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Wieviel Zeit hat das Polarmeer, Frau Arndt?09 78 SEPTEMBER

Wieviel Zeit hat das Polarmeer, Frau Arndt?

Dr. Stefanie Arndt ist Meereisphysikerin am Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung. Auf ihren 14 Expeditionen in die Polarregionen kann sie seit nunmehr 12 Jahren beobachten, wie sich diese verändern. Ihr Forschungsobjekt, der Schnee auf dem Meereis, gibt der gebürtigen Berlinerin dabei Aufschluss über den voranschreitenden Klimawandel. Ich sitze auf einer Eisscholle im gefrorenen arktischen Ozean. Soweit mein Auge reicht, nichts als weiß. Wenn ich mir gedanklich vorstelle, wo ich auf dem Globus sitze, wird schnell klar: ganz schön weit weg vom Rest der Welt. Nächster bekannter Punkt in 100 Meilen Entfernung gen Norden: der Nordpol. Während ich hier sitze, trennen mich nur knapp 1,5 Meter Meereis vom über 4000 Meter tiefen Ozean darunter. Und genau hier liegt eines der großen Probleme. Noch vor 10 Jahren waren das 2 Meter, vor 20 Jahren sogar 2,5 Meter. Der Grund dafür, dass ich dem Eis fast beim Schmelzen zuschauen kann? Der Klimawandel. Denn dieser ist an keinem Ort der Erde so deutlich zu spüren wie hier in den hohen nördlichen Breiten. Seit Jahrzehnten beobachten wir hier nicht nur ein stetiges Dünnerwerden des arktischen Meereises, sondern auch die Fläche, die hier am Ende des Sommers noch gefroren ist, wird immer kleiner. In den vergangenen 40

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Jahren hat sie sich halbiert. Stellen Sie sich vor, Sie liegen im Bett und haben nur noch eine halbe Decke, die sie zudeckt. Kein schönes Gefühl, oder? Aber genauso fühlt sich der Ozean. Nur mit dem Unterschied, dass Sie nun mit der halben Decke frieren, während sich der arktische Ozean mit der halben Meereisdecke immer stärker erwärmt. Denn das weiße, stark reflektierende Meereis sorgt dafür, dass die einfallende Solarstrahlung nicht an Ort und Stelle bleibt, sondern in großen Teilen zurück in die Atmosphäre reflektiert wird. Fehlt diese schützende Schicht, wird die Energie und damit Wärme vom dunklen Ozean aufgenommen und erwärmt diesen. Diese Wärme schmilzt weiteres Meereis, die freie Ozeanfläche wird noch größer, noch mehr Wärme kann aufgenommen werden. Ein Teufelskreislauf. Was dabei klar wird: Machen wir so weiter wie bisher, werden wir bis 2050 mindestens einen Sommer haben, in dem die Arktis eisfrei ist. Um dann also hier zu sitzen, wo ich es gerade tue, bräuchte ich ein Schlauchboot. Eine Vorstellung bei der es mir kalt den Rücken runterläuft — nicht nur, weil das Pendant im Bett bedeuten würde, dass wir dann ganz ohne Decke daliegen würden.

Plötzlich wird dieses Gedankenexperiment in meinem Kopf unterbrochen. Die arktische Stille, in der ich bis eben nichts als das Rauschen des Blutes in meinen Ohren und den leichten Wind über die Schneeoberfläche habe fegen hören, wird von einem ohrenbetäubenden Lärm durchsetzt. In sicherer Entfernung hatte sich vor nicht allzu langer Zeit ein Riss im Eis geöffnet. Ein Phänomen, welches in den vergangenen Wochen und Monaten hier oben im Eis für uns zum Alltag wurde. Diese Risse sorgen einerseits dafür, dass wir dort, wo wir gestern noch langlaufen konnte, heute womöglich schon nicht mehr hinkommen. Andererseits öffnen sie so Fenster zwischen Ozean und Atmosphäre. Sie ahnen es. Auch hier kann und wird zusätzliche Wärme in den Ozean eingetragen. Solche Rissstrukturen öffnen sich durch den Wind. Und schließen sich auch wieder durch diesen. Dabei schieben sich die Eisschollen aber nicht wie in einem Puzzlespiel wieder an Ort und Stelle zurück. Vielmehr werden sie kraftvoll ineinandergeschoben und türmen unter tosendem Lärm das Eis an den Kanten auf. Es bilden sich

sogenannte Presseisrücken. Genau diesem Naturspektakel kann ich just in diesem Moment beiwohnen und bin wie erstarrt. Es knallt gewaltig. Kleine Eisstückchen fliegen in alle Richtungen. Die Kraft der Natur ist gewaltig. Ich bin sprachlos. So etwas mit eigenen Augen zu beobachten, mit eigenen Ohren zu hören und am ganzen Körper zu spüren als würde ein kleines Erdbeben passieren, ist auch für mich nach 12 Jahren Polarforschung nichts Natürliches. Und so beeindruckend es für mich ist, diese Kraft des Eises mit allen Sinnen erleben zu dürfen, so deutlich macht es mir gleichzeitig, wie fragil das System ist. Denn auch diese zunehmende Bewegung des Eises ist Ausdruck der Zerbrechlichkeit und Veränderung des arktischen Meereises in Zeiten des Klimawandels. Das Meereis wird dünner und damit dynamischer. Eine Tatsache, auf die man achten muss — denn einmal mehr: Wer weiß, wie lange wir all diese Phänomene überhaupt noch im Sommer erleben dürfen? Wer weiß, ob die kommende Generation die Arktis noch so sehen, spüren und hören darf, wie ich es darf? In all ihrer Schönheit und ihren weißen Weiten. Oder ob dann schon die Farbe Blau dominiert, wenn unser Blick gen Nordpol wandert. Und das nicht nur hier.

Wir dürfen nicht vergessen, dass das, was in der Arktis passiert und sich verändert, nicht in der Arktis bleibt. Nein; vielmehr hat das Abschmelzen der Polargebiete deutliche globale Folgen. Und das vor allem auch für uns in den mittleren Breiten. Erinnern Sie sich an die starken Unwetter im Ahrtal im Sommer 2021? Oder die vielen viel zu trockenen Sommer im ganzen Land? All dies sind Folgen der Veränderung in der Arktis. Denn auch wenn uns die Arktis weit weg erscheint, sind wir mit ihr verbunden — durch atmosphärische und ozeanische Zirkulationssysteme, vereinfacht gesagt durch Winde und Ozeanströmungen. Die Polarregionen, am Nord- wie im Südpol, sind dabei so etwas wie der Motor. Und genau diese Motoren überhitzen in den aktuellen Zeiten der globalen Erwärmung am meisten. Während sich die Welt in den vergangenen Jahrzehnten im Mittel um 1 Grad Celsius erwärmt hat, sind es in der Arktis schon 2 bis 3 Grad Celsius. Tendenz steigend. Wir haben keine Zeit mehr.

Lassen Sie uns gemeinsam anpacken — für die kommenden Generationen. Damit diese eine Welt kennenlernen dürfen, wie wir sie kennen. Denn die Erde braucht uns nicht, aber wir brauchen die Erde — mit ihren heißen Tropen, gemäßigten mittleren Breiten und kalten Polkappen.

Der Eisrücken ist nun fertig geformt. Es herrscht wieder Ruhe auf meiner Eisscholle. Ich betrachte die nahezu künstlerische Skulptur aus der Ferne. Langsam wende ich mich wieder meiner Forschung dieses fragilen Systems zu. Ich schaue mir Strukturen im Schnee an. Die weiße Schicht erzählt mir ihre Geschichte — was ist im vergangenen Jahr passiert? Wie unterscheidet sich diese von der vor 20 Jahren? Der Schnee ist als Grenzschicht zwischen Meereis und Atmosphäre der erste, der die klimatischen Veränderungen zu spüren bekommt. Er schmilzt früher. Und spricht dabei eine deutliche Sprache: Die Arktis hat keine Zeit mehr!

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Berlin-Premiere: 1. September 2022 Kammerspiele Koproduktion mit den Bregenzer Festspielen

DER STURM

von William Shakespeare in einer neuen Übersetzung von Jakob Nolte Regie: Jan Bosse

Auf einer einsamen Insel lebt Prospero, vormals Herzog von Mailand. Jahre zuvor war er durch eine Intrige seines Bruders Antonio vom Thron gestürzt und in einem Boot auf offener See ausgesetzt worden. Wie durch ein Wunder rettete er sich gemeinsam mit Tochter Miranda auf diese Insel. Hier hat er eine neue Welt aufgebaut und herrscht uneingeschränkt über Wesen und Geister – wie Caliban oder den Luftgeist Ariel, die Ureinwohner des Eilands. Eines Tages sichtet Prospero die Flotte des Königs von Neapel Alonso, der auch sein Bruder Antonio und Königssohn Ferdinand angehören. Mit Ariels Hilfe entfesselt er einen Sturm, der sie kentern und stranden lässt. Mit diesem inszenierten Schiffbruch ist nun Prospero zurück in der mächtigen Position, hat die Chance auf späte Rache oder Versöhnung und zieht alle Schicksalsfäden neu zusammen. DER STURM von 1611 ist eines der letzten Werke William Shakespeares und sein ultimativer Schöpfungsmythos, welcher das Theater als symbolische Insel der Möglichkeiten betrachtet. Die Ausnahmesituation wird zum Experiment eines Neuanfangs: Was würd‘ ich machen, wenn ich König wär‘? Shakespeare streift dabei spielerisch Themenkomplexe wie Macht und Unterdrückung, Ausbeutung und Aneignung, Natur und Zivilisation.

Jakob Noltes Zugriff auf THE TEMPEST ist eine spezielle Neuübersetzung, die sich Wort für Wort durch das altenglische Original hangelt. Es entsteht eine Phantasiesprache, die sich über Melodie und Klang entschlüsselt und so bezaubernd seltsam ist wie die Bewohnerinnen und Bewohner jener Insel.

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Premiere: 4. September 2022 Deutsches Theater

DER EINZIGE UND SEIN EIGENTUM

Ein Musical nach Max Stirner von Sebastian Hartmann und PC Nackt Regie: Sebastian Hartmann Komposition: PC Nackt

Er nimmt Thesen Nietzsches vorweg, zieht Hunderte polemischer Marx/Engels-Seiten auf sich und bringt Camus dazu, ihn als „nihilistischen Rebellen“ zu bezeichnen. Und in der Tat ist es rebellisch, was Max Stirner 1844 in seinem Hauptwerk DER

EINZIGE UND SEIN EIGENTUM formuliert: eine Absage an jede Indienstnahme des Ich durch übergeordnete Instanzen, eine Attacke auf alle Moral jenseits des Eigennutzes, ein Plädoyer für einen radikalen Egoismus und dafür, dass allein der Einzelne Verantwortung für sein Handeln übernehmen könne. „Jedes höhere Wesen über Mir, sei es Gott, sei es der Mensch, schwächt das Gefühl meiner Einzigkeit und erbleicht erst vor der Sonne dieses Bewusstseins.“ So scharf und provozierend wie kaum jemand sonst vermisst dieser randständige, aber höchst einflussreiche philosophische Solitär auf neue Weise das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Zusammen mit dem Komponisten und Musiker PC Nackt und seinem Ensemble möchte Regisseur Sebastian Hartmann das Publikum einladen zu einer lustvollen Begegnung mit den Zumutungen und Widersprüchen, die Stirners Denken bis heute bedeutet.

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Uraufführung: 21. September 2022 Hermann-Hesse-Gymnasium Kreuzberg

Klassenzimmerstück Eine Inszenierung des Jungen DT

V A K U U M

von Maria Ursprung Regie: Romy Weyrauch

YouTuberin Blynkzno hat sich der Ausbildung zukünftiger Influencer:innen verschrieben und forscht nach neuen Talenten. Ihre Rekrutierung wird jedoch bald unterbrochen von einem unerwarteten Gast: Ein junger Mann vermisst seinen Bruder, der sich ins Metaversum zurückgezogen hat und dessen letzter bekannter physischer Standort in diesem Schulzimmer war. Zumindest behauptet er das – denn was Wahrheit und was Lüge ist, ist nicht immer leicht zu ergründen.

Verschwörungserzählungen und ihre Verstrickung mit den Sozialen Medien bilden den roten Faden des Auftragswerks von Maria Ursprung. Das Klassenzimmerstück ist ein Aufruf zum kritischen Denken, zum Prüfen von Quellen und dazu, lustvoll technische Hilfsmittel zu verwenden, ohne in verschwörungstheoretische Fallen zu tappen. Es fordert dazu auf, Komplexität nicht aus dem Weg zu gehen, sondern sich dem Unlösbaren anzunehmen, und es ruft dazu auf, auch dann Fragen zu stellen, wenn eine abschließende Antwort unmöglich scheint. Eine Hommage an den Zweifel und eine Ermutigung, die Komplexität der Realität zu umarmen.

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Premiere: 23. September 2022 Deutsches Theater Koproduktion mit Les Théâtres de la Ville de Luxembourg

PLATONOW

von Anton Tschechow in einer Fassung von Timofej Kuljabin und Roman Dolzhanskij Regie: Timofej Kuljabin

Ein Seniorenheim für gealterte Künstler:innen irgendwo im Nirgendwo – an diesen letzten Rückzugsort für die Vergessenen und Ausgemusterten versetzt der exilrussische Regisseur Timofej Kuljabin das Ensemble seiner PLATONOW -Inszenierung. Hier verbringen Schauspielerinnen und Schauspieler, die keiner mehr sehen will, ihren sogenannten Lebensabend. Aber sie warten nicht auf den Tod, sondern ignorieren ihn und beschwören aufs Neue die großen Gefühle und Konflikte ihres Lebens herauf. Und so wird die Geschichte von Anton Tschechows erstem Theaterstück über die Liebeswirren um den desillusionierten Dorfschullehrer Platonow in der Endzeit der Todesnähe noch einmal lebendig. Eine ultimative Komödie über die Zukunftslosen und Verlorenen, die noch einmal aufspielen zu einem letzten, makaber-melancholischen Tanz um das Verschwinden der Liebe, des Lebens und vielleicht auch der Kultur.

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Uraufführung: 29. September 2022 Box

MEIN LEBEN IN ASPIK

nach dem Roman von Steven Uhly Regie: Friederike Drews

Ein junger Mann erinnert sich an seine Kindheit, die geprägt ist von einem engen Verhältnis zur Großmutter. Ein Highlight: die Gutenachtgeschichten der Oma, gespeist aus fantasievollen Mordplänen an ihrem Mann. Auf einmal aber ist der Opa wirklich tot und die Erzählungen der Großmutter wenden sich der sexuellen Aufklärung zu. Zeitlicher Zufall? Doch warum ist die Mutter so angespannt, ihm und der Oma gegenüber, und seit Jahren rastlos auf der Suche nach einem neuen Partner? Der Mann fängt an nachzufragen und aufzudecken. Und was als harmlose Familienhistorie beginnt, enthüllt ihm ansatzlos und urplötzlich eine so aberwitzige und unmoralische Biographie, dass ihm nichts anderes übrigbleibt, als deren endlose Reihe von Tabubrüchen einfach selbst fortzusetzen und die privaten Verstrickungen ins ultimativ Groteske weiterzuführen. Hauptsache, alles bleibt in der Familie.

In seinem Debüt überzeichnet Steven Uhly die Abgründe und Perversionen eines fiktiven Clans dermaßen, dass sie sich ins Gegenteil verkehren und zur eigentlichen nackten Wahrheitsfindung führen. MEIN LEBEN IN ASPIK erzählt von Perspektiven aufs andere Geschlecht und den Grenzen unserer scheinbar so offenen und toleranten Gesellschaft. Die Fragen nach Abstammung und dem dunklen Labyrinth unserer Lebensläufe, die diese skurril-böse Familiengeschichte aufwirft, öffnen den Blick auf genetische Traumata, eine lügendurchtränkte westdeutsche Vergangenheit und unsere unauflösbare bittere Unfreiheit.

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