzer Reflexion entscheide ich mich, auf meinen Körper zu hören. Mein Körper sagt mir, dass ich gewisse Dinge in meinem Alltag ändern sollte. „Wegen


Optimismus eines Wasserschadens bleibt die Sportanlage bis auf weiteres geschlossen. Die frei zugänglichen Sportplätze sind benützbar.“ Ich schlendere langsam heimwärts. Nehme die Sonne um neun wahr. Versuche, die Situation zu geniessen. Habe ich jetzt eine halbe Stunde verloren? Soll ich joggen gehen? ,Es kommt nicht darauf an, was du im Moment machst, du machst es gut.’ Hat mir einst ein Freund zu später Stunde ins Ohr geflüstert. Mein unruhiger Puls schlägt, wie ein erschrockenes Pferd mit seinen Hinter-

„In der Migros ist Parmigiano reggiano Aktion“ hufen, von innen an meine Schädelvorderseite. Es ist schön zu laufen. Wenn ich die Runde flussabwärts laufe, merke ich, wie die verschiedenen Passanten, seien es solche mit Hunden, auf dem Velo oder in hellblauen Leggins, gewillt sind, zu kommunizieren. Renne ich flussaufwärts grüsst mich niemand. Aufgrund der letzten Unwetter ist das

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15 1. Ausgabe, September 2010

Wasser des Flusses hellbraun und mit vielen Ästen und Blättern durchdrungen. Für mich gehört der abschliessende Sprung ins erfrischende Nass schlichtweg dazu. „Pfefferkörner, und Bürschteli zum Abwäsche, und Sirup bruchemer au no.“ Ich habe mich den ganzen Morgen auf die Pasta gefreut. In der Migros ist Parmigiano reggiano Aktion. Ich kaufe gleich zwei Brocken. Schnittlauch und Petersilie kaufe ich frisch, Oregano zu verarbeiten dünkt mich zu anstrengend, getrocknet haben wir ihn noch. Das Joggen hat mir gut getan. Das Atmen fällt mir leichter. Mein Kopf schwebt beinah schon. Die Bürstchen nicht vergessen und ‚Scheisse’, die Haushaltführenden sind um diese Zeit vor der Kasse. Ich schaue gerne fern zum Essen. Hm, Gehacktes mit frischen Kräutern und Chilli. Es ist mir doch ein wenig scharf geworden. Mein verwundeter Rachen meldet sich, doch ist mein Hunger stärker und nachher auch die Lust. Diese Folge habe ich schon gesehen. Die Zigarette nach dem Essen ist die Beste. Vielleicht morgen wieder. •

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Optimismus

16 1. Ausgabe, September 2010

Optimismus Maximus {Text} Nadjavmh {Foto} Janic Halioua

Schlagzeile um Schlagzeile und nichts als schlechte Nachrichten. Die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko nimmt kein Ende, die ausgeklügeltsten Lösungsstrategien scheitern, es fehlt nicht mehr viel, bis auch der Präsident der Vereinigten Staaten mit der weissen Fahne winkt und sich geschlagen gibt. Es bleibt wohl wirklich nichts anderes übrig als abzuwarten, bis der letzte Tropfen Öl aus dem Bohrloch entwichen ist und den Ozean mitsamt seinen Bewohnern restlos vergiftet und getötet hat. Schöne Aussichten! Da erscheint es einem ziemlich belanglos, dass Frankreich erneut in eine Regierungskrise geschlittert ist oder Italiens Ministerpräsident mal wieder zu seinen persönlichen Gunsten kurzerhand und ungestört ein Gesetz gestrichen hat. Doch nicht nur der Rest der Welt kann sich vor Hiobsbotschaften kaum retten, auch die Schweiz steht in keinem guten Licht. Aussenpolitisch lassen wir uns von dem dreikäsehohen Wüstenprinzen Ghadaffi an der Nase herumführen, in sämtlichen EU-Angelegenheiten wollen wir die Extrawurst haben und in Strassburg

schaffen wir es mit einer Initiative, die Religionsfreiheit und Menschenrechte verletzt, sogar bis vor den höchsten Gerichtshof. Na bravo! Ach ja, und dann wäre da noch die WM im winterlichen Südafrika, wo arme Afrikaner in Schal und Mütze im Stadion Eis verkaufen müssen. Ob auch die FIFA hinter dieser glorreichen Idee steckt? Aber diese WM braucht man ja eigentlich gar nicht erst zu erwähnen… war ja absehbar, dass wir es noch nicht einmal ins Achtelfinale schaffen würden! Das einzig Aufmunternde heutzutage sind diejenigen Meldungen, die verlauten lassen, dass es

„Im Grossen und Ganzen herrscht Weltuntergangsstimmung.“ am Wochenende nicht regnen wird, oder dass der Bundesrat gemeinsam ein Bild gemalt hat, um zu zeigen, dass sie eben doch ein bärenstarkes Team sind. Im Grossen und Ganzen herrscht Weltun-

tergangstimmung, von Sommergefühlen nichts zu spüren. Wie denn auch, man hat sowieso kein Geld, um in die Ferien zu fahren - Stichwort Wirtschaftskrise. Ausserdem muss man als Studierende in den Semesterferien arbeiten, wenn man später überhaupt eine praktische Erfahrung im Lebenslauf vermerkt haben will. Für den Arbeitsweg wartet man jeden Tag auf den Zug. Schon wenn sich die Zugtüren schnaubend öffnen, schlägt einem die heisse Luft entgegen, und wenn sie sich hinter einem wieder schliessen, würde man am Liebsten tot umfallen. Bei so vielen Menschen scheint der vorhandene Sauerstoff nicht auszureichen. An Lüftungen oder Klimaanlagen hat offensichtlich niemand gedacht, als sie die Züge gebaut haben. Wenn man Glück hat, lassen sich die Fenster einen Spalt weit öffnen und etwas heisse Luft zirkuliert über den roten Köpfen der Menschenmassen. Willkommen in der Steinzeit! Tja, das sind dann wohl die Folgen des berühmt berüchtigten Klimawandels und zu allem Übel tragen wir die Schuld auch noch selber. Von Er-


Optimismus holung also keine Spur und in zwei Monaten ist der Sommer wieder vorbei und man läuft wieder dem alltäglichen Trott hinterher. So vergeht Monat um Monat, Jahr um Jahr und die von allen hoch gepriesene Jugend vergeht, ohne dass man davon hätte profitieren können. Der Sommer ist endlich da! Die Stadt lebt wieder und man trifft sich am See oder zum gemeinsamen Grillen. Locker schwingt man sich auf einen Drahtesel und flitzt durch enge Gassen und versteckten Win-

„Optimismus ist kein Zustand, sondern eine Einstellung.“ kel, vorbei an den im Stau stehenden Autos, mobil und glücklich. Morgens wird man von den Sonnenstrahlen geweckt, die durch die Fensterläden blinzeln. Die Luft riecht nach saftigen Wiesen und duftenden Blumen, gegen Mittag wird sie drückend und heiss. Dann die Sommerstille des frühen Nachmittags, in der kein Kind ruft, kein Hund bellt und kein Wind weht. Bald hört man sie aber wieder, die Streitereien der Kinder, ein Fussball, der gegen den Gartenzaun knallt und irgendwo dröhnt Musik aus einem Fenster. Abends zieht ein Sommergewitter auf und hinterlässt den unverwechsel-

baren Geruch von heissem, nassem Asphalt. Die Prüfungen sind vorbei, die Ferien stehen vor der Tür und die Freiheit erscheint grenzenlos und zum Greifen nahe. Ach und die WM in Südafrika ist eigentlich gar nicht so übel, ganz im Gegenteil, es ist beeindruckend wie der trivialste und älteste aller Ballsportarten Länder vereinen und Gemeinschaftsgefühle aufleben lassen kann. In Zeiten, in denen Politiker ihre Vorbildsfunktion vergessen und lieber gegeneinander als miteinander agieren, sind solche Anlässe wichtig. Liebe Freunde der Erde, die braune Wolke im Golf von Mexiko ist erstmals seit der Katastrophe vor drei Monaten verschwunden! Nach zahlreichen Versuchen konnte man das defekte Bohrloch schliessen und die Zeit wird zeigen, ob die Einrichtung dem Öldruck dauerhaft standhält. In Afrika hat die Anzahl der HIV Infizierten abgenommen und die Lebenserwartung der Menschheit nimmt konstant zu. Es läuft vieles falsch in dieser Welt, aber es hilft niemandem, wenn wir den Kopf in den Sand stecken und das Handtuch schmeissen. Wir haben alle einen Tod zu sterben, aber wichtiger noch ein Leben zu leben. Dazu müssen wir das Zeitliche segnen und nach Unsterblichkeit streben. Nein, keine Revolution wie Che Guevara sie uns gezeigt hat und ich spreche auch nicht von Weltfrieden. Das Leben ist nun mal nicht nur Friede, Freude, Eierkuchen. Es wird

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17 1. Ausgabe, September 2010

immer Höhen und Tiefen geben, aber ein bisschen idealistisches Gedankengut gehört dazu. Wir dürfen nicht aufhören, an das Gute zu glauben. Ich spreche von OPTIMISMUS. Laut Wikipedia früher definiert als „der Glaube, in der besten aller möglichen Welten zu leben“. Grosse Worte, die heute zum „Glauben an ein gutes Ende“ mutiert sind. Liebe LESER-INNEN, man kann die Kassette in den Rekorder legen wie man will, Seite A oder Seite B. Optimismus ist kein Zustand, sondern eine Einstellung, die von jedem selbst gewählt werden kann. Was wir angesichts der vielen Krisen und Tiefen im Leben nicht verlieren dürfen, ist den Blick nach vorn. Es gibt kein Patentrezept zur Lösung aller Probleme, aber ein Prinzip. Das Prinzip heisst Hoffnung. •


Optimismus

18 1. Ausgabe, September 2010

HANDKRAFT {Text} Steven Mack

ren klettere ich und kenne dieses Gefühl gut. Was halte ich jetzt in meiner Meine beiden Hände liegen auf dem Holzgeländer. Ich bin konzentriert , Hand? Ok, logo, mein eigenes Leben. Wohl aber auch das Leben und die atme achtsam, bin mir meinem Vorhaben bewusst und im Klaren. Hinter Gefühle aller Menschen, die mich lieben, mich kennen. Somit also eine dieser Holzleiste geht es 33 Meter senkrecht zu Boden. Die Überdachung verdammt grosse Verantwortung. Puh… ragt mehr als einen Meter über die Geländergrenze hinaus. In mir ist das Egal, ob ich nun an diesem Balken hänge, eine SMS schreibe, die SVerlangen darüber zu klettern, mich an jenen dicken Balken frei und weit Bahn verpasse oder mit Kollegen eine Pizza bestelle, es ist immer daselüber dem Boden hängen zu lassen. Ich stehe auf dem Loorenkopf Ausbe. Gleichgültig, ob ich nun von Arbeit, Beziehungen, Familie, Freundsichtsturm in Witikon. Einmal schon hing ich mit Genuss hier, testete schaften, Freizeit oder Leidenschaften spreche. Stets bin ich dabei es zu mein Selbstvertrauen. lenken, bewusst oder unbewusst. Jede Verdichtung meiner im Kopf umIch spiele nicht mit dem Leben, im Gegenteil. Ich bin es dabei voll herschwirrenden Ideen haben ihre eigene Wirkung, ihren eigenen weibewusst zu kontrollieren, ihm die ganze Eigenkraft und Achtung zu geteren Weg. Eine grosse Kunst und Herausforben. Am Balken hängend lasse ich jetzt meine derung ist es wohl, die Entscheidung zu fühlen. linke Hand los. Halte mich nur noch mit der „Was halte ich jetzt in Zu fühlen, wann es klug und von Vorteil ist, die rechten fest. Die Füsse frei in der Luft. Wow! meiner Hand? Kontrolle fest in den Händen zu halten. Wann Dieses Gefühl des Adrenalins und Endorphins Ok, logo, mein eigenes aber mag es von mehr Sinnen sein, sich dem Lewill ich einmal gleichstellen wie mit einem suben hinzugeben, ihm und sich selbst zu vertraupergeilen Höhepunkt beim Sex. Einfach gesagt: Leben.“ en, dass es gut kommt so wie es dies sich ergibt, Es ist die pure Befriedigung, welche ich mir da es seinen Sinn hat so wie es dies ist. Dies mag man dann Intuition nennen hole. Mein volles Leben ist in mir drin, ich spüre es durch meinen ganzen oder Bauchgefühl. Ich bin dabei, mit meinem Inneren zu kommunizieren. Körper hindurch. Es stärkt mich, mein Inneres, wenn ich ihm, wenn ich Deswegen hänge ich nun da oben und verspüre mich mir und dem Leben mir selbst klar werde und zeige, wie stark ich ihm vertraue, ihm und mir selbst sehr nahe. Andersrum gibt mir dies das enorme Selbstvertrauen. Zu selbst das ganze Leben in nur eine Hand lege. meinem Inneren höherem Selbst, meiner Intuition, meinem Leben und Das Rauschen des Windes in den Blättern der Baumkronen unter mir jenem Weg, auf welchem ich mich befinde. Ja, ich teste es selbst. Die Eiund die Hitze der Nachmittagssonne scheinen still zu stehen, sich auf genprüfung ist bestanden. Bravo. • mich zu konzentrieren, an meinem Leben teil zu nehmen. Seit zwölf Jah-

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WIR ROTIEREN FÜR SIE Durch welche Perspektive Sie die Welt auch beleuchten: Wir belichten sie in Cyan, Magenta, Gelb und Schwarz. Zur ersten Ausgabe von «die Perspektive» gratulieren wir Simon Jacoby, Manuel Perriard und Conradin Zellweger.

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20 1. Ausgabe, September 2010

Optimismus Das optimistische Kamel, verloren in der pädagogischen Wüste. {Text} Anina Widmer {Illustration} Erika Unternährer

Anfang. Es war einmal ein glückliches Kamel. Im Alter von fünf Jahren war der Zeitpunkt endlich gekommen: Es durfte den Kamelkindergarten besuchen. So legte seine Mutter jeden Morgen etwas Leckeres ins „Znünitäschli“. Mal gab es Knochen, mal ein Stück Haut, mal dornige Büsche oder ein Häppchen Fleisch. Am meisten aber freute sich das Kamel über in Dattelöl marinierte, verstaubte Sandalen, die seine Mutter liebevoll einmal im Monat ins Täschchen packte. Wahrhaft ein gourmetalischer Höhepunkt! Doch das Kamel wurde älter, ging zur Schule und absolvierte, man glaubt es kaum, das Gymnasium mit Schwerpunktfach Musik. Ganz schön talentiert, dieses „Dromedar-Deluxe“. Nun wurde es für das Kamel langsam Zeit, sich Gedanken über die Zukunft zu machen. Je mehr es darüber nachdachte, was wohl aus ihm werde, umso schwerer wurden seine zwei flauschigen Höcker. Also beschloss es, zuerst einmal in die grosse, weite Welt zu reisen. Nach einer Woche Wüstenwanderung sah das Kamel weit, weit weg eine riesige Tafel. Darauf stand:

Werdet Lehrer! „Das ist es!“ Dachte das Kamel. Überglücklich über die spontane Entscheidung, sich der Kamelpädagogik zu widmen, lief es ruckzuck weiter bis zur nächsten Oase. Dort angekommen, bestellte sich das Kamel ein Cola mit Eis und Zitrone, rauchte eine Zigarette und las die Zeitungen, die an den Kakteen befestigt waren:


Optimismus

21 1. Ausgabe, September 2010

Anleitung zum Scheitern Der Horror-Job Lehrer schreckt ab. Reformwut, Bürokratisierung, Disziplinlosigkeit sind Folgen einer verfehlten Bildungspolitik. Die Pädagogen sind Opfer ihrer eigenen politischen Programme geworden. Saharische Lehrer wollen mehr Lohn Lehrkräfte sollen 2010 ein bis zwei Prozent mehr verdienen, fordert der Dachverband Saharischer Lehrerinnen und Lehrer. Die Lehrerlöhne seien im Vergleich mit anderen Branchen ins Hintertreffen geraten. Grossoffensive gegen Lehrermangel Lohnerhöhungen und Studiengang für Quereinsteiger geplant Alleine an den Saharischen Schulen fehlen bis in zehn Jahren über 1000 Lehrkräfte. Nun wollen die Kantone gemeinsam gegen den akuten Lehrermangel vorgehen. Lehrermangel: «Wir schaffen es nicht, alle offenen Stellen zu besetzen» Der Lehrermangel nimmt dramatische Ausmasse an. Zum Beispiel im Schulhaus Mettmenriet in Saharach. Wenn nichts passiert, haben die Sekundarschüler bald jeden Nachmittag frei. Hilfe, uns gehen die Lehrer aus! SAHARA– Nicht mal die Marokkamelaner können diese Lücke füllen: In Saharischen Sekundarschulen fehlen Tausende von Lehrern.

Ende. Kannst du das Kamel verstehen? Bist du vielleicht sogar in derselben Situation wie dieses Kamel? Wolltest du dich auch mit der Pädagogik beschäftigen? Oder bist du ein von den aktuellen Medien eingeschüchtertes Kamel? Ehrlich gesagt, sich in der Wüste zu orientieren war noch nie einfach. Überhaupt einen Fuss in die Wüste zu setzen, das braucht Kraft, Ausdauer, Kondition und einen starken Willen. Doch ich bin sicher, dass DU all diese Eigenschaften besitzst. Lehrer - ein Horrorberuf? Da krümm ich mich vor Lachen ja gleich zu einer Banane. Lehrer sein ist eine wunderschöne Aufgabe: Du verdienst dein Geld mit Dingen, die du sonst NIE machen würdest: Film schauen, Museen besuchen, Zeitung lesen, Musik hören, zeichnen, schreiben, im Internet surfen, wandern, schwimmen, grillieren. Oder mit anderen spannenden Sachen wie: Leute aller Altersgruppen und Nationen kennenlernen, mit Singles in deinem Alter Gespräche führen, tanzen. Und das Beste an der Sache ist: Du verpasst keinen einzigen wichtigen WM oder EM Match der Schweiz! Also, Kamelkack auf das, was die Journalisten im Magazin, Blick, NZZ, Tagesanzeiger und 20 Minuten schreiben, und werde Lehrer! •

JEAN-MARC SEILER

AM ANSCHLAG AFFICHEN

Wolfbach

Je mehr Zeitungsartikel das Kamel las, desto schneller blätterte es mit seinen ausgetrockneten Lippen von der einen Wüstenseite zur nächsten. Schliesslich dampfte es nur noch so aus seinen Kamelohren und es murmelte mit rauer Stimme: „Ach- ihr könnt mir mal am Kamel***** lecken“. Es löschte die Zigarette aus, schlürfte den letzten Tropfen Cola aus der Kokosschale und zog weiter in die grosse, weite Welt!

Eine Sammlung von Seilers Plakaten, mit denen er vor der Eigendynamik gewisser Mechanismen zu warnen versucht, sich gegen ein zerstörerisches System und seine ökonomische Lüge stellt und sich zur Wehr setzt gegen die Erpressungswirtschaft der Finanzmächte und gegen die fortschreitende Vernichtung der direkten Demokratie.

«...Am Anschlag ist erschütternd auch. Und brillant. Die kritische Vernunft in Aktion.» Jean Ziegler «...Mit der Fähigkeit, sich immer und überall von allem das Gegenteil vorstellen zu können kondensiert er ausführliche Denkarbeit auf wenige Worte. Und es gibt Fälle, in denen das Gegenteil das Bessere ist.» Peter Karl Wehrli Jean-Marc Seiler aM anSchlag durchgehend farbige Abbildungen ISBN 978-3-905910-07-0, CHF 33.–

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SELBSTAUSLÖSER JEAN-MARC SEILER

. MARKUS BUNDI

Der Bildband mit s/w Fotomontagen von Jean-Marc Seiler und Gedichten von Markus Bundi vermittelt spannende und vergnügliche Polarität zwischen Text und Bild, die sich nicht erklären, sondern ergänzen will. «...Kurt Tucholsky, der unbestechliche Kritiker der Weimarer Republik, und sein Mitarbeiter John Heartfield, der Fotomonteur, grüssen von ferne» Ulrich Stadler J.M.Seiler / MarKUS BUndi SelBStaUSlöSer Mit einem Vorwort von Ulrich Stadler ISBN 978-3-905910-01-8, CHF 29.–

www.wolfbach-verlag.ch


22 1. Ausgabe, September 2010

Kreatives

Das Gewissen {Text} David Howald

Das Gewicht der Dinge als variabel zu erkennen ist der Anfang einer langen Zweifelsfahrt. Einem Taumeltanz und Trugspiel. Euphorisierte Gischt. Perlenstrand und Abglanz. Erkenntnishascherei. Werterschöpfung und Weltenklage. Verfall in Kategorien. System, Unordnung und Verzweiflung. Meine Arroganz ist mir entzogen und entwöhnt. Nun lasst mich, pur wie ich fühle, eintreten ins Freie. Es kommt nicht drauf an, wann man dort ankommt, sondern wer man ist, wenn man dort ankommt.Versteinerte Junkies säumen den Weg. Ich wickle mein Findling in Felle. Von den Tropfstein-Brücken schauen elegante Karnevalsfiguren hinunter auf den verkalkten Pfad, auf welchem ich wandle. Als grüne und purpurrote Vögel sind sie prächtig gekleidet. Die Luft ist voller Champagner Gesäusel und bittersüssem Duft. Entwürdigte Rosenblätter liegen auf den abgewetzten Stufen, welche sich zum Tor hinauf quälen. Riesige Pappeln wimmern und sehnen im Wind. Eine Erinnerung verschafft sich in der Klarheit des Moments Gehör und Gesicht. Sie steht im lauen Wind. Die Strähnen wie Algen in uralten Untiefen we-

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hend. An eine Laterne gelehnt hat sie der Moment zum Zählen gebracht. Leichtigkeit mit unendlicher Schwere vermählt. So sah ich mich vor zwei Lösungen gestellt, um dem Selbst gerecht zu werden, welches ich zaghaft in mir zu erkennen wagte. Mein Gewissen. Mein Blindenhund. Sollte ich mich um es sorgen. Sollte ich es wie ein Neugeborenes in Leintücher einwickeln. Und es wie ein junges Wunder oder ein Geheimnis bergen. Solange noch Zeit dazu wäre. Es verwahren, so dass es von keiner Abtrünnigkeit versehrt und vom Staube der Welt verschont bliebe. Oder sollte ich es kühnen Mutes, aufrecht in den Welten Wirrwarr hinein tragen. Es erodieren lassen vom Hagel der Niedertracht. Des Zwiespalts, des Haltlosen und Kaltfühligen. Kann eine unversuchte Seele eine gute Seele sein. Ist nicht das Leben das Gesuch um ein Gesicht, um Einsicht und letztendlich um Einlass. Ich verstehe das Gewissen als Attribut der Seele. Regulierung des Schmerzes, welcher von aussen nach innen gelangt und umgekehrt. Ein grosses Gewissen steht in hohem Masse im Austausch mit der Welt und ist verantwortlich für das Gewicht der sie umgebenden Dinge. •


Kreatives

Media Detour {Illustration} Marlon Höss

Die Serie umfasst 15 Seiten im Format A3, welche im Zeitraum zwischen Ende Oktober bis Anfang Dezember 2009 entstanden ist. Verwendet wurde Tusche in den Farben Schwarz, Rot, Grün und Blau sowie weisse Tempera bzw deren Mischfarben. Als Vorlagen dienten Fotos aus Pendler- und Tageszeitungen. Die Ordnung der Serie ergibt sich aus der willkürlichen Reihenfolge, in welcher die Bilder gefunden wurden und dokumentieren somit ausschnittsweise das Zeitgeschehen aus zwei Monaten.

23 1. Ausgabe, September 2010


24 1. Ausgabe, September 2010

Kreatives

Gute Nacht Sabrina {Text} Michael Beyeler {Foto} Peter Baracchi

Das Unheimlichste an meinem Vater ist sein Blick, wenn ich mich im Schlafanzug über die Wohnzimmer-Couch bücke, um Mama einen Gutenachtkuss auf die Wange zu drücken. Dabei setzt er sich nicht einmal in seinem Sessel auf, um mich zu umarmen. Die Füsse auf dem Schemel parkiert, senkt er die Zeitung vor seinem Gesicht ein wenig, um mich nur seine Augen unter den buschigen Brauen im Zigarrendunst erspähen zu lassen. Ich wünsche auch ihm eine gute Nacht, erhalte aber nie eine Antwort. Sein durchdringender Blick verfolgt dabei jede einzelne meiner Bewegungen, wandert an meinem Körper auf und ab, so dass ich schwören könnte, er beobachte mich noch, selbst wenn ich schon lange unter der Bettdecke liege. Ich habe mich oft gefragt, woran mich dieser Blick erinnert. Ich

mag ihn nicht. Es kommt mir stets vor, als stünde ich neben einem Panther im hohen Gras und wüsste nicht, ob ich mich fürchten oder ihn streicheln soll. Auch Pedro hat dunkle, geheimnisvolle Augen. Aber Pedro verabschiedet mich immer, bevor ich nach Hause gehe. Er ist so ganz anders als mein Vater – er findet immer die richtigen Worte. Vielleicht muss ich meinem Vater einfach mehr Zeit lassen, die richtigen Worte zu finden. Er weiss ja, wo ich schlafe. Manchmal klopft er spätnachts noch an meine Zimmertüre und öffnet sie soweit, dass ein fader Lichtstrahl auf die Bettdecke fällt. Jetzt hat er sich erinnert, fährt es mir durch den Kopf, und von weit her scheine ich ein „Gut’ Nacht, Sabrina“ zu hören. Doch ich bin schon zu müde, um die Augen zu öffnen. Als jedoch mein Vater an jenem Abend an meine


Kreatives

25 1. Ausgabe, September 2010

vorbei in die Küche. Meine Mutter sass am Küchentisch und Türe klopfte, wurde mir die Wahrheit schlagartig bewusst. starrte ins Leere. „Da bist du ja“, forderte ich sie auf, mir zu Wie immer machte ich mich direkt nach der Schule auf den antworten. „Ist Papa schon zu Hause?“ „Hallo Schätzchen“, Heimweg, um zu lesen und Pedros Musik zu hören. Pedro stammelte sie endlich, ohne sich von ihrem Blick lösen zu hat immer die neuesten CDs, und ich bin immer die Erste, der können. Sie nuckelte an ihrer Zigarette, liess den Stummel er sie ausleiht. Aus der Bahnhofunterführung quoll ein Strom zwischen den Fingerspitzen kreisen und starrte auf die Komerschöpfter Pendler herauf und trug mich durch die Zürcher mode. Dort lag eine rote Augenbinde. Warum muss ich das Innenstadt. tragen, Mama? „Ist dir nicht gut? Du bist ja ganz blass.“ Am Sihlquai angekommen tröpfelte ich weiter von Ampel Ich schnappte mir eine Safttüte aus dem Kühlschrank und zu Ampel, bis ich endlich in der Seitenstrasse meines trauten setzte mich neben sie. Vielleicht brauchte sie etwas AufmunHeims stand. Wir leben nun schon seit meiner Geburt in dieterung. „Stell dir vor, Pedro hat nächsten Samstag Geburtstag sem Rattenloch genannt „Dachwohnung“, aber an den Geund veranstaltet eine grosse Party bei ihm zu Hause. Darf ruch, der mir unter der Eingangstür wie eine Faust ins Gesicht ich hingehen? Ich verspreche dir, ich bin um Neun wieder schlägt, werde ich mich nie gewöhnen können. „Mama, ich da. Mama?“ Sie sah merkwürdig bin zu Hause!“, brüllte ich um die alt aus. Ich wusste genau, dass sie Ecke, vor allem um nahe Kaker„Warum arbeiten nicht alle etwas bedrückte. Ich rückte meinen laken aufzuscheuchen, damit sich dort, wenn es doch so Spass Stuhl neben sie und strich ihr durch diese wieder in ihre Löcher verkrodie zerzausten Locken. „Du kennst chen. Ich hasse Kakerlaken, aber sie macht?“ doch Pedro, oder?“ Wieder keine scheinen in diesem Stadtteil genauReaktion. „Das ist der Junge aus meiner Klasse, den ich mal so selbstverständlich zu sein wie die grellen Nachtclubs, in heiraten werde“, fügte ich verschmitzt an. „Heiraten?“ Meidenen meine Mutter gearbeitet hat. Dort treffen sich Leute ne Mutter zuckte auf. Das hätte ich besser nicht gesagt. Ich aus aller Welt, und dann wird getrunken und getanzt bis in die konnte sehen, wie augenblicklich feine Blutströme durch ihr frühen Morgenstunden. Warum arbeiten nicht alle dort, wenn fast lebloses Gesicht schossen und ein Netz der Blösse unter es doch so Spass macht? ihre bläuliche Kopfhaut woben. „Heiraten?“, wiederholte sie. Ich schlängelte mich durch den Flur, rief noch einmal „Pedro! Du kennst doch die Regeln, Schätzchen. nach meiner Mutter und schob mich an der Zigaretten-Vitrine ANZEIGE


26 1. Ausgabe, September 2010

Kreatives

warte immer darauf, aber es kommt nie dazu. Plötzlich zuckt Nein, nein, du heiratest Dr. McDreamy, Schätzchen, verPedro auf und dreht sich um. Ehe ich mich versehen kann, ist giss das nicht!“ Wenn es nach meiner Mutter ginge, würde Pedro weg, und ich starre in Vaters Gesicht, während er auf ich kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag einen reichen mich zustampft. Wieder dieser Blick. Warum darf ich nicht Arzt heiraten und auf der anderen Seite des Sees wohnen. Sie mit? spricht immer wieder davon – vor allem, wenn es ihr nicht gut Auf einmal lag ich hell wach da. Noch immer hörte ich das geht. „Versprich mir, dass du mit ihm glücklich wirst. VerKeuchen meines Vaters, doch diesmal kam es aus dem Nebensprich es mir, Schätzchen, ja? Sei ein braves Mädchen.“ Denn zimmer. Brave Kinder werden belohnt. Manchmal wünschte brave Kinder werden belohnt, schossen mir die Worte wieder ich, mein Zimmer läge am anderen Ende des Gebäudes und durch den Kopf. Ich nickte betrübt, sorgte mich in diesem nicht gegenüber dem Wohnzimmer, wo ich durchs SchlüsselMoment jedoch mehr um meine Mutter als sie um mich. loch sehen konnte, wie sich Mama die Bluse aufknöpfte und Vielleicht brauchte sie auch einfach ihre Ruhe. Sie schien auf meinen Vater wartete. Sie hatte mich belogen. Papa war etwas verwirrt zu sein. „Wem gehören denn diese Schuhe?“, doch verärgert. Böse Kinder werden bestraft. Und als die beirief ich ihr aus dem Wohnzimmer zu, während ich mich auf den dann im Schlafzimmer waren und ich nur noch ihr Bett dem Weg in mein Zimmer machte. Ich will Dr. McDreamy gegen die Wand hämmern hörte - erst langsam, dann immer nicht heiraten, woher soll ich denn wissen, welche Musik er schneller -, hätte ich alles gegeben, um einmal mehr aufwamag? Pedro und ich passen viel besser zusammen, wir sind chen zu können. Womöglich war alles nur ein schlimmer wie – „Was hast du gesagt?“ Ich konnte nicht verstehen, was Traum. Mache nie Fehler, hörst du? Mama geantwortet hatte, und als ich wieder in der Küche Ich hörte Mutter umso lauter schreien, je kürzer die Paustand, starrte sie erneut ins Leere. „Papa ist wütend“, sagte sie sen zwischen den Stössen wurden. Als ich noch klein war, hatnur. „Ist er schon von der Arbeit zurück? Wo ist er?“ „Er ist te ich mich oft aus meinem Zimmer heraus getraut und an der wieder draussen. Im Calypso. Papa ist wütend“, wiederholte Türklinke ihres Schlafzimmers gerüttelt. Es hatte doch einen sie und nestelte nach der nächsten Zigarette. „Wenn er wieder Grund für Mutters Schreie geben müssen! Und auch wenn zurückkommt, musst du bereits schlafen. Hörst du, Schätzsie von Räubern umzingelt gewesen chen? Versprich es mir.“ „Ich hörte meine Mutter wäre, hätte ich sie befreien wollen. Womöglich hatten sie wieder Doch die Angst verschwand, als Streit. Meine Mutter mag es nicht, umso lauter schreien, je auch ich zu schreien begann. Es ist wenn ich zuschaue, wie sich die kürzer die Pausen zwischen schon lange her und Mama hat mir beiden streiten. Deshalb esse ich oft versprochen, es würde nie wieder auf meinem Zimmer und verbringe den Stössen wurden.“ vorkommen, wenn ich nur brav den Abend dort lesend. „Was ist sei. Kinder sollten nicht schreien müssen, wenn sie bestraft denn passiert? Hast du was falsch gemacht? Hast du ihn verwerden. Aber vielleicht gehört das Schreien einfach dazu, so ärgert?“ „Falsch? Fehler, sagt dein Vater, Fehler sind nicht erwie die Augenbinde. Wahrscheinlich schreien alle Mütter und laubt. Du kennst doch die Regeln, oder, Schätzchen?“, fragte Töchter. Es ist eine Form, seine Fehler dem Vater einzugestesie mich vorwurfsvoll, während sie das letzte Stäubchen Teer hen und ihn um Verzeihung zu bitten. aus ihrer Zigarette sog und den Stummel erstickte. „Aber jeStrenge Väter hören mit der Bestrafung aber erst dann auf, der macht doch Fehler ...“ „Du hörst nicht zu, Schätzchen.“ wenn sie sicher sind, dass die Tochter ihre Lektion gelernt hat. Sie nannte mich immer ‚Schätzchen’. „Meine Lehrerin sagt, Die Pausen zwischen den Stössen wurden unerträglich kurz, rauchen sei ungesund. Warum rauchst du so viel?“ „Geh so dass mit jedem Stoss der Verputz von der Wand auf mein jetzt“, seufzte sie. Kopfkissen bröselte. Dann, endlich trat Stille ins Zimmer neIch ging auf mein Zimmer. Unsere Wohnung ist sehr dübenan und liess mich etwas Erholung finden, nur damit kurz ster, und wenn meine Füsse den Weg zu meinem Zimmer darauf das ganze Spiel von neuem beginnen konnte. Ich hörte nicht schon auswendig gekannt hätten, wäre ich wohl dauVater nach meinem Namen rufen, aber Mama schien ihn zuernd über irgendwelche Kartons gestolpert. Ich schnappte rückzuhalten, noch bevor die Schlafzimmertür wieder ins mir das erstbeste Buch, das ich in die Finger bekam, warf mich Schloss fiel. Ich presste meinen Kopf noch tiefer ins Kissen auf mein Bett und vergrub meinen Kopf im Kissen. Manchund bildete mir ein, die Schreie so irgendwann nicht mehr hömal träume ich auch von Pedro. Dann treffen wir uns zusamren zu können. men draussen, neben der Kirche am Stauffacher. Wir liegen im Plötzlich war es still. Das Licht im Wohnzimmer ging an, hohen Gras, hören Musik und lachen zusammen. Pedro und und ehe ich mich versehen konnte, hämmerte eine schwere ich lachen oft. Diesmal ist mein Vater auch da: Er sitzt auf Faust gegen meine Türe. Da war er wieder, dieser Blick. Es einer Parkbank und liest. Pedro erzählt mir von seinem Haus waren die Augen einer Antilope, die in der Savanne graste; am Meer, den Olivenbäumen und der kleinen Fischerbucht. grosse runde Farbkleckse im Gesicht eines scheuen Rehs, die Sein Grossvater ist Fischer, und wenn Pedro seine Familie mich einluden, ihnen ins Schlafzimmer meiner Eltern zu folbesuchen geht, darf er mit ‚abuelo’ zum Fischen aufs Meer gen. Ich setzte mich im Bett auf, nahm das seidene Rot entgerausfahren. Nächstes Jahr will Pedro mich mitnehmen. Pedro gen und legte es über meine Augen. pflückt ein Gänseblümchen und steckt es mir ins Haar. „VerEigentlich konnte ich ja nur belohnt werden. • sprochen“, flüstert er mir ins Ohr. Ob er mich jetzt küsst? Ich


Kreatives

smokefred.ch 27 1. Ausgabe, September 2010

Rauchen ist tรถdlich. Fumer tue. Il fumo uccide


Reisen

28 1. Ausgabe, September 2010

Trommeln im Hammam {Text} Magdalena Mühlemann

Beim Aussteigen aus dem Flugzeug verschlägt es mir den Atem. Die Luft ist heiss und feucht. Wie im Badezimmer nach einer zu langen Dusche. Wer hier nicht schwitzt, lebt nicht. Wer hier auf das falsche Deo setzt, lebt wohl nicht mehr lange. Die richtigen Deos kommen aus Europa. Wir bringen sie. Vor zwei Jahren sass ich in Heidelberg bei Per, einem schwedischen Medizinstudenten zum Tee, als seine Nachbarin, Mejda, eine fröhliche kleine Doktorandin Mitte zwanzig, klingelte und mich unbekannterweise gleich mit zu ihrer Geburtstagsparty einlud. Mit Per ist der Kontakt inzwischen versandet. Mejda hingegen präsentiert mir nun ihr Land und ihre Familie. Zwei Autostunden nördlich des internationalen Flughafens Monastir liegt Dar Chaabane, das Dorf, aus dem sie stammt, ein Vorort von Nabeuil. Nabeuil ist im Inland für Töpferwaren bekannt. Ein überdimensionierter Tontopf

ziert den zentralen Verkehrskreisel des Ortes. Im Ausland findet sich der Name auf Tuben mit Harissa, der salzig-scharfen Chilipaste, die hier hergestellt wird. Als ich Mejda fragte, was ich ihrer Familie mitbringen könne, kam die Antwort prompt: Schweizer Schokolade. Ich habe also die Geschenkversionen mit den EdelweissBlüten auf der Verpackung gekauft. In Italien sind die sehr beliebt. Tunesien ist wie Italien. Nur extremer. Nicht nur in Sachen ästhetischer

„Es gibt Cousinen soweit das Auge reicht.“ Geschmack, sondern auch in Bezug auf die Mentalität. Während sich der Geschmack in einer Vorliebe für Nippes aus Porzellan mit Goldrand, für bunte Stoffblumen, opulente Kleider und Schminke in auffälligen Farben eher dem

Auge darbietet, so erreichen die Umgangsgepflogenheiten als erstes das Ohr. Still ist es nur auf dem entsprechenden Örtchen. Sonst läuft Musik. Oft aus dem Fernseher. Dazu wird lebhaft geplaudert. In Tunesien bin ich nie alleine. Niemand ist hier je alleine. Die Familie ist immer da. Für die Familie ist die durch die Sommerhitze gerettete Schokolade bestimmt. Für die Familie sind auch die Deos. Mejda verwaltet beides. Sie will geschickt aufteilen. Denn die Familie ist gross. Mejda selber hat zwar nur vier Geschwister. Aber das halbe Dorf ist mit ihr verwandt. Es gibt Cousinen, soweit das Auge reicht. Eine von ihnen ist Meriam. In den nächsten Tagen wird sie heiraten. Ihre Schwester Zainep hat vor zwei Monaten gefeiert. An einem einzigen Abend im Saal eines vornehmen Hotels. Das war eine moderne Hochzeit. Sie trug nur ein einziges Kleid und zu essen gab es nur ein paar Süssigkeiten.

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«Die Perspektiven der Jungen nicht zerstören»

Simon Jacoby, Jugendbetreuer Syna


Reisen Bei Meriam wird das anders. Sie hat Sinn für Tradition. Noch wohnt Meriam im einfachen, ebenerdigen Lehmhaus der Oma. Die Zähne putzt sie sich in der Küche. Die Türe zum Innenhof schliesst sie mit einem Stoffvorhang. Doch im Schlafzimmer kündigen die Geschenke des Bräutigams und seiner Familie bereits vom neuen Hausstand. Die Waschkörbe sämtlicher Verwandten und Bekannten kommen hier zum Einsatz: Sie sind gefüllt mit Kosmetika – Duschgels, Shampoos, duftenden Seifen, französischem Parfum. Aber auch mit Goldschmuck aller Art, mit Frottee-, Bett- und Tischwäsche, mit Seidenpyjamas. Daneben stehen Gläser, Schüsseln, Töpfe, ein mehrteiliges Service, zwei Elektrogeräte. Auf dem Bett schliesslich sehe ich ein paar Kleider. Besonders stolz ist Meriam auf die schwere, silbern funkelnde Robe. Der erste Tag der Feierlichkeiten fällt auf einen Sonntag. Als wir bei Meriam ankommen, begrüssen uns viele Frauen mit lauten Freudentrillern. Während die Männer draussen vor der Tür sitzen und Karten spielen, ist das Atrium fest in ihrer Hand. Aus grossen Boxen dröhnt laute Musik. Die Tanten bewegen die Arme. Die Cousinen lassen kunstvoll ihre Hüften kreisen. Auch Mejda liebt es zu tanzen. Aber nach einer Weile will die Mutter, dass sie eine Pause macht. Die Leute tuscheln. Wer zu gut tanzt, wird verdächtig. Lange Kleider oder Hosen sind muslimische Pflicht. Selbst am Meer tragen die Frauen oft Radlerhosen unter den Badeanzügen. Die

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Religiösesten unter ihnen ziehen nicht einmal da das Kopftuch und den Mantel aus. Sie baden in voller Montur. Um 18 Uhr ist Meriam fertig geschminkt, frisiert und weiss angezogen. Eine Stunde später treffen der Fotograf, der Standesbeamte und der Imam ein. Der Bräutigam und die anderen Männer schliessen sich ihnen an. Binnen Minuten ist der ganze Innenhof zum Bersten voll. Wir beziehen unseren Beobachtungsposten auf dem Flachdach. Die zwei Nef-

„Auch der Bräutigam wird sich an intimer Stelle rasieren.“ fen von Mejda kommen mit. Der grössere der beiden ist etwa acht Jahre alt. Erstaunlicherweise spricht und versteht er Deutsch. Seine Eltern kennen kaum ein paar Wörter auf französisch. Sie unterschätzen den Einfluss von “Super RTL”. Vor dem Standesbeamten unterschreibt das Brautpaar den Ehevertrag. Zwei Verwandte fungieren als Zeugen. Daraufhin ermahnt der Imam zu gegenseitigem Respekt und zu besonnenem Umgang mit Geld. Es folgt ein Gebet. Nun werden sämtliche Waschkörbe und Personen auf Autos verteilt. Man fährt über Umwege und mit obligatem Hupkonzert zum Haus des Bräutigams. Dort angekommen, tragen die Männer die Waschkörbe in die Zimmer. Die Frauen räumen ihren Inhalt in die Schränke ein. In weniger als ei-

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ner Stunde ist die Wohnung bezugsbereit. Am Dienstag sind wir erneut bei Meriam und ihrer Oma. Sie und Zainep sowie die Mutter und die Schwester von Mejda pappen sich eine dicke braune Hennapaste auf die Innenseite der Hände und auf die Fusssohlen. Während der zwei Stunden, in denen das Henna einziehen muss, bleiben die Hände und Füsse mit Stofffetzen umwickelt. Danach wird die überflüssige Paste wieder abgespachtelt. Die Farbe, die schliesslich auf der Haut bleibt, signalisiert dem Dorf einige Tage lang die grosse Freude der Frauen über die Hochzeit von Meriam. Sie erzählt einen Tag später unter verlegenem Kichern von der fünfstündigen Epilation, die sie über sich hat ergehen lassen. Mit einem speziellen Wachs haben zwei Frauen jeden einzelnen Zentimeter ihres Körpers, bis auf den Kopf, von Körperhaaren befreit. Selbst der Genitalbereich sei nun komplett enthaart, flüstert mir Mejda zu. Sie werde es genauso halten zu ihrer Hochzeit. Es gehe dabei nicht um Pädophilie, sondern um Sauberkeit. Auch der Bräutigam wird sich an intimer Stelle rasieren. Zum Glück ist die arabische Haut nicht empfindlich. Ich sehe an Meriam keine Rötungen. Als Nächstes bemalen sich die Frauen die Handrücken. Schon nach kurzer Zeit winden sich pflanzenartige Linien anmutig um kleine feine Punkte. Die Frauen plaudern, lachen. Mit dieser Musse ist es am Abend vorbei. Die blonde Layla drückt uns zwei Kisten mit 21 Limonadefläschchen zum Tragen in die Hand.

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Reisen

30 1. Ausgabe, September 2010

Meriam erscheint in einem rosafarbenen Seidenpyjama. Darüber zieht sie das traditionelle gelbe Umschlagtuch, das mit den Zähnen festgehalten wird. Die Frauen packen diverse Taschen und setzen sich in Bewegung. Nach ein paar hundert Metern betreten wir das Foyer des Hammams. Einige trillern, andere trommeln. Hier ist die Luft noch feuchter als draussen. Dicke Teppiche liegen auf dem Boden. In einer Ecke lagert bereits die Verwandtschaft einer anderen Braut. Wir setzen uns und trinken Limonade. Es riecht nach Weihrauch. So muss ein Picknick in einer orthodoxen Kirche sein. Alle ziehen sich bis auf den Schlüpfer aus. Meriam nicht. Sie ist heute die Königin. Nichts muss sie selber erledigen. Mejda und ich dürfen bereits ins Bad. Der Anblick ist wie bei Fellini oder Pasolini: Eine düstere Halle, Schwaden von Wasserdampf. Überall stehen oder sitzen fast gänzlich nackte Frauen, die sich einschäumen und mit kleinen Schalen Wasser über die Haare und den Körper laufen lassen. In die Wände der Hallen sind kleine Nischen eingelassen. Dort gibt es Wasserhahnen. Wer keinen freien Platz ergattern konnte, sitzt am Brunnen in der Mitte oder schöpft Wasser aus einem Eimer. Mejda rubbelt mir mit einem Naturschwamm den Rücken. Es kratzt. Doch meine Haut wird samtweich. Nun führen die Verwandten Meriam mit Kerzen, Trommeln und Freudentrillern in eine frei gewordene Nische. Zwei Frauen seifen sie ein, waschen ihr die Haare, massieren ihr die Haut. Ich kehre ins Foyer zurück. Mein Kreislauf fährt Achterbahn. Mejdas

Mutter nickt mir zu. Aus ihren Augen blitzt der Schalk. Nach dem Hammam lassen auch Mejda und ich uns die Handrücken bemalen. Damit der kleine Sohn der Künstlerin während ihrer anspruchsvollen Arbeit nicht plötzlich auf die Strasse läuft, hat er am Fuss ein Seil, das am Sofa befestigt ist. So kann er nicht aus dem Zimmer. Als die Muster trocken sind und wir im Haus der Oma eintreffen, steht die Verwandtschaft in Arbeitskleidung und Kopftüchern bereit: Der Metzger führt ein Kalb ins Atrium. Er legt es auf den Boden und bindet seine Beine zusam-

„Die zwanzig Leute um mich herum, die trotz der Hitze gut riechen.“ men. Daraufhin dreht sein Assistent dem Kalb den Hals um und schneidet ihm die Kehle auf. Das Blut fliesst in dunklen Strömen. So verlangen es die Regeln der muslimischen Schächtung. Der Metzger spritzt das Blut mit dem Schlauch in den Abfluss des Innenhofs. Danach hackt er dem Kalb den Kopf und die Beine ab. Auch die Haut ist schnell weg. Seine Handgriffe sind schnell und routiniert. Ein Fleischstück nach dem anderen kommt in eines der mit Wasser gefüllten Plastikbecken. Plötzlich platzt der riesige Magen. Sein brauner Inhalt ergiesst sich auf den Boden. Doch mit Schlauch und Besen befördern die Frauen auch diesen Haufen im Nu dem Abfluss entgegen. Den ganzen nächsten Vormittag und Nachmittag stehen die Tanten und Cousi-

{Bild} KIRIWEST

nen in der Küche, verarbeiten das Fleisch und bereiten eine grosse Schüssel Couscous zu. Danach machen sie sich fein. Mejda lästert auf Deutsch: “Sie schminken sich hässlich! Wie Puppen!” Sie mag sich den herrschenden Schönheitsvorstellungen nicht anpassen. Dem Friseurbesuch kann jedoch auch sie sich nicht entziehen. Am Abend findet auf dem Platz vor dem Haus einer Nachbarin nämlich das grosse Fest der Braut statt. Das ganze Dorf ist dabei. Die Frauen kommen im Abendkleid. Die Männer sind heute Zaungäste. Sie tragen Jeans. Auf einer bunt dekorierten Bühne thronen frisch Verheiratete in ihren silbernen Roben. Sie sind die Ehrengäste. Neben ihnen spielt die Band. Meriam ist stark geschminkt und trägt ein weisses Kleid. Viele Frauen tanzen um sie herum. Andere sitzen und fächeln sich Luft zu. Nach einer Weile verschwinden Braut und Brautschwester. Sie kehren wenig später umgezogen zurück, begleitet von den Freudentrillern der Anwesenden. Es gilt zu zeigen, dass für die Hochzeit keine Kosten gescheut wurden. Der Bräutigam ist nur sporadisch zu sehen. Ab und zu trägt er Plastikstühle für weitere Gäste herbei. Meriam sitzt nun ebenfalls eine halbe Stunde auf der Bühne. Alle amüsieren sich prächtig. Nur sie fühlt sich sichtlich unwohl. Dann ist es für sie erneut Zeit, sich umzuziehen. Als sie endlich wieder erscheint, trägt sie ein schweres Goldkleid und einen Hut. Ihr Gesicht ist von einem roten Tuch verdeckt. Sie muss geführt werden. Vor der Bühne angekommen, zeigt sie

„Wohin man auch blickt, alles dreht sich immer um die Erde, sogar der Mond.“

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Reisen dreimal die Innenflächen ihrer Hände. Mit dieser Geste beteuert sie ihre Jungfräulichkeit. Die Frauen reagieren mit Freudentrillern. Meriam darf den Schleier abnehmen. Sofort verabschiedet sich nun die Band. Sie spielt heute noch auf einer anderen Hochzeit. Eilig packen die Musiker ihre Instrumente zusammen. Auch die Gäste stehen auf und strömen nach Hause. Mejda tobt. Der ganze Aufwand habe sich nicht gelohnt. Das teure Kleid sei gar nicht richtig zur Geltung gekommen. Aber da der Höhepunkt des Festes nun überschritten ist, ziehen auch wir uns wieder um. Es ist 23 Uhr und wir haben Hunger. Das vorbereitete Essen steht bei der Nachbarin. Nachdem die Männer bedient sind, dürfen auch wir beim Couscousgericht kräftig zugreifen. Es schmeckt wunderbar. Alle essen aus derselben grossen Schüssel. Am nächsten Tag fliege ich nach Hause. Mir entgeht der Schlusstag. Er ist das grosse Fest des Bräutigams. Am Abend findet schliesslich die ergreifende Übersiedlung der Braut in sein Haus statt. Beim Aussteigen aus dem Flugzeug ist mir kalt. Die Schweiz ist trüb und grau. Zwar trage ich viele Eindrücke, Erfahrungen und ori-

ginelle Geschenke bei mir. Doch ich merke: Ich bin alleine. Die Familie fehlt. Das lebhafte Geschrei. Die Freudentriller und das Getrommel. Die zwanzig Leute um mich herum, die trotz der Hitze gut riechen. •

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