Impressum Umschlagbild: Papst Johannes XXIII. SZ Photo/PictureDesk.com Fotos im Innenteil: Foto Archivio Grafica & Arte, Bergamo / Die Veröffentlichung der Bilder erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Mons. Loris Francesco Capovilla. Grafische Gestaltung: Nele Steinborn Schrift: Milo sans und Milo serif Herstellung und Druck: Tina Gerstenmayer, D&K Publishing Service, Wien © 2011 by Wiener Dom-Verlag Wiener Dom-Verlag Gesellschaft m. b. H., Wien Alle Rechte vorbehalten. ISBN 978-3-85351-234-0 www.domverlag.at Übersetzungen aus dem Italienischen – soweit sie nicht den angegebenen Quellen entstammen – besorgten Ewald Volgger, Paola Cecarini sowie Hubert Gaisbauer. Für die Abdruckerlaubnis von Christine Bustas Text aus »Unterwegs zu älteren Feuern« auf S. 255, danken wir herzlich dem Verlag Otto Müller.
Ruhig und froh lebe ich weiter Ă„lter werden mit Johannes XXIII.
Mit einem Essay Ăźber Loris Francesco Capovilla von Ewald Volgger
wiener verlag
Inhalt
Vorwort
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Worauf es ankommt – oder: Il succo vitale!
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Und dann und wann ein weißer Elefant …
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Nur für heute
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Ein Kosmopolit des Herzens
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Der Zorn des Lammes
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Wenn die Pferde fehlen, müssen die Esel traben
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Stelle eine Wache vor meine Lippen …
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Konferenz mit dem Schutzengel
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Versuchungen und Liebkosungen zwischen Psalmen
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Monsignore will es so!
94
Kein Hauch von Nepotismus
102
Ein armer Erzbischof, die Banca Piccolo Credito und die Vorsehung
110
Vom Balsam des Ave Maria
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In guter Gesellschaft der Heiligen
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Im Alter mutig Neues wagen
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Die Fülle unserer Jahre
146
Der Himmel ist schöner als Venedig
158
In Zärtlichkeit und Milde bei den himmlischen Chören
170
Die Poesie und das Herz
180
Ein Nachmittag voller Sonne
188
Jeder Tag ist gut, um geboren zu werden, jeder Tag ist gut zu sterben
196
Anhang Biografien
201
Personenverzeichnis
202
Zeittafel
214
Ewald Volgger: Essay über Loris Giuseppe Capovilla
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Quellen
254
Dank
255
Je älter ich werde, desto mehr suche ich das Fest in den Zeugen, auf die ich mich stütze. Einer ist Johannes XXIII. – ich brauche sein Gesicht, und ich habe Vertrauen in sein Gebet. Er ist in der Ewigkeit Gottes. Frère Roger Schutz
Vorwort
Dankbar erinnere ich mich an meinen ersten Rombesuch vor fünfzig Jahren, als ich das Glück hatte, Johannes XXIII. aus der Nähe zu erleben. Als Student leistete ich damals Hilfsdienste bei einer Pilgeraudienz und kam zufällig weit vorne zu stehen. Der Papst hatte keine zu verlesende Botschaft in der Hand, vielmehr hatte man den Eindruck, er improvisiere. Uns, den Pilgern aus Österreich, erzählte er, dass er vor vielen Jahren in Mariazell und in Wien gewesen wäre und dass er sich an diese enge Wendeltreppe im Inneren des Stephansturmes erinnere. Er redete mehr mit dem Herzen und mit den Händen als mit Worten. Drei Jahrzehnte später führte ich mit Ludwig Kaufmann, dem unvergessenen Jesuiten und damaligen Chefredakteur der Zeitschrift »Orientierung«, ein langes Interview über Johannes XXIII. Ein Satz aus diesem Gespräch ist mir bis heute in Erinnerung geblieben: »Ich sehe an diesem Papst, wie man heute als Christ leben und sterben kann – sein Glaube war: Dein Wille geschehe.« Das war der Anstoß, von Johannes XXIII. endlich das Geistliche Tagebuch und die Briefe an die Familie zu lesen. Ich fand, was ich eigentlich damals nicht gesucht hatte: seine tief in der Tradition wurzelnde Frömmigkeit und seine realistische und gleichzeitig positive Einstellung zum Älterwerden und zum Tod, »und zwar nicht zur Betrübnis, sondern zur
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Klärung und heiteren Erhöhung des Lebens«, wie Roncalli einmal schreibt. Meist waren ihm Geburtstage eine willkommene Gelegenheit zur kritischen Rückschau auf den geistlichen Weg eines abgelaufenen Lebensjahres und für einen illusionslosen Blick auf sein fortschreitendes physisches Alter. Das Psalmwort »Lehre uns zählen unsere Tage, / auf dass wir gelangen zur Weisheit des Herzens« (Ps 90,12) war Roncallis Leitmotiv für den dritten Lebensabschnitt. Deshalb gilt auch das Augenmerk dieses Buches hauptsächlich Eintragungen im Geistlichen Tagebuch und Briefen aus den letzten drei Jahrzehnten seines Lebens. Die Zitate daraus ziehen sich wie Silberadern durch die einzelnen Kapitel. Sie können helle Leitlinien der Ermutigung und Anleitung zur Gewinnung der »Weisheit des Herzens« auf dem oft dunklen und steinigen Pfad des Älterwerdens sein. »Heilige sind Briefe aus der Ferne, die einem helfen, die Gegenwart zu lesen und zu erkennen, was sie hat und was ihr fehlt«, schrieb vor kurzem der evangelische Theologe Fulbert Steffensky. Angelo Giuseppe Roncalli war nicht nur als Person ein »Brief«, inzwischen auch schon sehr »aus der Ferne«, er pflegte auch selber mit liebevoller Hingabe die Kultur des Briefeschreibens. Er nannte es »eine Form gegenseitiger Tröstung und eine Übung der Nächstenliebe.« In den Briefen offenbart sich seine sorgende Familienverbundenheit – und im Geistlichen Tagebuch, dem Giornale dell’Anima, die gewissenhafte Sorge um sein persönliches geistliches Leben als Mensch, Priester und Bischof. Tagebücher und Briefe sind Dokumente des Übergangs – passagio – aus der »nachtridentinischen« in die »johanneische« Zeit. Es ist meine Überzeugung, dass jeder
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Mensch guten Willens in diesen Schriften erkennen kann, was uns – jedem Einzelnen ebenso wie der Gemeinschaft – fehlt oder abhandengekommen ist. Deshalb dieses Buch. Es will nicht die große analytische Auseinandersetzung sein mit »dem Papst des Konzils« oder gar mit der gegenwärtigen Situation der katholischen Kirche. Wer darin liest, möge sich eher einstellen auf eine Begegnung in roncallischer Einfachheit, eine Begegnung, aus der man allerdings manche handfesten Schlüsse ziehen kann. Es geht nicht um einen nostalgischen Nachvollzug dieses Lebens, sondern um das Entdecken des succo vitale, des geistigen und geistlichen »Lebenssafts« dieses Menschen. Im zweiten Teil des Buches zeichnet Ewald Volgger OT ein Bild von Loris Francesco Capovilla, dem »Zeltgenossen« und Sekretär des seligen Papstes. Gemeinsam haben wir – Pater Ewald, meine Frau Renate, zwei unserer Enkelinnen und ich – den 96-jährigen Erzbischof im Haus Camaitino in Sotto il Monte Giovanni XXIII. aufgesucht und hatten die Freude eines langen Gesprächs mit dem wohl wichtigsten noch lebenden Zeugen des Lebens und Glaubens von Johannes XXIII. Krems, am 8. September 2011, dem Fest Mariä Geburt Hubert Gaisbauer
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ch bin dem Herrn vor allem dankbar für das Temperament, das er mir gab und das mich vor Unruhe und Fassungslosigkeit bewahrt. Ich fühle mich bei allem, was ich tue, Gott gehorsam und stelle fest, dass diese Haltung in magnis et in minimis – in großen und in kleinen Dingen meiner Wenigkeit so viel Kraft zu einer mutigen Einfachheit ganz im Sinne des Evangeliums verleiht, dass sie mir die allgemeine Achtung verschafft und vielen zur Erbauung dient. Ausspruch von Johannes XXIII. aus dem Jahr 1959, überliefert von Loris Francesco Capovilla
Worauf es ankommt – oder: Il succo vitale!
»Von nun an wird es genügen, dass einer von uns den anderen an den Papst Johannes erinnert, damit die Herzen sich öffnen und einander verstehen.« Loris Francesco Capovilla
Johannes XXIII. ist eine so sympathische Lichtgestalt gewesen, nicht weil er als »gewöhnlicher Mensch« Papst geworden war, sondern weil er auch als Papst Mensch geblieben war. Dabei verkörpert er auf allen Stufen seines Lebens das Bild eines Priesters, der konsequent in der Nachfolge Christi und in der Treue zu seiner Kirche steht und bestrebt ist, sein Leben »in Frieden und Gehorsam« nach dem Willen Gottes auszurichten. Kann so eine Gestalt heute als Vorbild gelten? Haben nicht überhaupt Vorbilder schon lange ausgespielt, sind verblasst oder entzaubert? Gibt es in unserer Zeit nach der Jahrtausendwende noch Gestalten, denen man Vorbildcharakter zubilligen möchte? Längst sind wir skeptisch und vorsichtiger geworden. Die römisch-katholische Kirche kennt die Praxis der Heilig- und Seligsprechungen als Proklamation des Vorbildcharakters einer Person, die ihr Leben überzeugend
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und vorbildhaft in christlichem Geist vollendet hat. Wie kann nun dieses Vorbild für die Menschen der Nachwelt wirksam werden? In der Zeit, als der Theologiestudent Angelo Roncalli das geistliche Leben streng nach den tridentinischen Richtlinien erlernen und üben wollte, stand für den 17-Jährigen fest, er müsse ein Heiliger werden. Dies gehörte damals einfach zum Selbstverständnis eines jungen Menschen, der sich für einen geistlichen Beruf entschieden hatte. Modelle dazu waren die Heiligen. Wege dahin waren Gebet, Studium, Kampf um die Reinheit und die Abtötung subjektiver Eigenarten. Hilfen auf diesem Weg waren regelmäßige Beichtgespräche, Exerzitien und Einkehrtage sowie »geistliche« Tagebücher, in denen man sich Rechenschaft über Fortschritt und Versagen ablegte. Am 16. Januar 1903 notierte der 22-jährige Angelo in seinem »Giornale dell’Anima«, dem Geistlichen Tagebuch, bezüglich der Verehrung und Nachahmung von Heiligen eine »fundamentale Entdeckung«, sodass es ihm »wie Schuppen von den Augen fiel«. Diese Eintragung ist eine der originellsten und erfrischendsten im ganzen Tagebuch. Entschlossen kämpft sie an gegen den breit dahinfließenden Strom geistlicher Selbsterziehung alten Stils. Sie ist ein erster Ansatz zu jener »historischen Differenzierung«, die nicht nur auf die Heiligenverehrung angewendet werden muss – und die so wichtig sein wird für den Reformwillen des II. Vatikanischen Konzils. Angelo Roncalli schreibt: »Da ist mir eines klar geworden: wie falsch die Auffassung ist, die ich mir von der Heiligkeit, der ich nachstrebe, gebildet hatte. Bei meinen einzelnen Handlungen, meinen kleinen sofort erkannten Verfehlungen stellte ich mir das Bild irgendeines Heiligen vor, den ich mir in
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allem, auch in kleinsten Dingen nachzuahmen vornahm, genau wie ein Maler ein Bild von Raffael kopiert. Ich sagte mir immer: wenn der heilige Aloisius in diesem Fall so oder so handeln würde, dann würde er nicht dieses oder jenes andere tun usw. So kam ich dahin, dass ich nie das erreichte, was ich mir eingebildet hatte tun zu können, und das beunruhigte mich. Es ist ein falsches System. Von der Tugend der Heiligen muss ich die Substanz (la sostanza) und nicht das Erscheinungsbild (gli accidenti) übernehmen. Ich bin nicht der heilige Aloisius und muss mich nicht genau so heiligen, wie er es getan hat, sondern wie es mein anderes Wesen, mein Charakter, meine verschiedenen Lebensbedingungen verlangen. Ich muss nicht die kümmerliche und dürre Reproduktion eines wenn auch noch so vollendeten Typs sein. Gott will, dass wir in Nachahmung der Heiligen den lebendigen Saft ihrer Tugend (il succo vitale della virtù) in uns aufnehmen, ihn in unserem Blut umwandeln und unseren besonderen Anlagen und Lebensumständen anpassen.« In diesem Sinn sei gefragt, ob Angelo Roncalli heute ein Vorbild sein kann. Eine Antwort sucht dieses Buch vorwiegend in Selbstzeugnissen aus der zweiten Hälfte seines Lebens. Die geistliche Quelle seiner Lebensführung, wie sie in den Tagebüchern und Briefen sichtbar wird, ist allerdings überwuchert von einer Fülle durchaus sympathischer Anekdoten und von wenig hinterfragten Attributen wie »Papa buono«, »Konzilspapst« oder «Reformpapst«. Wenn man aber versucht, den »lebendigen Saft« seines Lebens und seiner Persönlichkeit aus seinen Selbstaussagen zu destillieren, dann kann man in Angelo Roncalli durchaus ein Vorbild auf Augenhöhe für den
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Umgang mit sich selbst im Prozess des Älterwerdens, mit nahen und fernen Menschen und mit Gott finden. Robert Schuman, französischer Ministerpräsident während der Nuntiatur Roncallis in Frankreich, sagte über ihn: »Er ist der einzige Mensch in Paris, in dessen Gegenwart man körperlich Frieden spürt.« Am Sterbebett von Johannes XXIII. sagte Kardinal Giovanni Battista Montini, sein Nachfolger im Papstamt: »Dieser Mann hatte die Gabe, die Beklemmungen deiner Seele zu erleichtern. Nachdem er uns gezeigt hat, wie man ein gutes Leben führt, gibt er uns ein Vorbild für ein gutes Sterben.« Der Jesuit Ludwig Kaufmann, kritischer Querdenker und langjähriger Chefredakteur der Zeitschrift »Orientierung«, hat es kurz vor seinem Tod einmal in einem sehr persönlichen Gespräch auf den Punkt gebracht: »Ja, so wie dieser Roncalli kann man heute Christ sein! Denn nach dem Willen Gottes zu fragen, das bleibt immer aktuell!«
Worauf es ankommt: Geistliches Leben gelingt, wenn der »lebendige Saft« der Tradition richtig erkannt und für die Erfordernisse und Lebensumstände einer neuen Zeit fruchtbar gemacht wird. Menschen, die fest in ihrer religiösen Zugehörigkeit verankert sind, können Entwicklungen anstoßen, die einer neuen Zeit gerecht werden.
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