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Wieviel Zeit verbringen wir mit unserer eigenen Endlichkeit, Herr Bernhardt?12 102 DEZEMBER
Fabian Bernhardt hat Philosophie, Ethnologie und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft studiert. 2018 wurde er am Philosophischen Institut der Freien Universität Berlin promoviert, wo er zurzeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich »Affective Societies« forscht. 2021 erschien sein zweites Buch »Rache. Über einen blinden Fleck der Moderne« bei Matthes & Seitz Berlin. Das ist eine interessante Frage. Sie lässt nicht nur mehrere Antworten zu, sondern verlangt geradezu danach, aufgrund einer Vieldeutigkeit, die sie unausgesprochen begleitet. Um sie in zulässiger Weise beantworten zu können, scheint mir, müsste man zunächst eine Gegenfrage stellen: Wer ist dieses »wir«, das hier angesprochen ist? Wir, das könnte zunächst einmal schlicht diejenigen Menschen meinen, die diesen Text lesen und folglich ein Interesse am Programm des Deutschen Theaters aufbringen. Einerseits handelt es sich dabei um eine heterogene Vielheit: Wir sind unterschiedlich alt, haben unterschiedlich viel Geld, sind unterschiedlich gesund. Das sind alles Faktoren, die einen Einfluss darauf haben, wie wir es als Einzelpersonen jeweils mit unserer Endlichkeit halten. Jemand, der an einer ernsthaften Krankheit leidet, Multiple Sklerose zum Beispiel, wird seine Endlichkeit anders erleben als eine gesunde Person. Das sind gewichtige
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Unterschiede. Andererseits teilt dieses Theater-Wir, um es einmal so zu nennen, aber auch eine Reihe von Eigenschaften, insbesondere im Hinblick auf seine soziale, ökonomische und kulturelle Situiertheit: Schließlich sind es keineswegs alle Menschen in unserer Gesellschaft, die sich für das Theater interessieren und das Privileg besitzen, diesem Interesse auch nachzugehen. Zugleich weiß dieses Wir, das im Theater zusammenkommt, aber auch um andere Menschen, aus den Nachrichten, vermittelt durch andere Kanäle, für die sich diese Frage in einer anderen Weise und mit einer größeren Dringlichkeit stellt: die Bevölkerung der Ukraine zum Beispiel, die Flüchtenden auf dem Mittelmeer, die Menschen im Globalen Süden, die gerade akut von Hunger bedroht sind. Menschen also, die sich in Situationen befinden, in denen sie Tag für Tag mit der Möglichkeit des Endes ihres eigenen Lebens konfrontiert sind. Wobei man davon ausgehen kann, dass sich die Frage nach der eigenen Endlichkeit als solche umso weniger stellt, je prekärer die Situation ist, je mehr man um sein tägliches Überleben zu kämpfen hat. Man hat dann andere Sorgen, wenn Sie so wollen, solche, die sich direkt auf das Diesseits und die konkreten Möglichkeiten des Überlebens richten: Wo bekomme ich die nächste Mahlzeit her, für mich und meine Kinder, wo sauberes Trinkwasser? Wo kann ich schlafen? Wem vertrauen? Wer hilft mir? Das sind andere Fragen als die, die sich den Besucherinnen und Besuchern des Deutschen Theaters stellen. Wir stehen hier einem Umstand gegenüber, den ich für wichtig halte: Alle Menschen sind endlich, aber nicht alle sind in derselben Weise mit dem Faktum ihrer Endlichkeit konfrontiert. Über Endlichkeit nachzudenken, in einem abstrakten oder philosophischen Sinn, ohne unmittelbar um sein eigenes Leben fürchten zu müssen, können sich keineswegs alle leisten. Wenn die Frage also lautet, »Wieviel Zeit verbringen wir mit unserer eigenen Endlichkeit?«, so muss man zunächst feststellen, dass es dieses eine Wir gar nicht gibt, trotz des geteilten Faktums der Sterblichkeit, dass es sozusagen zersplittert und sich auffächert und nach einer genaueren Bestimmung des Standorts, des Kontextes, der Situation verlangt.
Anders ausgedrückt: Wir sind immer viele. Aber diese Vielen lassen sich nur unter der Voraussetzung als einheitliches Wir ansprechen, dass man von einer ganzen Reihe von Besonderheiten absieht, die im Hinblick auf die genannte Frage jedoch von großer Relevanz sind.
Eine zweite Gegenfrage drängt sich auf: Was genau bedeutet es, Zeit mit seiner eigenen Endlichkeit zu verbringen? Die Frage ließe sich noch weiter zuspitzen: Ist es überhaupt möglich, nicht Zeit mit seiner eigenen Endlichkeit zu verbringen, und sei es auch nur für eine einzige Minute oder Sekunde? Schließlich steht jeder Moment unseres Daseins, vom ersten Atemzug, den wir als Neugeborene tun, bis hin zum letzten, unentrinnbar im Zeichen der Endlichkeit. Man kann diesen Umstand für banal halten, unterliegt doch alles, was in der Zeit ist, Alter, Tod und Verfall. Aber ist es wirklich banal, daran zu erinnern? Denselben Menschen, denen wir die Erfindung des Theaters verdanken, jenen der griechischen Antike, galt dieser Umstand immerhin als so bedeutend und bemerkenswert, dass sie in ihm die Klammer sahen, die das Geschlecht der Menschen über alle Unterschiede hinweg zusammenhält: Wir Sterblichen. Gewiss war ihnen bewusst, dass der Mensch nicht das einzige Wesen ist, das sterben muss. Wenn sie von sich selbst als den Sterblichen sprachen, dann vor allem deshalb, weil sie im Menschen dasjenige Wesen erkannten, das um seine Sterblichkeit weiß und dazu gezwungen ist, sich kulturell zu ihr zu verhalten. In modernen Gesellschaften — das heißt Gesellschaften, die sich selbst für aufgeklärt halten — besteht eine der am meisten verbreiteten Formen, sich zu seiner eigenen Endlichkeit zu verhalten, darin, sie schlichtweg zu ignorieren. Dass in der Fähigkeit zum Wegsehen und Leugnen unter Umständen auch ein Segen liegt, wissen diejenigen am besten, denen diese Möglichkeit nicht gegeben ist, weil sie sich in einer existentiellen Lage befinden, die sie unentwegt an das unvermeidbare Ende erinnert. Privilegiert sind also nicht nur jene, die sich philosophisch mit der Frage der Endlichkeit auseinandersetzen können, sondern auch jene, denen es freisteht, diese Frage einfach zu ignorieren.
Was bedeutet das nun aber für uns, das Theater-Wir, das sich im Saal versammelt? Das Besondere am Theater ist, dass es beide Haltungen zulässt: Hinsehen oder Wegsehen. Zwischen dem Zuschauerraum und dem, was auf der Bühne passiert, hat seit jeher beides seinen Platz: selige Ignoranz und kritische Reflexion, das Einschläfernde und das Aufrüttelnde, eskapistische Unterhaltung und der Aufruf zum Umsturz. Nach zwei Jahren Pandemie, diesem großen Crashkurs in Sachen Endlichkeit, wissen die meisten, wie wenig selbstverständlich es ist, solche Orte besuchen zu können. Und diejenigen, die es schon wieder vergessen haben, werden von jedem Niesen der Sitznachbarin und jedem Huster, der durch den Zuschauerraum hallt, erneut an dieses Privileg erinnert. Na endlich! Auch dafür wurde es Zeit.
Saal versammelt? Das Besondere am Theater ist, dass es beide 2 2 Haltungen zulässt: Hinsehen oder Wegsehen. Zwischen dem Zuschauerraum und dem, was auf der Bühne passiert, hat seit jeher beides seinen Platz: selige Ignoranz und kritische Reflexion, das Einschläfernde und das Aufrüttelnde, eskapistische Unterhaltung und der Aufruf zum Umsturz. Nach zwei Jahren Pandemie, diesem großen Crashkurs in Sachen Endlichkeit, wissen die meisten, wie wenig selbstverständlich es ist, solche Orte besuchen zu können. Und diejenigen, die es schon wieder vergessen haben, werden von jedem Niesen der Sitznachbarin und jedem Huster, der durch den Zuschauerraum hallt, erneut an dieses Privileg erinnert. Na endlich! Auch dafür wurde es Zeit. Fabian Bernhardt hat Philosophie, Ethnologie und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft studiert. 2018 wurde er am Philosophischen Institut der Freien Universität Berlin promoviert, wo er zurzeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich „Affective Societies“ forscht. 2021 erschien sein zweites Buch „Rache. Über einen blinden Fleck der Moderne“ bei Matthes & Seitz Berlin.
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Uraufführung: 16. Dezember 2022 Deutsches Theater
A N G A B E DER PERSON
von Elfriede Jelinek Regie: Jossi Wieler
Angabe der Person. Das klingt wie schönstes Behördendeutsch. Und in der Tat: Der deutsche Fiskus geistert durch Elfriede Jelineks neues Stück. Die Steuerfahndung geht um, private Räumlichkeiten werden durchsucht, Papiere beschlagnahmt. Auf diesen Papieren: alles, was sich so ansammelt in einem langen Leben. Geschichten von Lebenden, Geschichten von Toten, mehr von Toten mittlerweile. Denn aus dem Text spricht eine Stimme, die sich als die letzte fühlt: „Nach mir ist es unwiderruflich aus mit den Jelineks! Alle weg, alle futsch, außer mir.“
So nimmt die Autorin „die letzten Meter“ zum Anlass, auf die eigene „Lebenslaufbahn“ zu schauen, auf die „Untaten“ der eigenen Vergangenheit, auf die „Untoten“ ihrer Biografie. Sie erzählt von ihren Eltern und Großeltern, vom jüdischen Teil ihrer Familie, von Verwandten, die vertrieben und ermordet wurden, von Flucht und Verfolgung, von der Entschädigung der Täter, von alten und neuen Nazis, früher und heute. Sie schreibt als angeklagte Klägerin, als Opfer und als Täterin. Über sich. Über Deutschland. Mal in sich überschlagenden Kaskaden aus Wut und Wort. Mal als Erinnerung an die Vergessenen und als Trauerlied von seltener Klarheit. Jossi Wieler, den seit dreißig Jahren eine enge Zusammenarbeit mit Elfriede Jelinek verbindet, bringt mit ANGABE DER PERSON einen ihrer bisher persönlichsten Theatertexte zur Uraufführung.
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Premiere: 17. Dezember 2022 Kammerspiele
CALIGULA
von Albert Camus Regie: Lilja Rupprecht