Dass ihr uns nicht vergessen habt … Tagebuch-Aufzeichnungen aus dem „Stall“
Die Schreibweise wurde entsprechend der neuen deutschen Rechtsschreibung geändert.
Impressum Aktualisierte Neuauflage der 1979 von P. Lothar Groppe SJ im Eigenverlag unter dem Titel „Heimführen werd ich euch von überall her… – Aufzeichnungen am Rande des Zeitgeschehens“ veröffentlichten Ausgabe. Die Erstauflage erschien 1958 im Verlag Herder. Historische Fotos Umschlag und Innentitel: © Diözesanarchiv der Erzdiözese Wien Umschlagfoto: pixelio.de/knipseline Umschlaggestaltung: neuwirth+steinborn, www.nest.at Grafische Gestaltung/Satz: neuwirth+steinborn, www.nest.at Papier: Munken print cream (Kern), Tintoretto Stucco (Umschlag) Schrift: FrutigerNext LT, Eidetic Neo Herstellung: Tina Gerstenmayer, adpl-solutions – Division Publishing, Wien Druck und Bindung: Druckerei Ferdinand Berger & Söhne, Horn © 2008 by Wiener Dom-Verlag Wiener Dom-Verlag Gesellschaft m. b. H., Wien Printed in Austria. Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-85351-203-6 www.domverlag.at
Gertrud Steinitz-Metzler
Dass ihr uns nicht vergessen habt … Tagebuch-Aufzeichnungen aus dem „Stall“ Mit einem Geleitwort von P. Lothar Groppe SJ
wiener verlag
Zum Geleit Von P. Lothar Groppe SJ
Wenn die Tagebuchaufzeichnungen von Gertrud SteinitzMetzler nach 49 Jahren erneut erscheinen, so deshalb, um das Geschehen jener Jahre nicht in das Dunkel der Vergessenheit gleiten zu lassen. „Hildegard“, die Autorin des authentischen Tagebuchs, verzichtete ursprünglich auf Ortsangaben und ersetzte die Namen der handelnden und leidenden Personen durch Pseudonyme. Um der größeren Authentizität willen erschien es jedoch angebracht, in einem Geleitwort das Geheimnis der Identität zu lüften. In der 2. Auflage von 1979 war das leicht möglich, weil viele der Handelnden und Leidenden noch lebten. Jeder Interessierte soll sich überzeugen können, dass es sich nicht um erfundene Gestalten handelt, sondern um Menschen aus Fleisch und Blut, die immer wieder die eigene Angst überwanden, um den Verfolgten beizustehen. Die Jugend, die stets auf der Suche nach Vorbildern ist, soll wissen, dass es in den dunkelsten Jahren der gemeinsamen deutsch-österreichischen Geschichte nicht nur Schuld und Versagen gab, sondern dass da, „wo die Sünde größer wurde, die Gnade sich noch überschwänglicher erwies“ (Röm 5, 20). Der Westdeutsche Rundfunk würdigte in der Schulfunksendung zur „Rettung von Juden“ den Einsatz der Wiener Hilfsstelle mit dem Hörspiel „Das Büro im Hinterhaus“, das erstmals am 21. Januar 1961 gesendet wurde. Der ORF brachte am Pfingstdienstag, dem 27. Mai 1980, das TV-Dokumentarspiel „Der Stall“, das auf dem Buch von Gertrud Steinitz-Metzler und der unter meiner Mitarbeit entstandenen Dokumentation „Die Erz7
bischöfliche Hilfsstelle für nichtarische Katholiken in Wien“ beruht. Es ist ein eigentümliches Phänomen, dass vielen Zeitgenossen die Schattenseiten menschlicher Existenz interessanter erscheinen als die Lichtseiten. Wie diese Aufzeichnungen jedoch deutlich machen, besitzt das Gute eine eigene Faszination, der sich schwerlich jemand entziehen kann. Wenngleich sich häufig gerade diejenigen, die sich vorbehaltlos für die einst Geächteten einsetzten, den Vorwurf machen, sie hätten zu wenig getan oder gar versagt, so offenbart sich dem unparteiischen Beobachter in der jahrelangen Arbeit der Hilfsstelle ein Heroismus der Nächstenliebe, dem jegliches Pathos fremd ist und der sich zugleich der eigenen Schwäche und Unzulänglichkeit bewusst bleibt. Die Ereignisse, von denen das Tagebuch berichtet, trugen sich im Wien der Naziära zu. Kardinal Innitzer, der damalige Erzbischof von Wien, hatte in seinem Palais die „Erzbischöfliche Hilfsstelle für nichtarische Katholiken“ geschaffen. Hier sollten nach dem Willen des Wiener Oberhirten die Verfolgten und Geächteten Unterstützung und Hilfe finden. Es war eine verschworene Gemeinschaft, die sich hier zusammengefunden hatte, um schier ausweglose Not zu lindern, um – soweit möglich – Menschenleben zu retten. Da ist zunächst „der Pater“, Ludger Born aus dem Jesuitenorden, der von der Gemeinschaft und Anteilnahme der Mitbrüder getragen, die Hilfsstelle bis über das Kriegsende hinaus mit Klugheit, Umsicht und kühner Entschlossenheit leitete. Er starb am 26. November 1980 im Altersheim des Ordens in Münster/W. Zu seinem 60. Ordensjubiläum schrieb ihm Simon Wiesenthal: „Ich weiß zu schätzen, was Sie in der Zeit ohne Gnade für meine Glaubensbrüder getan haben, und seien Sie versichert, wir werden Ihnen das niemals vergessen!“ Als er erfuhr, dass P. Born gestorben sei, reagierte Wiesenthal spontan: „Das war ein wunderbarer Mensch!“ 8
Schwester „Monika“ wurde schon zu Lebzeiten zu einer fast legendären Gestalt. In der Caritas Socialis, der sie seit Jahrzehnten angehörte, war sie allerdings unter ihrem Ordensnamen Schwester Verena bekannt. Bis zu ihrem Tod im 83. Lebensjahr 1982 lebte sie im Mutterhaus ihres Ordens und diente Menschen. Alle Würdigungen ihres Einsatzes wehrte sie mit den Worten ab: „Alles, was ich getan habe, war mir so selbstverständlich, dass ich darüber kein Wort verlieren muss.“ Dennoch ließ es sich die Stadt Wien nicht nehmen, sie zu ehren. So wurde 1997 eine Nebenstraße der Pramergasse nach ihrem bürgerlichen Namen „VerenaBuben-Weg“ benannt. „Viktoria“, die Jugendfreundin „Hildegards“, bat ausdrücklich darum, ihre Anonymität zu wahren, und so müssen wir ihren Wunsch respektieren. Gertrud Steinitz-Metzler, die feinsinnige Autorin dieses überzeitlichen Dokuments der Menschlichkeit, hat um ihre Erlebnisse und deren Niederschrift schwer gerungen. Wenige Monate nach Erscheinen ihres Tagebuchs ging sie in die Ewigkeit. Kurz vor ihrem Tod schrieb sie an P. Born: „Es bewegt mich sehr, dass ich denen, die ich liebte – nein, liebe, denn lieben ist doch ein Wort, das man nicht in der Vergangenheit gebrauchen kann –, dass ich ihnen ein Denkmal setzen konnte. Sie haben kein Grab und keinen Stein, aber sie haben nun doch ihr Denkmal, und manch einer wird vielleicht weiterwirken durch sein Beispiel. Wissen Sie, was ich tue, wenn ich das erste Honorar für das Buch bekomme? Ich kaufe für jeden von ihnen einen Baum in Israel. Es ist mir ein so lieber Gedanke, dass im Heiligen Land Bäume im Winde rauschen werden, von denen jeder den Namen eines mir lieben Toten trägt.“ Wenn Gertrud Steinitz-Metzler mit ihren Aufzeichnungen denen, die sie liebte, ein Denkmal setzen wollte, so hat sie dies unbeabsichtigterweise auch für all jene getan, die seinerzeit, als Mitleid und Erbarmen gegenüber „rassisch Minderwertigen“ als Verbrechen galten, den Verfolgten zur 9
Seite gestanden haben. Das waren zunächst einmal die im Lauf der Jahre insgesamt 23 Mitarbeiterinnen der Hilfsstelle. Unter ihnen ragte Liselotte Fuchs oder Lotte – wie sie zu Hause genannt wurde – heraus. Sie war die Tochter eines Generaloberstabsarztes, den „der Dank des Vaterlandes“ mitsamt seiner Familie in das Konzentrationslager brachte. Lotte, die „Anneliese“ des Tagebuchs, konnte nach ihrer Deportation noch zwei Jahre in Theresienstadt, ihrem Geburtsort, segensreich unter den Gefangenen wirken, bis auch sie eines Tages den Weg in die Gaskammer antreten musste. Von ihr schrieb ein ehemaliger „Schützling“, dass sie „zum Symbol des Christen schlechthin“ wurde. Das Tagebuch wurde auch zum Zeugnis der Nächstenliebe all der Klöster und Ordenshäuser, die dem Appell Kardinal Innitzers folgten und zugunsten der verfolgten Juden, für diese Ärmsten der Armen hungerten, um ihnen durch ihre Lebensmittel- und Geldspenden das schwere Los ein wenig zu erleichtern. Obwohl von den damaligen Machthabern nicht wenige Klöster aufgehoben wurden, darunter das Mutterhaus der Caritas Socialis, ergab eine Überprüfung, dass 51 namentlich erfasste Klöster die Arbeit der Hilfsstelle tatkräftig unterstützten. Dabei waren die Klöster selbst verschärfter Überwachung unterworfen. So hießen die Karmelitinnen in der Töllergasse allgemein „die Judenschwestern“. Es liegt in der Natur privater Tagebuchaufzeichnungen, dass für gewöhnlich mehr die rein persönlichen Erfahrungen festgehalten werden. Es scheint aber hilfreich, einen gewissen Gesamtüberblick zu geben, um einen einigermaßen zutreffenden Eindruck zu verschaffen, was in diesem einzigartigen Werk christlicher Caritas an Hilfe geleistet wurde. Tagaus, tagein wurden Kranke besucht, Verzweifelte aufgerichtet – und das alles im Schatten der allgegenwärtigen Gestapo. Es ging um Beratung in Rechtsfragen, um Vermittlung von Arbeit und Wohnung. Es wurden ärztliche und zahnärztliche Behandlungen ermöglicht, denn „arische“ 10
Ärzte durften keine Juden behandeln. Es wurden Medikamente und Brillen verschafft – Dinge, die einem Juden nicht zustanden. Es galt, die Aufnahme in ein Kinder- oder Altersheim zu vermitteln und bei einem Todesfall das Problem der Bestattung zu lösen, da Juden nicht in „arischen“ Friedhöfen beigesetzt werden durften. Insgesamt wendete die Hilfsstelle 375 417,44 Reichsmark auf. Diese Summe mag heute relativ bescheiden erscheinen, aber Vergleiche aus der damaligen Zeit ergeben ein einigermaßen zutreffendes Bild. Im Juli 1940 erhielt in Wien ein Kaplan im 3. Dienstjahr ein Nettogehalt von 106,56 Reichsmark. Ein lediger Mittelschulprofessor/Regierungsrat erhielt in der Anfangsstufe 408 Reichsmark. Der Journalist und Schriftsteller Frederic W. Nielsen zitiert in seinem Buch „Emigrant für Deutschland“ einen Brief des PEN-Clubs, dessen Mitglied er war. Dieser sah sich außerstande, „die versprochene Unterstützung von zehn Mark zukommen zu lassen“. Stattdessen gewährte das Britische Flüchtlingskomitee einen „wöchentlichen Zuschuss von 2,50 Mark“. Woher kam das Geld? Neben den Spenden von Klöstern und Pfarreien brachten unbekannte Helfer immer wieder kleinere oder größere Beträge in die Hilfsstelle. Teils brachten sie diese direkt in die Hilfsstelle, teils überbrachten sie das Geld ihren Seelsorgern, gaben es im Beichtstuhl oder Sprechzimmer ab. Gelegentlich kamen größere Beträge von einzelnen Bischöfen oder von Papst Pius XII. Der größte Geldgeber aber war Kardinal Innitzer. Jeden Monat stellte er einen festen Betrag zur Verfügung und half darüber hinaus – wie etwa im Fall des 16-jährigen „Herbert“ – mit einer größeren Summe aus. Natürlich musste auch der Wiener Erzbischof das Geld irgendwoher haben. Er selbst lebte spartanisch, doch diese Ersparnisse hätten bei Weitem nicht gereicht. Kardinal Innitzer bekam unter anderem auch Unterstützung von einem Wiener Chirurgen, der ihm nach jeder Operation eine hohe Geldsumme für die Armen und Verfolgten übergab. Es wurde allerdings auch in diesem Fall um 11
die Wahrung der Anonymität dieses großherzigen Wohltäters gebeten. Von Ende 1940 bis Ende 1942 wurden in 48 Transporten je tausend Juden in das Generalgouvernement nach Litzmannstadt (Lodz) und nach Theresienstadt verschleppt. 1943 folgten kleinere Transporte. Insgesamt waren davon etwa zweitausend Katholiken betroffen. Die Aushebungen erfolgten bei Tag und Nacht, meist ohne vorherige Verständigung. Den Betroffenen verblieben zwei bis drei Stunden zum Packen der wenigen Habseligkeiten, die sie mitnehmen durften. Alle Versuche des Kardinals, über kirchliche wie außerkirchliche Stellen die Transporte zu verhindern, blieben erfolglos. In einzelnen Fällen gelang es der Hilfsstelle, Schützlinge von den Transportlisten streichen zu lassen oder einen Aufschub zu erwirken, etwa, um Verwandte in den gleichen Transport zu bekommen. Viele wurden vor der Abreise mit einem größeren Geldbetrag, mit Wäsche, Kleidung und Decken versorgt. Mit den nach Polen Deportierten stand die Hilfsstelle bis Mitte 1942 in Briefwechsel. Dann ging dieser zurück und brach schließlich ganz ab. Die Hilfsstelle sandte auch Pakete von Wien, aus der Provinz und dem Protektorat nach Polen. Das war keine leichte Aufgabe: Von der aufgrund der Rationierung grundsätzlich schon erschwerten Beschaffung der Lebensmittel und der Kleidung einmal abgesehen weigerten sich auch viele Postämter, „Judenpakete“ anzunehmen. Aus Theresienstadt kam zunächst sehr spärliche Nachricht. Bis Ende 1942 waren der Hilfsstelle etwa 20 Anschriften bekannt, bis Ende 1943 etwa 150. Die Korrespondenz mit den Schützlingen bedeutete diesen sehr viel, auch wenn sie auf eine Postkarte beschränkt blieb. Ab Weihnachten 1942 begannen die Sendungen nach Theresienstadt. Anfangs waren es 20 bis 30 monatlich, ab Juli 1943 stieg die Zahl auf 200 und mehr im Monat. Im Jahr 1944 waren es genau 7277 Päckchen, meist à 2 kg. Einzelne Pakete gingen auch in die Konzentrationslager Ravensbrück, Buchenwald, Birkenau und Auschwitz. 12
Trotz aller materiellen Hilfe, die vielen das Überleben überhaupt erst ermöglichte, war die seelische Stütze wohl noch bedeutsamer: „Dass ihr uns nicht allein gelassen habt in unserer Angst … Dass ihr immer wieder zu uns gekommen seid, obgleich unsere Wohnungen als Judenwohnungen gekennzeichnet waren ... Dass wir zu euch kommen durften, wenn wir nicht mehr weiter wussten ... Dass ihr einfach für uns da wart, hat uns aufrechtgehalten, hat uns als Hoffnung und Trost begleitet ins Lager, in die Deportation und ins grausame Ende ...“ Nach Überwindung zahlreicher Schwierigkeiten konnte ich Ende 1978 eine Dokumentation über die „Erzbischöfliche Hilfsstelle für nichtarische Katholiken“ in Wien vorlegen. Sie dient nicht der Sensationshascherei, sondern versucht Hintergründe und Zusammenhänge aus der Zeit des Niedergangs der Menschenrechte und Menschenwürde aufzuzeigen und einen Beitrag zur historischen Wahrheitsfindung zu leisten. Der Vorstand des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes bedankte sich am 14. Dezember 1978 „für die ausgezeichnete und wichtige Arbeit“. Diese erschien in der Wiener Katholischen Akademie, ist aber inzwischen vergriffen. Die Beurteilung der Amtsführung Kardinal Innitzers war lange Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen. Erinnern wir uns aber der Worte des damaligen österreichischen Außenministers Alois Mock bei der Gedenkveranstaltung zum 50. Jahrestag des „Anschlusses“: „Nur wer weiß, wie es sich in Diktaturen lebt, hat ein Recht, heute selbstgerecht Schuld zuzuweisen, wo etwas mehr Demut am Platz wäre.“ Und auch der unnachsichtigste Kritiker wird einräumen müssen, dass der damalige Wiener Erzbischof unermüdlich seinem Wahlspruch „In Liebe dienen“ nachgeeifert hat. Seine Hilfsstelle wird für immer ein Ruhmesblatt der Kirche Wiens und seines Erzbischofs, Theodor Kardinal Innitzer, bleiben.
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So spricht der Herr: „Ich denke Gedanken des Friedens, nicht des Verderbens. Ihr werdet zu Mir rufen, und Ich werde euch erbören. Heimführen werd Ich euch von überall ber.“ Jer. 29, 11, 12 u. 14
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Sie führten ein verborgenes Leben, und sie wussten, warum.
Je weniger von ihrem Tun nach außen drang, desto besser. Wenn man in die Erzbischöfliche Hilfsstelle gelangen wollte, musste man den ersten Hof überqueren, den schönen Hof mit den Vorhängen aus wildem Wein und den dunklen Eiben, man musste den zweiten Hof überqueren, der schon wesentlich weniger repräsentativ wirkte, und dann in einer Art Einfahrt die braun gestrichene Tür finden, hinter der sich abspielte, wovon in diesem Buch die Rede sein soll. Ein winziger Vorraum, ein etwas geräumigeres Wartezimmer, und dann erst der Arbeitsraum. Er war von dem düsteren, fensterlosen Wartezimmer nur durch einen schweren, uralten roten Brokatvorhang getrennt, und man musste drinnen leise sprechen, wenn man draußen von den Wartenden nicht gehört werden wollte. Und es warteten manchmal sehr viele. Doch das, was hier gesprochen wurde, wurde ohnehin leise gesagt. Das konnte man nicht hinausschreien. Nur ein Schluchzen wurde manchmal laut und schwieg dann, wie erschrocken, still. Auf dem Plakat, das außen an der braun gestrichenen Tür befestigt war, stand in Blockbuchstaben mit Tusche aufgemalt: „Erzbischöfliche Hilfsstelle für nichtarische Katholiken“. Hier war der Platz, wohin diese Menschen, die man ausgestoßen hatte aus der Gemeinschaft des Volkes, sich flüchteten, wohin sie ihre Not trugen und wo sie Hilfe erhofften. Es war im deutschen Raum die einzige Hilfsstelle 15
dieser Art, die direkt im Haus des Bischofs untergebracht war. Der Pater hatte das in die Wege geleitet. Der Pater hatte gefunden, dass es der sicherste Platz sei. An dieses Haus würde man sich nicht wagen, hatte er gedacht und ein verstecktes Plätzchen im Haus des Bischofs gesucht, einen Raum, den dieser ohne zu zögern zur Verfügung stellte. Die Wahl war auf die alte Kutscherwohnung gefallen, die im dritten Trakt des Hauses lag. Die Mauern waren wohl an die einundeinhalb Meter stark, kein Laut durchdrang sie. Grau waren die Wände, vor undenklicher Zeit zum letzten Mal getüncht. Riesige Flecken verunzierten diese Wände, und es gab dauernd Reparaturen an der Lichtleitung, weil die Nässe Kurzschlüsse verursachte. Ganz hoch oben war ein Fenster in diesem Verlies angebracht. Man musste auf einen Tisch steigen, wenn man den Riegel erreichen wollte. Ein schweres, altes Gitter schützte das Fenster. Draußen, im dritten Hof, wiegte eine Esche ihre kümmerlichen Zweige im Wind. Hier also arbeiteten die Menschen, die es unternommen hatten, sich gegen den Sturm zu werfen mit ihren schwachen Kräften, ihrer menschlichen Unzulänglichkeit, ihrem Bangesein und ihrer eigenen Not. Menschen von ganz verschiedener Wesensart, verschiedenem Temperament, verschiedener Herkunft. An seinem Schreibtisch, nahe dem kleinen, hoch gelegenen Fenster, das niemals genügend Tageslicht einließ, sodass man immer bei elektrischem Licht arbeiten musste, saß der Pater: groß, breit, Fels in der Brandung, Stütze, Halt und Trost, in seiner unerschütterlichen Ruhe und Furchtlosigkeit, manchmal auch Gegenstand wilder Empörung derer, die diese Ruhe aus der Fassung brachte. Eine Schreibmaschine klapperte; Viktoria, die Sekretärin des Paters, waltete ihres Amtes. Inmitten des Zimmers ein alter Tisch, in einer Ecke ein altertümlicher riesiger Schrank, wurmstichig und einen seltsamen Geruch nach Moder, welken Blumen und fremdartigem alten Holz ausströmend. Der eiserne Ofen 16
stand sommers im Weg, winters war er willkommene Heizund Kochgelegenheit. In dieser armen Behausung, die alsbald allgemein nur noch „der Stall“ genannt wurde (wobei man an den Stall von Bethlehem dachte), begann in dieser Stadt die Auswanderungsaktion der Katholischen Kirche. Hier stauten sich die Menschen, die hofften das ihnen feindliche Land noch rechtzeitig verlassen zu können; von hier aus gelang es, eine beträchtliche Anzahl von Judenchristen ins Ausland zu bringen, ehe die Tür ins Schloss fiel ... Was aber geschah mit denen, die nicht rechtzeitig fortkommen konnten? Mit denen, die krank oder zu alt waren, die kein Handwerk erlernt hatten und daher in einem anderen Land nur „unnütze Esser“ gewesen wären? Für sie gab es keine Einreisebewilligungen, da konnte der Pater noch so flehentliche Briefe schicken. Sie mussten bleiben und mussten es leiden. Erst als es zu spät war, merkte man in den freien Ländern, dass man hätte die Grenzen aufmachen sollen. Aber da waren diese Menschen schon in der Falle und konnten nur noch auf die Unterstützung der wenigen warten, die im Inland versuchten zu tun, was nur irgendwie angängig war. Mit einem der ersten Transporte – er ging nach Minsk – reisten zwei, die draußen in der freien, weiten Welt niemand hatte haben wollen. Was auch fängt man mit einem Privatgelehrten an, der Mitte Fünfzig ist? Was mit einer Frau Ende Vierzig, die so zart ist, wie Frau Marianne es war? Schwester Monika, die die beiden betreut hatte, saß am Tisch und bemühte sich immerzu, ihre Gedanken loszureißen von den beiden. Reisten sie noch? Die Züge fuhren lange, die Züge blieben oftmals stunden- und tagelang auf der Strecke stehen. Viehwaggons, in denen sich die Menschen zusammenkauerten, einander zu wärmen. Sie hatten alle miteinander ja fast keine Eigenwärme mehr. Vielleicht waren Marianne und Dr. Egon H. doch schon am Ziel? Aber wie sah dieses Ziel aus? Schwester Monika sah immerzu Mariannes Augen vor 17
sich, diese schönen, dunklen Augen, die wie die Augen eines Tieres waren, das leidet und nicht weiß, warum. Frau Marianne hatte einmal von irgendwem gesagt: „Seine Augen waren ganz ausgeschreckt“, und sie hatte damit gemeint, dieser Mensch sei so über die Maßen erschreckt worden, dass er nie mehr würde erschrecken können. So ausgeschreckt würde Frau Marianne nun selbst wohl sein. Vorgestern noch war Schwester Monika in der Wohnung gewesen, in die man die beiden eingewiesen hatte, da man ihnen die ihre genommen hatte. Sie waren in zwei Zimmern einquartiert gewesen, von denen Frau Marianne das helle, sonnige bewohnte, das in den Garten hinausging. Ein Lindenbaum streckte seine Zweige beinahe ins Zimmer hinein, wenn das Fenster geöffnet wurde. Und in dem Zimmer, da gab es einen gar sonderbaren Wandschmuck. Es hatte vorher ein Schmetterlingssammler dort gewohnt, und da hingen nun an den Wänden große Glaskästen mit aufgespießten herrlichen Tropenschmetterlingen. Wenn Frau Marianne im Sommer in diesem Zimmer gestanden war, zart und schmal, mit ihrem ein wenig mongolischen Gesichtsschnitt und den großen dunklen Augen, hatte Schwester Monika immer das Gefühl gehabt, dass sich die bunten Schmetterlinge plötzlich von den Nadeln lösen und ihre Behälter verlassen müssten, in wiedererwachtem Leben die Frau zu umgaukeln. Dr. Egon H., Mariannes Gatte, sah mit der Neugierde und dem Wissensdurst des Forschers, was sich in diesem Land begab. Es war dies das einzige, was ihn daran beschäftigte. Er sprach niemals von den politischen Ereignissen. Wenn er Gelegenheit hatte, mit einem Menschen zu sprechen, war er glücklich ein Gespräch führen zu können, das sich nicht um die alltäglichen Dinge drehte und nicht um das Furchtbare, das sich allenthalben begab. Er erzählte von seinen Forschungen, von der Verhaltensweise der Pygmäen etwa, von dem Handwerkszeug primitiver Völker – und erst wenn 18
Schwester Monika ging, pflegte Dr. Egon H. sich daran zu erinnern, dass man in einer lebensgefährlichen Situation lebte. „Also nächsten Samstag dann – wenn wir noch da sind.“ So hatte er auch beim letzten Mal gesagt. Aber dann waren sie eben nicht mehr da gewesen. Dr. Egon H. und seine Frau Marianne waren weggenommen worden wie Dinge, über die zu verfügen einer das Recht hatte. „Haben Sie Sorgen, Schwester Monika?“, fragte Viktoria, des Paters Sekretärin, von ihrem Schreibtisch her, da sie die sonst so Geschäftige so sitzen sah: vor sich hin starrend, mit einem schmerzlichen Zug um den Mund, der an Schwester Monika ungewohnt war. Sie pflegte ihre Züge zu beherrschen, sie trug stets ein gutes, fröhliches Lächeln zur Schau, das den anderen Mut machte. „Haben Sie Sorgen, Schwester Monika?“ „Ich denke an Frau Marianne und ihren Mann“, sagte Schwester Monika. „Es lässt mich nicht los.“ Viktoria presste die Hände gegen ihre Wangen, Fingerspitzen an die Schläfen. „Verstehen Sie es eigentlich, Schwester Monika?“ „Was?“ „Dass wir hier sitzen, als ob nichts geschehen wäre. Wieso rennen wir nicht auf die Straße? Wieso unternehmen wir nichts? Wieso haben wir uns nicht vor den ausfahrenden Zug geworfen?“ Sie erwartete keine Antwort, und es kam auch keine. Schwester Monika erhob sich, strich mit einer hilflosen Geste ihren Rock glatt und zauberte das Lächeln auf ihre Lippen, das ihr so gut stand. „Ich gehe jetzt zu Schlesingers“, sagte sie. „Geben Sie mir bitte Lebensmittelmarken und das Geld für die Miete. Die Sachen fürs Spital habe ich schon alle eingesteckt.“ Woher nur kamen die vielen Lebensmittelmarken? Wer brachte sie? Gott wird es in Evidenz gehalten haben. Sie waren jedenfalls da. Kleine Leute sparten sie sich vom Mund ab; Menschen, die in den Kartenstellen saßen, veruntreuten 19
sie um Gottes willen zu Gunsten der Verfolgten. Schwester Monika und Hildegard verteilten sie, wenn sie ihre Hausbesuche machten und das Geld brachten. Auch das Geld war da. Es kamen Spenden von allen Seiten, von Menschen, die sich heimlich in den Stall schlichen, von Menschen, die es dem Pater in der Sakristei in die Hand dr端ckten. Wenn einmal nicht genug da war, griff der Bischof tief in seine Privatschatulle. Man konnte immer zu ihm kommen. Aber das hat er vergessen, und es wusste seine Linke nicht, was seine Rechte tat. Gott segne ihn. Schwester Monika trug Zivilkleider. Ihr Orden hatte sie f端r diese Arbeit freigestellt. Sie wohnte bei ihrer Schwester, da es keine nahe gelegene Niederlassung ihres Ordens mehr gab; sie kleidete sich wie andere Frauen auch, und nur wenige Menschen wussten, dass Schwester Monika eine Ordensfrau war.
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