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Wieviel Zeit sind 90 Minuten, Herr Meyer?

Hans Meyer ist Lehrer für Sport und Geschichte. Er trainierte auf 10 Trainerstationen 8 Fußballclubs in der DDROberliga und — nach der sogenannten Wende — in der holländischen Eredivisie und der Bundesliga. Mit dieser Frage konfrontiert, habe ich mir den Spaß gemacht, folgendes nachzurechnen: Wenn ich all meine wichtigen Spiele als Fußballlehrer in 40 Jahren zusammenzähle — also Punktspiele, Pokalspiele und internationale Spiele — komme ich auf 1.301 Spiele. 1.301 mal 90 Minuten. Das klingt schon ziemlich gewaltig, oder?

Wenn ich Nachspielzeiten und Verlängerungen vernachlässige, komme ich auf insgesamt 117.000 Minuten oder 81,3 Tage oder 2,7 Monate oder 0,23 Jahre. 0,004 Jahre meines fast 80-jährigen Lebens saß ich also auf der Trainerbank. Das klingt nun wieder alles andere als gewaltig. Trotzdem haben diese 90 Minuten lange Zeit meines Lebens eine übergeordnete Rolle gespielt. Und darum soll es ja hier gehen, die Länge eines einzelnen Spiels. Das Besondere an ihnen ist die Art, wie man sie erlebt. Sie waren das Aufregendste in meinem beruflichen Alltag. Auf der Bank war ich so auf das Spiel konzentriert, dass ich zum Beispiel

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nicht mitbekommen habe, was auf der Tribüne los war. Dabei hängt das subjektive Zeitgefühl stark vom Spielverlauf ab. Der ist selten so, dass man sich entspannen kann. Nur wenn man kurz vor Abpfiff mit 4 Toren führt oder schon in der ersten Halbzeit 0:5 zurückliegt, hält sich die Aufregung in Grenzen. Wenn man zur Pause 0:5 hinten liegt, ist die einzige Ansage, die man in der Kabine noch machen kann: »Das war scheiße bisher, tut mir einen Gefallen und seht zu, dass wir wenigstens nicht noch mehr Tore bekommen.« Spätestens wenn man alle Auswechslungen vorgenommen hat, ist da für einen Trainer nichts mehr zu tun, außer in der 80. Minute zu überlegen, wie man das in der Pressekonferenz erklärt oder ob noch Steaks im Kühlschrank liegen. Viel häufiger ist es aber so, dass man unter Zeitdruck Entscheidungen treffen muss. Man bereitet sich natürlich vor, überlegt vorher verschiedene Szenarien, Auswechslungen oder Umstellungen je nach Spielstand. Dann gibt es aber immer wieder Situationen, auf die man sich nicht vorbereiten kann. Zum Beispiel fliegt ein Spieler vom Platz, der für das Spielkonzept wichtig ist und man hat maximal eine Minute Zeit, um eine Entscheidung zu treffen, die dem weiteren Spiel eine komplette Wendung geben kann. Es geht für einen Trainer also weniger um die 90 Minuten an sich, als um die nicht planbaren Ereignisse innerhalb der 90 Minuten. (Dass ich nicht von Spielerinnnen spreche, hat übrigens nur damit zu tun, dass ich niemals eine Frauenmannschaft trainierte.) Auch die vielen Zeitbegriffe, die rund um ein Fußballspiel benutzt werden, beweisen, dass die gemessene Zeit wenig mit der gefühlten Zeit zu tun hat. Man kann Zeit schinden oder auf Zeit spielen, was mit einer gelben Karte bestraft werden könnte. Man kann ein Ergebnis über die Zeit retten. Eine gern benutzte Phrase ist auch der psychologisch schlechte Zeitpunkt für ein Gegentor. Da möchte ich nur meinen wunderbaren Kollegen Jürgen Klopp zitieren, der immer noch auf der Suche nach dem psychologisch guten Zeitpunkt für ein Gegentor ist. Nachspielzeit, auch so ein seltsames Wort. Wahrscheinlich ist der Fußballplatz der einzige Ort, an dem man verloren gegangene Zeit nachgereicht bekommt.

Wenn man über die Bedeutung des Zeitbegriffs innerhalb der alles entscheidenden 90 Minuten sinniert, kommt man auch nicht vorbei an der von den Spielern geforderten Schnelligkeit. Das bezieht sich sowohl auf das Lauftempo als auch vor allem auf die Reaktions- und Handlungsschnelligkeit auf dem Platz. Beim viel zitierten Pressing ist in erster Linie Gedankenschnelligkeit gefragt, man will den Gegner in Raum- und Zeitnot bringen und muss selber damit klarkommen, dass man in Raum- und Zeitnot gebracht wird. Die körperliche Konstitution entscheidet darüber hinaus, ob ein Spieler die Zeit als zu lang oder eher als kurz empfindet. Im Schnitt läuft ein Spieler in 90 Minuten um die 12 Kilometer, davon 800 bis 1200 Meter im Sprint. Wenn ein Spiel auf der Kippe steht und man nach einer längeren Verletzungspause 90 Minuten spielen muss, kann das zur Qual werden. Da beide Mannschaften das Spiel gewinnen wollen, ist das Zeitgefühl in den 90 Minuten natürlich extrem ungleich verteilt. Ein Zeitspiel kann je nach Blickwinkel eine verständliche taktische Maßnahme oder eine gelbwürdige Provokation sein. Der gefoulte Spieler, der bei einer knappen 1:0 Führung in der 85. Minute lange liegen bleibt, ist entweder schwer getroffen worden oder, je nach Sichtweise, ein elender Simulant oder ein geschickter Taktiker. Es gibt bei objektiv gleichem Spielverlauf also immer zwei gefühlte Zeitzonen auf dem Platz. Der Verlauf der Meisterschaft spielt natürlich auch eine große Rolle. Es wäre gelogen zu behaupten, dass man am vorletzten Spieltag, irgendwo im Mittelfeld rumdümpelnd, ohne Chance, noch einen internationalen Platz zu erreichen oder ohne Angst abzusteigen, die 90 Minuten so intensiv erlebt wie in einem Pokalfinale. Zusammenfassend kann man vielleicht sagen: 90 Minuten sind in der Regel nicht lang genug, dass einem als Trainer auf dem Platz langweilig werden könnte. Als nicht besonders konditionsstarker Spieler in der DDR-Oberliga empfand ich sie — wenn ich überhaupt mal über die vollen 90 Minuten eingesetzt wurde — allerdings ehrlich gesagt IMMER als zu lang.

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