Lernf채higkeit Die Schl체sselressource f체r die Schweiz von morgen?
Bildungszentrum f체r Erwachsene BiZE-Report 2 Januar 2009
Impressum Herausgeber Bildungszentrum für Erwachsene BiZE, Zürich Konzept und Redaktion Serge Schwarzenbach, EB Zürich Christian Kaiser, silbensilber Fritz Keller, silbensilber Gestaltung Philipp Schubiger, PSVK Fotos Reto Schlatter Robert Bösch (S. 21) Druck Kantonale Drucksachen- und Materialzentrale KDMZ
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Übersicht
4 Jürgen Oelkers «‹Beruf› heisst in Zukunft wie ‹Leben› kontinuierliche Problem lösung unter je neuen Voraussetzungen, nicht mehr Anwendung des ein- für allemal Gelernten, es muss neu angereichert werden.»
6 Lutz Jäncke «Wir werden die Lernfähigkeit und die Erfahrungen der älteren Menschen noch brauchen. In Zukunft werden die Menschen länger berufstätig bleiben. Davon bin ich überzeugt.»
8 imke kEicher «In dieser Welt des Mehr und Zu-viel-vom-selben ist die knappste Ressource, sich aus diesem Meer herauszuheben. Dafür wird vor allem Kreativität gebraucht. Und zwar überall im Unternehmen.»
10 Lesetipps Alle Referentinnen und Referenten haben spannende Bücher zu ihren Spezialthemen geschrieben. Ein kurzer Überblick.
13 Ueli Steck «Aber es funktioniert, wenn man sich total fokussiert. Man überlegt sich nicht, was kommt in fünf Metern, man konzentriert sich einfach nur auf den nächsten Griff.»
16 Maja Storch «Wer Haltungsziele baut, sich darauf primt und eventuelle Schwierigkeiten mit Wenn-Dann-Plänen vorausschauend abfedert, schafft beste Voraussetzungen für neuronale Plastizität.»
18 RUDOLF STRAHM «Die Berufsbildung ermöglicht es, den Strukturwandel besser zu bewältigen; bei einem Stellen- oder Branchenwechsel ist die Berufsbefähigung für die Employability absolut entscheidend.»
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Editorial «Wir wollen besser sein als alle andern grossen Wirtschafträume dieser Welt!» Der Europäische Rat gab sich im Jahre 2000 in Lissabon dieses ehrgeizige Ziel. Durch Investitionen in die Aus- und Weiterbildung sollte dieses erreicht werden. «Lernfähigkeit» als Schlüsselressource der Zukunft war das Thema der Tagung, die am 26. November 2008 im Bildungszentrum für Erwachsene BiZE in Zürich stattfand. Abwechslungsreich, sachlich fundiert und nahe bei dem, was uns bewegt, haben Referentinnen und Referenten das Thema ausgeleuchtet. Der Neuropsychologe hinterfragte kritisch das Vorurteil, dass Lernfähigkeit ein Privileg von Jugend sei. Die Zukunftsforscherin stellte die unbequeme Frage: Wenn wir alles dafür tun, um möglichst vielseitig «employabel» zu sein, vernachlässigen wir dann nicht das Wichtigste, nämlich unsere Einzigartigkeit? Die Einzigartigkeit, die der Extrembergsteiger zum Beispiel am Eiger auslebt. Er zeigte auch, wie schnell eine aufs Kämpfen reduzierte Leistung das Leben bedrohen kann. Die Motivationsfachfrau machte Mut, es etwas netter und dafür erfolgreicher mit dem Selbst zu versuchen. Weiterbildung ist eine Investition in unsere Person und leistet einen unverzichtbaren Beitrag zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung. Die Zahlen des Volkswirtschafters untermauerten dies eindrücklich. Der EU-Ratsbeschluss ist eine Kampfansage: besser und stärker sein als andere. Die Tagung hat dazu einen Kontrapunkt gesetzt. «Lernfähigkeit» hat wenig mit Kampf und Obsiegen zu tun. Sie ist viel näher beim Leben, den Wünschen und dem persönlichen Engagement angesiedelt. Das zu vernehmen, tat gut. Hans-Peter Hauser Rektor EB Zürich BiZE-Report 2
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Jürgen Oelkers
«Lernfähigkeit ist auch Arbeit an sich selbst» Veränderungen in der Berufswelt machen lebenslanges Lernen zu einer Notwendigkeit. Der Bildungsforscher Jürgen Oelkers ist überzeugt, dass in der Bildungslandschaft Flexibilität für alle Altersstufen wichtig wird. Blosse Standardisierung führt nicht zu einer gehaltvollen Bildung.
«Unter ‹Lernfähigkeit› ist die Bereitschaft zu verstehen, sich auf je neue Probleme und Situationen einzulassen, nach angemessenen Lösungen zu suchen und diese Lösungen auch umsetzen zu können. Für die Zukunft der Gesellschaft ist die Lernfähigkeit der Bevölkerung ein ausschlaggebender Faktor. Sie stellt den eigentlichen ‹Rohstoff› dar. Schulförmige Lehrgänge müssen danach beurteilt werden, ob sie die Lernfähigkeit unterstützen und wo immer möglich herausfordern. ‹Lebenslanges Lernen› darf nicht so verstanden werden, dass einfach nur Weiterbildung gebucht wird. Ausbildungen und Weiter-
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bildungen sind kein Selbstzweck. Lernfähigkeit wird bislang nicht zertifiziert, aber es kommt sehr darauf an, dass Lernen tatsächlich mit Problemen konfrontiert wird, die zugleich eine Herausforderung darstellen und lösbar erscheinen. Lernfähigkeit ist also nicht einfach durch Wissensvermittlung zu befördern, die noch immer einen Grossteil der Ausbildung bestimmt. Berufsarbeit wird zur Lernarbeit Lernfähigkeit ist auch Arbeit an sich selbst. Bildung wird immer mit der ganzen Person präsentiert, die sich mehr oder weniger aufgeschlossen gegenüber neuen Aufgaben zeigen
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kann. Die demokratische Gesellschaft lebt davon, dass fortlaufend intelligente Lösungen für immer neue Probleme gefunden werden. Dabei bezieht sich die moderne Theorie der Bildung auf alle Lebensalter und stellt nicht mehr Kindheit oder Jugend allein in den Mittelpunkt. Das Alter der Lernenden ist für Bildung kein Kriterium mehr. Die Kompetenz, ständig lernen und umlernen zu können, wird deswegen abverlangt, weil sich die Realität der Berufe und Tätigkeiten grundlegend und irreversibel verändert hat. Die starre Trennung zwischen Berufsbildung und Allgemeinbildung wird durch die Entwicklung der Arbeitsmärkte und – konkreter – der Beschäftigungsverhältnisse zunehmend porös. Der Grund ist ein verändertes Verhältnis von Arbeit und Lernen. Wenn man überhaupt noch von ‹Berufen› sprechen kann, so ist Lernen nicht mehr nur die Vorbereitung darauf, sondern die Grundlage der Berufstätigkeit selbst. Die didaktische Differenz von Lernen und Arbeit löst sich auf, weil Berufsarbeit wesentlich zur Lernarbeit geworden ist.
«Ein Bildungssystem, das nicht ständig Nachweise seiner Leistungsfähigkeit erbringt, wird in der internationalen Konkurrenz nicht mithalten können.» Das Lernen dient dem, was heute ‹Employability› genannt wird, also dem Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit einschliesslich der Einstellungen zum Lernen und der Fähigkeit zur persönlichen Kultivierung. Die Erwachsenenbildung der Zukunft hat hier ihr zentrales Bewährungsfeld, wenn das gesamte Feld betrachtet wird und nicht einzelne Anbieter. ‹Beruf› heisst in Zukunft wie ‹Leben› einfach kontinuierliche Problemlösung unter je neuen Voraussetzungen, nicht mehr Anwendung des ein- für allemal Gelernten. Nach der Ausbildung ist man nicht ‹fertig›, sondern nur für den Anfang qualifiziert; der Beruf selbst besteht aus ständigem Weiterlernen. Wer sich dieser Bedingung nicht anpasst, verliert. Die steigende Nachfrage nach Weiterbildung zeigt die Menschen, die nicht verlieren wollen. Nicht einfach ‹Bildung› ist die Ressource der Zukunft, sondern Lernfähigkeit, die imstande ist, Kompetenzen an je neue Situationen anzupassen und zu entwickeln, ohne noch einen lebenslangen Beruf auszuüben. Lernfähigkeit wird zum Kompetenznachweis In Zukunft werden also die Menschen lernen für bestimmte Anforderungen, die sich situativ stellen, also die genutzt oder verpasst werden können. In gewisser Hinsicht wird man der eigene Bildungsunternehmer, der sich auf Nachfrage einzustellen versteht und am besten
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selbst Nachfrage erzeugt. Die Beschäftigten der Zukunft werden vielfach wechseln und umlernen können, ohne sich mit einmal gelernten ‹Grundlagen› zufrieden geben zu können. Die Lernfähigkeit, die bis heute kein einziges Abschlusspatent bescheinigt, wird zum Kompetenznachweis. Wenn lebenslanges Lernen zu einer Notwendigkeit geworden ist, dann hat das nicht nur mit den Veränderungen der Berufswelt zu tun. Auch die Bildungssysteme verändern sich, wenngleich langsamer und weniger offensichtlich. Aber ein Bildungssystem, das nicht ständig Nachweise seiner Leistungsfähigkeit erbringt, wird in der internationalen Konkurrenz nicht mithalten können. Das Bewusstsein dafür muss sich entwickeln, und das setzt Einsicht in die Risiken voraus. Bildung ist inzwischen in vielen Teilen Geschäft, wenn nicht einfach nur die Entwicklung der staatlichen Schulen betrachtet wird, sondern der gesamte Bildungsmarkt, der sich schneller entwickelt als je zuvor. Keine Diskrepanz zwischen Bildung und Beruf Die Veränderung der Berufsbildung in Richtung einer flexiblen Lernorganisation, die schnell auf echte Probleme zu reagieren versteht und so die eigene Nachfrage sichert, ist dabei ein Test für das gesamte System. Die Zukunft dieses Systems ist nicht gesichert, wenn einfach nur Stunden erteilt werden, starre Richtlinien gelten sollen und am Ende EU-Normen die Leistung bestimmen. Die Kunst des Lernens wird nicht mit ISO-Normen definiert, sondern mit dem tatsächlichen Ertrag; blosse Standardisierung führt nicht zur gehaltvollen Bildung, aber es ist Bildung, die die Lernfähigkeit bestimmt. Eine Diskrepanz zwischen Bildung und Beruf gibt es dann nicht mehr.» *Prof. Jürgen Oelkers war an der Teilnahme an der Tagung verhindert. Wir drucken seinen Vortrag hier in einer leicht gekürzten Version.
Jürgen Oelkers Prof. Dr., Bildungsrat des Kantons Zürich Jürgen Oelkers, Dr. phil., studierte an der Universität Hamburg die Fächer Erziehungswissenschaft, Germanistik und Geschichte. 1987 wurde Jürgen Oelkers als ordentlicher Professor für Allgemeine Pädagogik an die Universität Bern berufen. Auf den 1. März 1999 ernannte ihn der Universitätsrat zum ordentlichen Professor für Allgemeine Pädagogik an der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich. Ausserdem ist er Mitglied des Bildungsrates des Kantons Zürich.
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Lutz Jäncke
«Was Hänschen nicht lernt...» Der Neuropsychologe Prof. Dr. Lutz Jäncke räumt auf mit einem Mythos und erklärt glaubhaft, dass Menschen bis ins hohe Alter dazulernen können. Damit sie das auch tun, muss das Alter in unserer Gesellschaft einen anderen Stellenwert bekommen.
Lutz Jäncke, der Titel Ihres Vortrags provoziert. Was ist wahr an diesem Sprichwort? Nichts. Unser Gehirn ist lernfähig bis an das Ende unseres Lebens. Selbst im Moment des Sterbens ist unser Gehirn noch lernfähig. So viel ist klar, das können wir wissenschaftlich belegen. Woher kommt diese pessimistische Einschätzung, die sich «Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr» niederschlägt? Das hat uns – wissenschaftstheoretisch gesehen – die Ethologie, die Verhaltensforschung eingebrockt. Konrad Lorenz und andere stellten
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bei Tieren fest, dass deren Wahrnehmung der Umwelt von Geburt an unumstösslich geprägt ist. Prägung aber ist ein nicht umkehrbarer Lernvorgang. Lange meinte man, auch menschliches Lernen mit prägungsähnlichen Prozessen erklären zu können. Wir aber unterscheiden uns von Tieren. Sicher. Das Lernen des Menschen kann mit Analogien aus der Gänsewelt nicht erklärt werden. Das menschliche Gehirn funktioniert anders, es ist relativ gross. Unser Hirn hat eine enorme Freiheit, mit der Umwelt umzugehen. Wir sind viel weniger genetisch determiniert
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als alle Tiere, auch als die Affen. Selbst unsere Intelligenz ist höchstens zu fünfzig Prozent vorbestimmt, der Rest ist Erfahrung und Lernen. Und diese Fähigkeit brauchen wir, um uns in den komplizierten sozialen Strukturen zurechtzufinden, in denen wir eingebunden sind. Wie das geht, dafür müssen wir Erklärungen finden.
«Wir haben noch viel mehr Potenzial im Hirn, als wir vermuten.» Wie viel weiss man heutzutage darüber, wie das Gehirn funktioniert? Vergleichsweise wenig. Wir wissen übers Herz viel, über die Muskeln, den Bauch, aber über das Gehirn wissen wir relativ wenig. Wir kennen die grundsätzlichen Funktionsprinzipien. Aber wenn es darum geht, unser Dasein oder unser Bewusstsein zu erklären, da beginnen wir zu straucheln. Es bleiben also noch Geheimnisse? Eindeutig. Ich wage nicht, einen Prozent satz zu sagen, denn wir wissen ja gar nicht, wie viel 100 Prozent sind. Vor allem wenn man bedenkt, welche neuen Erkenntnisse in den letzten 15 Jahren gemacht worden sind. Zum Beispiel? Heute sprechen wir in einem Nebensatz von der Plastizität des Gehirns, dass sich das Gehirn anatomisch verändern kann. Vor fünfzehn Jahren wäre man noch der Uni verwiesen worden, wenn man behauptet hätte, das Gehirn sei auch im Erwachsenenalter noch plastisch. Heute denken wir darüber nach, dass das Gehirn plastisch sein könnte bis an das Ende des Lebens. Was heisst Plastizität des Gehirns? Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts beschäftigte sich der Neuropsychologe Vilaynur S. Ramachandran an der Universität in San Diego mit Phantomschmerzen. Dabei konnte er zeigen, dass unser Gehirn die Fähigkeit besitzt, sich an neue Gegebenheiten und neue Aktivitäten anzupassen. Das Gehirn reorganisiert sich selbst, zum Teil ohne Training. Das heisst Plastizität. Die These, dass unser Hirn nur zu zehn Prozent arbeite und zu neunzig Prozent brachliege, ist Schwachsinn. Das Hirn tut immer was, und zwar als Ganzes. Sie haben diesen Befund bei Studien mit Musikern und Musikerinnen bestätigt gefunden. Ja, die Forschung mit diesen Berufsleuten ist eines meiner Spezialgebiete. Wir konnten in Studien mit Spitzenmusikern und -musikerinnen nachweisen, dass sie im Vergleich mit andern Menschen in bestimmten Gebieten des
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Hirns deutliche Veränderungen aufweisen. Je ausgeprägter sie üben, desto ausgeprägter zeigt sich das: Ihr «Kabelsystem» im Hirn ist kräftiger. Wir konnten sogar zeigen, dass sich je nach Instrument Unterschiede zeigen. Könnte es sein, dass Musikerinnen und Musiker von Haus aus anders «funktionieren» und ihre speziellen Fähigkeiten in die Wiege gelegt bekamen? Das ist ein alter Einwand, aber daran glaube ich nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass anatomische Merkmale in der frühen Kindheit dazu führen, später im Leben irgendetwas Spezielles zu tun. Ausserdem gibt es Studien mit Taxifahrern in London, die zeigen, dass sich bei ihnen der hintere rechte Teil des Hippocampus, der spezialisiert ist auf das Lernen von räumlichen Karten, dass sich dieser bei den Taxifahrern vergrössert hat. Je länger jemand Taxi fährt, desto dicker wird dieser Teil. Bodybuilding fürs Gehirn, kann man sagen. Diese Studien wurden gemacht mit Menschen mit durchschnittlich 45 Jahren. Die Resultate widerlegen die These von der genetischen Determinierung des Gehirns.
«‹Use it or lose it.› Unser Gehirn reagiert auf Stimulation: Es baut auf. Bleibt die Stimulation weg, baut es sich wieder ab.» Geht die Plastizität nur in eine Richtung? Nein, das zeigen Studien mit einem anderen Setting. Man liess Leute das Jonglieren üben. Schon nach drei Monaten zeigte es sich, dass gewisse Hirnzentren – die Wahrnehmung visueller Reize und die Verkupplung dieser Reize mit der Motorik – ihre anatomische Struktur verändert hatten. Als die Versuchsgruppe mit dem Üben aufhörte, ging die Kapazität schnell wieder zurück. – Unser Gehirn reagiert auf Stimulation: Es baut auf. Bleibt die Stimulation weg, baut es sich wieder ab. «Use it or lose it.»: Das ist die Metapher dafür. Das Gehirn ist plastisch in alle Richtungen. Wir sind also auch im Alter noch lernfähig? Alt sein ist relativ; früher war man mit 40 alt, dann mit 60, heute mit 80. Tatsache ist, dass mit zunehmendem Alter körperliche und oft auch seelische Probleme zunehmen. Das kann Stress bedeuten. Stress aber heisst, dass unser Körper Cortisol ausschüttet. Dieses Cortisol greift den sogenannten Hippocampus an, die Schnittstelle zwischen Kurzzeitgedächtnis und Langzeitgedächtnis. Der wird zerstört. Da muss man aufpassen, dass nicht zu viel Stress entsteht. Deshalb ist die zentrale Frage im Alter oft, wie gehe ich mit Schicksalsschlägen um.
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Aber grundsätzlich können auch ältere Leute also immer noch lernen und das Gehirn macht mit? Sicher, vielleicht nicht mehr ganz so schnell und vielleicht nicht mehr ganz so perfekt. Wobei man diese Aussage differenzieren muss. In gewissen Bereichen werden wir schneller, in anderen Bereichen nimmt die Geschwindigkeit tatsächlich ab. Besser funktioniert zum Beispiel im Alter das semantische Lernen, wo es um das Wissen geht. Das hängt damit zusammen, dass man bei semantischen Informationen, Informationen dann besser lernt, wenn die neuen Informationen gut angebunden werden können an bereits schon gespeichertes Wissen. Neues Wissen bleibt dann besser hängen. Genau. Ich benutze dazu gerne die Analogie des Fischernetzes. Ein eng geknüpftes Fischernetz wäre gleichzusetzen mit einem eng geknüpften semantischen Netzwerk. Je enger das Netzwerk, desto mehr Fische beziehungsweise Informationen bleiben hängen. Das ist die Chance im Alter. Was kann man tun, um im Alter geistig fit zu bleiben? Man muss etwas Kontrolliertes tun, etwas, das die ganze Aufmerksamkeit fordert, etwas kognitiv Anregendes. Alles was man automatisch macht, hilft dem Frontalkortex
nicht. Denn dieser Frontalkortex will trainiert werden, das ist jener Teil unseres Gehirns, der am schnellsten abbaut. Pläne schmieden für den Sportverein oder ein Buch aufmerksam lesen und mit einem andern vergleichen, das sind anregende Tätigkeiten. Kreuzworträtsel lösen gehört also nicht dazu? Nicht wirklich. Wobei es Kreuzworträtsel gibt, die haben es in sich. Aber einfache Kreuzworträtsel lösen ist eine prozeduralisierte Tätigkeit. Die bringen nichts für die geistige Fitness. Viele ältere Menschen machen, je älter sie werden, immer mehr diejenigen Dinge, die sie besonders gut können. Das ist tödlich, für den Frontalkortex im wahrsten Sinne des Wortes, der degeneriert nämlich ganz schnell. Sie haben es angesprochen: Kontinuität ist wichtig beim Lernen. Wir müssen uns gegen das «lazy brain» wehren, also unser Gedächtnis immer wieder anregen. Ja, man muss dabei bleiben. Man darf sich nicht vom «lazy brain» verleiten lassen, nichts zu tun. Das soll nicht heissen, dass «lazy» sein, schlecht ist. Aber eine bestimmte Zeit am Tag sollte man den Frontalkortex ein bisschen arbeiten lassen.
LUTZ JÄNCKE Neuropsychologe, Leiter des Instituts für Neuropsychologie der Universität Zürich Prof. Dr. Lutz Jäncke beschäftigt sich in seinen Forschungen vor allem mit dem Zusammenhang zwischen Gehirn und Verhalten. Dabei interessiert, wie sich das Gehirn an äusserliche Anforderungen anpasst. Es geht um die sogenannte funktionelle Plastizität des menschlichen Gehirns. Lutz Jäncke hat zahlreiche Beiträge in wissenschaftlichen Zeitschriften und mehrere Bücher veröffentlicht. Lutz Jäncke ist bekannt dafür, dass er Ergebnisse seiner Forschungen auch für Laien verständlich formulieren kann. 2007 wurde er an der Universität Zürich mit dem Lehrpreis «Credit Suisse Award for best Teaching» ausgezeichnet.
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Warum sollen sich ältere Menschen anstrengen, wenn ihre Erfahrungen und ihr Wissen nicht mehr gefragt sind? Da wird sich unsere Gesellschaft ändern müssen, damit dem nicht so ist. Wir werden die Lernfähigkeit und die Erfahrungen der älteren Menschen noch brauchen. Davon bin ich überzeugt. Das liegt nur schon an der demografischen Struktur unserer Gesellschaft. In Zukunft werden die Menschen länger berufstätig bleiben. Aber für mich ist etwas anderes noch zentraler.
«Wir brauchen ein Bild vom Alter, in dem sich äusserliche und innerliche Attraktivität paaren.»
Es muss also eine Wertewandel stattfinden? Genau. Wir müssen wo weit kommen, dass Stereotype über ältere Mitmenschen wie krank, behindert, langsam, impotent, hässlich, arm, depressiv, mental abbauend, mental krank, nutzlos, isoliert ersetzt werden durch erfahren, genau, potent, attraktiv, finanziell unabhängig, optimistisch, mental beweglich, mental gesund, wertvoll, sozial eingebunden, gesund, weise. PS Der Vortrag von Prof. Dr. Lutz Jäncke wurde zu einem Interview umgestaltet. Ein Foliensatz zum Vortrag ist unter www.lernfoyer.ch > Veranstaltungen einsehbar.
Und das wäre? Alle sollten darüber nachdenken, wie ihr eigenes Altern aussieht. Unser eigenes Altern ist gekennzeichnet durch eine Abkehr von Bildung. Wir ziehen uns oft im Alter zurück, das ist fatal. Unsere Lebenserwartung wird ja weiter zunehmen. Wir müssen das Interesse, das mentale Eingebundensein, den Willen zur Bildung fördern. Das wird ein Bild von Alter prägen, in dem sich äusserliche Attraktivität und innerliche Attraktivität paaren werden.
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Imke kEicher
Heute Employability – morgen Uniquability Imke Keicher spricht vom «Abschied von der Employability»; das stetige Schielen auf die vom Markt verlangten Fähigkeiten sei passé, denn in unserer schnelllebigen Welt könne ja niemand mehr wissen, was der Arbeitsmarkt morgen verlange. Sie plädiert dafür, stattdessen an der eigenen Einzigartigkeit zu arbeiten; die «Uniquability» tritt an die Stelle der «Employability».
Frau Keicher, Sie schreiben zur «Uniquability»: «Statt den Markt zu beobachten und sich das Wissen und die Qualifikationen anzueignen, die in Zukunft vermutlich gebraucht werden, steht für die Arbeitenden der Zukunft die Frage ‹Wer bin ich?› im Mittelpunkt.» Das klingt nach Selbstverwirklichung, die an den Realitäten der Wirtschaft vorbeizielt. Ich sehe darin eher eine Absicherung gegen die zunehmende Unsicherheit und den Wettbewerbsdruck auf dem Arbeitsmarkt. Denn auch auf dem Arbeitsmarkt, nicht nur bei Produkten, drückt Austauschbarkeit die Preise. Das kann ich am besten vermeiden, wenn ich
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«Ecken und Kanten» habe, genau weiss, woraus mein spezieller Mix an Talenten und Stärken besteht. Vor allem muss ich wissen, unter welchen Bedingungen ich am leistungsfähigsten bin – und genau das ist es, was für Unternehmen ausgesprochen interessant ist. Schliesslich ist unsere Uniquability die stärkste Quelle für Erfolg und Kreativität in der Unternehmensrealität. Wie bereitet man sich am besten auf die neue Arbeitskultur des «Creative Work» vor? Beantworten Sie sich die zentralen «Uniquability»-Fragen: Was ist mein besonderes Talent? Aus welcher Arbeit schöpfe ich Energie?
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Was begeistert mich? Wo liegen meine kreativen Stärken? Alle Menschen haben kreatives Potenzial, nur nutzen sie es häufig kaum am Arbeitspatz. Die ureigene «Uniquability» zu entdecken und zu fördern, wird zur neuen Erfolgstechnik. Wer seine «Uniquability» in seiner Arbeit nutzen und pflegen kann, ist belastbarer und leistungsfähiger. Schliesslich kann heute niemand mehr darauf setzen, dass er oder sie den «richtigen» Beruf wählt, mit dem sich ein ganzes Arbeitsleben absichern lässt. Welchen Einfluss hat der Wandel auf die Kompetenzen, die wir in der Arbeitswelt künftig brauchen werden? Kreatives Denken und Handeln sind Schlüsselkompetenzen für Problemlösungen in zunehmend komplexeren Arbeitssituationen. Kreativität ist aber auch deshalb eine neue Kernkompetenz, weil sie der Treibstoff für die immer grössere Nachfrage nach Produkt-, Service- und Geschäftsmodellinnovationen ist. Ausserdem wird Empathie immer wichtiger. Sie ist so etwas wie die Zwillingsschwester der Kreativität, stellt sie doch sicher, dass der «kreative Schatz» auch bei den Menschen ankommt, also an die Lebenswirklichkeit von Kunden ankoppelt. Auch der Kreative lebt nicht vom Brot allein. Die Realität ist doch so, dass ein Grossteil der Kreativarbeiter – die gibts ja heute schon, hat es immer gegeben – nur knapp am Existenzminimum vorbeischrappt. Wird sich das ändern? Kreativarbeiter in unserer Definition sind nicht unbedingt Menschen, welche klassische kreative Berufe ausüben. Sondern alle Menschen, die eigenverantwortlich – auch in Unternehmen – ihr Berufsleben gestalten und dabei nicht mehr klassischen Karrierepfaden folgen, sondern dem eigenen Entwicklungstempo, der Freude an der Tätigkeit. Ihre «Kreativität» bezieht sich auf die Fähigkeit, kreativ zu denken und zu handeln und eigene Lebensmodelle zu wagen. Das können Ingenieure, Landschaftsgärtner oder Zahnärzte sein. Deshalb gibt es da punkto Einkommen nach oben wie nach unten keine Grenze.
insbesondere in einer Zeit, die als eher instabil empfunden wird. Und in der Tat hat das Veränderungstempo in der globalisierten Wissensgesellschaft rapide zugenommen. Die aktuelle Wirtschaftskrise wird in den nächsten Monaten wieder viele Menschen dazu zwingen, neu über ihr Leben, ihre Karriere nachzudenken. Und jeder Einzelne wird seinen individuellen Weg gehen und seine Veränderungskompetenz im eigenen Tempo entwickeln. Gerade die Rückbesinnung auf die eigene «Uniquability» ist ein solider Ankerpunkt und Stabilisierungsfaktor in unsicheren Zeiten.
«Die drei ultimativen Regeln fürs lustvolle Überleben in der Arbeitswelt von morgen lauten: 1. Nein-sagen lernen zu allem, was man nicht gern tut. 2. Schöner scheitern und schneller wieder aufstehen lernen. 3. Die eigene unverwechselbare Stimme zum Klingen bringen.» Unser Berufsbildungssystem ist vor allem auf – teilweise seit Jahrzehnten – bestehende Berufsbilder ausgerichtet. Wie soll man die Leute ausbilden, damit sie optimal auf solche neue Berufe vorbereitet sind? Vielleicht sollten wir uns von der Idee einer «optimalen Ausbildung» verabschieden. Ausbildung ist ein Startpunkt in eine Biografie, die ohnehin durch permanentes Lernen und Ent-lernen gekennzeichnet sein wird. Wichtig ist daher neben dem Fachwissen (dessen Halbwertszeit rapide sinkt), dass junge Menschen lernen, immer weiter zu lernen, sich selbst immer besser kennen lernen, ihre Persönlichkeit entwickeln und ihre «Uniquability» optimal einsetzen können. Und sich selbst vertrauen. Dann sind sie für alle potenziellen Veränderungen und Neuerungen am besten gerüstet.
Sie sagen, zu einer «Uniquability»-Biografie gehörten auch Brüche und Neuanfänge. Radikale Wechsel und die damit verbundene Unsicherheit sind aber nicht jedermanns/jederfraus Sache. Zunächst: Ungewollte Brüche und Wandel gehören zukünftig zu jeder Biografie – wir werden sie immer schwerer vermeiden können, schauen Sie sich nur in Ihrem eigenen Umfeld um. Wir können nur wählen, wie wir damit umgehen. Natürlich machen Brüche und Veränderungen vielen Menschen Angst. Angst vor Veränderungen zu haben und sich Ruhe zu wünschen ist eine ganz menschliche Reaktion,
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Creative Work: Eine neue Phase der Arbeitskultur «‹Creative Work› unterscheidet sich fundamental von dem, was wir bislang mit Arbeit verbinden. Der Kreativitätsbegriff ist dabei ein sehr umfassender: Die Fähigkeit, neue Perspektiven einzunehmen, alte Probleme aus neuer Sicht zu betrachten, neue Fragen an bekannte Probleme zu stellen. Das sind die Treibstoffe für Innovationen. Es geht um eine kindliche Sichtweise auf die Welt – der Zen-Buddhismus nennt das ‹Beginners Mind›; die Fähigkeit, das zu ignorieren, was wir wissen, also unseren Beurteilungsautopiloten auszuschalten, die Sicht frei zu machen, die Welt mit Kinderaugen zu betrachten. Auch geht es darum, alte Denkmuster zu durchbrechen und neue, ungewöhnliche Verbindungen zu schaffen. Das gelingt am besten in einem Umfeld der Vielfalt, der unterschiedlichen Meinungen und Hintergründe – also in einem Diversity-Umfeld, beispielsweise in einem multikulturell zusammengesetzten Team. In der Welt des ‹Creative Work› sind die materiellen Statussymbole der Wissensarbeit nicht mehr wichtig: Titel, Karriere, Dienstwagen, Vielfliegerkarte, Blackberry. An ihre Stelle treten immaterielle Statussymbole: Nicht-Erreichbarkeit, hohe Gestaltungs-
fähigkeit, Zeitsouveränität, Verankerung in einem tragfähigen menschlichen Netzwerk. Und Geist, verstanden als Wertschätzung der eigenen persönlichen und spirituellen Entwicklung. Wichtiger als ein schicker BMW werden künftig die Geschichten sein, die Menschen darüber erzählen, wie sie ihr Leben meistern und wie sie Sinn schaffen. Die persönliche Besonderheit tritt in den Vordergrund. An die Stelle der ‹Employability›, also der Arbeitsmarktfähigkeit, welche nach aussen schielt, auf die im Markt gefragten Fähigkeiten, Methoden und Tools, tritt deshalb die ‹Uniquability›. Der Begriff steht für die Fähigkeit, die eigene Einzigartigkeit zu erkennen und die künftige Berufslaufbahn darauf auszurichten: Wer an seinen Stärken und Talenten arbeitet, hat mehr Freude am Arbeiten und diese Freude ist eine unschätzbare Energiequelle und Kreativitätsbooster. ‹Uniquability› ist eine Orientierung von innen heraus: ‹Wer bin ich?›, ‹Was gibt mir Energie?›, ‹Mit wem will ich arbeiten?› lauten die entscheidenden Fragen.»
Imke keicher Management-Beraterin und Zukunftsforscherin Imke Keicher ist Zukunftsforscherin, Autorin und selbstständige Unternehmensberaterin in Rüschlikon ZH. Einerseits beobachtet sie aufmerksam die Trends auf den Arbeitsmärkten, beispielsweise für das renommierte Frankfurter Zukunftsinstitut, andererseits stellt sie ihre Erkenntnisse beratend internationalen Firmenkunden aus den Branchen Finanz, Chemie, IT, Maschinenbau oder Konsumgüter zur Verfügung. Mit ihren Spezialgebieten Veränderung, Innovation und Personalentwicklung beschäftigte sie sich auch schon vor ihrem Sprung in die Selbstständigkeit im Jahr 2002, etwa als Direktorin bei Motorola in London oder als Beraterin bei Gemini Consulting. Imke Keicher hat in Heidelberg und Halifax Germanistik studiert und ist in Baden-Württemberg aufgewachsen.
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Vom Wissenszum Kreativzeitalter Die «Evolution der Arbeit» führte vom Landwirtschaftsarbeiter «Agricultural Man» über den Industrie- und Dienstleistungsangestellten «Organization Man» hin zu den Wissensarbeitern. Für die Zukunftsforscherin Imke Keicher ist klar: Der nächste Evolutionsschritt sind die Kreativarbeiter «Creative Workers». Wieder steht uns ein radikaler Wandel bevor. Bereits am Übergang von der landwirtschaftlich geprägten Wirtschaftsweise zum Industriezeitalter haben sich die Arbeit und der Arbeitsbegriff stark verändert, auch der Wechsel vom Industrie- zum Dienstleistungszeitalter zwang die Menschen, sich an die veränderten wirtschaftlichen Gegebenheiten anzupassen. Tief greifend wird auch der Übergang vom Wissens- zum Kreativzeitalter werden. Und: Er hat schon eingesetzt. Die Zukunftsforscherin ordnet jedem Wirtschaftszeitalter einen bestimmten Arbeitstypus zu. 50er Jahre bis ca. 1980: der «Organization Man». Viele heutige Beschäftigte sind noch Vertreter dieser Art; Sie sind fest angestellt bei einer Organisation, die ihnen Sicherheit bietet und Geborgenheit, das Unternehmen übernimmt «fast Vater- oder Mutterfunktion». Im Gegenzug verlangt die Organisation absolute Loyalität und aufopferungsvollen Einsatz. Die Organisation kontrolliert ihre Mitarbeitenden stark, die Spielräume des Einzelnen sind begrenzt. Der Prototyp des «Organization Man» war der klassische Industriearbeiter. Der «Organization Man» war bis 1980 der Normalfall, stirbt aber allmählich aus. Im Zeitalter von Strukturwandel, Globalisierung und Massenentlassungen spielt der Kontrakt «Arbeitsplatz fürs Leben gegen Loyalität» eine immer unbedeutendere Rolle.
«Der ‹Organization Man› heisst ganz bewusst ‹Man›, weil Frauen in dieser Arbeitskultur keine signifikante Rolle gespielt haben.» Jetzt bis ca. 2010: der Wissensarbeiter. Mit der zunehmenden Verlagerung der Arbeit vom Industrie- zum Dienstleistungssektor gewann Wissen als Ressource an Bedeutung. Der Wissensarbeiter und die -arbeiterin wollen darum ihr Fachwissen à jour halten, um ihren Wert auf dem Arbeitsmarkt zu erhalten; die Arbeitsmarktfähigkeit oder «Employability» wird über sinnvolle Aus- und Weiterbildungen sichergestellt. Wissensarbeiterinnen wählen ihre Arbeitgeber deshalb so, dass sie weiter lernen und wachsen können. «Wer gut ausgebildet ist, dem kann nichts passieren», lautet ein Credo des Wissensarbeiters. Doch dieses Grundvertrauen ist mitt-
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lerweile arg erschüttert: Die letzten Krisen haben gezeigt: Egal ob Akademikerin oder Handwerker mit Diplom – Arbeitslosigkeit kann alle treffen. Mehr Wissen und mehr Anstrengung sind keine Garanten mehr für Arbeitsplatzsicherheit.
«Der Kontrakt der Wissensarbeit heisst ‹Employability›: Vergiss die Lebens anstellung, aber du kannst immer ‹beschäftigungsfähig› bleiben, indem du auf Bildung und Weiterbildung setzt, orientier dich am Markt, pass dich an, dann gehts dir gut.» Jetzt und beschleunigt ab 2010: «Creative Work.» Abgelöst werden die Wissensarbeiter allmählich durch die «Creative Workers».Bei «Creative Work», der in Zukunft vorherrschenden Arbeitsweise, werden schöpferische Fertigkeiten besonders gefragt sein; sich in andere hineinfühlen, Verbindungen herstellen und Neues schaffen. Das Ziel der Kreativarbeiterin besteht darin, das in ihr angelegte Potenzial zu entdecken und so gut wie möglich für sich und andere zur Entfaltung zu bringen. Was die Kreativarbeiter und Kreativarbeiterinnen beruflich tun, ist immer mit dem Anspruch verbunden, ihre individuelle Einzigartigkeit, die «Uniquability», weiter auszuformen. Treiber sind Selbstverwirklichung und Sinn, aber auch Freude. Die neuen Kreativen arbeiten selbstständig, angestellt oder projektbezogen, oft in kreativen Beziehungs-Netzwerken. Am liebsten lassen sie sich von Personen führen, die authentisch sind, und die wirklich am besten für diese Aufgabe geeignet sind.
«Die gute Nachricht: Menschen, die ihre Einzigartigkeit pflegen und sinnvoll einbringen, sind viel weniger leicht austauschbar als Industriearbeiter. Einzigartigkeit ist der Rohstoff für Kreativität und damit eine Schlüsselkompetenz der künftigen Wirtschaft.»
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Lesetipps Lutz Jäncke Macht Musik schlau? Dieses Buch stellt die in den letzten 20 Jahren erzielten Befunde bezüglich der neurowissenschaftlichen und kognitiven Grundlagen des Musizierens und Musikhörens dar und bewertet sie. Deutlich wird: Eine Mozart-CD zu hören, macht nicht intelligenter. Tatsächlich aber führt intensives Musizieren zu verstärkten Hirnleis tungen. Und das ergibt auch positive Nebeneffekte in anderen Teilbereichen. In einer auch für Laien verständlichen Sprache gelingt es Jäncke, diese Tatsachen deutlich zu machen. Spannend zu lesen sind seine Schlussfolgerungen: Der Musikunterricht in den Schulen sollte unbedingt gestärkt werden. Verlag Hans Huber, Bern, 2008
Imke Keicher mit Kirsten Brühl: Sie bewegt sich doch! Neue Chancen und Spielregeln für die Arbeitswelt von morgen In der Arbeitswelt findet ein massiver Umbruch statt: Die Unternehmen stehen unter Innovationszwang, es herrscht ein globaler Wettbewerb um Talente, und das Tempo der Veränderungen nimmt stetig zu. Alte Sicherheiten lösen sich auf, Projektarbeit, freie Arbeit und Teilzeitstellen nehmen zu. Was bedeutet das für die Schlüsselkompetenzen von morgen? Und wie können Menschen schon heute zu Lebensunternehmern werden? Die Autorinnen führen ein in die entstehende neue Arbeitskultur und erklären, weshalb Spielkompetenz, Empathie, Kreativität und Einzigartigkeit so bedeutsam werden. Das Buch nimmt die Angst vor dem Wandel und zeigt die Chancen auf. Orell Füssli, Zürich, 2008
Gabriella Baumann-von Arx Solo. Der Alleingänger Ueli Steck. Eine Nahaufnahme Bergsteigerbücher kippen gerne mal ins Pathetische. Dieser Gefahr entgeht «Solo» von Gabriella Baumann-von Arx glücklicherweise. Das hat sicher damit zu tun, dass der porträtierte Ueli Steck kein Freund des grossen Wortes ist. In ihren Interviews aber gelingt es Baumann-von Arx den Bergsteiger doch immer wieder herauszulocken. So kommt einem Ueli Steck als Mensch entgegen, der nicht einfach kopflos sich in risikoreiche Abenteuer stürzt, sondern sich sorgfältig an immer neue Herausforderungen heranwagt. Zusammen mit den eingestreuten Aussensichten von Freunden entsteht so das Bild eines Bergsteigers, den Leistungsbereitschaft ebenso wie Bescheidenheit auszeichnen. Frederking und Thaler, München, 2008
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Maja Storch / Frank Krause Selbstmanagement – ressourcenorientiert Nicht bei den andern suchen, sondern bei sich selbst. Das «Zürcher Ressourcen Modell» ist eine vielfach erprobte Methode zur gezielten Entwicklung von persönlichen Handlungspotenzialen. Dieses Buch von den beiden Begründern des «Zürcher Ressourcen Modells» bietet neben den theoretischen Grundlagen einen guten Praxisteil. So bekommen Leserinnen und Leser einen fundierten Eindruck dieses Modells und können Schritt für Schritt eigene Erfahrungen in der Umsetzung machen. «Selbstkonsequenz», «Somatische Marker» oder «Rubikon-Prozess» sind Themen, die auch für sich gelesen zu faszinieren vermögen. Verlag Hans Huber, Bern, 2007
Rudolf H. Strahm: Warum wir so reich sind. Wirtschaftsbuch Schweiz Dieses Buch ist alles andere als ein abstraktes Ökonomiebuch. Vielmehr macht es mit mehr als 100 eingängigen Grafiken und verständlichen Kommentaren deutlich, warum sich die Schweiz trotz hohen Löhnen und Preisen auf den Weltmärkten in der Spitzengruppe behauptet; es erklärt, weshalb die Schweiz trotz tiefem Wirtschaftswachstum im letzten Jahrzehnt die tiefste Arbeitslosigkeit aufwies und zeigt auf, wie der Werkplatz Schweiz seine Konkurrenzfähigkeit bewahren konnte. Das Hauptaugenmerk legt der Autor dabei auf die volkswirtschaftliche Bedeutung der Berufsbildung für unser Land. Das Buch eignet sich auch hervorragend als Nachschlagewerk. hep Verlag, Bern, 2008,
Jürgen Oelkers Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte Jürgen Oelkers Auseinandersetzung mit der Reformpädagogik ist ein Klassiker und bereits in der vierten Auflage erschienen. Oelkers greift typische Merkmale dieser – gar nicht einheitlichen – pädagogischen Bewegung heraus und untersucht sehr umfassend, wie die verschiedenen Vertreter zueinander stehen. So geht er auch der Frage nach, wie stark die unterschiedlichen Reformkonzepte schulische Veränderungen mit notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen verknüpfen. Dank der gründlichen Beschäftigung mit der Geschichte und den Folgen der Reformpädagogik gelingt es Oelkers, diese auf Ansätze für heutige Problemlösungen zu befragen. Juventa Verlag, Weinheim, 2005
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Ueli Steck
Lieber einen Tag lang Tiger als tausend Tage lang ein Schaf Am 21. Februar 2007 kletterte der Berner Ueli Steck in der Rekordzeit von 3 Stunden 54 Minuten solo durch die Eigernordwand. Dafür erntete er viel Bewunderung. Der Bergsteiger selber war nicht zufrieden. Für ihn war klar: Er konnte noch schneller. Minutiös bereitete er sich auf einen zweiten Rekordversuch vor.
«Bei meinem ersten Versuch im Februar 2007 hatte eigentlich alles bestens geklappt. Viele gratulierten mir und meinten, das sei wirklich eine Wunderzeit. Aber mir war es fast zu einfach gegangen, ich hatte mich nicht wirklich zielgerichtet auf dieses Projekt vorbereitet. Deshalb hatte die Leistung keinen besonderen Wert für mich. Ich wusste, da geht noch viel mehr. Mir war klar, wo ich Fehler gemacht, wo ich Zeit liegen gelassen hatte. Und ich wusste auch, dass ich rein körperlich gar nicht topfit gewesen war. Deshalb hatte alles einen faden Beigeschmack. Schon Carl Lewis sagte, dass man nicht den Wettkampf mit den andern suchen soll, sondern
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mit sich selbst. Deshalb nahm ich mir vor es mit einer gezielter Vorbereitung erneut zu probieren: Im Februar 2008 wollte ich noch einmal schneller und eleganter durch die Eigernordwand steigen.
Motivation «Den Satz: Du kommst nur nach oben, wenn du da auch wirklich hinwillst, hörte ich oft.»* Um Aufschluss über meine Fitness zu erhalten, machte ich zuerst einen Test im Sportzentrum in Magglingen. Swiss-Olympic-Physio-
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therapeut Simon Trachsel stellte fest, dass ich tatsächlich konditionell nicht so gut war wie andere Spitzensportler. Dieser Realität musste ich ins Auge schauen, aber es motivierte mich auch. Simon Trachsel stellte mir ein Trainingsprogramm zusammen, das genau zugeschnitten war auf eine schnelle Begehung der Eigernordwand im folgenden Februar. Es war an mir, dieses Trainingsprogramm zu befolgen und mich auf dieses Ereignis vorzubereiten. Drei- bis viermal in der Woche musste ich zum Beispiel 1800 Höhenmeter raufjoggen. Simon Trachsel gab mir die Vorgaben, die Umsetzung lag an mir. Ich musste selber entscheiden. Eine Besteigung der Eigernordwand ist selbstverständlich nicht nur eine Frage der Kondition. Es geht auch ums Klettern. Bei meiner Durchsteigung 2007 hatte ich mich an drei Stellen mit einem dreissig Meter langen Seil gesichert. Das kostete Zeit. Ich ging deshalb probehalber in die Wand, schaute mir die kritischen Stellen an und fragte mich, ob ich auf das Seil verzichten könnte, ohne das Risiko zu vergrössern. Ich überlegte mir spezielle Bewegungsabläufe, prüfte kleine Abweichungen von der Route, die etwas weniger schwierig waren. Während dreier Tage schaute ich die entscheidenden Stellen sehr genau an. Dann beschloss ich, das Seil zu Hause zu lassen. Die Lösungen, die ich für die Wand vorsah, hatte ich auf ein Blatt Papier gezeichnet, die konnte ich mir immer während des ganzen Sommers einprägen. Aber mir war klar, dass ich für die Überwindung der schwierigen Stellen viel Selbstvertrauen brauchte. Um Selbstvertrauen zu tanken, wusste ich, was ich tun konnte.
Selbstvertrauen «Sich selbst etwas zutrauen. Sich der eigenen Fähigkeiten bewusst sein. Ich glaube, tief innen gibt es etwas, das uns in solchen Momenten sagt, was möglich ist und was nicht.»* Den ganzen Sommer durch kletterte ich im Klettergarten immer wieder schwierige Seillängen, und zwar «free solo». Dabei klettert man alleine, ohne jede Sicherungsmöglichkeit. Das braucht einiges an Vorbereitung, sonst ist das gefährlich. Wenn man unten beginnt, muss man sicher sein, dass es gelingt. Zwei Meter nach dem Einstieg gibt es kein Zurück mehr. Dann muss man oben ankommen. Ich begann mit einfacheren Routen, wagte mich dann langsam an immer schwierigere heran. So kletterte ich am Schluss sehr ausgesetzte Routen «free solo», natürlich nur auf 20–30 Meter, aber das baute mein Selbstvertrauen auf und ich wusste, dass ich doppelt so schwierige Stellen frei klet-
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tern konnte, wie sie mich in der Eigernordwand erwarteten.
Konzentration «Sie ist meine Lebensversicherung. In kritischen Momenten konzentriere ich mich ganz fest, und zwar auf das, was positiv läuft. Nie auf das, was schief läuft.»* Mir aber war klar, dass ich mich in der Eigernordwand für längere Zeit konzentrieren musste, und so begann ich, auch längere Touren «free solo» zu klettern, 200–300 Meter, so dass ich für eine halbe bis eine Stunde voll auf das fokussiert sein musste, was ich gerade machte. Das ist das Faszinierende am «free solo», man weiss genau, dass man runterfällt, wenn man einen Fehler macht, das Resultat ist klar. Aber wenn man mit diesem Druck umgehen kann, dann weiss man auch, dass man extrem leistungsfähig ist.
Training «Ich trainierte meinen Körper so, dass ich mich auf die Kraft in Armen und Beinen und auf meine Körperspannung verlassen konnte und darauf, dass weder ein Muskelkrampf noch eine Überbeanspruchung mir einen Streich spielen würden. Ich kletterte die Route fünfmal mit Seil. Ich wusste also, welche Bewegungen es brauchte, um perfekte Züge hinzukriegen.»* Excalibur ist eine wunderschöne, schwierige Route in den Wendenstöcken im Berner Oberland, 300 Meter lang. Da ist Platz für tausend verschiedene Bewegungen. Bevor ich am 13. Juni 2004 «free solo» einstieg, hatte ich mir den Fels während fünf Tagen lange intensiv angeschaut. Ich hatte mir jede Bewegung genau eingeprägt. Am Schluss wusste ich, was ich in jedem Moment machen musste, rechte Hand rauf, linken Fuss andrücken und weiter. Das war wie ein Film, der in mir abgelaufen ist. Hätte jemand von aussen zugeschaut, hätte er sicher gedacht, dass das unmöglich sei. Aber es funktioniert mit diesem Druck, dass man sich in jedem Moment aufs Höchste konzentrieren muss, dass man sich total fokussiert. Man überlegt sich nicht, was kommt in fünf Metern, man konzentriert sich einfach auf den nächsten Griff, den nächsten Tritt. Man weiss auch nicht, wie weit man über dem Boden ist, ob es nun zwanzig oder zweihundert Meter sind, es gibt wirklich nur die
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kleine Welt rund um einen herum. Es ist nicht so, dass ich nie Angst hätte. Aber diese Route hatte ich gut vorbereitet, ich hatte das trainiert, ich wusste, was auf mich zukam. Angst hat man nur vor dem Unbekannten oder wenn man sich überschätzt. Es war an mir, meine Fähigkeiten richtig einzuschätzen.
Mentaltraining «Das Wesentlichste und Wichtigste ist, sich auf sich verlassen zu können. Du hast ein Ziel, das du erreichen willst, du musst deine Stärken und Schwächen richtig einschätzen, du solltest wissen, was dich kümmern muss, und dann kannst du fokussieren – dazu braucht es kein Mentaltraining.»* Langsam kam der Februar 2008 näher. Ich fühlte mich fit, hatte mein Selbstvertrauen gestärkt. Alles war bestens, auch die Verhältnisse. Und doch war es anders als bei meinem ersten Versuch. Es war mehr Druck da. Es war der Druck da, den ich mir selbst auferlegt hatte, es bestand die Gefahr zu scheitern. Ich wusste, dass ich weniger unbeschwert in die Wand würde
einsteigen können. Damit musste ich mich den ganzen Sommer über auseinandersetzen. Aber ich war körperlich eindeutig besser dran als 2007, das hatten all diese Tests mit Simon Trachsel gezeigt, die Werte stimmten, also hatte ich ein gutes Gefühl. Am 13. Februar 2008 war es so weit. Die Verhältnisse waren super. Ich hatte extra zehn Tage gewartet, bis sich niemand mehr in der Eigernordwand befand. Es hatte frisch geschneit und es waren keine Spuren mehr zu sehen. Es war alles perfekt, schönstes Wetter. Das waren Rahmenbedingungen, die ich mir wünschte. Um meine Zeit beweisen zu können, kamen zwei Kollegen mit mir zum Einstieg, stoppten die Zeit, als ich startete, und warteten dann auf der Kleinen Scheidegg, bis ich oben war. Diesmal musste ich kein Sicherungsmaterial mitschleppen, das waren vier Kilo weniger als beim ersten Versuch. Ein Seil nahm ich zwar mit, ich wollte sicher sein, immer wieder alleine aus der Nordwand herauszukommen. Man kann zwar schon ohne Seil in die Eigernordwand steigen und bei einem Problem mit dem Handy der Rega telefonieren, aber für mich war klar, dass ich einen eventuellen Abbruch alleine schaffen wollte. Mit dem Seil wollte ich mich nicht sichern, aber ich konnte mich im Notfall abseilen. Das intensive Training hatte ausserdem dazu geführt, dass
Ueli Steck Solobergsteiger Ueli Steck wurde am 4. Oktober 1976 im Emmental geboren. Er lernte Zimmermann und spielte intensiv Eishockey, bis er für sich das Klettern und Bergsteigen entdeckte. Durch sein aussergewöhnliches Talent und seine grosse Risikobereitschaft wurde er schnell in der Kletterszene bekannt. Vor allem seine Soloklettereien in den Alpen wie im Himalaja sorgen immer wieder für Aufsehen. So zählt er heute zu den weltbesten Alpinisten. Kürzlich erhielt Ueli Steck den Prix Courage – den Beobachter-Preis für mutige Taten –, weil er im Mai 2008 zusammen mit seinem Kollegen Simon Anthamatten einem rumänischen und einem spanischen Bergsteiger zu Hilfe geeilt war und dabei eigene Gipfelpläne fahren liess.
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ich fünf Kilogramm leichter war als im Jahr 2007 Insgesamt war ich also neun Kilo leichter. Und ich war noch besser darauf vorbereitet, was mich erwartete. Es war ein grosser Moment, als ich oben ankam und auf die Uhr schaute. Ich konnte es fast nicht glauben: 2 Stunden 47 Minuten. Meine Kollegen unten auf der Scheidegg bestätigten dann aber die Zeit. Es war eindrücklich. Ich hatte auf diesen Tag hingearbeitet, hatte gehofft, weniger als drei Stunden zu brauchen und es hatte funktioniert. Darauf war ich sehr stolz. Die Zeit vergeht sehr schnell. Es wird der Tag kommen, an dem einer noch schneller sein wird. Früher oder später. Aber etwas kann man mir nicht nehmen: Ich war der Erste, der die Eigernordwand unter vier Stunden kletterte, und ich war der Erste, der die Eigernordwand unter drei Stunden kletterte. Das wird für mich bleiben. Wenn einer mal schneller sein wird, werde ich der Erste sein, der ihm dafür gratulieren wird. *Die mit einem * versehenen Zitate stammen aus dem Buch «Solo» von Gabriella Baumann-von Arx (siehe Literaturtipps, S. 16)
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Maja Storch
Das «Würmli» muss mit ins Boot Sich beim Lernen hehre Ziele zu setzen ist gut und recht. Sie zu erreichen ist noch viel schöner. Dafür aber muss die innere Motivation stimmen. Haltungsziele, Priming und Wenn-Dann-Pläne unterstützen einen dabei.
«Menschen verfügen über zwei unterschiedliche Informationsverarbeitungssysteme. Das eine davon arbeitet bewusst, das andere unbewusst. Der bewusst gesteuerte Verstand ist langsam, das unbewusst arbeitende System ist schnell. Der Verstand verfügt über eine präzise Sprache, das Unbewusste hat diffuse Gefühle und ist averbal. Das Bewertungssys tem des Verstandes ist ein logisches: richtig oder falsch. Die Bewertungskategorie des unbewussten Systems ist eine hedonistische: gefällt oder gefällt nicht. Wer mit lernenden Erwachsenen arbeitet – in der Erwachsenenbildung, im Coaching oder im Selbstmanagement –, tut
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gut daran, Einsichten über die Arbeitsweise des Unbewussten in seine Arbeit einzubeziehen. «Somatische Marker» als Signale aus dem Unbewussten Das Unbewusste arbeitet – der Name sagt es – ausserhalb der bewussten Wahrnehmung. Woher sollen wir dann wissen, wie es funktioniert, wenn wir keinen bewussten Zugang zu seiner Tätigkeit haben? Tatsächlich lässt sich die Arbeitsweise des Unbewussten nicht direkt beobachten, aber es gibt Signale, die uns die Reaktionen dieses Systems zeigen. Wenn wir einen Entscheid treffen müssen – zum Beispiel,
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ob wir in einem gegebenen Moment lieber Sex haben oder lernen wollen – laufen in unserem Hirn wie in einer Art Filmchen die möglichen Szenarien und deren Folgen ab. Das sind nicht nur visuelle Filmchen, sondern Multimedia-Kino. Es wird alles an Sinneseindrücken abgerufen, was im Erfahrungsgedächtnis eines Menschen gespeichert ist. Dann bekommen wir eine biologische Bewertung zu diesen Filmchen, und zwar in Form eines Körpersignals und/oder eines Gefühls. Der amerikanische Hirnforscher Antonio Damasio hat für diese Signale die Bezeichnung ‹Somatische Marker› eingeführt. Soma ist das griechische Wort für Körper. Marker heisst Markierung. Das Prinzip ist einfach. Wenn ein Szenario mit einer positiven Bewertung verbunden ist, ist das Körpersignal gut, wenn es sich um etwas Negatives handelt, ist das Körpersignal schlecht. Dieses System arbeitet wie eine Art Ampel: Es regelt das ‹Stop› und das ‹Go›. Das Körpersignal ist direkt verknüpft mit einem Handlungsvorschlag: annähern oder vermeiden. Wunderwerk der Informationsverarbeitung Somatische Marker können wir zum Beispiel beim Hochladen der E-Mails verspüren. Wenn wir nur schon Adresse und Betreff anschauen, ohne die Post selber zu öffnen, dann haben wir sofort ein Gefühl, das uns sagt: ‹Oh ja, nett› oder ‹Oh nein, nicht schon wieder› oder gar ‹Scheisse›. Diese somatischen Marker treten innerhalb von 200 bis 300 Millisekunden auf. Sie sind ein wahres Wunderwerk der Informationsverarbeitung. Wenn man diese somatischen Marker wahrnehmen kann, ist man in der Lage, mit dem eigenen Unbewussten zu kommunizieren.
Der kleine Strudelwurm In ihrem Vortrag führte Maja Storch als «didaktisches Tool» einen kleinen Strudelwurm ein, in der Folge liebevoll «Würmli» genannt. Das «Würmli» steht für das Unbewusste und damit auch für die Quelle der intrinsischen Motivation. Handlungen, die das «Würmli» mit im Boot haben, werden aus sich heraus gemacht, nicht aus Angst oder mit Druck oder Selbstdisziplin.
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Was hat das ‹Würmli› (siehe Kasten) mit dem Thema ‹Motiviert und effektiv lernen› zu tun? Wenn man sich etwas vorgenommen hat, kann man das auf zwei Arten tun: selbst regulierend und selbst kontrollierend. Selbstregulierung ist immer dann gegeben, wenn das ‹Würmli› etwas freiwillig macht. Es geht freiwillig auf Positives zu, es geht freiwillig vom Negativen weg. Das ist seine Überlebenstechnik. Es versucht, uns zu möglichst vielen angenehmen Erlebnissen zu verhelfen und uns unangenehme Erlebnisse zu ersparen. Klassisches Lernen lässt das Unbewusste oft ausser acht Beim klassischen Lernen haben viele ‹Würmli› keinen Spass. Ausser sie lernen etwas, das sie sich freiwillig ausgesucht haben. Das können wir gut beobachten, wenn Menschen alles in sich aufsaugen, was mit ihrem Hobby in Zusammenhang steht. Aber wenn jemand sagt, er möchte gerne einen Bachelor machen oder die Matura, dann hat das das ‹Würmli› überhaupt nicht gern, denn diese Ziele zu erreichen, ist in der Regel sehr anstrengend. Da muss man das ‹Würmli› zwingen, Dinge zu machen, die es nicht gern macht. In der Sprache der Hirnforschung heisst das dann: Kortikale Hemmungen von Impulsen des limbischen Systems.
«Es ist eine Tatsache, dass man für Unternehmen oft Verhaltensziele entwickelt, und die betroffen Menschen halten sich dann nicht daran. Warum das so ist, kann man erklären.» Wir Menschen können das tun, weil wir ein gut entwickeltes Gehirn haben und mit Hilfe des Verstands, das ‹Würmli› dazu bringen, Dinge zu machen, die es gar nicht will. Zum Beispiel eine Diät machen. Es spricht sehr viel gegen diesen Selbstkontrollmodus. Zum einen, weil das ‹Würmli› sich durchsetzt, wenn die Verstandeskraft nicht optimal arbeiten kann. Dies ist immer dann der Fall, wenn ein Mensch unter Belastung steht, Basisbedürfnisse nicht erfüllt hat, zu sehr oder zu wenig erregt ist, oder viel um die Ohren hat – also eigentlich immer, gemessen am normalen Alltag. Menschen, denen es jedoch gelingt, ihre Verstandeskraft so zu entwickeln, dass sie chronisch die Impulse des ‹Würmli› abwürgen, sind nicht etwa erfolgreicher in der Leistung. Im Gegenteil: Sie stehen unter erhöhter Gefahr, Essstörungen zu entwickeln, Zwangserkrankungen, Depressionen oder Burn-out. – Es gibt aber eine Reihe von Techniken, die dazu beitragen, dass das ‹Würmli› mit ins Boot kommt, auch wenn es Dinge tun soll, die ihm am Anfang nicht unbedingt gefallen. Hier beginnt die Kunst
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des Selbstmanagements, das ist die Voraussetzung dafür, dass wir mit unseren Zielen Erfolg haben. Haltungsziele setzen In der Wirtschaft und in deren Management sind Ziele ein wichtiges Thema. Dabei dominieren vor allem die konkreten Verhaltensziele. Konkrete Verhaltensziele aber sind dem ‹Würmli› egal. Es ist eine Tatsache, dass man für Unternehmen, wie übrigens auch in einigen Therapieformen, konkrete Verhaltensziele entwickelt, und die betroffen Menschen halten sich dann nicht daran. Warum das so ist, kann man erklären. Ziele, die Menschen sich setzen, lassen sich in eine Pyramidenform einfügen, ‹Goal Hierarchy› nennt sich das, oder eben Ziel-Hierarchie. Ziele gibt es auf den vier Ebenen Taktik, Verhalten, Ergebnis, Haltung (von unten nach oben). Das ‹Würmli›, oder eben die innere Motivation, ‹wohnt› auf der Haltungsebene. Deshalb haben Haltungsziele Priorität, wenn es darum geht, das Würmli mit ins Boot zu holen. Ihnen gelingt es, den Unterschied zwischen Beabsichtigen und Wollen zu überbrücken. Für die konkreten Verhaltensziele muss das ‹Würmli› schon mit im Boot sein, sonst funktioniert das mit den Zielen nicht.
Nicht zu schnell konkret werden Je weiter man in der Zielhierarchie nach oben kommt, desto stärker wird die Motivation sein. Mit der Ausführungsgenauigkeit verhält es sich dann genau umgekehrt. je weiter man nach unten kommt, desto genauer weiss man, was man präzise machen will. Die meisten Menschen, die man in der Erwachsenenbildung, im Coaching oder in der Therapie trifft, betreten die Zielpyramide auf der Ergebnisebene oder auf der Verhaltensebene. Weil wir gelernt haben, dass wir uns konkrete Verhaltensziele schaffen sollen, gehen wir dann oft zu schnell auf die Taktikebene und fragen uns, wie wir das das jetzt machen. Das führt zu falschen Ratschlägen. Das ‹Würmli› verkümmert indessen oben auf der Pyramide. Die richtige Strategie besteht darin, mit dem Ergebnis oder mit dem Verhalten einzusteigen, dann aber erst auf die Haltungsebene zu gehen und sich ein Haltungsziel erarbeiten. Haltungsziele haben Tradition Haltungsziele gibt es im Volksmund: ‹Carpe diem›, ‹No risk, no fun›, ‹In der Ruhe liegt die Kraft›, ‹Was mich nicht umbringt, macht mich härter›. Da stehen Haltungen dahinter, in denen ein kollektives Wissen enthalten ist. Menschen können sich aber auch massgeschneiderte Haltungsziele bauen, die dann nur für die
MAJA STORCH Psychologin, Inhaberin des Instituts für Selbstmanagement und Motivation Zürich, ISMZ Maja Storch, Dr. phil., ist Diplompsychologin, Psychodramatherapeutin und Jungsche Psychoanalytikerin. Sie arbeitet als Projektleiterin an der Universität in Zürich und entwickelte zusammen mit Dr. Frank Krause das Selbstmanagement-Training nach dem Zürcher Ressourcen Modell ZRM. Sie ist Inhaberin des Instituts für Selbstmanagement und Motivation Zürich, ISMZ. Maja Storch ist auch als Buchautorin sehr erfolgreich, ihr «Die Sehnsucht der starken Frau nach dem starken Mann» war ein Bestseller. In einer gut verständlichen Sprache gelingt es Maja Storch, ihr Wissen und ihre Anliegen ihrem Publikum zu vermitteln.
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betreffende Person Gültigkeit haben. Für andere Personen sind diese individuellen Haltungsziele nicht immer nachvollziehbar, das ist aber auch nicht nötig. Hauptsache, sie helfen der Person, ihre Handlungen da hinzusteuern, wo sie hin will. Wer ein funktionierendes Haltungsziel hat, erlebt oft das Phänomen, das in der Wissenschaft als ‹Goal Shielding› – Zielabschirmung – bezeichnet wird. Mit einem guten Haltungsziel verändert sich auch die Informationsverarbeitung. Es werden nämlich nur noch zieldienliche Infos aufgenommen; andere Informationen, die vom Ziel wegführen, werden ausgeblendet. Priming Durch Priming können Emotionen, Einstellungen, Ziele und Absichten unbewusst aktiviert werden. Diese unbewusste Aktivierung hat einen nachweisbaren Einfluss darauf, wie Menschen in entsprechenden Situationen denken und handeln. Psychologisch meint Priming Aktivierung, Bahnung. Oder etwas technisch gesagt: Priming erhöht die Auftretenswahrscheinlicheit einer Reaktion aufgrund der vorherigen Darbietung eines Bahnungsreizes (Prime). Dazu ein Beispiel, das auf dem Pausenhof als Spiel bekannt ist: Jemand stellt einem Gegenüber folgende Fragen in schneller Reihenfolge, das Gegenüber muss rasch reagieren: Welche Farben haben die Wolken? Weiss. Welche Farbe hat das Brautkleid? Weiss. Welche Farbe hat der Schnee? Weiss. Was trinkt die Kuh? Natürlich keine Milch. Viele aber werden in die Falle tappen, weil mit dem dreimaligen ‹Weiss› vorher das Konzept ‹Weiss› geprimt worden ist.
«Durch das Aufbauen von Haltungszielen, das anschliessende Priming und mit Wenn-Dann-Plänen wird auch das Unbewusste immer wieder zielführend auf Spur gebracht.» Die Priming-Effekte sind wissenschaftlich breit bewiesen. Wenn Menschen z.B. auf das Konzept Leistung geprimt werden, zeigen diese Menschen nachgewiesenermassen eine bessere Leistung. Priming hilft dem ‹Würmli›, auf Spur zu bleiben. Was die Ziele betrifft, funktioniert das Priming folgendermassen: Zuerst baut man sich ein Haltungsziel, dann wird das Haltungsziel geprimt, indem zum Beispiel im Alltag Zeichen gesetzt werden, die einen an das Haltungsziel erinnern.
von aussen da sind, ist die Gefahr gross, dass alte Automatismen wieder durchbrechen. Aber auch zu wenig Erregung ist hinderlich. Wer träge und phlegmatisch ist, kann das übergeordnete Haltungsziel ebenso aus den Augen verlieren. Wichtig ist auch, dass die menschlichen Grundbedürfnisse gedeckt sind: Hunger, Durst, Zuneigung, Sex, genügend Schlaf. Immer wenn diese Grundbedürfnisse nicht ganz gedeckt sind, kriegen wir solche Ziele, bei denen das Würmli nicht so leicht mitmacht, schwer hin. Ein Gegenmittel sind die sogenannten Wenn-Dann-Pläne. Wenn-Dann-Pläne sind Vorsätze, deren besonderes Kennzeichen darin besteht, dass sie die sprachliche Struktur haben: ‹Wenn X passiert, dann werde ich Y tun.› Allein durch ihre sprachliche Form gelingt ihnen ein kleines Wunderwerk: Sie verbinden eine Situation, die vom Ziel ablenken kann, im Unterbewussten direkt mit dem zielführenden Verhalten. Diese vom Psychologen Peter Gollwitzer entdeckte Phänomen konnte in mittlerweile über 100 Studien nachgewiesen werden. Durch diese sprachliche Form Wenn-Dann werden andere Gehirnareale aktiviert, als wenn ich mir ein Ziel in einer anderen sprachlichen Form vornehme. ‹Wenn es Mittwochabend acht Uhr ist, dann mache ich meine Aufgaben› ist etwas anderes als zu sagen ‹Ich mache am Mittwoch um acht die Aufgaben.› Wenn-Dann-Pläne bieten Aussicht auf eine bedeutend grössere Anzahl von Erfolgserlebnissen, verglichen mit der althergebrachten Form. Ein Dreierpaket: Haltungsziel, Priming, WennDann-Pläne Wer Haltungsziele baut, sich darauf primt, und eventuelle Schwierigkeiten mit WennDann-Plänen vorausschauend abfedert, schafft beste Voraussetzungen für neuronale Plastizität, die Fähigkeit des Gehirns, die eigene Struktur durch Lernen zu verändern. Denn durch diese Methoden wird das Unbewusste immer und immer wieder zielführend auf Spur gebracht. Dadurch verändern sich auf Dauer die synaptischen Verbindungen zwischen den Nervenzellen. Auf Wurmsprache übersetzt heisst das, unser ‹Würmli› geht in die Wurmschule. Dann erreicht man nach einer gewissen Zeit einen Zustand, in dem die gewünschte Handlung fast von alleine abläuft, weil das ‹Würmli› etwas Neues gelernt hat.»
Wenn-Dann-Pläne Die übergeordneten Haltungsziele können immer mal wieder in Gefahr geraten, auch wenn sie geprimt sind. Wenn zu viele Reize
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RUDOLF STRAHM
«Der Wert des praktischen Bildungssystems wird unterschätzt» In seinem lesenswerten neuen Buch geht Rudolf Strahm der Frage nach, «warum wir so reich sind». Der Volkswirtschafter und Bildungsexperte hat eine plausible Antwort parat: Unseren Reichtum verdanken wir zu einem guten Teil unserem vorzüglichen Berufsbildungssystem. Dieses gilt es zu bewahren und zu verbessern.
Punkto Wirtschaftswachstum hinkt die Schweiz seit Anfang der Neunziger den übrigen OECD-Ländern hinterher. Trotzdem weist die Schweiz im internationalen Vergleich eine sehr tiefe Arbeitslosigkeit auf, und auch beim Anteil der erwerbstätigen Bevölkerung (Erwerbsquote) belegt die Schweiz einen Spitzenplatz. Diese Situation ist für den ehemaligen Preisübewacher und Nationalrat «paradox», denn sie widerspricht dem volkswirtschaftlichen Lehrbuch; demnach kann nur stetiges Wachstum die Vollbeschäftigung sichern. Der passionierte Volkswirtschafter Strahm suchte also nach einer Erklärung für dieses Paradox.
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Seine These: Die Arbeitslosigkeit ist derart tief, weil das Schweizer Berufsbildungssystem so gut ist. Denn das duale System der Berufslehre bringt qualifizierte Fachkräfte hervor, die auf dem Arbeitsmarkt gefragt sind. Diese höhere Arbeitsmarktfähigkeit (Employability) der Ausgelernten lässt sich statistisch belegen: Wer eine Berufslehre absolviert, ist deutlich weniger häufig von Arbeitslosigkeit betroffen als Personen mit einem anderen Bildungsabschluss ≥ siehe Grafik 1, S. 30; 40 Prozent weniger als der Durchschnitt der Erwerbstätigen, sogar die Arbeitslosenquote von Akademikern liegt deutlich höher. Wird der Lehrabschluss noch durch
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einen Fachhochschulabschluss ergänzt, sinkt die Wahrscheinlichkeit, keine Stelle zu finden noch einmal deutlich. Ungelernte sind hingegen fast dreimal so häufig von Arbeitslosigkeit betroffen wie Gelernte.
«Unsere Wirtschaft braucht Ungelernte nicht. Das ist natürlich eine Herausforderung an das Bildungs- und Weiterbildungssystem.» Die Gründe, weshalb die Berufspraktikerinnen und -praktiker so begehrt sind, liegen auf der Hand: Da die Unternehmen ins duale Berufsbildungssystem eingebunden sind, können sie dafür sorgen, dass jene Fertigkeiten vermittelt werden, die sie künftig brauchen. Die Ausbildungsbetriebe ziehen so entweder ihr eigenes Personal nach oder sorgen dafür, dass die Branche mit gut ausgebildetem Fachnachwuchs versorgt wird. Das duale System leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Konkurrenzfähigkeit von Schweizer Produkten und Dienstleistungen. Dass Schweizer Berufslernende spitze sind, zeigt sich beispielsweise an den zweijährlich stattfindenden Berufsweltmeisterschaften, wo das Schweizer Team regelmässig auf den vordersten Rängen zu finden ist.
«Die Berufsbildung ermöglicht es, den Strukturwandel besser zu bewältigen. Auch wenn man nicht ein Leben lang im erlernten Beruf arbeiten kann – die Berufsbefähigung ist für die Employability absolut entscheidend.» Weiterer Grund für die höhere Employability der Gelernten: Ein Berufs- oder Branchenwechsel fällt ihnen leichter als Personen ohne Lehrabschluss, sie sind deutlich flexibler, wenn sie der rasche Wandel in der Arbeitswelt zu einem Berufswechsel zwingt. Während Ungelernte in Phasen des rückläufigen Wachstums Gefahr laufen, als «Konjunkturpuffer» auf die Strasse gestellt zu werden, zeigen sich die ausgelernten Berufspraktiker deutlich resistenter gegen Konjunkturschwankungen. Insgesamt gelingt es Ländern wie Dänemark, Deutschland, Schweden, Österreich oder der Schweiz, welche das duale Berufsbildungssystem kennen, deutlich besser, junge Nachwuchskräfte in den Arbeitsmarkt zu integrieren ≥ siehe Grafik 2. Das duale System dürfte damit einer der Hauptgründe dafür sein, dass die Schweiz im Vergleich mit allen EU-Ländern die tiefste Jugendarbeitslosigkeit hat. ≥ siehe Grafik 3.
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«Die arbeitsmarktliche Nicht-Integration der ungelernten Zuwanderer ist eines der grössten sozialen Probleme.» Der Zusammenhang zwischen Berufsbildungssystem und Arbeitslosenquote zeigt sich nicht nur im internationalen, sondern auch im innerschweizerischen Vergleich. Die betriebliche Berufslehre ist in der Romandie und im Tessin viel schlechter verankert als in der Deutschschweiz – entsprechend liegt dort auch die Arbeitslosenquote deutlich höher in als in den Deutschschweizer Kantonen. Strahm hat die Statistik zur Hand genommen und die Häufigkeit der Berufslehre mit der Arbeitslosenquote in den Kantonen zueinander in Beziehung gesetzt. Das Resultat ist verblüffend, ein statistischer Zusammenhang klar gegeben: Kantone mit mehr Berufslehren sind weniger stark von Arbeitslosigkeit betroffen, Kantone wie Neuenburg, Tessin, Waadt oder Genf, wo die betriebliche Berufsbildung eine untergeordnete Rolle spielt, haben auch mehr Stellenlose. Laut Strahm lässt sich die Arbeitslosenquote statistisch zu 57 Prozent auf die Häufigkeit der Berufsbildung zurückführen, der Einfluss der Berufslehre ist also stärker als alle übrigen Einflussfaktoren zusammen ≥ siehe Grafik 4.
«Wer eine Berufslehre absolviert verdient anfänglich mindestens 1000 Franken mehr als ein Ungelernter. Gelernte unterliegen einem 3-mal kleineren Risiko arbeitslos zu werden und einem 2.5-mal kleineren Risiko Sozialhilfebezüger zu werden. Die Berufslehre bildet damit eine Basis für sozialen Status.» Über zwei Drittel aller Berufseinsteigerinnen und -einsteiger in der Schweiz wählen den Weg einer Lehre. Lehrabsolventen verdienen beim Berufseinstieg mehr (im Vergleich zu Ungelernten rund 1000 Franken pro Monat), sie haben ein geringeres Risiko arbeitslos oder Sozialhilfe bezüger zu werden und bewältigen auch den Strukturwandel besser. Auch stehen den Berufspraktikern heute diverse Aufstiegs- und Weiterbildungsmöglichkeiten offen: Berufsmaturität, Höhere Fachschulen, Fachhochschulen, ja selbst der Zugang zur Universität via Passerelle. Der wichtigste Pluspunkt für die Berufslernenden ist und bleibt jedoch ihre berufspraktische Erfahrung. Sie zählt auf dem Arbeitsmarkt von heute für viele potenzielle Arbeitgeber mindes tens ebensoviel wie theoretisches (Hochschul-) Wissen. Fachhochschulabsolventen scheinen
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inzwischen gar gefragter als Universitätsabgänger; die Beschäftigungsquote bei den FH-Absolventen ist höher, die Einstiegslöhne liegen praktisch auf dem gleichen Niveau.
«Die wichtigste Aufgabe besteht darin, auch Schwächere fähig zu machen, im Arbeitsmarkt zu bestehen.» Der Erfolg des dualen Systems steht und fällt mit der Ausbildungsbereitschaft und dem Engagement in den Betrieben. Der Anteil ausbildender Betriebe erreichte 1985 mit 23 Prozent einen Höchststand, sank bis 1995 auf 15 Prozent und lag zwischen 1998 und 2005 zwischen 17 und 18 Prozent. Die Ausbildungsintensität ist je nach Branche sehr unterschiedlich: Die beschäftigungsmässig schrumpfenden Branchen Bau und Industrie bilden mehr Lehrlinge aus, als sie absorbieren können. Der wachsende Dienstleis tungssektor hingegen stellt deutlich zu wenig Ausbildungsplätze für Berufslernende zur Verfügung. Strahm kritisiert deshalb die Verteilung der Lehrstellen als nicht mehr zeitgemäss.
«Das Berufsbildungssystem entspricht mit seiner Lehrberufsverteilung der Wirtschaftsstrukur von vor 20 Jahren – es hinkt der Wirtschaftsentwicklung hinterher.» Trotzdem ist das Schweizer Dualsystem von Praxisausbildung in den Betrieben, beziehungsweise in Lernwerkstätten sowie Wissensvermittlung in den Berufsschulen oder überbetrieblichen Lernzentren ein Erfolgsmodell, dessen Nutzen für die ganze Volkswirtschaft nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Es ist auch ein ausgesprochen kostengünstiges Ausbildungssystem: Staat und Betriebe teilen sich die Ausbildungskosten. Ein Berufslernender kostet den Staat (8600 Franken pro Jahr) weniger als die Hälfte eines Gymnasiasten (knapp 20 000 Franken). Den Betrieben bringen die Lehrlinge in vielen Branchen über die ganze Ausbildungsdauer gerechnet sogar mehr ein, als sie kosten.
RUDOLF STRAHM Altnationalrat und ehemaliger Preisüberwacher Rudolf H. Strahms Interesse als SP-Wirtschaftspolitiker galt schon in den 90er Jahren der Berufsbildungsreform und deren Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Auch nach seinem Rücktritt als Nationalrat und Preisüberwacher interessiert ihn der Blick aufs Schweizer Bildungssystem aus arbeitsmarktlicher Optik. Strahm hat seit zehn Jahren einen Lehrauftrag für die Ausbildung von Berufsberaterinnen und Berufsberatern an den Universitäten Bern, Freiburg und Zürich und ist an der Aus- und Weiterbildung von Berufsschullehrern am Eidgenössischen Hochschulinstitut für Berufsbildung EHB beteiligt. Seit 1. September 2008 ist er zudem Präsident des SVEB, Schweizerischer Verband für Erwachsenenbildung. Strahms eigene Berufskarriere begann mit einer Lehre als Chemielaborant und einem Chemiestudium am Technikum Burgdorf. Später folgte eine Zweitstudium in Wirtschaft an der Universität Bern.
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Grafik 1 Beschäftigte mit Berufslehre sind am wenigsten von Arbeitslosigkeit betroffen
Grafik 2 Internationaler Vergleich Jugendliche: Länder ohne Betriebslehre haben am meisten Jugendliche ohne Ausbildung
Verhältnis zur mittleren Arbeitslosenquote (= 100%) 200
170%
130% 100
Ø=100 100% 80% 60% 45%
0 obligatorische Schule (ungelernte)
Berufslehre
höhere Mittelschule anderer Berufsaus- Maturität Abschluss bildung Seminar Sek II (Lehre + HF)
Portugal Spanien Island Italien Grossbritannien EU-25 Griechenland Niederlande Frankreich Irland Deutschland Belgien Österreich Finnland Schweden Dänemark Schweiz Norwegen
Tertiärestufe (Uni, FH)
39 31 26 23 17 16 15 14 14 13 12 12 9 9 9 8 8 4
0%
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20%
30%
40%
50%
Quelle: BSF/Eurostat © Strahm/hep verlag
Quelle: George Sheldon/Nat. Forschungsprogramm 43 © Strahm/hep verlag
Arbeitslosenquote nach dem höchsten Bildungs abschluss der Betroffenen; Auswertung Volkszählungsergebnisse 2000 (Totalzensus)
Anteil der 18–24-Jährigen ohne Abschluss auf der Sekundarstufe II (ungelernte Jugendliche) in Europa (2004)
Grafik 3 Internationaler Vergleich Jugendliche: Das Berufsbildungsland Schweiz hat die tiefste Jugendarbeitslosigkeit
Grafik 4 Statistischer Zusammenhang: Berufsbildung vermindert die Arbeitslosenquote
Finnland Griechenland Italien Spanien Frankreich Schweden Luxemburg Belgien EU-15 Portugal Deutschland Norwegen Island Grossbritanien Österreich Irland Niederlande Dänemark Schweiz
Anteil duale Berufslehre in Sekundarstufe II
27.5 26.5 24.6
100% 90%
22.4 19.5 18.5 18.3 17.5 16.2
URI GR
AR
SG TG
SZ AI
50%
ZG SO AG LU
BE
ZH VD
BS
VS FR BL
40%
JU TI NE
30% 20%
GE
R2 = 0.5711 R = 0.75
10% 0% 0% 10%
15%
20%
25%
1%
2%
Erwerbslose in Prozent der 15–24-jährigen Jugendlichen in Europa (EU-15, 2004)
3%
4%
5%
6%
7%
8%
Arbeitslosenquote 2006
30%
Quelle: BSF/SAKE/Eurostat © Strahm/hep verlag
BiZE-Report 2
OW
60%
8.6 8.3 8 7.8 7.7 5%
NW
70%
14 13 12.8 12.1 10.8
0%
GL
80%
Quelle: seco/BSF © Strahm/hep verlag
Korrelation zwischen Anteil der Jugendlichen in Berufslehren (Berufsbildungsquoten) und Arbeitslosenquoten nach Kantonen
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BiZE-Report 2
SCHWEIZERISCHES FORUM FÜR ERWACHSENENBILDUNG Die Welt ist zunehmend vernetzt mit immer durchlässigeren Grenzen. Die Auswirkungen sind offensichtlich. Wir in der rohstoffarmen Schweiz leben in Konkurrenz mit Ländern, die diesbezüglich eine viel komfortablere Ausgangslage haben. Wir müssen uns folglich auf unsere Chancen besinnen und diese vorausschauend fördern. Es geht dabei um unsere wichtigsten Güter: Bildung und Wissen. Das «Schweizerische Forum für Erwachsenenbildung» ist ein Anlass, der jährlich stattfindet. Veranstalter ist das Bildungszentrum für Erwachsene BiZE in Zürich, das von den beiden öffentlichen Institutionen EB Zürich, Kantonale Berufsschule für Weiterbildung, und KME, Kantonale Maturitätsschule für Erwachsene, betrieben wird. Das Forum bietet wichtige Informationen zur aktuellen Erwachsenenbildung und dient dem Erfahrungsaustausch und dem Networking zwischen den Teilnehmenden. Da ist Raum, um neuste Entwicklungen kennenzulernen und zu diskutieren. Das erste «Schweizerische Forum für Erwachsenenbildung» fand am 26. November 2008 statt. Organisation: Boris Widmer Moderation: Röbi Koller Nächstes Schweizerisches Forum für Erwachsenenbildung: 25. November 2009 www.swissadultlearning.ch
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Bildungszentrum fĂźr Erwachsene Riesbachstrasse 11 8008 ZĂźrich www.bize.ch