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Zur Herausgeberin Mag. Ruth Steiner wurde 1944 in Manila geboren und studierte Rechtswissenschaften an der Universität Wien. Sie war von 1969 bis 1973 Leiterin des Internationalen Studentenclubs Wien, bis 1983 als Personalchefin im Internationalen Institut für Angewandte Systemanalyse in Laxenburg und von 1983 bis 1986 in der „Citibank" in Wien. Von 1986 bis zu ihrem Ruhestand im Jahr 2000 war sie Generalsekretärin der Katholischen Aktion Österreich. Ruth Steiner ist in zahlreichen Bereichen ehrenamtlich tätig, u. a. ist sie im Vorstand des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit und Vorstandsmitglied der Mauthausen-Lagergemeinschaft Österreich. Seit 2000 ist sie Trägerin des päpstlichen Ritterordens „Komturkreuz des Sylvesterordens" und seit 2003 des Goldenen Ehrenzeichens für Verdienste um die Republik Österreich. Im Wiener Dom-Verlag von ihr bereits erschienen: „Daheim in zwei Religionen“ (2000) und „Was ich dich noch fragen wollte – Eine Christin auf der Suche nach ihrer jüdischen Identität“ (2006).
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Hans Steiner
Nie wieder Wien? Erinnerungen an Jugend und Exil Herausgegeben von Ruth Steiner
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Grundlage für das vorliegende Buch sind die persönlichen Erinnerungen Dr. Hans Steiners, die er für seine Töchter Mitte der 1970er-Jahre niedergeschrieben hat. Die historischen Angaben basieren ausschließlich auf den individuellen Erfahrungen und Erinnerungen Dr. Hans Steiners und spiegeln die Meinung des Autors wider. Textstellen, wo Erklärungen notwendig erschienen, wurden kursiv gesetzt. Zu ihnen lassen sich im Glossar (S. 230-231) weiterführende Informationen finden. Die Schreibung der Orte folgt den neuen amtlichen Rechtschreibregeln (Stand 1. 8. 2006).
Impressum Fotos: Privatbesitz Familie Steiner Lektorat: Mag. Maria Ankowitsch Umschlaggestaltung und Satz: Hani Aghakhani; adpl-solutions International GmbH – Division Publishing, 1020 Wien; Innenlayout: neuwirth & steinborn, www.nest.at Herstellung: Mag. Tina Gerstenmayer, adpl-solutions International GmbH – Division Publishing, 1020 Wien Druck: Impress, Ivacna Gorica © 2009 by Wiener Dom-Verlag Wiener Dom-Verlag Gesellschaft m. b. H., Wien Printed in Austria. Alle Rechte vorbehalten ISBN: 978-3-85351-209-8 www.domverlag.at
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Inhalt
Im alten Österreich Zeit der versperrten Zuckerdose „Wiener Brød“ in Dänemark Mit den Augen eines Falken Studium zwischen Gespenstern rechts und links Die kleinen und die großen Gauner An Warnungen hat es nicht gefehlt Die Zahnbürste nahm man immer mit Die Gestapo im Rücken Ein Spitzel mit Empfehlungsschreiben? Mit Fieber in die neue Heimat Zigarren und philippinische Opernsängerinnen Hochzeit zwischen kleinen Delikten Grateful to be alive Zurück nach Wien? Epilog Chronologie Die Geschichte der Philippinen im 20. Jahrhundert Glossar
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Helene Steiner, Mutter
Simon Steiner, Vater
Hans Steiner (re) mit seinem 채lteren Bruder Ernst, 1912
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Es hat mir immer leidgetan, dass ich so wenig über unsere Familie wusste. Mein Vater hat oft einiges aus seiner Jugend und späteren Arbeit erzählt, aber in der eigenen Jugend ist man an der Vergangenheit kaum interessiert und so sind wir nie auf Näheres eingegangen. Ich will versuchen, einiges zu rekonstruieren, woran ich mich noch erinnern kann, vielleicht finden meine Kinder irgendwann doch noch Interesse daran. Hans Steiner Wien, Frühjahr 1975
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F端r meine Kinder Helen, Ruth, Bethley
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Im alten Österreich
Mein Großvater, der Fabrikant Hermann Steiner, hatte zwanzig Kinder. Ich habe ihn nie gekannt, aber er muss ein sehr interessanter und ungewöhnlicher Mensch gewesen sein. Er kam ursprünglich aus Odessa, wo seine Ahnen, spaniolische Juden, über Konstantinopel eingewandert waren. Unterwegs scheint er sich als wandernder Schneidergeselle in Breslau aufgehalten zu haben. In Pressburg eröffnete er eine Werkstätte und heiratete später die Tochter des Stadtrabbiners Dr. Obernbreit, mit der er zwölf Kinder hatte – dann starb sie begreiflicherweise, er heiratete nochmals und hatte mit seiner zweiten Frau noch acht Kinder. Es muss ein guter Menschenschlag gewesen sein, denn alle Kinder wuchsen gesund auf; der erste Todesfall war ein Junge mit neun Jahren, der von einem Baum herunterfiel, was auch nicht gerade als Krankheit gewertet werden kann. Mein Großvater eröffnete nach einiger Zeit eine Textil- und Kleiderfabrik, die gut florierte, später ein Warenhaus in Pressburg, das noch heute als öffentliches Geschäft in der früheren Fischertorstraße besteht. Der alte Hermann Steiner soll sehr groß und stark gewesen sein und war dafür bekannt, dass er sich nichts gefallen ließ. In der Zeit des Tisza-Ezlarer-Ritualmord-Prozesses kam es auch in Pressburg zu einem Pogrom. Er trug immer einen schweren Stock und hielt sich damit die Plünderer vom Leib, zog sich dann ins Haus zurück und warf ihnen vom ersten Stock die Holzscheite des Brennstoffvorrates auf die Köpfe, sodass eine ganze Anzahl verletzt herumlag, als endlich Polizei und Militär kamen. Mein Vater erzählte oft von dieser Zeit als Beweis dafür, dass „es unter 9
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dem Kaiser doch besser war“, denn die Stadt und das dort liegende Militär taten am Anfang nichts gegen die Angriffe, bis ein aufgrund seines Vermögens im Stadtrat sitzender Jude die örtliche Regierung wegen ihres Verhaltens energisch angriff. Am nächsten Tag war der Stadtkommandant abgesetzt und ein Erzherzog ernannt, das Stadtrecht erklärt und die Dragoner ritten in Patrouillen mit aufgestemmtem Karabiner und blankem Säbel durch die Straßen und der Pogrom war vorüber. Vielleicht war dies einer der Gründe, warum mein Vater Simon Steiner, 1870 in Pressburg geboren, später immer noch daran glaubte, dass die Regierung für Ruhe und Ordnung unter allen Umständen sorgt und der Staatsbürger sein Schicksal im Vertrauen auf diese Gerechtigkeit ruhig abwarten kann – und muss. Er ist deshalb 1938 nicht ausgewandert. In der Steiner-Familie in Pressburg muss es sehr patriarchalisch zugegangen sein. Der alte Herr entschied, was die einzelnen Kinder werden sollten, und da mein Vater eine gewisse Begabung zeigte, sollte er fürs Rabbinat studieren. Er ging ins Seminar nach Budapest, aber nach einigen Jahren kam er zur Überzeugung, dass er zu diesem Beruf nicht die richtige Berufung habe, und schrieb seinem Vater, er habe sich entschlossen, Arzt zu werden. Die Antwort war kurz und bündig: „In meiner Familie entscheide ich, was meine Kinder werden – wenn Du Medizin studieren willst, bist Du nicht mehr mein Sohn.“ Scheinbar hatte mein Vater auch einen ziemlich eisernen Schädel, denn er studierte Medizin. Zuerst musste er die Mittelschule machen, was ohne Geld nicht leicht war, aber die Gemeinde half ihm. Er gab Stunden und bekam freie Mittagstische in den verschiedenen wohlhabenden jüdischen Familien, wie das damals eben üblich war. In wenigen Jahren machte er in Budapest die Matura und entschied sich, in Wien zu studieren. 10
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In Wien hatte er es nicht leicht, aber er machte auch ohne Unterstützung von zu Hause seinen Weg. Die Wiener Kultusgemeinde half ihm und mein Vater schärfte uns Söhnen, später immer wieder ein, uns dafür durch regelmäßige Spendenzahlungen zu revanchieren. Bald gelang es ihm, eine Stelle als Demonstrator am Anatomischen Institut zu bekommen. Er legte seine Prüfungen durchwegs mit ausgezeichnetem Erfolg ab und promovierte sehr früh. Dann praktizierte er in den verschiedenen Kliniken, musste aber bald eine Praxis eröffnen, da ja damals junge Ärzte an den Kliniken und Instituten kaum bezahlt wurden. Seine Praxis war erfolgreich, er war hauptsächlich als Kinderarzt tätig, und in einigen Jahren erreichte er eine gute Position in seinem Fach. Noch immer hatte er keinen Kontakt mit seinem Vater in Pressburg. Um diese Zeit muss er meine Mutter kennengelernt haben, Helene, die Tochter des Mittelschuldirektors Markus Beer und seiner Frau Anna. An beide kann ich mich noch sehr gut erinnern. Meine Mutter war auch Mittelschullehrerin, setzte ihren Beruf aber nicht mehr fort, als mein älterer Bruder Ernst geboren wurde. Mein Vater fragte meinen Großvater brieflich an, ob er ihn besuchen dürfe, um seine Frau und seinen erstgeborenen Sohn vorzustellen. Der alte Herr lud die Familie mit der größten Freundlichkeit nach Pressburg ein und soll niemals ein Wort über die Gegensätze mit meinem Vater geäußert haben. Das war alles vergessen, denn der Sohn hatte seinen Willen durchgesetzt und sich damit bewiesen. Seither war der Kontakt ausgezeichnet. Ich selbst habe aber meinen väterlichen Großvater nie kennengelernt, da er im Alter von achtundneunzig Jahren zu einer Zeit starb, an die ich keine Erinnerung habe. Er muss die riesige Familie als eine Fügung Gottes aufgenommen haben, denn angeblich war seine übliche Reaktion, wenn ein neues Kind 11
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geboren wurde: „Na, dann werden wir am Samstag eben eine Gans mehr schlachten müssen.“
Naturgemäß strecken sich die Geburtstage von zwanzig Kindern über eine lange Zeit und die Altersunterschiede waren in einigen Fällen unglaublich. Ich habe einmal gehört, dass der letzte Sohn meines Großvaters geboren wurde, als der alte Herr bereits in den Siebzigern war, und es ergab sich das groteske Bild, dass einzelne der jüngeren Brüder Töchter der älteren Geschwister heirateten – die Ehe zwischen Onkel und Nichte ist ja nach jüdischem Recht gestattet; sehr gut ist es allerdings in einigen Fällen nicht gegangen. Die meisten Geschwister meines Vaters kamen später nach Wien, die Mädchen heirateten hier und die Männer machten sich meist geschäftlich selbstständig. In Pressburg blieb vor allem Onkel Iszo, der die Fabrik und das Geschäft weiterführte; seine Frau war Tante Emma; mit beiden hatten wir sehr regen Kontakt und besuchten sie oft. Onkel Iszo und Emma wurden im Krieg nach Theresienstadt verschickt, kamen 1945 schwer krank zurück und starben bald. Sie hatten vier Kinder: Terry, ein bildhübsches Mädel, bei deren Hochzeit ich in Pressburg in den Dreißigerjahren mit Begeisterung getanzt habe, sie lebt jetzt in den Staaten; Hans war Rechtsanwalt, er verließ Pressburg erst 1968 beim Einmarsch der Russen und ist jetzt in Israel, wo auch der jüngste Bruder Fritz lebt (sein Sohn Isidor hat uns vor Kurzem hier besucht, ein Junge mit vielen Interessen und dem mit Chuzpe gemischten Mut, den die Jugend dort oft zeigt); Ernoe lebt in Australien, wo er ein Geschäft hat, wir haben keinen Kontakt. Hier zeigt sich schon das Bild des Impacts der Hitlerzeit – die meisten Jungen konnten noch auswandern, die Alten starben. 12
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Onkel Max wurde – wohl anstelle meines Vaters – Rabbiner und war Großrabbiner in Bielitz (Schlesien), als die Deutschen kamen. Ich kann mich an ihn gut erinnern, er war oft bei uns in Wien zu Besuch, ein großer, würdevoller Mann mit einem langen dunklen Vollbart, einer wunderbaren Stimme und einer unvergesslich schönen Sprache. Er ist im Krieg umgekommen. Seine drei Kinder studierten alle in Wien: Felix lebte bei uns, als er im Ersten Weltkrieg schwer verwundet aus dem Spital entlassen wurde, er war besonders begabt und man erwartete viel von ihm, leider starb er nach einigen Jahren auf einer Bergtour im Schnee; Robert wurde Anwalt und ging später in die Staaten; Frieda wurde Augenärztin, sie lebte oft bei uns und heiratete später einen Dr. Mestiz, mit dem sie nach England auswanderte, sie ist vor Kurzem verstorben. Onkel Ignaz war der älteste Bruder meines Vaters, ich kannte ihn erst, als er sich schon von seinem Geschäft zurückgezogen hatte und sich hauptsächlich seinen beiden Liebhabereien hingab: Schach und Familiengeschichte. Er hatte sein Stammkaffeehaus, in dem er regelmäßig spielte, und es machte ihm besonders viel Spaß, unvorsichtige Neuankömmlinge, die mit ihm spielen wollten, in der beschämendsten Weise matt zu setzen. Er hatte viel Material über unsere Familie gesammelt und wollte es mir immer zeigen, es kam aber nicht dazu, er starb und ich weiß nicht, was mit all den Aufzeichnungen geschehen ist. Eine seiner Töchter, Gisela, war mit einem anderen Bruder verheiratet, Kalman, der auf der Taborstraße ein Warenhaus hatte, das noch heute besteht. Sie hatten drei Kinder: Hermann, der Schneider wurde und jetzt als Besitzer einer Waschanstalt in Las Vegas lebt, er war vor Kurzem hier und ich habe ihn getroffen; auch Fritz ist in den Staaten; die Schwester Terry (nach der väterlichen Großmutter hießen die meisten Mädchen in der Familie so) lebt in Brasilien. Die Eltern wurden 13
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vergast. Sie hatten einen Besitz in der Hinterbrühl, an dem mein Vater auch beteiligt war. Ich dachte einmal daran, ihn zu kaufen, als ich zurückkam, hielt es aber doch für besser, mich nicht mit alten Erinnerungen zu belasten. Tante Hantschi war mit Philip Berger verheiratet und hatte vier bildhübsche Töchter, eine schöner als die andere, nur waren sie leider viel älter als wir Jungen. Trotzdem war ich gerne bei ihr zu Besuch, als ich noch ein kleiner Junge war, denn die Familie wohnte in einer damals noch sehr vornehmen, großen Wohnung am Schüttel und ich liebte die Aussicht auf den Donaukanal, wo es damals noch Schiffe und Boote zu bewundern gab. Die Eltern wurden verschickt, die Töchter wanderten mit ihren Männern aus: Olga nach Australien, Vally und Etta nach den Staaten. Tante Sophie hatte eine Ganslerei in der Brigittenau, von wo wir unsere Feiertagsgänse bezogen. Ihr Mann, Onkel Jakob Knoll, war ein großer Politiker in der Brigittenau; sie hatten keine Kinder, auch sie beide starben im Konzentrationslager. Zwei Brüder waren lange krank, Hermann und Moritz. Hermann kannte ich nie, Moritz lebte mit sieben Kindern in Wien und wurde von den anderen Geschwistern unterstützt, da er hilflos war. Seine einzige Tochter pflegte ihn und wurde mit ihm vergast. Die Söhne wanderten aus, meist nach England, einige kamen nach Wien zurück; ich habe zwei von ihnen getroffen. Tante Flora hatte ein Geschäft auf der Wiedner Hauptstraße, das noch heute besteht und scheinbar aus Pietät die Aufschrift „Flora-Moden“ trägt. Ihr Mann, Onkel Obernbreit, war Kaufmann, sie wurden beide verschickt. Sie hatten zwei Kinder, Herman starb früh durch einen Unglücksfall, die Tochter Terry lebt in Argentinien, deren Sohn besuchte uns einmal auf dem Weg zu einer neuen Stelle in Deutschland. 14
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Meine Mutter hatte nur einen Bruder, Hugo, der leider schon mit dreißig Jahren an einem Schlaganfall starb. Er hinterließ einen Sohn, Erwin, der nach den Staaten ging und einmal als US-Offizier zurückkam; wir haben ihn leider nicht getroffen. Seine Mutter, Tante Martha, heiratete nochmals, sie war Besitzerin des Krugerkinos, wo wir schon als Kinder zu Gast sein durften, allerdings nahe der Notausgangstüre, damit wir bei einer Inspektion noch rechtzeitig verschwinden konnten. Sie versuchte in die Schweiz zu entkommen und soll erschossen worden sein. Auf der Mutterseite gab es unzählige Verwandte, meist aus Göding und Holleschau in Mähren. Sie waren zum Großteil Textilindustrielle, einige studierten. Es gab einen Cousin – Artur Beer aus Reichenberg –, der Astronom und Chef der Marinesternwarte in Hamburg wurde. Ich traf ihn einige Male in Wien und wir verstanden uns ausgezeichnet. Später erkrankte er an Kinderlähmung, kam aber durch und heiratete seine Pflegerin, eine richtige Baltin, die wunderbar zu ihm passte. Er ging, nachdem Hitler Deutschland übernommen hatte, nach England, wo er in Greenwich arbeitete; wir trafen uns noch 1939 in Dänemark. Und dann gab es noch den sagenumwobenen Onkel Otto Marcus in Ostafrika. Er war 1905 als einer der ersten Promoventen der k.u.k. Exportakademie in Wien nach Mombasa ausgewandert und hatte es dort zu großem Reichtum gebracht. Uns wurde er allerdings meist als warnendes Beispiel vorgehalten – für die Gefahren einer Auswanderung in andere Erdteile –, denn die ganze Familie hatte dort das gelbe Fieber bekommen und seine Gattin war daran gestorben. Übrigens trafen wir uns einige Male bei seinen Besuchen in Wien und 1953 besuchte er uns auf 15
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den Philippinen. Er baute mit einem Partner eine große Handels- und Produktionsfirma auf, im Ersten Weltkrieg konfiszierte aber Lettow-Vorbeck alle ihre Vorräte für die deutsche Armee und es gelang ihnen nicht, jemals Schadensersatz zu erhalten. Nachdem sie versucht hatten, den Bahnhof in Asch und die Deutsche Gesandtschaft in Washington zu pfänden, beides ohne Erfolg, setzten sie sich zusammen und fingen von Neuem an und in einigen Jahren war die „Old East African Trading Corporation“ wieder führend; Onkel Otto spielte mehrfach eine große Rolle in meinem Leben.
Wir waren eine große Familie und wir alle waren bewusste und nationale Österreicher, unsere Familie war voll assimiliert. Es ist heute müßig, darüber zu diskutieren, ob das gut oder schlecht war, es war eine Tatsache. Jeder hatte seinen Militärdienst absolviert und war stolz darauf; mein Vater war Stabsarzt und ich kann mich noch an seine verschiedenen Medaillen erinnern. Alle vertrauten dem Staat als volle Garantie der Rechtssicherheit. Gleichzeitig waren die Mitglieder der älteren Generation gläubige Juden. Es gehörte zum Standard, dass man seinen Tempelsitz hatte, womöglich in der Seitenstettengasse oder in der Tempelgasse, und die Kinder wurden – nicht immer zu ihrer Begeisterung – an den hohen Feiertagen und oft auch am Freitagabend zum Gottesdienst mitgenommen. Vielleicht trug dies dazu bei, die religiöse Begeisterung einigermaßen zu dämpfen. Man war „stolz darauf, Jude zu sein“ und die jüdischen Komiker setzten hinzu: „... das Gegenteil würde ja auch nichts helfen“.
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