Mit einem Fuß auf zwei Beinen stehen - Leseprobe

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Impressum Umschlagbild Aleksandra Pawloff, Wien Grafische Gestaltung Nele Steinborn, www.steinborn.at Schrift Quadon Gesamtherstellung Tina Gerstenmayer, D&K Publishing Service, Wien Š 2013 Wiener Dom-Verlag Wiener Dom-Verlag Gesellschaft m.b.H., Wien Printed in Austria. Alle Rechte vorbehalten ISBN: 978-3-85351-263-0 www.domverlag.at


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Renate Welsh (Hg.)

Mit einem FuĂ&#x; auf zwei Beinen stehen Texte aus der Schreibwerkstatt im VinziRast-CortiHaus Mit Fotos von Aleksandra Pawloff

wiener verlag


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Inhalt 6

Cecily Corti: Menschen begegnen

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Grenzen

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Von Töchtern und Söhnen

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Dunkelheiten

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Brücken

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Versprochen | Gebrochen

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Meine Wut | Mein Zorn

80

Weggehen | Ankommen

90

Mein Wien

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Autobiografische Notizen

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Renate Welsh: Ausgerechnet Schreiben?


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Menschen begegnen Cecily Corti über die VinziRast

Eine Notschlafstelle sollte es werden. Ein Ort, an dem Obdachlose vorbehaltlos aufgenommen werden. Ein Vortrag von Pfarrer Pucher aus Graz hatte den letzten Anstoß gegeben. Seit Jahren hatte mich die Sehnsucht begleitet, meinen Beitrag für eine etwas andere Welt zu leisten, meinem Glauben an Schönheit, Wahrheit, Gerechtigkeit, ja auch Liebe Ausdruck zu geben. Ich wollte mich nicht länger ohnmächtig und zunehmend gelähmt fühlen vor all dem Leid und dem Schmerz, die Menschen Menschen zufügen. Die VinziRast bietet ungefähr 50 Menschen jede Nacht ein Bett, ein warmes Abendessen, ein Frühstück. Aber das ist nicht die eigentliche Herausforderung. Wir wollen den Menschen, die zu uns kommen, ohne Urteil, Vorurteil und Erwartungshaltung begegnen. Wir haben Achtung vor ihrem Schicksal, von dem wir nicht wissen, ob wir es unter den gleichen Voraussetzungen besser meistern könnten. Diese Haltung kann Vertrauen schaffen. Und Vertrauen ist die Basis für das Entstehen von Selbstwert. Dafür braucht es Zeit, es braucht Geduld und Gemeinschaft. In unseren verschiedenen VinziRastEinrichtungen geht es vor allem darum: Bedingungen zu schaffen, auf denen ein Fundament für selbstbestimmtes Leben gelegt werden kann. Wir sind überzeugt, dass alle Menschen Kräfte entwickeln und fördern können, die die Dynamik aus Einsamkeit, Isolation und Sinnlosigkeit umkehren.

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Wir alle, die wir uns in den VinziRast-Werken engagieren, sind keine „Experten“; wir tun, was zu tun ist, und tun dies ehrenamtlich. „Und das funktioniert?“, werde ich immer wieder gefragt. Was soll funktionieren? Ich weiß es nicht. Wir führen keine Statistiken, wir verbuchen weder Erfolge noch Misserfolge. Aber wir alle wissen, dass Zuwendung, Nähe, Präsenz jedem von uns guttut. Die Bereitschaft von Renate Welsh-Rabady, bei uns eine Schreibwerkstatt zu leiten, gehört für mich zu den ganz großen Geschenken an die VinziRast. Mit ihrer Fähigkeit als Mensch und als Schriftstellerin ermöglicht sie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern auf sehr subtile Weise einen Bezug zu sich selbst, zum eigenen Schicksal und zu einer Wachheit gegenüber den Schicksalen der Anderen zu entwickeln. Dieses Buch mit den Texten unserer Gäste und den Fotos von Aleksandra Pawloff gibt auf wunderbare Weise Zeugnis davon, warum die VinziRast entstanden ist und warum wir alle unser Engagement lieben.

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Grenzen


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Wer sagt, dass die Wand immer st채rker sein muss als der Kopf?


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Es gibt Menschen, die mir sagen, dass ich stark bin und viele Talente habe. Und dass ich diese Talente nützen und entwickeln muss. Ich möchte ihnen gerne glauben. Manchmal denke ich auch, sie sollen mich in Ruhe lassen. Zsuzsanna Hortobagyi

Erich Wögerer

Wände braucht er, einen Boden und ein Dach auch, sonst ist er es nicht, Personen können ihn einengen – oder auch vergrößern. Zeit ist ein Faktor, der ihn nicht so sehr interessiert, er kennt bereits so ziemlich alle Zeiten, der Vinzi-Bewohner. Erich Wögerer 12


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Ich habe seit zwei Wochen angefangen zum Trinken aufzuhĂśren. Josef Zierl

Du machst Fenster auf, wo gar keine sind. Haynalka Kutka

Manchmal blockiert unglĂźckliche Liebe alle Gedanken. Auch mit 48. Wahrscheinlich auch mit 84. Mico Potpara

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Ich habe Gedächtnisschwund. Ich weiß nicht einmal, was ich gestern gemacht habe. Wenn es mir die Leute sagen, dann kann ich mich erinnern. Das ist wichtig für mich. Sonst weiß ich nix. Es ist schlimm für mich, wenn ich nix weiß. Dafür braucht man Freunde. Aber der Michi ist weg. Jetzt bin ich allein. Wenn ich was tun muss, schreibe ich es auf einen Zettel. Am nächsten Tag weiß ich dann, was ich zu machen habe. Um sieben in der Früh kommt mein Hund und schleckt mich ab, dann erinnert mich mein Hund, dass er was zum Essen braucht, und wenn ich nichts in der Küche habe, gehe ich runter einkaufen. Er erinnert mich, mein Hund. Ich muss aufstehen. Ich darf nicht sitzen bleiben. Mein Hund muss Gassi. Josef Zierl

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Ich würde gern etwas über die Zeit schreiben, wenn ich wüsste, was sie ist, die Zeit. Das Ticken der Uhr? Die Spanne zwischen Aufstehen und Schlafengehen? Ist sie gut oder schlecht? Stehen wir, und die Zeit bewegt sich? Oder umgekehrt? Ich weiß es nicht. Aber ich glaube, sie ist einfach das, was wir aus ihr machen. Erich Wögerer

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Ich liebe meinen Beruf als Maurer. Ich bin stolz, wenn andere Leute zufrieden sind mit meiner Arbeit und sich wohl fühlen in Wänden, die nicht einstürzen. Josef Zierl

Ich beneide nicht die Jungen, die sich küssen auf der Straße und tanzen in der Diskothek. Ich beneide die Alten mit weißen Haaren, die Hand in Hand miteinander gehen. Maria Kaneva

Ich schenke einem Menschen eine Stunde, und wenn es nur eine Stunde ist, die wir quatschen. Für einen, der’s gerade braucht, von Günther Krippel

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Schreibwerkstatt im VinziRastCortiHaus


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Ausgerechnet Schreiben? Renate Welsh über die Schreibwerkstätten im VinziRast-CortiHaus

2007 fragte mich Cecily Corti, ob ich bereit wäre, eine Schreibwerkstatt für obdachlose Menschen in der VinziRast (heute VinziRastCortiHaus) zu halten. Ausgerechnet Schreiben mit Menschen, die wahrlich andere, existentiellere Sorgen haben? Ja, ausgerechnet Schreiben. Weil diese Menschen etwas zu sagen haben, nach dem sie kaum je gefragt wurden, und weil das, was sie zu sagen haben, wichtig ist. Im Lauf der Jahre sind die unregelmäßig-regelmäßigen Nachmittage in der Wilhelmstraße für mich immer wichtiger geworden, keineswegs einfacher, es ist jedes Mal wieder eine Gratwanderung, bringt mich oft an meine Grenzen, kann ebenso beglückend wie frustrierend sein und ist gerade deshalb den Einsatz wert. 152


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Die Zahl der Teilnehmerinnen (immer in der Minderheit) und Teilnehmer variiert ebenso stark wie die Stärken und Schwächen der Gäste. Viele sind gezeichnet von Erfahrungen, die ich mir bei aller Empathie nicht wirklich vorstellen kann. Manche mussten einen tiefen Sturz aus einem erfolgreichen Leben verkraften, andere haben anscheinend nie auch nur den Schatten eines Strohhalms zu Gesicht bekommen, manche versinken immer tiefer in Resignation, manche vergeuden ihre letzte Kraft dafür, ihren Zorn und ihre Wut am Brodeln zu halten. Gemeinsam ist ihnen eine große Dankbarkeit dafür, dass sie in der VinziRast eine Bleibe gefunden haben (hier hat das Wort Bleibe seine ursprüngliche Bedeutung), wobei diese Dankbarkeit sich auch als Nörgelei äußern kann. Sie können es sich leisten, ein Haar in der Suppe zu finden, weil sie gelernt haben darauf zu vertrauen, dass es auch morgen Suppe, dass es auch morgen einen Platz an diesem Tisch für sie geben wird. Nach jeder Werkstatt schreibe ich die Texte unzensuriert ab, gleiche nur die Orthographie der landesüblichen an und schicke die Texte als Mail an die VinziRast. Der Geschäftsführer Christian Spiegelfeld, der auch selbst an der Schreibwerkstatt teilnimmt, wenn es seine Zeit erlaubt, druckt sie jeweils aus und sammelt sie in Plastikhüllen in einem Ordner, der im Büro aufliegt und allen Gästen zur Verfügung steht. Diese sauberen Abschriften sind auch eine zweite Rückmeldung für die Autorinnen und Autoren. Die erste erleben sie beim Vorlesen, besonders dann, wenn die Zuhörerinnen und Zuhörer anfangen, durch den Text angeregt eigene Erinnerungen zu erzählen. Gerade die Autorinnen und Autoren, die zunächst erklärten, sie hätten zu einem Thema gar nichts beizutragen, stellen dann verwundert fest, dass ihre eigenen fast verschütteten Erinnerungen durch die Fragen und Rückmeldungen der anderen lebendiger und gegenwärtiger werden. Natürlich könnte man sagen, dass dadurch die Grenzen einer Schreibwerkstatt überschritten werden, aber ich glaube, dass jede Beschäftigung mit Literatur im weitesten Sinn Selbsterfahrung mit einschließt. 153


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Lesend und schreibend werden eigene Möglichkeiten und Grenzen ebenso ausgelotet wie die des ganz und gar Anderen, was wiederum einen klareren Blick auf das Eigene erlauben kann. Es geht mir darum, einen Raum zu schaffen, in dem es möglich ist, aufeinander zuzugehen, und der Bleistift in der Hand hat dabei die Funktion eines Wanderstabs, auf den man sich auch stützen kann, wenn man Gefahr läuft, allzu gefährliches Gelände zu betreten. Über manches, worüber man nicht sprechen kann, kann man schreiben, jedenfalls in einem geschützten Raum und wenn man darauf vertrauen kann, empathische Zuhörerinnen und Zuhörer zu finden. Es hat sich gezeigt, dass es hilfreich ist, ein Thema gestellt zu bekommen, wobei das Thema keineswegs immer das ist, das ich mir vorher überlegt hatte, sondern sich oft aus der momentanen Situation ergibt. Einige Sprachspiele, die ich irgendwann entwickelt habe, setze ich gern als „Lockerungsübungen“ ein.

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Eine Übung für die Großgruppe nenne ich Assoziationsspirale. Dabei schreibe ich einen Begriff in die Mitte eines Bogens Packpapier und spiralförmig darum angeordnet auf Zuruf alles, was den Anwesenden entweder zum Ausgangswort oder zum zuletzt erwähnten Begriff durch den Kopf geht, wobei ich ausdrücklich dazu ermutige, auch Wörter zu sagen, die zunächst ganz unpassend erscheinen. Wenn das Blatt voll ist, sehen wir uns die Spirale an und ziehen Radien durch. In dieser Zufallsreihung, die nicht steuerbar ist, ergeben die Wörter so gut wie immer einen völlig neuen Sinn, und gerade die Begriffe, die zunächst nur störten, erweisen sich als neue Denkanstöße. Immer wieder erlebe ich, dass besonders Gruppen, die von vielen schlechten Erinnerungen an ihre Schulzeit belastet sind, sich wesentlich leichter tun, wenn sie eine klare Struktur vorgegeben bekommen. Daher bitte ich manchmal alle Anwesenden, je ein Wort zu einem vorher vereinbarten Thema auf eine kleine Karte zu schreiben. Die Karten kommen auf einen Haufen in die Mitte, jede und jeder zieht z. B. fünf Stück. Diese Wörter sind dann Initialzündung für einen neuen Text. Interessanterweise schreiben immer wieder einige statt des einen Wortes einen Satz, aus diesem kann dann ein Wort übernommen werden. Ich möchte an einem Beispiel den Unterschied im Erleben von ganz alltäglichen Situationen für behauste und unbehauste Menschen zeigen. Das Thema war „Brücken“: Brücken sind schön. Da fährt ein Bus über eine Brücke. Es ist lustig, mit Fahrschein zu fahren. Da kann ich eine Kirche sehen und ein Haus. Wenn die Autorin sich einen Fahrschein leisten kann, kann sie die Welt draußen wahrnehmen. Ohne Fahrschein muss sie ständig auf der Hut vor Kontrolloren sein, die sich zuallererst auf sie als potentielle Schwarzfahrerin stürzen werden. Der Fahrschein ist ihre Eintrittskarte in eine Welt, wo alles seine Ordnung hat. 155


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Für viele der Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind drei Stunden Konzentration eine gewaltige Leistung. Viele tun sich schwer beim Vorlesen, und keineswegs nur die, für die Deutsch eine Zweit- oder sogar Drittsprache ist. Wenn sie aber einmal erlebt haben, wie wirkliches Zuhören sie getragen hat, sind sie eher bereit, diese Mühe auf sich zu nehmen, und auch den anderen ihr Zuhören zu schenken. Erfolge sehen lernen ist für mich ein wichtiger und längst nicht abgeschlossener Prozess. In der Schreibwerkstatt ist es ein Erfolg, wenn Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die zunächst standhaft verweigerten, auch nur einen Bleistift in die Hand zu nehmen, einen Gedanken niederschreiben. Es ist schön mitzuerleben, wie Menschen, die von sich sagen, dass sie ganz unten angekommen sind, sich über ihre eigene Leistung freuen und wieder staunen lernen. Ich empfinde es als Auszeichnung, wenn einer, der mich schon oft zur Weißglut gereizt hat, mich angrinst und sagt, dass er gern in die Schreibwerkstatt kommt. Besonders kostbar ist mir der Humor, der immer wieder in den Texten aufblitzt. Wenn ich von den Schreibwerkstätten in der Wilhelmstraße erzähle, erlebe ich immer wieder ein zunächst ungläubiges Staunen bei den Zuhörerinnen und Zuhörern. So entstand nach und nach der Wunsch, aus der Fülle der Texte eine Auswahl zu treffen. Dabei war mir Angelika Caravias eine wertvolle Hilfe. Aleksandra Pawloff sagte erfreut zu, als ich sie fragte, ob sie sich eine gemeinsame Arbeit vorstellen könnte, und Inge Cevela entschloss sich zu dem Wagnis, ein Buch daraus zu machen. Mitzuerleben, wie sie und die Lektorin Katrin Feiner das oft sehr mühevolle Projekt immer mehr zu ihrer eigenen Sache machten, war ein schöner Beweis für mich, dass die Ergebnisse der Schreibwerkstätten jeden Einsatz wert sind. Während ich über einen passenden Schluss nachdachte, rief einer unserer Autoren an und fragte, wann denn das Buch erscheinen würde. „Ich freu mich schon so drauf“, sagte er.

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