SFE Report 2009

Page 1

Weiter-Bildung Was heisst Lernen in der Wissensgesellschaft? David Bosshart, Sabine Seufert, Silvano Beltrametti, Bernhard Weber, Benjamin Künzli und Anton Hügli

Bildungszentrum für Erwachsene BiZE-Report 3 Januar 2010


Impressum Herausgeber Bildungszentrum für Erwachsene BiZE, Zürich Konzept und Redaktion Serge Schwarzenbach, EB Zürich Christian Kaiser, silbensilber Fritz Keller, silbensilber Gestaltung Philipp Schubiger, PSVK Fotos Reto Schlatter (ausser Seite 17: zVg) Druck Kantonale Drucksachen- und Materialzentrale KDMZ

2

BiZE-Report 3


Übersicht 5 Editorial Der Rektor der EB Zürich führt in die Beiträge der Referenten ein.

6 David Bosshart «‹Alt, weiss, männlich, satt› gehört der Vergangenheit an, ‹jung, asiatisch, weiblich, hungrig› wird die Zukunft sein. Wir werden lernen müssen, stilvoll abzusteigen.

10 Sabine Seufert «Weiterbildung muss eine veränderte Rolle einnehmen. Sie muss eingebettet sein in die ganze Unternehmensentwicklung und zur Strategieentwicklung und zum Qualitätsmanagement beitragen.»

14 Silvano Beltrametti «Dank meiner Umschulung kann ich wieder Erfolge feiern. Um wieder glücklich, zufrieden und selbstständig im Leben zu stehen, war der Beruf für mich ein wichtiger Mosaikstein.»

18 Bernhard Weber «In vielen Fällen lohnen sich Weiterbildungsinvestitionen aus Sicht der privaten Akteure. Hier besteht kein staatlicher Handlungsbedarf. Es gibt aber verschiedene Marktversagen.»

22 Benjamin Künzli «Gut qualifizierte Leute wählen ihren Arbeitgeber auch nach dem Kriterium aus, was ihnen in Sachen Ausbildung und Entwicklung geboten wird.»

26 Anton Hügli «Allen bisherigen Vorstellungen von Lernen ist eines gemeinsam: Immer ist das Lernen das eine, das Leben das andere. Das Leben, das kommt erst.»

31 SCHWEIZERISCHES FORUM FÜR ERWACHSENENBILDUNG Das Schweizerische Forum für Erwachsenenbildung engagiert sich für das lebenslange Lernen.

BiZE-Report 3

3


4

BiZE-Report 3


Editorial Liebe Leserinnen, liebe Leser David Bosshart brachte es auf den Punkt: «Wir werden in den nächsten Jahren einige hochriskante Entscheidungen zu treffen haben.» Der Leiter des renommierten Gottlieb Duttweiler Instituts zeigte mit seinem Blick in die Zukunft, dass wir viel dazulernen müssen, wenn wir die Herausforderungen annehmen wollen. Inwiefern kann Weiterbildung dazu beitragen, Veränderungsprozesse in Wirtschaft und Gesellschaft in Gang zu setzen und erfolgreich zu bewältigen? Das 2. Schweizerische Forum für Erwachsenenbildung suchte auf diese Frage Antworten. Die St. Galler Professorin Sabine Seufert führte in ihrem Referat aus, wie klug geplante Weiterbildung Unternehmen und Mitarbeitenden nützt. Der ehemalige Skirennfahrer Silvano Beltrametti erzählte eindrücklich, was er aus dem verletzungsbedingten Abbruch seiner Sportkarriere gelernt hat. Einen streng ökonomischen Massstab legte der Volkswirtschafter Bernhard Weber an: Aus Sicht der Ökonomie ist Bildung immer auch eine Investition, die Rendite abwerfen sollte. Als Leiter von Head & Development ABB Schweiz erläuterte Benjamin Künzli, wie ein Grossunternehmen Weiterbildung erfolgreich umsetzt und dabei der Persönlichkeitsbildung entscheidenden Wert beimisst. Und der Philosoph Anton Hügli plädierte dafür, das Lernen nicht immer in die Zukunft zu projizieren, sondern im Hier und Jetzt anzufangen. Das 2. Schweizerische Forum für Erwachsenenbildung eröffnete verschiedene Blickweisen auf das Lernen in der Wissensgesellschaft. Sich darauf einzulassen war spannend und zeigte Perspektiven auf. Die Broschüre bietet Ihnen die Möglichkeit, die Referate in zusammengefasster Form nachzulesen. Dabei wünsche ich Ihnen viel Vergnügen.

Hans-Peter Hauser Rektor EB Zürich

BiZE-Report 3

5


David Bosshart

Was sind die wirklichen Herausforderungen? Wie sieht die Zukunft aus? Wir leben in Sattheit und einem geistig überalterten Wirtschaftssystem. Andere Nationen mit mehr Elan drängen an die Spitze. David Bosshart zeichnet ein düsteres Bild der Gegenwart. Die Erfolge hätten uns selbstgenügsam werden lassen. Wir werden lernen müssen, stilvoll abzusteigen und mit den verschiedensten Widersprüchen zu leben.

«‹Alt, weiss, männlich, satt›: Glauben Sie ernsthaft, dass dies Eigenschaften sind, um in der Wirtschaft, in der Gesellschaft, in der Politik Erfolg zu haben? Wie sieht denn die Lernkurve von ‹alt, weiss, männlich, satt› aus? Was haben wir in den letzten Jahren alles gemacht, um uns zu verändern? Ich glaube nicht, dass die Zukunft ‹alt, weiss, männlich, satt› sein wird, ich glaube vielmehr, sie wird jung sein, sie wird auf jeden Fall asiatisch sein, sie wird auf jeden Fall sehr viel weiblicher sein und sie wird vor allem sehr viel hungriger sein. ‹Alt, weiss, männlich, satt› gehört der Vergangenheit an, ‹jung, asiatisch, weiblich,

6

hungrig› wird die Zukunft sein. Indien, China, die islamische Welt werden wieder dahin kommen, wo sie auch früher schon einmal waren. Wir werden lernen müssen, was die Engländer sehr gut machen: stilvoll abzusteigen. Die Engländer sind seit hundert Jahren nirgendwo sonst so gut, seit hundert Jahren steigen sie ab. Dass wir es schwer haben werden in Zukunft, dafür gibt es verschiedene Hinweise. Wir sind überaltert Ein Blick auf die Demografie unserer Gesellschaft zeigt eines deutlich: Heute hat die Generation der Babyboomer das Sagen, nicht

BiZE-Report 3


Widersprüche, welche unsere Zukunft prägen werden Die einfachen Weltbilder gehören der Vergangenheit an. Laut David Bosshart werden wir in Zukunft immer mehr mit Widersprüchen leben müssen, die uns als solche nicht geheuer sind, weil wir sie bisher nicht kannten. Es liegt an uns, produktiv mit diesen Widersprüchen umzugehen. Frenemies Freund und Feind. Wir werden nur dann im Wettbewerb Erfolg haben, wenn wir besser kooperieren können. Wettbewerbsfähigkeit entsteht immer mehr aus Kooperationsfähigkeit. Da sind wir eigentlich in der Schweiz und in Deutschland gar nicht so schlecht. Wir haben viele Verbände, wir haben Genossenschaften. Es wird aber in Zukunft immer mehr so sein, dass eine Firma zugleich Freund und Feind sein kann, je nach Situation. So gehören zum Beispiel Lufthansa und Swiss marketingmässig zusammen. Wenn es aber darum geht, Umsteigepersonen nach München oder nach Zürich zu bekommen, so sind sie erbitterte Feinde. Diese Art von Schizophrenie wird immer normaler. Freemium Dieses Stichwort meint die Kombination von etwas Kostenlosem mit etwas, das Premiumqualität hat. Immer mehr Produkte sind gratis zum Beispiel im Internet: Angefangen von Wikipedia über die Möglichkeiten, mit den Google-Suchmaschinen etwas herauszufinden, bis zu all diesen kollaborativen Tools. Wenn etwas gratis ist, wird auch das Teilen einfacher: Das lernen unsere Kinder, sie sind viel mehr lernbereit, mit ‹Flickr›, mit ‹Youtube›, zu teilen, Fotos teilen, Informationen teilen, bis zum gemeinsamen Aufgabenmachen. Teilen ist etwas sehr Natürliches für die nächste Generation. Für die ältere Generation war das anders. Neben den Linien und Produkten, die sehr billig sind, gibt es die Linien und Produkte, die sehr teuer sind. Und immer mehr solche, die unbezahlbar sind. Schöne Wohnlagen am Zürichsee kann man gar nicht mehr bezahlen, Raum an der Bahnhofstrasse ist unbezahlbar. Sie brauchen den Laden, wenn Sie Louis Vuitton heissen, die Lage wird immer unbezahlbarer, sie müssen aber da sein, weil sie Präsenz markieren müssen. Immer mehr Produkte, Dienstleistungen werden gratis angeboten, damit das aber profitabel ist, verkaufen sie Premium-Modelle, mit denen sie Geld verdienen Workstyle Lange hat man geglaubt, Lifestyle mache alles aus. Wie gebe ich mich, wie komme ich an? Aber Lifestyle ist für Losers. Viel wichtiger ist heute die Frage: Was tust du, was kannst du jetzt tun?

BiZE-Report 3

Eine Welt, die immer mehr echtzeitorientiert ist, wird auch immer mehr in der Echtzeit darüber entscheiden: Kannst du was, kannst du nichts? Und das lernen unsere Kinder schon mit hoher Brutalität. Sie lernen, dass Rating und Ranking normal sind, dass man die persönlichsten Daten ins Netz stellt, wird normal. Das ist ein Ausloten von Chancen, man streckt die Fühler aus, um seinen Marktwert zu erfahren. Wichtiger als Lifestyle ist also: Was bin ich jetzt wert, egal auf welcher Stufe, was kann ich im Moment tun und damit verdienen. Das hat man gesehen bei 57-, 58-Jährigen, die aus dem aktiven Arbeitsleben ausgestiegen sind, aber noch etwas Freiwilliges machten. Supergut. Aber trotzdem war es nicht unwichtig, was sie als Honorar dafür noch bekamen. Das betrifft das persönliche Selbstbewusstsein: Was bin ich wert? Und ich glaube, das wissen unsere Kinder schon sehr gut, sie haben gelernt, Überlebenskampf, Anpassungskampf, du musst jetzt beweisen, was du kannst. Flexecurity Flexibilität und Sicherheit. In den nächsten Jahren werden wir entscheiden müssen: Wo ist das richtige Verhältnis, gehen wir mehr Richtung Freiheit oder gehen wir mehr Richtung Sicherheit. Was sind die Mischformen, die für uns eigentlich wichtig sind? Vor allem die Jüngeren merken, dass unser System an die Grenzen kommt: ungelöste Vorsorge, immer höhere Renditen erzielen, Gesundheitssystem, das immer teurer wird. Viele merken, dass das nicht mehr aufgehen kann. Denn immer höhere Fixkosten killen die Freiheit. Wir müssen flexibler werden und schauen, wo es neue Zwischenlösungen gibt, neue Mischformen mit einer Balance von Sicherheit und Flexibilität. Vireal Virtuelles und Reales. Finanzmärkte und Technologie haben eines gezeigt: Die virtuellen Finanzmärkte treiben die realen Märkte. Dass Entscheidende ist, dass in den nächsten Jahren immer mehr die Virtualität die Realität mitbestimmt. Das unterschätzen wir. Wir haben eine Kultur aufgebaut, die uns weggeführt hat von Produkten und Dienstleistungen. Produkte und Dienstleistungen können Sie nur verkaufen, wenn Sie gute Mitarbeitende haben. Sie können Produkte und Dienstleistungen nur weiterentwickeln, wenn die Mitarbeitenden auch etwas wissen. Wenn nur noch der Aktienkurs eine Rolle spielt, dann werden wir eine Verliererwelt haben und das werden die Chinesen, Inder und die restlichen asiatischen Länder sicher ausnützen. Wir werden Bereiche zwischen Virtuellem und Realem finden müssen.

7


eben erfolgreich, wie ich meine. Wir leben in einer Welt, in der Menschen, die 50, 60, 70 sind, immer stärker bestimmen können, was überhaupt durchgesetzt wird. Wo alte Menschen regieren, da dominieren Erinnerungen. Es ist aber nicht zum Vorteil einer vitalen Gesellschaft, wenn Erinnerungen an das, was man geleistet hat, die Basis bilden für Entscheidungen für die Zukunft. Warum ist es viel schwieriger, in einer Welt mit alten Menschen Erfolg zu haben? Alte Menschen sind eher kompliziert, junge Menschen haben den grossen Vorteil, dass sie einen Traum haben. Die 1960er, 1970er Jahre waren politisch extrem einfach zu führen. Warum? Es gab viele junge Menschen im Verhältnis zu den alten, die Renten waren gesichert. Das gab Sicherheit und Raum für Träume. Und Menschen mit einem Traum sind sehr leicht zu führen. Neue Technologien nutzen Wichtig für eine kräftige, erfolgsorientierte Kultur ist die Technologienutzung, nicht Technologie, sondern Technologienutzung. Es zeigt sich, dass traditionelle technologieproduzierende Firmen wie zum Beispiel IBM und SAP die Gegenwart nicht in gleichem Masse prägen wie solche, deren Namen wir vor drei, vier Jahren noch gar nicht gekannt haben: ‹Myspace›, ‹Face-

book›, all diese digitalen sozialen Netzwerke. Warum sind das plötzlich globale Phänomene, Massenphänomene? In der Türkei oder in Indien sind prozentual sehr viel mehr Menschen in diesen Netzen als bei uns. Warum? Die wollen etwas und sehen den Nutzen. Wichtiger als irgendwelche schönen Wörter wie Wissen ist die Fähigkeit, sich anzupassen. Und zur Anpassung gehört Technologienutzung.

«Wir hatten ein klares Feindbild: Ost gegen West. Kapitalismus gegen Kommunismus. Das war die Grundlage für unseren Erfolg.» Beim Denken flexibler werden Auch bei den Denkstilen zeichnet sich Europa nicht gerade durch Flexibilität aus. Die letzten 50, 60, 70, 80 Jahre waren stark geprägt durch sehr einfache Muster: links/rechts, unten/ oben, Rationalität versus Emotionalität. So hatten wir ein klares Feindbild: Ost gegen West. Kapitalismus gegen Kommunismus. Das war die Grundlage für unseren Erfolg. Heute funktionieren diese Muster nicht mehr. Globalisierung heisst, jeder ist potenziell mit allen andern verknüpft, jederzeit. Es hat Auswirkungen auf alle, wenn jemand einen Fehler

David Bosshart Trendforscher CEO Gottlieb Duttweiler Institut, GDI, Rüschlikon Bevor Dr. David Bosshart die Leitung des GDI übernahm, war er tätig in Handelsunternehmen, in der Beratung, in der Lehre und in der wissenschaftlichen Forschung. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Zukunft des Konsums und der gesellschaftlicher Wandel, Management und Kultur, Globalisierung und politische Philosophie. Der GDI-Leiter ist Autor zahlreicher internationaler Publikationen, mehrsprachiger Referent und gefragter Key Note Speaker in Europa, USA und Asien.

8

BiZE-Report 3


macht, Beispiel Finanzmarktkrise. Es gibt keine Länder, die nicht betroffen wurden. Es sitzen alle im selben Boot. Das verlangt nach Flexibilität und Offenheit, das ahnen unsere Kinder, wenn sie sich in Facebook unterhalten. Wir sind dazu gezwungen, unsere Fühler überall auszustrecken, uns neu zu vernetzen, nach Entwicklungsmöglichkeiten zu suchen, weil die alten Netze nicht mehr tragen. Was ist unser Hauptdilemma? Die eigentliche Stärke, die wir heute verloren haben, ist: Wir glauben an nichts mehr. Wir sind die einzige Region, wo die Religion bedeutungslos geworden ist. Und das ist die Stärke der Amerikaner. Wenn Obama sagt: «Yes we can», ist das ein religiöser Akt. Hier sagen die Politiker nur: «Ihr könnt mich mal.» Mitarbeitende merken sofort, wenn da vorne einer steht, der nicht daran glaubt, was er erzählt. Das ist die grosse Schwäche bei uns, wir haben nicht mehr die Kraft, die Dinge wirklich durchzuziehen. Weniger Tradition heisst weniger Orientierung, weniger Orientierung heisst weniger Glaube, heisst weniger Motivation. Bei uns nimmt relativ schnell der Aberglaube zu. Wir sind in kleinen Netzen gross geworden, Stichwort Familie. Und plötzlich ist die ganze Welt unser Wirkungsraum, weil es wirtschaft-

BiZE-Report 3

lich und technologisch möglich ist. Gleichzeitig sind wir, und diese Schere wird vermutlich immer noch grösser, sozialpolitisch und institutionell Konservative geblieben. Wir haben diesen staken Widerspruch zwischen Tradition und Trend. Wir wissen es alle oder ahnen es zumindest, das Alte war, so geht es nicht weiter.

«Wir orientieren uns nicht mehr an gewachsenen Traditionen, sondern an kurzfristigen Trends.» Aber das Neue ist offen. Das macht es so schwierig, sich für etwas zu entscheiden. Eine Welt, deren Wertschöpfung auf Wissenschaft und Technologie basiert ist per se eine hoch riskante Welt. Alles, was in den nächsten Jahren kommt, ist gefährlich. Wir werden sehr viele hochriskante Entscheidungen treffen müssen. Da muss man nur den Energiebereich anschauen, den Finanzbereich. Wir orientieren uns nicht mehr an gewachsenen Traditionen, sondern an kurzfristigen Trends. Da den richtigen Weg zu finden, ist die grosse Herausforderung der nächsten Jahre.»

9


Sabine Seufert

«Google-Abfragen schaffen keine Kompetenz» Der Nutzen betrieblicher Weiterbildung wird oft angezweifelt. Sie steht immer wieder unter dem Verdacht, unproduktiv und zu teuer zu sein. Für Sabine Seufert ist das auf keinen Fall so. Gut geplant und intelligent umgesetzt schafft betriebliche Weiterbildung einen nachhaltigen Mehrwert sowohl für das Unternehmen wie auch für die Mitarbeitenden.

Viele Unternehmen wissen ganz genau, dass das Personal ihre wichtigste Ressource ist, wenn es um ökonomische Leistungsfähigkeit geht. Dass es sich deshalb lohnt, in das Humankapital zu investieren, zum Beispiel in Form von Weiterbildung. Wenn dann aber – gerade in Zeiten grossen Spardrucks – Zweifel am Nutzen betrieblicher Weiterbildung geäussert werden, gerät das Weiterbildungsbudget schnell einmal unter Druck. Weiterbildungsforscherin Sabine Seufert von der Hochschule St.Gallen zeigt mit fünf Thesen, was getan werden muss, damit Unternehmen und Mitarbeitende gleichermassen profitieren.

10

1. Weiterbildung muss «neue» Kompetenzen entwickeln – verbunden mit «neuen» Zielen Der Begriff «Kompetenz» ist sehr «en vogue», in der Schule, in den Hochschulen, in Unternehmen, überall wird der Kompetenzbegriff verwendet. Häufig entsteht der Eindruck, er werde als Label dafür verwendet, wo früher von Lernzielen gesprochen wurde. Was versteht man an und für sich unter Kompetenzen? Kurz gefasst ist Kompetenz eine stabile Fähigkeit eines Menschen, flexibel in verschiedenen Situationstypen zu handeln. Kompetenz erfordert also erstens Anwendung auf Dauer. Zweitens erfordert es die Fähigkeit, sein Wissen

BiZE-Report 3


in wechselnden Situationen anzuwenden. Drittens verlangt Kompetenz nach einer Verbindung von Aktion und Reflexion, indem eine Handlung und ihre Folgen überdacht werden. Kompetenz meint also einiges mehr als eine blosse Qualifizierung für eine bestimmte Tätigkeit.

«Der angepasste Mensch ist weder anpassungsfähig noch kompetent.» Wie können Kompetenzen dieser Art entwickelt werden? Das braucht seine Zeit. Ein Kurstag reicht nicht aus, um die Sozialkompetenz eines Menschen langfristig zu erhöhen. Wichtig sind die Möglichkeiten, Erfahrungen und auch Fehler zu machen, auch mal von vorgegebenen Regeln abweichen zu können. Die Entwicklung einer Kompetenz hat nichts zu tun mit kurzfristigen Google-Abfragen, auch nichts mit dem Drill von Fertigkeiten und dem Abhaken von Check-Listen. Solche Strategien führen nur zur Anpassung an das Vorgegebene, aber der angepasste Mensch ist kein anpassungsfähiger und damit kein kompetenter Mensch. Kompetenzen sind gefragt in verschiedenen Bereichen: Umgang mit Sachen (Sachkompetenz), Umgang mit Leuten (Sozialkompetenz) und Umgang mit sich selbst, mit den eigenen Ressourcen (Selbstkompetenz). Kompetenzen lassen sich auch nach Aktivitäten unterscheiden: Sind Einstellungen gefragt oder Fertigkeiten oder Wissen. Jedes Unternehmen sollte genau hinschauen, welche Kompetenzen es entwickeln soll und sich dann entsprechend präzise Ziele setzen. 2. Weiterbildung muss neue Formen des Blended Learning nutzen Schon vor etwa zehn, fünfzehn Jahren gab es einfache Formen von Distant Learning, von selbst gesteuertem Lernen mit dem Computer. Am Anfang schien es, als würde dadurch das Lernen vor Ort abgelöst. Schnell aber wurde klar, dass sich die verschiedenen Lernformen verbinden und ergänzen mussten. Daraus entstand das moderne Blended Learning. Blended Learning erlaubt es, dass informelles Lernen stärker in die Entwicklung von Kompetenzen integriert wird. Informelles Lernen heisst, dass Lernende sich selber Ziele setzen und nach Lösungen für auftretende Probleme suchen. Das kann durch die Lektüre eines Fachbuchs geschehen oder durch den Austausch mit Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen. Informelles Lernen passiert oft am Arbeitsplatz, wenn spontan Probleme auftauchen und nach möglichen Lösungswegen gesucht wird. Unternehmen können das informelle Lernen auch moderieren und etwas steuern,

BiZE-Report 3

indem sie diese Art von Lernen direkt am Arbeitsplatz unterstützen. So kann das Wissen, das sich Einzelne oder Teams angeeignet haben, für das ganze Unternehmen fruchtbar gemacht werden. Wenn zum Beispiel ein Team eine Projektarbeit über ein Computernetzwerk löst, ist der ganze Lernprozess auf einfache Weise einsehbar. Die Rolle der Bildungsabteilung ist nur noch, Rahmenbedingungen zu schaffen, damit ein Lernprozess stattfinden kann. Das Beispiel einer «good practice» in diesem Bereich liefert der Erdölkonzern Shell. Auf Förderplattformen draussen im Meer Seminare abzuhalten, ist kaum denkbar. Entsprechend organisiert Shell das Lernen seiner Mitarbeitenden über ein «Coaching» und «Mentoring» am Arbeitsplatz und über den zielgerichteten Austausch von praktikablen Lösungen. Mit dem Slogan «ask, learn, share» bringt Shell dieses Konzept auf den Punkt. 3. Die Weiterbildung braucht «neue» Lernende Die demografische Entwicklung unserer Gesellschaft zwingt die Unternehmen und die ganze Gesellschaft, sich auf eine neue Situation einzustellen. Die Lebenserwartung von Frauen und Männern steigt, die Alterspyramide verbreitert sich zusehends gegen oben, viele werden wohl länger arbeitstätig sein als bisher. In diesem Zusammenhang gibt es sehr viele Vorurteile: Ältere Mitarbeitende könnten nicht mehr dazulernen, heisst es, dagegen hätten wir eine junge Generation, die sehr viel Medienkompetenz besitze. Ist es nicht viel differenzierter? «Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr» ist ein bekanntes Sprichwort. Viele Studien belegen, dass das eindeutig nicht stimmt. Es gibt zwar Verluste bezüglich der Lernfähigkeit im Alter, das hängt mit der Mechanik der Informationsvermittlung zusammen. Ältere Menschen können sich nicht mehr gleich konzentrieren wie jüngere und die Aufnahmefähigkeit nimmt ab. Sie brauchen mehr Ruhe beim Lernen, die Fähigkeit zum Multi-Tasking nimmt ab, weil sie störende Informationen nicht einfach ausblenden können. Dafür nimmt das Erfahrungswissen zu, die Pragmatik, wie es die Entwicklungspsychologen nennen. So lassen sich im Alter zwei Strategien erkennen. Das eine ist die Selektion. Ältere Menschen wissen immer genauer, worauf sie sich konzentrieren müssen. Sie fokussieren auf ihnen sinnvoll erscheinende Ziele. Die zweite Strategie heisst Kompensation. Erfahrene Menschen entwickeln einen besonderen Sinn, um gut mit speziellen Lernsituationen zurechtzukommen. Also, Hans lernt einfach anders als das Hänschen, und Verena anders als Vreneli. Das birgt für die Unternehmen viel Potenzial. So werden in Zukunft auch 40- und 50-Jährige zum Füh-

11


rungsnachwuchs gehören. Erfahrungsgeleitetes Lernen wird noch stärker implementiert werden. Ältere Menschen können mit ihrem Erfahrungsschatz vieles hinterfragen. Ziel muss es sein, den Austausch zwischen den Generationen noch stärker zu fördern, indem Netzwerke zwischen Alt und Jung gespannt werden. Nicht das Alter ist entscheidend für den Lernerfolg, sondern die Lernkompetenz. Die deutsche Otto Group passte ihr Personalentwicklungskonzept diesen Einsichten beispielhaft an. Ältere Mitarbeitende haben über moderne Formen wie Wikis und Blogs die Möglichkeit, ihr Erfahrungswissen mit den jüngeren Mitarbeitenden auszutauschen und zu teilen. 4. Weiterbildung braucht Führungskräfte als Lernpromotoren Führungskräfte haben eine zentrale Rolle, wenn es um den Transfer von neuem Wissen geht. Das zeigt sich in vielen Studien. So ist es wichtig, dass die Führung das formelle Lernen unterstützt (Vorbereitung, Nachbereitung), aber auch im Bereich des informellen Lernens ihren Mitarbeitenden möglichst viel Unterstützung bietet. Da braucht es das konstruktive Feedback, da braucht es das Nachdenken darüber, wie die Förderung weitergehen kann.

«Nicht das Alter ist entscheidend für den Lernerfolg, sondern die Lernkompetenz.» Führungskräfte müssen als eigentliche Lernpromotoren auftreten, sie müssen in dieser Beziehung eine Vorbildfunktion übernehmen. Sie müssen von ihrem Weiterbildungsangebot wirklich überzeugt sein und auch selber davon Gebrauch machen. Wenn die betriebliche Weiterbildung entsprechend in einem Unternehmen verankert ist, kann enorm viel bewegt werden. Die deutsche Softwarefirma Datev entwickelte ein spezielles Evaluationsverfahren, bei dem Vorgesetzte nicht einfach unpersönliche Auswertungsbogen ausfüllen, sondern gemäss präzisen Vorgaben der Weiterbildungsabteilung Rückmeldungen geben, die dann in Nachfolge­ veranstaltungen berücksichtigt werden. 5. Weiterbildung muss ein neues Selbstverständnis annehmen Aus all dem vorher Gesagten folgt zwangsläufig, dass in Zukunft die Weiterbildung eine veränderte Rolle einnehmen muss. Lernsettings konsequent auf eine umfassende Kompetenzerweiterung auszulegen, hat Konsequenzen. Weiterbildung ist dann nämlich eingebettet in

Sabine Seufert Assistenzprofessorin in Wirtschaftspädagogik an der Universität St. Gallen Prof. Dr. Sabine Seufert studierte an der Friedrich-Alexan­ der Universität in Nürnberg Wirtschaftspädagogik. Sie habilitierte 2006 zum Thema «Innovationsoriertiertes Bildungsmanagement». Neben ihrer Assistenzprofessur an der Hochschule St. Gallen ist Sabine Seufert Geschäftsführerin des Swiss Centre for Innovations in Learning SCIL. SCIL verfolgt das Ziel, die Aus- und Weiterbildung durch praktische Anwendung neuester Forschungsergebnisse, Methoden und Technologien nachhaltig zu fördern und erfolgreich zu etablieren. Sabine Seuferts Arbeitsschwerpunkte sind: Bildungsmanagement, Wirtschaftspädagogik, E-Learning, Learning Communities, Knowledge Management und Management Education.

12

BiZE-Report 3


die ganze Unternehmensentwicklung: - Strategieentwicklung: Zur professionellen Organisation von Bildungsangeboten wird das Schwergewicht zunehmend auf die Beratung und die Unterstützung des Transfers gelegt. - Qualitätsmanagement: Es geht nicht nur um die Kontrolle der Massnahmenumsetzung, sondern Strategieausrichtung und Strategieumsetzung werden kontinuierlich verbessert. - Change Management: Die Weiterbildung unterstützt Veränderungen über den punktuellen Service in Projekten mit der Gestaltung von nachhaltigen Lernkulturen. - Learning Design: Es geht nicht nur um Training und Qualifizierung, eine nachhaltige Kompetenzentwicklung erfolgt über formelles und vor allem informelles Lernen. Wenn Unternehmen diese Herausforderungen der betrieblichen Weiterbildung annehmen und in entsprechende Konzepte umsetzen, ist die Frage nach dem Nutzen nur positiv zu beantworten.

BiZE-Report 3

13


Silvano Beltrametti

«Heute schaue ich gern ganz relaxt im Fernsehen zu» Von der Olympiahoffnung zum Querschnittgelähmten und mit kleinen Siegen zurück ins Leben. Silvano Beltramettis Welt geriet durch seinen Unfall in Val d’Isère 2001 jäh aus den Fugen. Heute sagt er von sich, er sei jetzt «einfach rollend unterwegs in der Welt», die Veränderung habe ihm viel Positives gebracht. Wie findet man aus dem tiefen Loch heraus und wie kann es auch nach schweren Schicksalsschlägen gelingen, wieder Glück und Zufriedenheit zu finden? «Im Sport habe ich gelernt, klare Ziele zu setzen, Niederlagen einzustecken und Lehren daraus zu ziehen. Als 14-, 15-Jähriger wollte ich Olympiasieger oder Weltmeister werden. Ich hatte eine Vision. Die war zwar noch weit weg, aber im Herzen war sie da. Ich sah Heinzer, Zur­ briggen. So wollte ich auch einmal sein. Unbewusst bin ich dann in die Nachwuchsförderung hineingerutscht, wo man lernt, auf solche Visionen hinzuarbeiten, sie hinunterzubrechen auf Jahres-, Monats-, Wochen- und Tagesziele. Dann kam ich in die Junioren-Nationalmannschaft, durfte an der Junioren-Weltmeis­ terschaft und am Europacup teilnehmen und

14

fuhr mit 19 meine erste Saison im Weltcup. Hier habe ich zum ersten Mal gespürt, dass die Vision des Fünzehnjährigen langsam in greifbare Nähe rückte. Die Saison 2000/2001 beendete ich in der Abfahrt als Nummer fünf der Weltrang­liste. Ich wusste: 2002 wird die Olympiade in Salt Lake City eine ganz grosse Rolle für mich spielen. Darauf habe ich hingearbeitet. In die Weltcupsaison 2001/2002 bin ich mit einem 3. Rang im Super-G gestartet und wusste, dass ich in der Abfahrt noch stärker bin. Aber es kam anders: Am nächsten Tag, dem 8. Dezember 2001 bei der Abfahrt in Val d’Isère fand innert Sekundenbruchteilen die

BiZE-Report 3


grosse Veränderung statt. Und zwar mit einem Fahrfehler an einer einfachen Stelle, der mir bei tausend mal Hinunterfahren vielleicht einmal passiert. Aber es brauchte noch weitere unglückliche Zufälle für diesen Schicksalsschlag. Ich habe frontal das Sicherheitsnetz zerschnitten, bin nicht auf die Piste zurückgeprallt, sondern ohne Bremswirkung durch die Absicherung hindurchgeschleudert worden Richtung Wald. Mein Kopf schlug gegen einen Eisenpfeiler und gleichzeitig flog ich noch mit dem Rücken gegen einen Stein. Das führte dazu, dass ich den Rücken brach. Ein brutaler Moment, brutale Stunden.

«Ein Fahrfehler an einer einfachen Stelle veränderte mein Leben.» In Sekundenbruchteilen verliert man alles: Visionen, Ziele, private Inhalte. Das Leben erhält einen absolut anderen Stellenwert. In diesem Moment kann man keine positiven Energien mehr abrufen, man steckt zuunterst im Loch. In einer ersten Phase musste ich in die Vergangenheit zurückschauen und mich damit auseinandersetzen, was nicht mehr möglich war: Ich wusste, dass ich nicht mehr werde skifahren können, dass ich im Privaten nie mehr würde eine Treppe steigen können. Mir wurde bewusst, dass ich vieles wieder neu lernen musste. Darin besteht der erste Schritt in der Veränderung: Man muss wie in einer Trauerzeit dem, was man verloren hat, nachtrauern. Aber es ist auch wichtig, dass man sich vom Alten lösen kann. Was war, ist Geschichte, man muss anfangen sich mit der Zukunft auseinanderzusetzen, obwohl die Zukunft noch ein Rätsel ist. Ich habe nicht gewusst, was auf mich zukommt als Rollstuhlfahrer, als Querschnittgelähmter. Die entscheidende Frage lautete: Was ist jetzt noch möglich nach dieser Veränderung? Für die Veränderung braucht es diesen Blick nach vorne.

«Entweder setzt man sich ein Ziel und sagt sich ‹Ich kann das in zwei Tagen›, oder man gibt sich dem Selbstmitleid hin und es geht gar nichts mehr.» Es braucht aber auch positive Energie, damit der Schritt gelingt: Vom Alten weg, ins Neue hinein. Die positive Energie kriegt man immer dann, wenn man denkt, es könnte noch schlimmer sein. Die bekam ich auf der Intensivstation in Nottwil: Ich hatte bei mir im Zimmer ein 14-jähriges Mädchen, das für ein Leben lang ab dem vierten Halswirbel komplett gelähmt war. Sie wird nie mehr allein essen oder alleine auf die Toilette gehen können. Glauben Sie mir: Wenn man so etwas sieht, hadert man nicht mehr mit seinem eigenen Schicksal. Das war ein Schlüs-

BiZE-Report 3

selerlebnis für mich, um mich neu orientieren zu können. Es braucht in einer Veränderung aber auch schnell wieder neue Visionen, neue Ziele. Als ich in der Reha von der Intensivstation auf die Bettenstation verlegt wurde, hatte ich einen neuen Traum: Wieder glücklich, zufrieden und selbstständig leben zu können. Natürlich war dieser Traum noch sehr weit weg. Aber in dieser Situation war ich ja schon als 15-Jähriger. Diese Erfahrung half: Jahresziele, Monatsziele, Tagesziele! So bestand auch meine Reha in kleinen Zielsetzungen: Zum Beispiel ein T-Shirt anziehen können.

kleine Schritte zurück ins Leben Tipps für die Überwindung von Krisen: Silvano Beltrametti unterscheidet fünf Phasen, die es braucht, damit ein grundlegender Veränderungsprozess gelingen kann: 1. Neuorientierung: Vergangenheit ist Geschichte, Zukunft ein Geheimnis und jeder Augenblick ein Geschenk. «Es war ein Geschenk für mich, zu wissen, dass ich den Oberkörper noch brauchen konnte.» 2. Zielsetzung: Loslassen, herangehen und wieder neue Ziele setzen. «Warte nicht auf den Erfolg, verursache ihn. Früher war mein Motto ‹Go for Gold› heut lautet es: ‹Go for it›. Es gab auch früher viele Momente, an denen ich nicht wieder sechs Stunden trainieren und lernen wollte.» 3. Selbstvertrauen: An die Stärken glauben und sich nicht an den Schwächen orientieren. «Wenn man weiss, dass es einzig und allein auf die nächs­ten zwei Minuten ankommt, um eine Medaille zu holen, dann muss man sich in Erinnerung rufen, was man gut kann. Diese Denkhaltung half mir auch später.» 4. Rückschläge: Aus Niederlagen lernt man siegen, die Erfahrung macht einen stärker. «Es stärkt und verbindet enorm, wenn die Menschen aus dem näheren Umfeld auch in den Niederlagen zu einem stehen. Der Weg zum Erfolg ist meist mit vielen Rückschlägen gepflastert, aus denen man mehr lernt als beim Siegen.» 5. Glücksgefühle speichern: Jedes erreichte Ziel ist ein Geschenk. «Spüre die Emotionen und die Genugtuung, wenn ein Ziel erreicht ist, und nimm den Power in die nächste Herausforderung mit. Das ist etwas, das ich im Sport nicht gelernt habe. Ich habe auf dem Podest schon ans nächste Rennen gedacht.»

15


Dadurch, dass mein Rückenmark im 6. und 7. Brustwirbel zertrennt ist, habe ich keine Rumpfmuskulatur mehr. Ich musste mich aufrecht halten können mit beiden Armen und gleichzeitig ein T-Shirt über den Kopf ziehen. In solch einer Situation hat man genau zwei Möglichkeiten: Entweder setzt man sich ein Ziel und sagt sich ‹Ich kann das in zwei Tagen›, oder man gibt sich dem Selbstmitleid hin und es geht gar nichts mehr.

«Die positive Energie kriegt man immer dann, wenn man denkt, es könnte noch schlimmer sein.» Als ich mein Ziel nach zwei Tagen erreicht hatte, glauben Sie mir, da war ich sehr stolz auf mich; ein kleiner Schritt in die Freiheit. Diese kleinen Glücksmomente waren Treiber für neue Ziele: Es vom Bett in den Rollstuhl zu schaffen, lernen, sich anzuziehen, lernen, die Blase und den Darm in den Griff zu kriegen, die man nicht spürt. Lernen, wieder in ein Auto einzusteigen, den Rollstuhl allein zu verladen. Mobil sein zu können, eigenständig unterwegs zu sein. Diese Veränderungen brauchen Willen. Es gab aber auch Momente, wo es sehr wichtig war, ein gutes Umfeld zu haben. Äng-

ste besprechen zu können, Unterstützung zu haben, zu spüren, dass man nicht allein ist. Nach viereinhalb Monaten, als ich wieder nach Hause konnte, war ich wieder selbstständig, stand aber noch nicht glücklich und zufrieden im Leben. Davon war ich noch weit entfernt. Dazu brauchte es noch viele weitere kleine Puzzlesteine.

«Heute fahre ich mit meinem Monoskibob mit meinen Freunden wieder schwarze Pisten hinunter.» Ich wusste: Ich brauche Sport als Ausgleich. Ich bin aufgewachsen in einer Skiregion. An schönen Wochenenden im Winter daheim zu sitzen und Däumchen zu drehen, das wäre hart gewesen. Doch, du kannst wieder skifahren, sagte ich mir. Ich musste wieder lernen, lernen. Am Anfang bin ich mit dem Monoskibob an einem Babylift zwei Meter gefahren und umgekippt. Das war ein harter Moment. Heute fahre ich mit dem Monoskibob mit meinen Freunden wieder schwarze Pisten hinunter. Im Sommer nutzte ich das Handbiking, um abzuschalten. Zu Hause wusste ich rasch: Ich brauche wieder Aufgaben, die mich auch beruflich fordern. Ich habe im Juni 2002 mit meiner Umschulung angefangen. Ich war gelernter Zim-

Silvano Beltrametti Technischer Kaufmann mit eidg. Fachausweis Verwaltungsrat und Projektleiter GFC Sports Management AG Chur Der Skirennfahrer Silvano Beltrametti (31) hat nach seinem schweren Sturz in Val d’Isère 2001 erstaunlich schnell wieder ins Leben zurückgefunden. Heute arbeitet er bei der GFC Sports Management AG in Chur als Projektleiter für die Vermarktung von Events, ist Geschäftsführer von skionline.ch und OK-Präsident des Weltcups Lenzerheide. Seine Freizeit verbringt er am liebsten mit Monoskifahren im Winter und Handbiken im Sommer. Im September ist er als passionierter Jäger im Bündnerland mit seinem Quad unterwegs. Den Skizirkus verfolgt er gern vom Zielraum aus oder er geniesst es, ganz relaxt im Fernsehen zuzuschauen. Jedes Jahr organisiert Beltrametti ein nach ihm benanntes Skirennen für 600 Kinder auf der Weltcuppiste von Parpan. Er lebt in Valbella und führt zusammen mit seiner Frau Edwina das Berghotel Tgantieni oberhalb Lenzerheide.

16

BiZE-Report 3


Silvano Beltrametti ein Jahr nach dem Unfall an der Unfallstelle. Auch der Glaube spielte für ihn eine starke Rolle. «Ich hätte nicht einen so schweren Rucksack bekommen, wenn ich ihn nicht hätte tragen können.» Heute könne er das Bild ohne grosse Emotionen anschauen.

mermann und Spitzensportler. Beides Berufe, die ich nicht mehr ausüben kann. Ich beschloss: Ich geh zurück und drücke wieder die Schulbank.

«Ich bin froh, habe ich die Umschulung gemacht.» Abendschule Handelsdiplom, kaufmännischer Führungslehrgang, technischer Kaufmann – nach drei Jahren konnte ich mit dem eidgenössischen Fachausweis abschliessen. Gleichzeitig bot sich mir die Möglichkeit, ins Sportmarketing einzusteigen. Bei der GFC Sportmanagement AG, die vorher für mich als Sportler das Management und die Betreuung besorgt hatte. Es war naheliegend einzusteigen, weil ich das ganze Netzwerk im Sport hatte. Wir übernehmen die ganze Betreuung für die Skirennfahrer: Steuern, Versicherung, Sponsoring, Marketing, Medien. Der Beruf war für mich ein wichtiger Bestandteil der Veränderung. Heute, acht Jahre nach dem Unfall kann ich sagen: Ich bin glücklich, zufrieden und selbstständig zurück im Leben. Der Beruf, der Sport, aber auch die Jagd geben mir viel: Ich bin leidenschaftlicher Jäger, die Jagd im Septem-

BiZE-Report 3

ber ist bei uns im Bündnerland heilig. Schon als Sportler konnte ich mich so wunderbar auf die Saison vorbereiten und mich mental stärken. Weit weg vom Alltag draussen sein in der Natur, einen Sonnenaufgang zu sehen, am Morgen den Tieren zuschauen können. Auch der gesellschaftliche Teil ist mir wichtig; mit den Kollegen in der Jagdhütte sein zu können. Es ist klar, es geht nicht mehr gleich wie früher, als ich zu Fuss sehr viel in den Bergen unterwegs war. Ich brauche einen Quad, einen Töff – es gibt sehr viele Hilfsmittel, die einen weit bringen, wenn man sie annimmt. So dass man auch nach einer so einschneidenden Veränderung viele schöne Sachen wieder erleben und geniessen kann. Ich habe gelernt, dass jede Veränderung – auch wenn sie noch so hart ist – sehr viel Positives bringt. Ich gehe heute ganz anders mit Problemen um. Ich bin mir bewusst, dass nichts selbstverständlich ist, nicht einmal ein Händedruck. Und ich bin viel reifer an Erfahrung. Das sind alles Teile von mir, die ich ohne den Unfall nicht bekommen hätte.»

17


Bernhard Weber

Der Mensch als Kapital Wie betrachtet ein Ökonom den Gegenstand der Bildung? Anhand welcher Theorien baut er die Bildung in seine Denkwelt ein? Was tut der Ökonom, damit er die Bildung mit seinem Instrumentarium beschreiben kann? Bernhard Weber führt in die ökonomische Betrachtung der Bildung ein – anhand der Humankapitaltheorie von Adam Smith.

«Die Verbindung zwischen Ökonomie und Bildung bildet die Humankapitaltheorie. Sie wurde in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts etabliert. Die Idee geht aber auf Adam Smith zurück, der schon 1776 die Grundlagen niedergeschrieben hat. Smith ging von den Produktionsfaktoren in der Wirtschaft aus: Maschinen und Menschen. Smith schrieb: Ein Mensch, der Zeit und Arbeit in seine Ausbildung steckt, kann mit einer teuren Maschine verglichen werden. Die Arbeit, die er zu verrichten lernt, müsste eigentlich über seinen üblichen Lohn hinaus einen zusätzlichen Profit abwerfen – mindestens so viel wie dieselbe Investition in eine Maschine. Die Humankapitaltheorie bildet also das Konzept, um die Bildung in die Welt der Ökonomen zu transponieren.

18

Individuen können ihre Möglichkeiten als Konsumenten und Arbeitskräfte erhöhen, indem sie in sich selber ‹investieren›. Jede ökonomische Aktivität, welche die Produktivität des Individuums steigert, kann als Investition in das Humankapital aufgefasst werden: Bildung, Migration, Gesundheit. Vor der Einführung der Humankapitaltheorie galt Bildung einfach als Konsumgut. Das sind zwei unterschiedliche Betrachtungsweisen: Ist Bildung Konsum, konsumiert man davon einfach umso mehr, je reicher man ist. Wenn man Bildung jedoch als Kapital betrachtet, so investiert man so lange, bis der zusätzliche Ertrag nicht mehr den eigenen Erwartungen entspricht.

BiZE-Report 3


«Die Opportunitätskosten sind meist weit höher als die direkten Kosten.» Wichtig dabei ist der Zeitfaktor: Die Kosten der Investition in Bildung fallen heute an, der Ertrag später. Eine noch wichtigere Rolle als die direkten Kosten (Kursgelder, Prüfungsgebühren, Reisekosten) bei der Bildung spielen die Opportunitätskosten. Opportunitätskosten sind Zeitkosten: Der wirtschaftliche Akteur schätzt die Kosten seiner Bildungszeit aufgrund dessen, was er in dieser Zeit sonst leisten könnte. Für den Einzelnen sind diese Opportunitätskosten meist weit höher als die direkten Kosten: Wer beispielsweise nach der Berufslehre eine höhere Ausbildung macht, verzichtet in dieser Zeit darauf, zu arbeiten und einen entsprechenden Lohn zu beziehen. Für die Unternehmen bestehen die Opportunitästkosten der Weiterbildung der Mitarbeitenden im Ausfall an Produktivität. Als dritte Kategorie kommen noch die subjektiven Kosten hinzu: Nicht jedem fällt das Lernen gleich leicht, es braucht Zeit und Energie. Man empfindet Bildung als unterschiedlich kostspielig.

an der Weiterbildung beteiligen, hängt also ganz davon ab, ob sie einen Ertrag erwarten können oder nicht. Dem Staat kommt in diesem System die Rolle zu, die Rahmenbedingungen zu setzen und allfällige Anreize für Investitionen ins Humankapital zu schaffen. Zum Beispiel, indem er Steueranreize für die Bildung vorsieht.

«Im Sinne der Humankapitaltheorie müsste die staatliche Unterstützung auch wirklich etwas bringen.» Höherqualifizierte Berufsleute haben eine weit tiefere Arbeitslosenquote ≥ siehe Grafik 1 S. 21 und verdienen deutlich mehr als schlecht qualifizierte Arbeitskräfte. Die Einkommensschere zwischen schlecht und gut Ausgebildeten hat sich vergrössert ≥ siehe Grafik 2. Beides zeigt deutlich, wo die Wirtschaft den grössten Bedarf hat: Die Reise geht ganz klar in die Richtung der höheren Qualifikationen. Deshalb lohnen sich

«Bildung führt zu höherer Produktivität, höherem Einkommen.»

Wieso wird die Weiterbildung immer wichtiger?

Auf der Ertragsseite steht den Bildungskosten natürlich auch ein entsprechender Nutzen gegenüber. Bildung führt zu höherer Produktivität, höherem Einkommen. Wie viel mehr, das ist allerdings schwer zu beziffern: «Was hätte ich verdient, wenn ich diese Ausbildung nicht gemacht hätte?» oder «Wie viel mehr kann ich verdienen, wenn ich diese Weiterbildung mache?» – das sind hypothetische Fragen. Natürlich bedeutet Bildung auch eine Erweiterung des Horizonts und mehr Lebensqualität, aber in die empirische Betrachtung der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung fliesst nur das Erwerbseinkommen hinein. Das ist zugegebenermassen eine Vereinfachung. Der Genuss von Weiterbildung, der Nutzen, ist nur insofern ein Ertrag, wenn er sich tatsächlich in der Produktivität niederschlägt. Bei einem flüchtigen, kurzfristigen Genuss, ist das dann wieder nur Konsum. Die Hauptakteure der Bildung sind die Individuen. Auch die Arbeitgeber können natürlich ein Interesse an Bildung haben. Ihre Nutzenargumentation verläuft in der Regel so: «Ich zahle dir die Weiterbildung, aber dann darfst du später nicht kommen und sagen; ich will jetzt auch den Lohn, den ich mit dieser Bildung andernorts verdienen würde. Sonst geht für mich die Rechnung nicht auf.» Der Arbeitgeber will einen bestimmten Anteil am Ertrag, den die Weiterbildung abwirft. Teil des impliziten Vertrages wird beispielsweise sein: Bleiben Sie drei Jahre bei mir, bei gleichem Lohn. Ob sich Arbeitgeber

Folgende Megatrends bewirken eine Bedeutungszunahme für die Weiterbildung:

BiZE-Report 3

Rascher technologischer Wandel: Zwar gab es auch schon früher Strukturwandel und technologische Innovationen. Der Konsens ist jedoch, dass die Umwälzungen gegenwärtig ‹rascher› stattfinden. Verstärkte internationale Arbeitsteilung: Durch die Globalisierung verschwinden schlecht qualifizierte Arbeitsplätze, wir müssen uns auf die Arbeitsprozesse konzentrieren, bei denen gut qualifizierte Arbeitskräfte benötigt werden. Demografische Alterung: Die Erwerbsbevölkerung altert, die Menschen arbeiten länger, das führt zu der Frage: Wie lernt eine alternde Gesellschaft dazu? Unternehmen holen sich neues Wissen und Innovationen direkt von den Universitäten, eine alternde Gesellschaft muss sich das neue Wissen selber hinzufügen. Die Folgen sind: - Raschere Entwertung des Wissens - Wachsende Nachfrage nach höheren Qualifikationen - Erfordernis der beruflichen Flexibilität - Bedarf zum Erhalt der Arbeitsmarktfähigkeit im Alter Ein Teil der Lösung: - Lebenslanges Lernen als fortwährender Prozess - Selbstdisziplin

19


in vielen Fällen Investitionen aus der Sicht der privaten Akteure. Hier besteht kein staatlicher Handlungsbedarf. Es gibt aber verschiedene Marktversagen. Der reine Markt funktioniert in Bezug auf die Weiterbildung insbesondere in folgenden Bereichen nicht optimal: - Fehlende Liquidität: Nicht immer haben Individuen genügend flüssige Mittel, um an Weiterbildungen teilzunehmen. Sie bekommen meist auch keinen Kredit dafür. Das Investment ist zu riskant. - Mangelnde Risikobereitschaft / Risikofähigkeit: Investitionen sind immer an Erwartungen gekoppelt. Es besteht aber immer das Risiko, dass die Erwartung auf zusätzliches Einkommen nicht eintreffen wird. Dann kommt es darauf an, wie risikoscheu ein Individuum ist. Der Staat kann solche kollektiven Risiken besser tragen. - Negative Anreize aus dem Sozial- und Steuersystem: Es kann sein, dass der Staat mit den Anreizen, welche er mit seinen Regeln setzt, die Individuen davon abhält, an Weiterbildung zu partizipieren. Beispiel: Das Einkommen aus der Arbeitslosenversicherung fällt auch ohne Weiterbildung an, der Anreiz fehlt. - Fehlende Markttransparenz: Es gibt das Argument, dass der Weiterbildungsmarkt intrans-

parent sei. Weil es besonders schwierig ist, sich in der Weiterbildungslandschaft zu orientieren, bestehe ein Handlungsbedarf für den Staat. Diese Marktversagen können dazu führen, dass sich vor allem die bildungsfernen Schichten zu wenig weiterbilden ≥ siehe Grafik 3, 4. Mit diesem Argument lassen sich die Forderungen nach einer weitergehenden staatlichen Unterstützung für diese Schichten begründen. In diesem Zusammenhang stellen sich aber zwei wichtige Fragen: Erstens: Welche staatlichen Massnahmen sind tatsächlich dazu geeignet, die Weiterbildungsbeteiligung zu erhöhen? Zweitens: Welche Lernaktivitäten sind für diese Gruppe auch effektiv? Im Sinne der Humankapitaltheorie müsste die staatliche Unterstützung auch wirklich etwas bringen. Sonst lässt sich auch mit staatlichen Massnahmen die Einkommensverteilung der bildungsfernen Schichten nicht verbessern. Das Hauptproblem liegt in der Motivation: Wenn auch eine Mehrheit der Gesellschaft möchte, dass bildungsferne Schichten Weiterbildung betreiben, so zeigen Umfragen dennoch, dass das Interesse der Betroffenen dafür nicht riesig ist.»

Bernhard Weber Stellvertretender Ressortleiter im Staatssekretariat für Wirtschaft Seco Bernhard Weber arbeitet beim Seco, dem Staatssekretariat für Wirtschaft des Bundes. Das Spezialgebiet des stellvertretenden Ressortleiters im Ressort Arbeitsmarktanalyse und Sozialpolitik ist die Arbeitsmarktbeobachtung. Unter anderem hat er über die Jugendarbeitslosigkeit und die Beschäftigungsfähigkeit älterer Arbeitnehmender geforscht und publiziert. Weber beschäftigt sich aber aus volkswirtschaftlicher Optik auch eingehend mit Bildungs- und Migrationsfragen, etwa der Frage nach der Bildungsrendite oder der Zulassungspolitik im neuen Ausländergesetz. Innerhalb der Bundesverwaltung nimmt Weber Stellung zu verschiedenen Bildungsprojekten. Unter anderem ist er Mitglied im Leitungsausschuss Berufsbildungsforschung. Er hat Politikwissenschaften studiert.

20

BiZE-Report 3


Grafik 1 Erwerbslosigkeit nach Qualifikation

Grafik 2 Monatslohn nach Anforderungsniveau

8

12 000 7.4

+17%

7

10 000

6 8 000

5

+6% 3.9

4

6 000

3

+11% +9%

2.7

4 000

2 2 000

1 0

Sekundarstufe I

Sekundarstufe II

0

Tertiärstufe

Berufskenntnisse erforderlich

einfach und repetitiv 1996

2006

Lesebeispiel: Die Höchstqualifizierten haben am wenigsten Probleme, sich auf dem Arbeitsmarkt zurechtzufinden.

Lesebeispiel: Die Löhne für höchst anspruchsvolle Arbeiten sind weit überproportional gestiegen.

Grafik 3 Weiterbildungsquoten nach Ausbildung

Grafik 4 Weiterbildungsbeteiligung Erwartete Stunden in nicht formaler, beruflicher Bildung im Lebenslauf von 25-64 Jahren, nach Ausbildungsstufen (2003)

Berufsorientierte nicht formale Weiterbildungsaktivitäten in % 80

1 400

70

67.6

69.8

1 200

60

1 000

50.2

50

800

40.1

40

669 600

30

210

200

obligatorische Schule Quelle: BFS, SAKE 2008

Sek. II: Sek. II Höhere Berufsbildung Allgemeinbildung Berufsbildung

0

Hochschule

1996

2006

Lesebeispiel: Hochschulabsolventen bilden sich fast 5-mal häufiger informell weiter als Personen mit nur obligatorischer Schulbildung. Je höher die Ausbildung, desto höher die Weiterbildungsbeteiligung.

BiZE-Report 3

621

371

400 14.5

10 0

seldstständig und qualifiziert

Quelle: BSF, LSE (1996, 2006)

Quelle: BFS (SAKE)

20

höchst Anspruchsvoll

Deutschland Quelle: OECD, 2008

OECD (21 Länder)

212

Schweiz

Obligatorische Schule

Frankreich Sekundarstufe II

Dänemark Tertiärstufe

Lesebeispiel: Bei bildungsfernen Schichten (nur obligatorischer Schulabschluss) steht die Schweiz bei der Weiterbildungsbeteiligung international nicht an der Spitze.

21


Benjamin Künzli

«Unsere Mitarbeitenden profitieren auch für ihr Privatleben» Wissen ist wichtig: Die Unternehmen sprechen heute von «Talent Management» und «War of Talents», wenn es darum geht, sich die fähigsten Mitarbeitenden zu sichern. Doch wie profitieren das Unternehmen und die Mitarbeitenden selbst ganz konkret von Anstrengungen zur Ausbildung und Entwicklung? Benjamin Künzli von ABB hat überraschende Antworten parat.

Der Bereich Ausbildung und Entwicklung (Learning & Development, L&D) hat in der ABB-Gruppe traditionell einen sehr hohen Stellenwert. 2003 startete ABB beispielsweise ein Ausbildungsprogramm mit dem Ziel, die Persönlichkeits-, Sozial- und Methodenkompetenzen von 50 000 Mitarbeitenden zu erweitern: Bisher haben 34 000 Leute den dreitägigen Kurs des sogenannten «Start Leadership Challenge Programme» absolviert. Das Programm setzte zu einem Zeitpunkt ein, als die existenzielle Krise von ABB noch keineswegs überwunden war. Für Künzli unterstreicht das, welche zentrale Bedeutung ABB der Weiterbildung beimisst: «Ich habe

22

noch nirgends gesehen, dass in einer Krise ein solches Ausbildungsprogramm mit diesen Themen gestartet wurde.» Für Benjamin Künzli war dieses Bekenntnis zur Mitarbeiterförderung ein mitentscheidender Grund, um von einer Bank zur ABB zu wechseln. Die ABB ist auch in der jetzigen Krise nicht auf die Kostenbremse getreten; das Budget für Ausbildung und Entwicklung blieb im Krisenjahr 2009 gleich wie in den beiden guten Vorjahren. Die Dienstleistungen seines Teams (siehe Kasten Seite 24) werden sehr gut nachgefragt, auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten: Die Laufbahnberatung hat ganz klar zugenommen,

BiZE-Report 3


auch die Konfliktvermittlung wird mehr nachgefragt. Auf die Frage, wie denn das Unternehmen ABB und seine Mitarbeitenden ganz konkret vom Bereich Ausbildung und Entwicklung profitieren, antwortet Benjamin Künzli wie folgt: Müssen die Dienstleistungen, welche ihr Bereich erbringt, für das Unternehmen ABB eine Rendite abwerfen? Wir sind Teil einer ökonomischen Organisation, der Nutzen, welchen wir für das Unternehmen stiften, muss deshalb ein ökonomischer sein. Ich gehe aber nicht davon aus, dass man den Nutzen meiner Arbeit quantifizieren kann. Der Nutzen ist ein qualitativer: Es ist wichtig, dass ein Unternehmen heute die richtigen Wissensträger akquirieren und das so vorhandene Wissen auch richtig nutzen und weiterentwickeln kann. Gut qualifizierte Leute wählen ihren Arbeitgeber insbesondere auch nach dem Kriterium aus, was ihnen in Sachen Ausbildung und Entwicklung geboten wird. Wenn es uns zu vermitteln gelingt, dass wir ein gutes, professionelles, faires Angebot haben, das sie weiterbringt, dann erhöhen wir die Chance, dass wir die für unser Unternehmen wertvollen Mitarbeitenden gewinnen können.

BiZE-Report 3

Und danach? Sind die Leute einmal angestellt, muss das Unternehmen auch in der Lage sein, das eingebrachte Wissen wirklich zu nutzen. Zentral dabei ist, dass das Personal sich austauschen und vernetzen kann, auch über angestammte Disziplinen und kulturelle Unterschiede hinweg. Mit Teamworks, Workshops und Intervisionsgruppen können wir den Leuten aufzeigen, wie sie die anspruchsvolle Aufgabe der Vernetzung konkret bewältigen können. Eine weitere wichtige Funktion von L&D besteht darin, die einzelnen Abteilungen dabei zu beraten, wie sie ihre Wissensträger gezielt weiterentwickeln, zum Beispiel via Potenzialabklärungen oder Laufbahnberatungen. Es gilt, den Leuten aufzuzeigen, wie sie ein für sich stimmiges Bild ihrer weiteren Entwicklung bei ABB zeichnen können.

«Wir können den Kadern in Führungskursen aufzeigen, wie sie ihr Mehr an Macht verantwortungsvoll interpretieren.» Nicht immer entspricht die Arbeitsrealität aber wohl den Wünschen des Einzelnen. Was können Sie beitragen, wenn es zu Konflikten kommt?

23


Die Hoffnung und Erwartung eines Unternehmens besteht natürlich darin, dass die Mitarbeitenden einen ökonomisch-rationalen Beitrag zum Unternehmenserfolg leisten. Wenn irrationale Faktoren hineinspielen und die ökonomische Rationalität beschränken, etwa bei Konflikten oder emotionalen Schwierigkeiten, kann man diese Begrenzungen abfedern, indem man Psychologie anwendet. Der Harvard-Professor und Soziologe Elton Mayo hat schon in den 1930er-Jahren gezeigt, dass Unternehmen ihr Personal zu mehr Produktivität anhalten können, wenn sie die Menschen als Menschen behandeln. Beispielsweise indem sie den Verlust an Energie bei Konflikten mit Hilfe der Psychologie vermindern. Zu einem schönen Teil besteht unsere Arbeit also auch in der Vermittlung von angewandter Psychologie. Die Ausbildung und Entwicklung muss ja auch auf die Strategie und die Unternehmenskultur abgestimmt sein. Was können Sie hier leisten? Die Einsicht in die Bedeutung der ‹richtigen› Unternehmenskultur ist gewachsen. Sie fliesst etwa in Leitbilder oder Führungsgrundsätze ein. L&D unterstützt, beispielsweise in Workshops, beim Entwickeln und Vermitteln der festgelegten Werte und Normen. Hier können

wir für uns in Anspruch nehmen, dass wir darin eine grosse Erfahrung haben, und besonders wichtig; dass wir das Unternehmen als lebendigen Organismus wahrnehmen, in welchem diese Werte und Normen sowohl für das Ganze wie auch für den Einzelnen eine bedeutende Rolle spielen. Vom mechanistischen Aufzwingen einer bestimmten Kultur halte ich nichts. Wie steht es um das Verhältnis von oben und unten, wie begegnet ABB der Ohnmacht des Einzelnen über die Entscheide der Führungsriege? Bei der ABB gibt es lediglich vier Hierarchiestufen. Bei der Bank, bei welcher ich vorher gearbeitet hatte, waren es 13! Trotzdem gibt es natürlich Leute, die deutlich mehr Macht haben als andere. Der Umgang mit solchen Machtdifferenzen ist heute aber ein anderer, als das noch vor 20 Jahren der Fall war. Wir können dabei behilflich sein, diejenigen Führungskräfte auszuwählen, welche mit ihrer Macht sozialverträglich umgehen. Und wir können den ausgewählten Kadern in Führungskursen aufzeigen, wie sie ihr Mehr an Macht verantwortungsvoll interpretieren. Wir helfen auch, Fragen zu klären wie: Was ist sozial und kulturell erwünscht, welche Führung ist gefordert und wird entsprechend belohnt?

Benjamin Künzli Psychologe Leiter Ausbildung und Entwicklung ABB Zentraleuropa Dr. Benjamin Künzli ist Psychologe und besitzt einen MBA der Strathclyde University. Er arbeitet bei ABB Schweiz als Head Learning & Development der ABB-Region Central Europe. Sein Zuständigkeitsfeld reicht geografisch von Belgien im Westen bis an die Ostspitze der Ukraine – die Einheit ABB-Zentraleuropa umfasst rund 25 000 Mitarbeitende. Benjamin Künzli leitet in einem Zweiergremium ein Team von rund 40 Trainern, Beraterinnen, Moderatoren und Learning&Development-Verantwortlichen. Dieses Team bietet zusammen mit externen Trainerinnen und Moderatoren u.a. folgende Dienstleistungen an: Management-Development-Programme, mehrtägige Kurse (bspw. für Sozial-, Persönlichkeitsund Methodenkompetenzen), Einzelberatungen (Führungscoachings, Laufbahnberatungen), Teamentwicklungen, Konfliktvermittlung, Organisationsentwicklung/ Change Management und Workshops zur Strategieentwicklung.

24

BiZE-Report 3


Ausbildung und Entwicklung werden heute auch bei der Organisationsentwicklung und im Change Management immer wichtiger. Wie sehen Sie Ihre Rolle bei Veränderungsprozessen? Die Umwelt verändert sich laufend, es kommen immer wieder neue ManagementModen und -Methoden zum Tragen. Das hat zur Folge, dass sich das Unternehmen ständig anpassen muss. Die Adaption an diese sich verändernden Bedingungen ist entscheidend für den Erfolg des Unternehmens. Wir werden von Anfang an in grössere Change-Projekte einbezogen: Wir bereiten die Leute auf ihre neuen Aufgaben vor, machen Konfliktvermittlung, können zeigen, wie man mit Widerständen umgehen kann. Wir leisten also auch einen Beitrag dazu, grössere Veränderungsprozesse ökonomisch effizienter durchziehen zu können. Das Unternehmen profitiert also qualitativ in vielerlei Hinsicht. Welche Bedeutung hat Ihre Arbeit aber für die Mitarbeitenden selbst? Zuerst einmal sind wir unseren Mitarbeitenden dabei behilflich, ihren Arbeitsalltag erfolgreich zu gestalten. So, wie sie sich das wünschen und erhoffen. Darüberhinaus profitieren sie aber auch für ihr Privatleben; beispielsweise, wenn sie Persönlichkeits- und Sozialkompetenzen weiterentwickeln, aber auch dann, wenn sie im privaten Bereich davon profitieren, dass sie innerhalb des Unternehmens eine bessere Position erreichen. Wir fördern also nicht nur das, was für das Unternehmen ökonomischtechnologisch verwertbar ist.

«Der Harvard-Professor und Soziologe Elton Mayo hat schon in den 1930er-Jahren gezeigt, dass Unternehmen ihr Personal zu mehr Produktivität anhalten können, wenn sie Psychologie anwenden.»

Verhalten bei ABB erwünscht ist und belohnt wird. Diese Transparenz hilft ihnen, zu entscheiden, ob sie das wollen. Viele Angestellte sehen einen Zielkonflikt zwischen Selbstverwirklichung und Integration in einem Unternehmen. Wie gehen Sie damit um? Selbstverwirklichung ist zu einem hohen Wert geworden. Sie funktioniert aber nur, wenn ich im Austausch bleibe mit anderen Menschen, wenn ich dafür sorge, dass ich von anderen profitieren kann. Der Sich-selbst-Verwirklichende ist also trotzdem auch angewiesen auf Integration. Auf ein Arbeitsverhältnis bezogen bedeutet das, dass ich in einem Dilemma stehe: Ich muss mich einerseits selbst behaupten können, gleichzeitig muss ich aber auch imstande sein, mit anderen Menschen zusammenzuarbeiten. Hier sehen wir es als unsere Aufgabe an, die Menschen dabei zu unterstützen, mit diesem Dilemma möglichst erfolgreich umzugehen. Wir tun dies auch hier wieder, indem wir Ansätze aus der Psychologie in die Führungsausbildung integrieren, zum Beispiel die Grundsätze der themenzentrierten Interaktion. Ich hoffe, dass es uns gelingt, den Leuten zu vermitteln, dass sich der Sinn unserer Ausbildungsprogramme nicht auf die berufliche Verwertbarkeit reduzieren lässt, sondern dass sie auch für ihre persönliche Entwicklung viel profitieren können.

Die ABB-Gruppe im Überblick Die ABB-Gruppe stellt Güter zur Produktion und zur Verteilung von Energie sowie der Verbesserung der Energieeffizienz her. Zu den weiteren wichtigen Geschäftsfeldern gehören auch die Automation und die Robotik. Bestellungseingang 2008: 38.3 Milliarden US$ Umsatz 2008: 34.9 Milliarden US$ Hauptsitz: Zürich-Oerlikon Ungefähr 120 000 Mitarbeitende in rund 100 Ländern

Das klingt jetzt etwas sehr uneigennützig. Unsere Aufgabe sehe ich auch darin, den Menschen Hilfestellungen zu bieten, damit sie mit der zunehmenden Dynamik, der steigenden Komplexität und dem stärker werdenden Druck, denen sie ausgeliefert sind, lösungsorientiert umgehen können. Das scheint mir wichtig. Wir unterstützen die Mitarbeitenden nicht nur bei der Auswahl, der Aneignung und dem Anwenden von Wissen, sondern auch, wenn es darum geht, sich über die richtige Gestaltung ihrer beruflichen Zukunft klar zu werden. Beides, Anpassungsfähigkeit und Zielorientierung, verbessert sowohl ihre interne als auch die externe Arbeitsmarktfähigkeit. Wir helfen den Menschen auch, indem wir ihnen klar vor Augen führen, welches

BiZE-Report 3

25


Anton Hügli

Für das Leben lernen wir – was heisst das? Menschen zeichnen sich darin aus, dass sie Ansprüche an sich selber stellen: Sie wollen etwas aus sich machen, fühlen sich zu Besserem fähig und zu Besserem berufen. Mit diesen Ansprüchen beginnt das, was wir Bildung nennen. Der emeritierte Philosophieprofessor Anton Hügli regt dazu an, über unser Verhältnis zu uns selbst, das jeder Bildung und Weiterbildung zugrunde liegt, etwas grundsätzlicher nachzudenken.

«Falls Ihr Enkel oder Urenkel Sie fragen sollte, warum er eigentlich zur Schule gehen müsse, werden Sie ihm, nehme ich mal an, die wohl übliche Antwort geben: Damit du später etwas werden kannst, Astronaut zum Beispiel oder Lokomotivführer oder was immer der Kleine gerade werden will. Und später heisst, wenn die Schule fertig ist und das so genannte Leben beginnt. Und damit sind wir schon bei der Formel im Vortragstitel ‹Für das Leben lernen wir› oder wie die Römer zu sagen pflegten: ‹non scholae, sed vitae discimus›. Aber was heisst hier ‹Leben›? Leben gibt es schliesslich in verschiedensten Variationen

26

und Versionen: vom Privatleben und Berufsleben über das öffentliche Leben und politische Leben bis hin zum Liebesleben und zum Nachtleben. Und viele dieser Leben kennen noch einmal zahllose Varietäten, wenn wir nur an das Berufsleben denken: Leben als Banker, Informatiker, als Hausmann und Lokomotivführer usw. Für welches dieser vielen Leben hat Hänschen zu lernen? Früher, das heisst mindes­ tens bis zur französischen Revolution, gab es eine von Gott gewollte hierarchische Ordnung, in der die Geburt bestimmte, was aus Hänschen überhaupt werden konnte: ein Bauer und Leibeigener, ein Kaufmann in einer Stadt oder ein Fürst

BiZE-Report 3


oder König. In dieser Welt wusste jeder, was es zu lernen galt – falls es überhaupt etwas Nennenswertes zu lernen gab, das nicht auch schon das Leben selber lehrte. Man trat als Sohn in die Fussstapfen des Vaters und als Mädchen in die der Mutter. In einem freiheitlich liberalen Staat mit gleichen Freiheitsrechten für alle sind wir, zumindest rechtlich gesehen, als Individuen freigesetzt: Der Idee nach steht allen alles offen, und jeder und jede muss sich den Lebensweg selber wählen. Dies hat Folgen für das Lernen. Da Hänschen oder besser Hänschens Eltern die spätere Wahl von Hans nicht kennen, gibt es kein bestimmtes Leben, für das Hänschen lernen könnte. Wie aber bereitet man Hänschen auf dieses – ihm und uns allen – unbekannte Leben vor?

«Je nachdem, wo man am Ende der Schule ankommt, entscheidet sich, für welches Leben man sich entscheiden kann.» Das Bildungswesen unserer Gesellschaft gibt eine Antwort auf diese Frage. Statt die Kinder gleich in das Leben zu schicken, hat man zwischen Familie und so genanntem Leben eine Brückenstation eingebaut, einen Ort, an dem man von der einen Transportlinie auf andere umsteigt. Diese Brückenstation ist die Schule. Sie vermittelt die Anschlüsse zwischen der Familie und den anderen gesellschaftlichen Bereichen. Und mit den ihr eigenen Selektionskriterien ermöglicht sie bestimmte Karrieren oder verhindert sie. Je nachdem, wo man am Ende ankommt in dieser Brückenstation, entscheidet sich, für welches Leben man sich überhaupt noch entscheiden kann. Sicherheit hat man allerdings nie. Karriereverläufe waren immer schon eine unsichere Angelegenheit – denn es kann immer auch anders kommen, und in unserer Zeit der Globalisierung und der globalen Krise ist die Unsicherheit noch gewachsen. Karrieren sind kaum mehr planbar und voraussagbar, die Anschlussfähigkeit daher immer wieder neu gefragt nach Stellenwechsel, Umschichtungen und Fusionen, Abstürzen in die Arbeitslosigkeit, Berufs- und Ortswechsel usw. Das Leben liegt nicht in der Zukunft, sondern in der Gegenwart Allen bisherigen Vorstellungen von Lernen ist eines gemeinsam: Immer ist das Lernen das eine, das Leben das andere. Man lernt heute – für morgen, für neue Anschlüsse. Das Leben, das kommt erst. Ich lerne, damit ich den Anschluss nicht verpasse und den Situationen, die auf mich zukommen werden, gewachsen bin. Dies ist das Schulmodell von Hänschen klein.

BiZE-Report 3

Das Lernen besteht zumeist darin, dass man andere etwas mit sich machen lässt. Aber das Leben, das wir in jedem Fall zu leben haben, kommt nicht erst, es findet schon statt: Dort, wo wir selber sind. In der Gegenwart nämlich, im Hier und Jetzt, in der Kluft zwischen Vergangenheit und Zukunft, in der sich jeweils entscheidet, ob und wie es mit uns weitergehen soll. Wenn wir tatsächlich etwas fürs Leben lernen wollten, wäre es nicht ein Lernen, bei dem es darum geht, später einmal etwas zu können, sondern – auf die richtige Weise gegenwärtig zu sein. Das mag zwar kryptisch klingen, aber klar ist: Es müsste von anderer Art sein als das Lernen, von dem wir bisher gesprochen haben. Wenn wir auf das achten, was unsere Gegenwart bestimmt, stellen wir fest: Wir sind immer auf etwas aus: Ich verfolge bestimmte Absichten, habe einen Vorsatz, einen Zweck vor Augen, und versuche, diese Absicht zu realisieren, diesen Zweck zu erreichen. In dem Masse, in dem ich mich selbst erfahre als Aktivität, als Ursprung von Handlungen, kann mir auch bewusst werden, dass es an mir liegt, auf mich ankommt, wie es weitergeht mit mir und der Welt, auf die ich Einfluss nehmen kann. Ich allein trage die Verantwortung und habe darum auch mir und andern gegenüber Red und Antwort zu stehen für das, was ich tue oder lasse, für das Gelingen und Misslingen. Zwei Fragen stehen dabei im Vordergrund: Tue ich auch das Richtige? Und will ich das wirklich Wichtige? Vom Richtigen und vom Vorrang des Wichtigen Was das Richtige ist, hängt von dem ab, was ich mir zu tun vorgenommen habe. Wer etwas will, für den wird es plötzlich wichtig, was er nun als Nächstes tut. Wer z.B. verreisen will, für den ist es nun wichtig, ob er schon vor der Abreise Geld und Ausweise eingesteckt und seine Koffer richtig gepackt hat. Es gibt eine Logik des Verreisens, und diese diktiert die einzelnen Schritte, die zu tun sind, wenn das Unternehmen zum Ziel führen soll. Dies gilt aber letztlich für jede Art von Aktivität, die zweckgebunden ist.

Wir müssen auf die richtige Art gegenwärtig sein, wenn wir tatsächlich etwas fürs Leben lernen wollen. Wie aber kommt die Frage nach dem wirklich Wichtigen ins Spiel? Wir merken es am deutlichsten, wenn wir realisieren, dass es nicht nur einen einzigen Ruf gibt, der an uns ergeht, sondern unzählige solcher Rufe. Jenem, der verreisen will, könnte plötzlich einfallen, dass es vielleicht noch etwas Wichtigeres gäbe als seine Reise, z.B. den längst versprochenen Artikel fertig zu stellen, einen Weiterbildungskurs oder seine kranke Mutter zu besuchen.

27


Was nun von alledem ist das wirklich Wichtige? Wer vor dieser Frage steht, kann vielleicht geneigt sein, die Antwort auf die gleiche Art finden zu wollen wie bei der Frage nach dem jeweils Richtigen: indem er sich nach einer Instanz ausserhalb seiner selbst, einer vorgegebenen Ordnung der Dinge, einer besonderen Autorität, einem höhern Wesen oder dergleichen mehr umsieht, welche ihm die Antwort geben könnten. Am Ende aber muss ich mir eingestehen, dass es nur eine Instanz gibt, welche die Frage beantworten kann, was denn das für mich wirklich Wichtige sei. Diese Instanz bin ich selbst. Ich selber (das aktive Prinzip in mir) muss sagen, was ich nun eigentlich will. Dies aber ist nicht zu haben, ohne dass ich gewisse (ideale) Ansprüche an mich selber stelle.

«Nur eine Instanz kann entscheiden, was für mich wichtig ist: Diese Instanz bin ich selbst.» Die Ansprüche, die von unseren Idealen ausgehen, stellen uns vor drei Herausforderungen. Eine intellektuelle: zu bestimmen, worin das wirklich Wichtige überhaupt besteht; eine emotionale: sich innerlich an das wirklich Wichtige (und nicht an das Überflüssige) zu binden,

eine praktische: in der Lage zu sein, sein Leben auf das wirklich Wichtige auszurichten. Gegenwärtig werden in der Gegenwart heisst: sich diesen drei Herausforderungen zu stellen. Kann man dies auch lernen? Falls Sie Zweifel daran haben sollten, will ich gerne daran erinnern, dass es dieses Lernprogramm längst schon gibt – es gehört zu den ältesten des abendländischen Denkens. Sein Ursprung liegt in der antiken Philosophie, genauer, bei Sokrates und den platonischen Dialogen. Philosophieren als Weg zum Gegenwärtig-Werden in der Gegenwart Die Antike hatte einen eigenen Begriff für das, was ich das Gegenwärtigsein in der Gegenwart genannt habe: Es ist der Begriff der ‹epiméleia heautou›, der ‹cura sui›, wie dann die Römer sagen, und der im Deutschen mit Selbstsorge, Sorge für oder um sich selbst wiedergegeben wird. Selbstsorge heisst, durch Philosophie und tägliche Übungen dafür zu sorgen, dass der steuernde Teil in uns in der Lage ist, das zu bestimmen, worauf es in unserem Leben ankommt. Exemplarisch für dieses Vorgehen ist Platons Dialog ‹Alkibiades I›. In diesem Dialog geht es um eine Begegnung zwischen Sokrates und Alkibiades, einem schönen und reichen, über alle Massen begabten, aber zutiefst ehrgeizigen

Anton Hügli Emeritierter Philosophieprofessor Dr. phil. Anton Hügli ist ehemaliger ordentlicher Professor für Philosophie und Pädagogik an der Universität Basel und als solcher war er Vorsteher der Abteilung Pädagogik der Universität Basel. Zu seinen Spezialgebieten zählen die philosophische und pädagogische Anthropologie, Bildungs- und Erziehungsphilosophie; Pädagogik und Lehrerbildung. Von 2001–2008 war Anton Hügli Präsident der Schweizerischen Maturitätskommission.

28

BiZE-Report 3


und machthungrigen Jüngling, der sich soeben anschickt, in das öffentliche und politische Leben einzutreten. Alkibiades, der sich berufen fühlt, Macht auszuüben über andere, muss im Gespräch mit Sokrates erkennen, dass er selber der Führung bedarf. Was ihm fehlt, ist das, was Sokrates Selbstsorge nennt. Selbstsorge beginnt immer mit Selbsterkenntnis. Nur – wie stellt man dies an, sich selbst zu erkennen? Die Antwort, die uns Sokrates im ‹Alkibiades› gibt: So wie unser Auge sich nur in einem Spiegel sehen kann, so erkennen auch wir uns nur, wenn wir uns in etwas spiegeln können. Und dieser Spiegel ist der Andere, oder genauer, das vorbehaltlose und offene Gespräch mit dem andern, ein Gespräch von der Art, wie Sokrates es mit Alkibiades führt: Ich spiegle mich in dem Masse, in dem ich mich den prüfenden Fragen meines sokratischen Gegenübers stelle und mit Gründen und Gegengründen Rechenschaft zu geben versuche über das, was ich selber für das Wichtigste und Beste ansehe. Vernunft zeigt sich in nichts anderem als eben darin: dass man Gründe zu geben und Gründe einzufordern weiss, ‹logon didonai› sagt Sokrates dafür. Durch ein solches Gespräch kann mir bewusst werden, dass es letztlich immer auf mich selbst ankommt, weil das Gespräch anders nicht weitergeht. Jede Frage, der ich mich stelle, ist im Grunde von dieser Art: Ist es nun eigent-

BiZE-Report 3

lich so oder so? Ja oder Nein? Und ich muss mich entscheiden – allenfalls auch zu dem Eingeständnis, dass ich es nicht weiss. Und auf diese Weise wird der Dialog zum Spiegel: Ich muss mich zeigen, wie ich bin. Und ich komme im Zug dieses Gesprächs vielleicht auch zur Einsicht, dass ich nicht immer zuwarten kann mit meinen Antworten, weil der Ernst des Lebens nicht erst morgen beginnt – weil es morgen schon mit mir vorbei sein könnte. Ich bin mir bewusst, meine Damen und Herren, dass dies alles weit entfernt zu sein scheint von den Herausforderungen, von denen Sie reden und mit denen Sie zu tun haben. Für den Fall aber, dass Sie die Frage zu stellen beginnen, warum die Dinge, die Ihnen so wichtig scheinen – auch wichtig sind, wichtig nicht für irgendeinen anderen fraglos vorausgesetzten Zweck, wichtig also nicht in Bezug auf die Humankapitalbildung für den Wirtschaftsstandort Schweiz und dergleichen mehr, sondern wichtig für Sie selbst, müssten Sie sich vielleicht auch eingestehen, dass es nicht unwichtig sein könnte, sich um die Frage nach dem wirklich Wichtigen zu kümmern. Und damit hätten Sie in der Tat ‹fürs Leben gelernt›.»

29


Organisation: Boris Widmer

30

Moderation: Ellinor von Kauffungen

BiZE-Report 3


SCHWEIZERISCHES FORUM FÜR ERWACHSENENBILDUNG Das «Schweizerische Forum für Erwachsenenbildung» fördert die Debatte um Weiterbildung und lebenslanges Lernen. Es findet einmal im Jahr im Herbst statt. Veranstalter ist das Bildungszentrum für Erwachsene BiZE in Zürich, welches die beiden öffentlichen Institutionen EB Zürich, Kantonale Berufsschule für Weiterbildung, und KME, Kantonale Maturitätsschule für Erwachsene, gemeinsam betreiben. Am Forum präsentieren Bildungsexperten und Prominente ihre Sichtweisen rund um Bildung und Beruf und regen die Teilnehmenden zur Diskussion über Trends und Perspektiven der Weiterbildung an. Auch bietet es den an Bildungsfragen Interessierten eine gute Gelegenheit, neuste Entwicklungen kennenzulernen, sich auszutauschen und zu vernetzen. Denn punkto Weiterbildung ist in der Schweiz momentan vieles in Bewegung (siehe auch Kasten unten). Das zweite «Schweizerische Forum für Erwachsenenbildung» fand am 25. November 2009 statt. Organisation: Boris Widmer

Moderation: Ellinor von Kauffungen

Weiteres Material zu den Referaten findet sich unter: www.swissadultlearning.ch Vormerken: Das dritte «Schweizerische Forum für Erwachsenenbildung» wird am Freitag, 17. September 2010 stattfinden.

Die Weiterbildung in Verfassung und Gesetz Mit den neuen Verfassungsartikeln über die Bildung hat der Bund 2006 den Auftrag erhalten, Grundsätze über die Weiterbildung festzulegen (Art. 64a BV). Zusätzlich erhielt er die Kompetenz, die Weiterbildung zu fördern und entsprechende Kriterien festzulegen. Im November 2009 hat der Bundesrat das Eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement EVD beauftragt, eine Expertenkommission einzusetzen und bis 2011 einen Vernehmlassungsentwurf für ein Weiterbildungsgesetz zu erarbeiten. Angestrebt wird «ein Grundsatzgesetz, das die Eigenverantwortung für das lebenslange Lernen stärkt, die Chancengleichheit beim Zugang zur Weiterbildung verbessert und die Kohärenz in der Bundesgesetzgebung sicherstellt.» Gegenstand des geplanten Gesetzes ist die nicht-formale Bildung

BiZE-Report 3

(staatlich nicht anerkannte Bildungsangebote wie Kurse oder Seminare). Die Kommission soll vertieft prüfen, wie Transparenz, Qualität und Mobilität im Weiterbildungsbereich erhöht werden können. Das neue Gesetz soll die bisherige Flut an Weiterbildungsbestimmungen besser koordinieren, Doppelspurigkeiten abbauen und das Weiterbildungssystem optimieren. Für bestimmte Bevölkerungsgruppen und Bereiche soll der Zugang verbessert werden. Als Grundlage für die neue Weiterbildungspolitik hat das EVD im November 2009 einen Weiterbildungsbericht erarbeitet. Link: www.bbt.admin.ch > Weiterbildung

31


Bildungszentrum fĂźr Erwachsene Riesbachstrasse 11 8008 ZĂźrich www.bize.ch


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.