5 minute read
Wieviel Zeit bis zum Frieden auf Erden, Frau Lux?
Lana Lux, geboren 1986 in Dnipropetrowsk (Ukraine), wanderte im Alter von zehn Jahren mit ihren Eltern als Kontingentflüchtling nach Deutschland aus. Sie machte Abitur und studierte zunächst Ernährungswissenschaften in Mönchengladbach. Später absolvierte sie eine Schauspielausbildung am Michael Tschechow Studio in Berlin. Seit 2010 lebt und arbeitet sie als Schauspielerin und Autorin in Berlin. 2017 erschien ihr Debüt »Kukolka«, das in mehrere Sprachen übersetzt wurde, 2020 »Jägerin und Sammlerin«. Ich muss gestehen, die spontane Antwort die mir in den Sinn kommt ist: Der Frieden auf Erden wird mit dem Ende der menschlichen Spezies beginnen.
Auf der einen Seite bin ich unsentimental, wenn es um uns Menschen geht. Wie jede andere Spezies sind wir entstanden, haben uns entwickelt und werden früher oder später unser Ende finden. Ich will nicht den Eindruck erwecken, als würde ich das Leben nicht zu schätzen wissen. Das tue ich. Sehr sogar. Es bietet so viel Schönes und ich bin sowohl in der Lage es zu erkennen, als auch es zu genießen (wenn ich nicht gerade eine meiner depressiven Episoden durchleiden muss). Jetzt gerade sitze ich mit meinem Hund im Lietzensee-Park. Das Wetter ist herrlich, der Duft des Flieders weckt schöne Erinnerungen in mir, das Licht bricht sich interessant im Glas meiner Wasserflasche. Menschen sitzen auf Bänken,
Advertisement
Decken und im Gras, essen, lesen, reden, lachen. Meine unmittelbare Umgebung in diesem Moment ist vollkommen friedlich. Und ich bin es auch. Es ist nur nicht von Dauer. Vielleicht sollten wir uns eher die Frage stellen, wie lange der Frieden andauern kann? Wie lange können wir ihn andauern lassen? Frieden ist ja etwas, das wir tun, es ist kein Naturphänomen. Er resultiert aus unserer Friedfertigkeit. Die ebenfalls kein Naturphänomen ist, sondern eine Fertigkeit. Friedfertigkeit muss also wie jede andere Fertigkeit erlernt und geübt werden. Denn selbst der Frieden mit sich selbst muss Augenblick für Augenblick immer wieder hergestellt werden. Gerade wenn es um mich herum friedlich und harmonisch ist, Menschen sich zu vergnügen scheinen, sehr unterschiedliche Bevölkerungsgruppen mit mutmaßlich sehr verschiedenen Werten, Ansichten und Möglichkeiten einfach nebeneinander existieren, sich nicht anfeinden, sich keine Gewalt antun, muss ich an Krieg denken. Nicht erst seit dem Krieg in der Ukraine, meinem Geburtsland. Sondern schon immer, schon seit meiner Kindheit. Seit den Erzählungen meiner Oma vom Zweiten Weltkrieg. Seit den Erzählungen meiner Grundschulfreundin vom Krieg in Jugoslawien. Seit ich weiß, dass ich, hätte ich in den 40ern in Deutschland gelebt, als Jüdin nicht auf einer Parkbank hätte sitzen dürfen und meine lieben Nachbarn mich für das Vergehen gemeldet hätten. Im Krieg könnten diese Menschen, die hier gerade auf Bänken, Decken und im Gras liegen, diese ganz normalen, diese gewöhnlichen Menschen aufeinander losgehen, einander beklauen, verraten, verletzen oder gar töten. Diese Möglichkeit macht mir Angst. Am meisten macht mir aber die Möglichkeit Angst zu erfahren, zu was ich selbst fähig wäre. Früher, bevor ich ein Kind hatte, war ich mir sicher, ich würde mich nicht wehren und als eine der ersten der Gewalt zum Opfer fallen. Heute bin ich anders. Ich muss anders sein. Ich weiß ich würde alles für mein Kind tun. Und ich will wirklich niemals herausfinden müssen, was alles. Aber warum erzähle hier vom Krieg, während nach dem Frieden gefragt wurde?
Ich weiß nicht, was ich zum Frieden schreiben kann. Ich will nicht negativ klingen, aber ich habe das Gefühl, er ist immer nur so eine kurze Verschnaufpause, ein Wundenlecken, bevor der Wahnsinn der Gewalt von vorne beginnt. Ich liebe mein Leben. Ich bin in Berlin, es ist Sommer und um mich herum sitzen Menschen auf Bänken, Decken und im Gras. Gleichzeitig ist mein Frieden von vor wenigen Minuten wieder weg. Ich bin im Krieg. Mein Handy macht es möglich. Ich könnte alles Mögliche durch mein Handy sehen. Ich müsste es nur sagen. Aber ich sage immer nur: »Zeig mir den Krieg.« So geht es schon knapp drei Monate. Ich hänge an den Kriegsberichten aus der Ukraine, was mein Nervensystem völlig zerrüttet. Aber ich kann nicht anders. Ich habe das Gefühl, nicht wegschauen zu dürfen, auch wenn es mir (in diesem Umfang) schadet und vermutlich niemandem hilft. Und so kämpfe ich Tag für Tag meine kleinen, bedeutungslosen Kämpfe. Mit Verwandten und ihrem Putinismus. Mit dem Alltag und den Geschirrbergen, ich kämpfe um diese Wörter hier, die mir leer und banal erscheinen. Nein, ich kann mir einen andauenden Frieden auf diesem Planeten nicht vorstellen. Noch nicht mal als sogenannten negativen Frieden, der in Abwesenheit von Krieg besteht. Warum? Weil wir Menschen die vermutlich aggressivste aller Spezies sind. Weil wir ein Bedürfnis nach Gruppe, nach Masse haben, in der wir aufgehen können. Weil wir immer wieder Anführerpersönlichkeiten hervorbringen. Weil die Masse in einer Weise lenkbar ist, in der das Individuum es nicht wäre. Und gleichzeitig können wir als Individuen keine großen Veränderungen herbeiführen. Das Gefühl, allein und machtlos zu sein, schmerzt. Als ich beispielsweise aufgehört hatte Tiere zu essen, um zur Lösung eines ethischen und ökologischen Problems beizutragen, wurde das von meiner Familie als sinnlos bezeichnet. Das ist jetzt fünfzehn Jahre her, und vermutlich hat wegen mir tatsächlich noch kein Schlachthof schließen müssen. Aber ich bleibe dabei, weil ich damals einen Leitsatz für mein Leben formuliert habe: Sei Teil der Lösung, nicht des Problems.
Der gleiche Leitsatz kann und wird jedoch auch von Machthabern genutzt, um die Masse zu lenken. Es wurden und werden auch heute die furchtbarsten Dinge getan, mit der Behauptung, sie würden Teil der Lösung sein.
Was im Individuellen also einigermaßen gut funktionieren mag, kann in der Masse missbraucht werden. Was tun? Vielleicht sollten wir uns zunächst auf unsere eigene Friedfertigkeit konzentrieren. Uns darin üben. So wie ich gerade, während ich einem (für meinen Geschmack) nervigen Kind geduldig erkläre, wie es meinen Hund streicheln kann (und wie nicht), anstatt meinem Impuls zu folgen und das Kind zurück zu der Decke zu schicken, von der es gekommen ist. Jetzt, am Ende meiner Überlegungen, ist mir doch noch eine andere Antwort eingefallen: Es dauert bis zum Frieden auf Erden nur noch so lange, bis der Messias kommt. Dafür müssen wir nur das Lamm zu den Löwen legen (und es regelmäßig ersetzen).