zusammenwirken Lernen heisst vernetzen Regula Fecker, Lutz Jäncke, Moshe Rappoport, Benno Ackermann, Elsbeth Stern und Graziella Contratto
Bildungszentrum fĂźr Erwachsene BiZE-Report 4 Januar 2011
Impressum Herausgeber Bildungszentrum für Erwachsene BiZE, Zürich Konzept und Redaktion Serge Schwarzenbach, EB Zürich Christian Kaiser, silbensilber Fritz Keller, silbensilber Gestaltung Philipp Schubiger, PSVK Fotos Reto Schlatter Druck Kantonale Drucksachen- und Materialzentrale KDMZ
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5 Editorial Das SFE-Forum 2010 hat dem Rektor der EB Zürich Mut gemacht.
6 Regula Fecker «Die neue Herausforderung an uns alle heisst ‹flüssige› Intelligenz: Es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als besser denn je darin zu sein, mit neuen Situationen fertig zu werden.»
10 Lutz Jäncke «Sie haben in Ihrem Schädel eine Milchstrasse. Dieses Netzwerk findet in der Natur keine Entsprechung. Kein anderes Lebewesen verfügt über ein derart komplexes Gehirn.»
14 Moshe Rappoport «Wie kommt es, dass das kleine Mädchen sich so schnell im Computerspiel orientieren konnte, und ich, der Informatiker aus dem berühmten IBM-Forschungslabor, so viel Mühe damit hatte?»
18 Benno Ackermann «Wo, was, wie, wer mit wem, warum – bei einem unbegleiteten Nachfolgeprozess gehen die wichtigsten Fragen meist in einem Wust von unübersichtlichen Flip-Charts unter.»
22 Elsbeth Stern «Ein Weniger an Intelligenz lässt sich durch Fleiss kompensieren. Zu glauben, man sei so intelligent, dass man nichts mehr lernen müsse und trotzdem alles könne, ist aber ein Irrtum.»
26 Graziella Contratto «Ob in der Wirtschaft oder in der Musik: Wer eine Führungsposition einnimmt, muss immer ein Stück voraus sein, zum Beispiel mit einem klaren Konzept oder einer starken Vision.»
31 DIE VERANSTALTERIN Das Schweizerische Forum für Erwachsenenbildung SFE fördert den Gedankenaustausch rund um Lernen und Weiterbildung.
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Editorial Liebe Leserinnen, liebe Leser Jeden Tag verändern wir die Welt, mit allem, was wir tun. In den vergangenen zwei Jahrzehnten waren Denken und Handeln stark durch den Neoliberalismus geprägt. Jeder und jede sollte als eigene Ich-AG funktionieren, darauf konditioniert, persönlichen Gewinn und Vorteil zu optimieren. Die Verantwortung für andere und für das Ganze geriet in den Hintergrund. Die Folgen waren verheerend: Von Gier getriebene Banker und verantwortungslose Spekulanten erschütterten moderne, bisher stabile, sozial intakte Gesellschaften in ihren Grundfesten. Fast über Nacht sahen wir uns mit einer Krise konfrontiert, die wir uns so nicht vorstellen konnten. Viele sind dadurch verunsichert worden – so sehr, dass ihr Handeln heute mehr durch die Angst vor der Zukunft und dem Fremden bestimmt wird als durch Sicherheit, Vertrauen in andere und Grosszügigkeit. «Lernen heisst vernetzen» – an diesem Leitsatz orientierte sich das diesjährige Forum für Erwachsenenbildung. Die Referentinnen und Referenten thematisierten «vernetzen» sehr unterschiedlich. Für die einen ging es um die Verbindung von Altem mit Neuem, andere erörterten Wissens-, Könnens- und Gefühlsnetzwerke. Wiederum andere wiesen auf die Bedeutung von Clustern, Bildern und Frames hin. Immer aber verstanden sie «Lernen» und «Vernetzen» als Zusammenwirken von Menschen. Das Forum hat Mut gemacht, indem der Leitsatz «Lernen heisst vernetzen» entscheidend erweitert wurde: Vernetzen ist nicht nur für optimales Lernen, sondern auch für die erfolgreiche Gestaltung der Zukunft unentbehrlich. Im Vernetzen liegt der Schlüssel für unsere Welt von morgen. In diesem Sinne wurde den auf Eigennutz fokussierenden Strategien der vergangenen Jahre eine deutliche Abfuhr erteilt. Das lässt hoffen. Hans-Peter Hauser Rektor EB Zürich
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Regula Fecker
«wir müssen besser denn je darin sein, mit neuen Situationen fertig zu werden» Von der Botschaft zur Kampagne. Regula Fecker, Werberin des Jahres 2010, sagt: Kampagnen sind heute efolgreich, wenn sie lernend sind, und auch die kreativen Macher bereit sind, immer wieder selbst aus dem Verlauf ihrer Kampagne zu lernen. Wie Regula Fecker anhand der «Slow Down. Take It Easy.»-Kampagne veranschaulicht, sind Multimedialität, Vernetzung, Interaktivität, Offenheit und Echtzeit die neuen Erfolgsfaktoren. Frau Fecker, Ihr Business sind die schönen Botschaften. Was ist Ihre Botschaft zum Thema «Lernen heisst vernetzen»? Man möchte es nicht für möglich halten, aber es ist tatsächlich so: Wir Menschen sind gescheiter, als wir es jemals waren. Denn eine Studie in 14 Ländern hat ergeben, dass wir in IQTests 25 Punkte mehr erreichen als die vorangegangenen Generationen. Diese Entwicklung hat einen Namen: der Flynn-Effekt*. Der Forscher James R. Flynn hat auch untersucht, wo der IQZuwachs stattgefunden hat, er wollte wissen, wie wir gescheiter geworden sind. Dafür hat Flynn die «flüssige» von der «kristallinen» Intelli-
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genz unterschieden. Kristallin umfasst dabei alle geistigen Fähigkeiten, welche der Erfahrung entspringen oder kulturell weitergegeben worden sind. Flüssige Intelligenz hingegen bezeichnet die Geschwindigkeit, mit welcher wir erfassen und lernen, also unsere Orientierungsfähigkeit in neuen Situationen. Und welche Intelligenz hat sich nun in den letzten Jahrzehnten stärker entwickelt? Flüssig, selbstverständlich. Das kann sich jeder anhand seiner eigenen Erfahrung zusammenreimen; wir müssen uns ständig mit neuen Technologien auseinandersetzen und
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unsere Computer in immer kürzeren Intervallen updaten. Die neue Herausforderung an uns alle ist also «flüssig»: Es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als besser denn je darin zu sein, mit neuen Situationen fertig zu werden. Auch in der Kommunikation muss man sich permanent neuen Gegebenheiten anpassen. Wo zeigt sich der Druck in der Kommunikation? Zum Beispiel in 3000 Werbebotschaften pro Tag. Anzeigen werden im Schnitt 1,7 Sekunden lang betrachtet. So wenig Zeit haben wir also, all die Werbebotschaften an jemanden zu vermitteln, der am Frühstückstisch sitzt und die Zeitung aufschlägt. Viele Leute sagen zudem, sie würden sich nicht an Werbung erinnern, die sie gesehen hätten, 67 Prozent sagen gar, «Werbung nervt». 75 Prozent der Werbeanstrengungen verpuffen wirkungslos. Das sind deprimierende Zahlen für jemanden, der in meinem Bereich tätig ist. Da bleibt einem nichts anderes übrig, als zu versuchen, die Botschaft zu kreieren, die hängen bleibt. Und wie schafft man das? Wir müssen Kampagnen schaffen, die sich diesen neuen Gegebenheiten anpassen können. Sie müssen wandelbar sein und trotzdem im Kern immer dasselbe sagen. Ich kann das am besten anhand einer Kampagne veranschaulichen, an der ich selber beteiligt war. Eine Kampagne, die noch läuft und auch noch zwei, drei Jahre weiterlaufen wird, wie wir hoffen: «Slow Down. Take It Easy.». Auftraggeber sind die Beratungsstellen für Unfallverhütung bfu und der Schweizerische Versicherungsverband SVV, finanziell unterstützt vom Fonds für Verkehrssicherheit. Das Mandat erhielten wir vor rund zwei Jahren, der Auftrag lautete damals, eine junge Zielgruppe zwischen 16 und 30 Jahren davon zu überzeugen, mit angepasster Geschwindigkeit zu fahren – im Auto und mit dem Motorrad. Keine leichte Aufgabe. Zuerst einmal ging es bei der Kampagne um einen glasklaren Inhalt: Zu schnelles Fahren ist eine Hauptursache für tödliche Unfälle auf Schweizer Strassen. Neulenker sind in der Regel relativ vorsichtige Fahrer. Das Problem dabei ist aber, dass sie 6 bis 24 Monate, nachdem sie den Führerschein erhalten haben, denken: Jetzt kann ich’s. Sie fahren schon eine Weile, fühlen sich als Routiniers, überschätzen sich und drücken zu stark aufs Gas. Das ist insbesondere in der Nacht der Fall, insbesondere am Wochenende und besonders dann, wenn mehr als eine Person im Auto sitzt.
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Wie sind Sie vorgegangen, um das zu ändern? Wir haben mit vielen Neulenkern das Gruppengespräch gesucht und haben auch mit vielen Fahrlehrern gesprochen, um herauszufinden, wo eigentlich genau das Problem liegt. Vereinfacht gesagt, benutzt unsere Zielgruppe das Auto, um sich zu definieren. Sie möchten mit ihrem Gefährt, auch mit dem Motorrad, zeigen, wer sie sind. Und sie leben schnell: Der gesteigerte Druck auf die jungen Leute von heute bringt tendenziell auch ein erhöhtes Lebenstempo mit sich. Vereinfacht gesagt: Die jungen Leute fahren wie sie leben – zu schnell. Unsere Schlussfolgerung daraus lautete: Das Leben gibt eigentlich Gas, und gar nicht in erster Linie der Fuss. Also muss man das Leben ändern und nicht das Fahrverhalten? Wir haben die jungen Menschen aus unserer Zielgruppe gefragt, wie ihre Einstellung zu den beiden Werten «schnell» und «langsam» sei. «Schnell» war überraschenderweise ein hoch attraktiver Wert, auf den ersten Blick. Die meisten haben gesagt: «Schnell» ist super, Unterhaltung, Action pur. Langsamkeit wurde hingegen eher mit Langeweile gleichgesetzt. Je länger wir aber in den Gesprächen auf diesen beiden Werten verblieben sind, desto mehr haben wir gemerkt, dass unter dieser raschen Beurteilung doch noch sehr viel mehr schlummert. «Schnell» beinhaltete auch Stress, Effizienz, Routine, Aggression, Anstrengung. Langsam hingegen wurde bei reiflicherer Überlegung auch mit Genuss, Geduld, Wertschätzung oder mit «Zeit mit Freunden verbringen» gleichgesetzt. Unter einer ersten oberflächlichen Einschätzung verbarg sich also etwas, das gar nicht mal so schlecht ist. Aber man muss diese positive Seite der Langsamkeit erst einmal richtig entdecken. Oder eben richtig vermarkten und das war unser Job.
«Slow Down. Take It Easy.» Die erfolgreichste Schweizer Social-Media-Kampagne «Slow Down. Take It Easy.» ist mit über 220 000 Fans auf Facebook die erfolgreichste Schweizer Social-MediaKampagne. Zum Vergleich: Das Migros Huhn «Chocolate» auf Platz zwei hat rund 36 000 bis 37 000 Freunde. Und: Nur zwei Prozent aller Schweizer Websites bringen es auf mehr als 10 000 Fans. «Slow Down. Take It Easy.» ist aber auch generell das erfolgreichste Schweizer Unterhaltungsformat auf Facebook; die Künstler Bligg oder Stress beispielsweise bringen es «nur» auf 57 000 bzw. 56 000 Anhängerinnen und Anhänger. Der Erfolg von «Slow Down. Take It Easy.» ist umso erstaunlicher, als der Kampagne eigentlich eine Botschaft zugrunde liegt, die für das Zielpublikum grundsätzlich nicht attraktiv ist.
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Und wie lässt sich etwas Unattraktives wie das Fahren mit angepasster Geschwindigkeit attraktiv verpacken? Indem wir die Marke «Slow Down. Take It Easy.» eingeführt haben. Weder der Slogan noch die Bildmarke dazu bestanden zum Zeitpunkt des Auftrags. Der Gedanke dahinter war, dass man ein Logo kreieren und aufbauen muss, welches über die nächsten Jahre zu einer Flagge wird für jede Person, welche zu dieser Gruppe dazugehören will. Wir wollten eine Marke aufbauen, welche grundsätzlich für einen entschleunigten Lebenswandel steht – auf der Strasse, neben der Strasse. Dafür brauchten wir einen Botschafter: Wir fanden ihn in der Figur eines etwas abgekämpften Engels namens Franky Slow Down. Der Name scheint nebensächlich, aber er war wichtig; die Tatsache, dass er einen Namen hatte, hat es ermöglicht, dass er auf Facebook Freunde haben konnte. Franky Slow Down? Franky Slow Down ist inzwischen eine Persönlichkeit mit einem gewissen Kultstatus. Wir haben uns für einen Schauspieler aus Kalifornien namens Brian Allen entschieden, der diese Rolle mittlerweile auch lebt. Zur Unterstützung hat unser Engel auch eine Band, denn für uns gehörte von Anfang an dazu, dass diese Mar-
ke auch klingen muss. Weil nichts so schnell im Herzen landet wie Musik, vor allem bei unserer Zielgruppe. Unser Ziel war darum von Anfang an, dass wir einen Song haben, der genau gleich heisst wie die Marke. Also einen Song «Slow Down. Take It Easy.», den wir auch in den Radio stationen platzieren konnten. Wir haben damit den Komponisten Roman Camenzind beauftragt, der «Slow Down. Take It Easy.» komponiert hat. Den Song eingespielt haben «Da Sign & The Opposite». Der Engel singt selber nie. Der kann gar nicht singen, er spielt nur den Leadsänger. Wieso war dieses Lied so wichtig? Der Song hat sich für eine gewisse Zeit in den vorderen Rängen der Download-Charts etablieren können. So konnten wir innert relativ kurzer Zeit von einem Kampagnenerfolg sprechen. Dieser Erfolg hat zu sehr viel PR geführt. Wir sprechen von einem PR-Value von rund 1,5 Millionen Franken. Was macht diese Kampagne besser als andere? Hier möchte ich zwei Punkte herausheben. Erstens ist die Kampagne optimal vernetzt. Sie besteht nicht aus vielen Massnahmen, aber diese sind untereinander sinnvoll miteinander verbunden: alte Medien, wie TV oder Plakat, werden mit neuen Kanälen kombiniert. Und vor allem
Regula Fecker Werberin des Jahres 2010 Mitinhaberin Rod Kommunikation Regula Fecker wurde 1978 in Zürich geboren. 1999 ist sie bei Honegger/von Matt (heute Jung von Matt/Limmat) in die Werbung eingestiegen. 2003 bildete sie sich an der renommierten Miami Ad School im «Bootcamp for Account Planning» als Strategin weiter. Den Lehrgang schloss sie als erste Nicht-Amerikanerin als Jahrgangsbeste ab. Danach arbeitete sie in verschiedenen grossen Werbefirmen im In- und Ausland. Im Juli 2007 gründete sie mit Oliver Fennel und David Schärer die Agentur «Rod Kommunikation», welche die drei auch heute noch zu gleichen Teilen besitzen und führen. Rod wurde 2008 zur «Newcomer-Agentur des Jahres» im deutschsprachigen Raum gekürt. Die Agentur arbeitet heute mit 16 Mitarbeitenden für Marken wie «20 Minuten» («Bringt Gesprächsstoff»), die Beratungsstelle für Unfallverhütung bfu / Schweizerischer Versicherungsverband SVV («Slow Down. Take It Easy.») oder auch Médecins Sans Frontières («I have MSF»).
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wird das Publikum zwingend von einem Medium zum nächsten geführt; sobald dieser Fluss von einem zum anderen Medium nicht mehr gewährleistet ist, hängt der Konsument ab. Man spricht dann vom Medienbruch. Ohne TV-Spots hätte es keinen Song gegeben, der auch im Radio gespielt wird, ohne die Radioausstrahlungen wäre der Song kein Hit geworden, ohne Hit hätten wir keine Fans gehabt, ohne Fans keine PR und ohne PR keine Erfolgsgeschichte. Entlang einer solchen Erfolgsgeschichte müssen wir in der Kommunikation auch eine Massnahme planen. Und der zweite Erfolgsfaktor? Die Kampagne ist absolut lernfähig: Sie passt sich dem Moment an, richtet sich nach Strömungen. Die neuen Medien verlangen von uns als Kommunikatoren, dass eine Kampagne nicht mehr wie früher einen Anfang und einen Schluss hat; was man ins Internet stellt, ist und bleibt dort, für ewig. Das ist etwas anderes als ein Plakat, das wieder abgehängt wird und an welches sich nach einem Jahr niemand mehr erinnert. Dadurch hat sich unser Job total ver ändert, wir haben keine Ahnung, wie der Schluss punkt unserer Kampagne aussehen wird.
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Welche Rolle spielte das Internet für den Erfolg der Kampagne? Eine zentrale. Wir haben konsequent auf Facebook gesetzt. Weil circa 92 Prozent aller 19-jährigen Schweizerinnen und Schweizer auf Facebook sind. Franky Slow Down hat inzwischen weit über 200 000 Freunde (siehe Box). Wie nutzen Sie dieses Potenzial? Mehrmals pro Monat beziehen wir die Zielgruppe in Diskussionen mit ein. Zum Beispiel haben wir für den Genfer Autosalon ein Mobil kreiert, ein besonders langsames Auto, eine Persiflage auf die ganzen Concept-Cars. Dafür haben wir einen Namen gesucht. Franky hat seine Fangemeinde gefragt, wie sie sein Auto, einen umgebauten weissen Golf Caddy, benennen würde. Die Fangemeinde hat sich dann für «Slo.Mo.1» (Slowmoone) entschieden. Die Fans entwickeln auch Eigeninitiative: An Autos werden Aufkleber mit verfremdetem Logo angebracht oder «Slow Down. Take It Easy.»-Wanduhren produziert. Hier setzen wir ganz auf die Offenheit des Mediums Facebook und versuchen nicht, solche Prozesse zu kontrollieren. Wir lernen also ständig aus dem aktuellen Verlauf der Kampagne und entwickeln sie laufend weiter.
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Lutz Jäncke
«Die Wiederholung ist die Mutter allen Lernens» Vom Lernen zum Gedächtnis. Wir haben eine Welt im Kopf, die aus Milliarden von Knoten und Verbindungen besteht. Dieses galaxieartige Netz schaffen wir selber, indem wir lernen. Worauf es dabei ankommt, erklärt der Neurowissenschafter Lutz Jäncke: Aufmerksamkeit, Motivation, stete Wiederholung und möglichst viele Hinweisreize, die an neue Informationen gekoppelt sind, lauten die Erfolgsrezepte für möglichst effektives Lernen.
«Das menschliche Gehirn ist ein äusserst faszinierendes Organ: Es macht nur zwei Prozent des menschlichen Körpergewichts aus, nimmt aber zwanzig Prozent der Blutversorgung und zwei Drittel des Glucoseumsatzes in Anspruch. Die Natur muss ihm also eine ungeheure Bedeutung zugemessen haben, wenn es dieses Organ dermassen mit Zucker, Sauerstoff und dergleichen versorgt. Das Hirn ist ein fantastisches, galaxieartiges Gebilde, mindestens aus einer Milliarde Nervenzellen bestehend, jede Zelle hat mindestens 10 000 Verbindungen mit anderen Zellen. Wenn Sie das hochrechnen, kommen Sie auf die Grössenordnung einer Galaxie.
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Sie haben in Ihrem Schädel eine Milchstrasse. Dieses Netzwerk findet in der Natur keine Entsprechung. Kein anderes Lebewesen verfügt über ein derartig komplexes Gehirn. Es muss ja auch Komplexes leisten; menschliches Verhalten eben. Kennen Sie einen Affen, der in der Lage ist, ein dadaistisches Gedicht zu schreiben? Der Mensch hat ganz besondere Lernfähigkeiten. Plastisch wie Knetmasse Das menschliche Gehirn ist plastisch wie Knetmasse. Es wird geformt durch die Erfahrung. Das Prinzip dabei ist ganz einfach. Sie haben beispielsweise zwei Hirngebiete, ein Seh-
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gebiet und ein Hörgebiet – ein Kind muss jetzt also ein Graphem, also einen Buchstaben, mit einem Phonem, also einem Lautmal, koppeln; immer dann, wenn diese beiden Informationen gleichzeitig genutzt werden, bauen sich dabei Verbindungen zwischen den beiden Hirngebieten auf. Es entsteht ein Netzwerk.
«Klare Information, die Sie mit vielen Hinweisreizen koppeln, setzt sich in Ihrem Gehirn fest wie eine Krake. Die Zahl der Hinweisreize bestimmt darüber, mit wie vielen Armen sich die Krake in Ihrem Gehirn festhält. Sie müssen also das, was Sie lernen, vernetzen, verankern.» Dieses Gesetz innerhalb der Neurophysiologie lautet: ‹Fire Together, Wire Together›. Hirngebiete, die simultan feuern, bauen Verbindungen auf. Der Umkehrschluss gilt genauso: ‹Don’t Fire Together, Don’t Wire Together›. Werden Phonem und Graphem beispielsweise nicht wiederholt gleichzeitig präsentiert, bauen sich die Verbindungen einfach ab. Um schreiben und lesen zu lernen, müssen also Zeichen und Töne der Buchstaben und Wörter gleichzeitig präsentiert werden. Das ganz nebenbei auch als kleiner Hinweis an die Schulen. ‹Use It or Loose It› Unsere Milchstrasse verändert sich also stetig. Diese Gehirnveränderungen erforsche ich jetzt schon seit über 20 Jahren, vorwiegend an den Gehirnen von Profimusikern. Das Resultat: Alle am Musizieren beteiligten Gehirngebiete verändern sich strukturell. Es ist also nicht so, dass diese genialen, gottgleichen Profimusiker schon von Anfang an solche Gehirne haben, die sie dazu zwingen, solche Musik zu machen. Sondern sie schaffen sie. Jede Form von Expertise, also auch Schachspielen, Golfspielen, Tanzen, Jonglieren usw., ist mit anatomischen Veränderungen im Gehirn verknüpft. Je mehr Sie machen, desto mehr passiert im Gehirn. Aber auch hier gilt: ‹Use It or Loose It›. Wenn Sie etwas gelernt haben und das Gelernte nicht mehr anwenden, geht es abwärts. Das menschliche Gehirn ist also zum Lernen verdammt. Wir sind ein Kulturwesen, wir verändern die Welt ständig, und unser Gehirn ist genau dafür konzipiert. Wir sind lernfähig, damit wir das Komplizierteste aufbauen können, was sich der Mensch ausdenken kann: soziale Systeme. Eine der wichtigsten Voraussetzungen für das Lernen ist: Aufmerksamkeit. Der Lernstoff steht immer in Konkurrenz zu attraktiven anderen Reizen. Der griechische Text etwa zum
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muskulösen Jüngling – für die fortpflanzungsfähige junge Dame. Wir müssen uns von allem anderen Attraktiven losreissen, um zu lernen, denn wir haben eine begrenzte Aufmerksamkeitskapazität, und die müssen wir auf unseren Lernstoff richten. Aufmerksamkeit und Motivation Daran hat sich auch in der digitalen, multimedialen Ära nichts geändert. Der multi taskingfähige, digitale Internet-Mensch ist nicht lernfähiger, im Gegenteil. Eine Studie mit Stanford-Studenten hat kürzlich ergeben, dass die ‹Heavy Multimedia Users› gegenüber den ‹Non Heavy Multimedia Users› umso schlechter abschneiden, je komplexer die Aufgabenstellung ist .* Neuropsychologisch gesehen reagieren die ‹Heavy Surfers› reizgetrieben auf völlig unsinnige Ablenkungen: Twitter-Botschaften usw. Man trainiert die Ablenkung statt die Aufmerksamkeit. Man muss sich also gegen die ablenkenden Verlockungen des Internets wehren lernen, um sich mit den richtigen, wichtigen Sachen auseinanderzusetzen.
«Sie haben in Ihrem Schädel eine Milchstrasse.» Lernen heisst, sich konzentriert mit einer Materie auseinanderzusetzen. Dafür brauchen Sie aber auch Motivation. Das alles lässt sich auf eine einfache Formel bringen: Leistung = Wollen x Können x Möglichkeit. Das Wollen ist die Motivation, das Können die Fähigkeit; zu Letzterem gehört nicht nur Begabung, sondern auch die Fähigkeit zur Konzentration und zur Selbstkontrolle. Von all diesen Faktoren ist also die Lernleistung abhängig, wenn sich die Möglichkeit bietet, etwas zu lernen. Die Rolle des Gedächtnisses Kees Notebohm hat einmal den wunderbaren Satz formuliert: ‹Eine Erinnerung ist wie ein Hund, der sich hinlegt, wohin er will.› Unser Gedächtnis hat eine eigene Dynamik. Wir speichern Informationen offenbar am besten ab, wenn wir die Informationen, die wir haben, mit vielen Nebeninformationen koppeln. Am effizientesten ist das episodische Gedächtnis, welches Ereignisse nach folgendem Raster speichert: Wer, was, wann, wo, mit wem? Hier entstehen wieder viele neue Verbindungen im Hirn; ‹Fire Together, Wire Together› – kontinuierliches Lernen braucht die stetige Wiederholung. Sie ist die Mutter allen Lernens. Wissen hingegen ist die interpretierte, bereits schon sortierte und in unserem Hirn eingelegte Information. Information muss also strukturiert, organisiert und interpretiert werden, um Wissen zu werden. An blosser Information kann
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man hingegen ersticken. Informationen ordnen wir, indem wir sie in Netzwerken ablegen. Wenn man dann eine Information abruft, zieht man quasi wie an einem Fischernetz die anderen Infos mit heraus. So funktioniert unser Gedächtnis. Wenn ich zum Beispiel klassische Musik höre, höre ich sie nicht nur, sondern ich sehe sie auch, ich rieche sie und fühle, wie ich durch die Wälder laufe. Die verschiedenen Hirngebiete sind aktiv, das ganze semantische Netzwerk, das ich aufgebaut habe, ist beteiligt. Um eine solche Leistung zu erbringen, braucht es drei Schritte: enkodieren (= lernen), konsolidieren (= speichern) und abrufen. Die Schritte finden in unterschiedlichen Hirnregionen statt. Kraken züchten Unser Gedächtnis ist also ein System, das vernetzt lernt. Dabei gilt: Je mehr Hinweisreize wir zusammen mit einem Ereignis abspeichern, desto besser bleibt die Information über die Zeitachse erhalten und abrufbar. Auch die Klarheit der Information ist sehr wichtig, Emotionen oder Freude beim Lernen spielen hingegen für die Abrufleistung weniger eine Rolle. Die Quintessenz lautet also: Klare Informationen, die Sie mit vielen Hinweisreizen koppeln, setzen sich in Ihrem Gehirn fest wie eine Krake. Die Zahl der
Hinweisreize bestimmt darüber, mit wie vielen Armen sich die Krake festhält. Sie müssen also das, was Sie lernen, vernetzen, verankern. Älteren Menschen fällt es relativ leicht, neue Information in einem bestehenden Netzwerk zu verankern. Wer jedoch in seinem Hirn nichts drin hat, kann auch nichts lernen. Die erfolgsversprechendste Variante ist das semantisch elaborierte Lernen, wenn wir uns also eine neue Information in einem Kontext erarbeiten. Indem wir zum Beispiel ein neues Wort in einem oder mehreren Satzzusammenhängen einprägen, statt als blosse Buchstabenfolge. Experimente zeigen, dass die Abrufleistung dann rund achtmal besser ist. Das Problem ist nur: Um semantisch elaboriert zu lernen, brauchen wir rund 40 Prozent mehr Zeit. Und das meiden wir wie der Teufel das Weihwasser. Wir sparen also lieber 40 Prozent Ressourcen ein und verzichten damit auf eine um 800 Prozent bessere Lernleistung. Wir haben ein ‹Lazy Brain›, das ist das Problem. Lernen durch Tun Kommen wir aber noch zur anderen Seiten unserer Gedächtnisarchitektur, dem unbewussten Gedächtnis. Ich möchte Ihnen die Funktionsweise unseres prozeduralen Gedächtnisses auseinandersetzen, dem Gedächtnisteil, den wir
Lutz Jäncke Leiter des Instituts für Neuropsychologie der Universität Zürich Lutz Jäncke arbeitet am psychologischen Institut der Universtität Zürich und ist Professor für Neuropsychologie. Zu Jänckes Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem Gehirn und Musik, Synästhesie (Wahrnehmen von Sinnesreizen) oder die Neuroanatomie. Sein primäres Untersuchungsgebiet ist die Plastizität des Gehirns, also die Formbarkeit durch Erfahrung. Dafür wendet er moderne bildgebende Verfahren an. Unter anderem geht Jäncke der Frage nach, wie das ständige Üben von Profimusikern deren Gehirn prägt. Zudem interessiert ihn das unterschiedliche Verhalten von Kindern und Erwachsenen im Umgang mit virtuellen Realitäten. Lutz Jäncke hat über 230 wissenschaftliche Publikationen verfasst und ist Autor mehrerer populärwissenschaftlicher Bücher, zuletzt erschienen ist das Buch «Macht Musik schlau?» Seit 2008 ist er auch Mitglied der «Faculty of 1000» für Neurologie, gehört also auch weltweit zu den respektierten Grössen auf seinem Feld.
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unbewusst aufbauen. Wir können ja viel mehr als wir wissen, denn wir lernen vieles implizit, indem wir es einfach tun. Zum Beispiel Auto fahren. Auch die Regeln unserer Muttersprache lernen wir unbewusst. Da können Sie sich natürlich glücklich schätzen, wenn Sie eine gute Vorlage haben. Prozedurales Lernen funktioniert aber langsam; Sie brauchen Jahrzehnte, bis Sie Ihre Muttersprache gut beherrschen.
«Wir haben ein besonderes Gehirn. Nutzen wir es doch einfach.» Für die Abruf-Leistung spielt auch das Lernumfeld eine bedeutende Rolle: Taucher beispielsweise, die eine Lernliste unter Wasser gelernt haben, können das Gelernte auch unter Wasser viel besser abrufen als an Land. Was passiert hier? Der psychophysiologische Zustand wird beim Lernen implizit gekoppelt mit der Information auf der Lernliste: Druck, Gefühle, Enge, Geräusche. Wenn diese ‹Cues›, die Hinweisreize, mit welchen die Information gekoppelt ist, beim Abruf ebenfalls vorhanden sind, lässt sich die Information eben viel leichter hervorholen. Drei vernetzte Netzwerke Wir bauen ein Wissensnetzwerk auf, ein semantisches, bewusstes Netzwerk, wir bauen ein Könnensnetzwerk auf, das wir impli-
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zit erworben haben, und wir bauen ein emotionales Netzwerk auf, das gekoppelt ist mit dem Wissens- und dem Könnensnetzwerk. Je mehr wir diese drei Netzwerke miteinander verweben, desto eher gelingt es uns, über das Können an Emotionen zu kommen oder über die Emotionen an bestimmte Wissensknoten usw. Diese Verbindungen aus Wissen, Können und Emotionen sind eine Welt im Kopf. Diese Welt ist das Geschenk der Natur an den Menschen. Und diese Welt können wir entdecken und gestalten. Dafür müssen wir lernen, die wichtigen Informationen in unserem Gehirn zu vernetzen. Und wie kann das Gehirn erfahren, quasi mitgeteilt bekommen, was wichtig und was unwichtig ist? Die einzige verlässliche Regel dafür lautet: Informationen, die in unserem Kultursystem wiederholt, mit hoher Häufigkeit auftreten, müssen wichtige Informationen sein. Und deshalb hat unser Gehirn den Mechanismus des ‹Fire Together, Wire Together›, des wiederholten Lernens, eingeführt. Hundertmal ist wichtig, einmal ist unwichtig. Lernen funktioniert statistisch. Menschen sind eben keine Tiere. Wir haben ein besonderes Gehirn. Nutzen wir es doch einfach.» *Ophir/Nass/Wagner: Cognitive control in media multitaskers, PNAS, 20. July 2009
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Moshe Rappoport
Die digitale Kluft zwischen zwei Welten Von analog zu digital. «Tipping Points» sind Momente, in denen sich Dinge stark verändern. Laut Moshe Rappoport stehen wir in der Technologieentwicklung an einem solchen Wendepunkt. Der IBM-Forscher sieht grosse Herausforderungen auf uns zukommen, die wir meistern müssen. Wichtig wird es sein, die digitale Kluft zwischen jungen Computerfreaks und älteren Computermuffeln zu überbrücken.
«Als sich 1970 die Informatik in die Alltagswelt ausweitete, genügte es für IBM lange Jahre, schnellere Chips herzustellen oder grössere Disks zu produzieren oder bessere Verbindungsmöglichkeiten. Das liess sich gut verkaufen. Vor etwa zwanzig Jahren gab es einen ‹Tipping Point›, als die Kunden nicht mehr das bekamen, was sie für ihr Business brauchten. Ab jenem Zeitpunkt waren der schnellere Chip oder die besser Disk nicht mehr wichtig. Es lag an IBM und den andern Firmen, herauszufinden, was die Kunden überhaupt brauchten. Erst danach konnten sie wieder neue Technologien entwickeln und verkaufen.
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Heute sind wir wieder an einem solchen ‹Tipping Point›. Jetzt kippt es wieder. Es genügt nicht mehr zu wissen, was Kunden heute wollen oder verlangen und danach die entsprechende Technologie zu entwickeln. Heute müssen wir gegenüber unseren Kunden einen Schritt voraus sein. Wir müssen verstehen, wohin die Gesellschaft sich bewegt. Sonst entwickeln wir unter Umständen die falschen Dinge. Orientierung tut not Was verändert sich denn gerade? Wenn wir zehn Jahre zurückschauen, fällt auf, wie weit die Welt seit 2000 digitalisiert worden ist. Wer
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damals Fotos geknipst, Musik gehört, Informationen gesucht, Filme angeschaut hat, tat dies mit analogen Geräten. Seither ist alles digital geworden, dazwischen liegt der ‹Digital Gap›, die digitale Kluft. Ich will das an einem Beispiel zeigen: Ich kaufte kürzlich als Geburtstagsgeschenk für meine Enkelin ein Computerspiel. Ich hatte dieses Spiel noch nie gesehen, das Kind hatte dieses Spiel auch noch nie gesehen. Das Kind steckte die CD in den Computer. Es erschien etwas auf dem Bildschirm. Ich versuchte mich zu orientieren, was man machen muss, wie man gewinnt, wie man verliert. Währenddem ich mich noch am Orientieren war, hatte das Kind schon das erste Spiel fertig gespielt. Ich erschrak. Ich habe vierzig Jahre in der Informatik gearbeitet. Vielleicht steckten in der Spielbox Dinge, an deren Patent ich vor Jahren mitgewirkt hatte. Wie kam es, dass das kleine Mädchen, das noch gar nicht zu lesen und schreiben wusste, sich so schnell orientieren konnte, und ich, der erfahrene Informatiker aus dem berühmten IBMForschungslabor, mich nicht orientieren konnte? Was ging da vor?
«Wer vor zehn Jahren Fotos geknipst, Musik gehört, Informationen gesucht, Filme angeschaut hat, tat dies mit analogen Geräten. Seither ist alles digital geworden, dazwischen liegt der ‹Digital Gap›, die digitale Kluft.» Das Stichwort dazu heisst ‹Demografie›: Es kommt eben darauf an, in welchem Jahr man geboren ist. Wer vor 1970 zur Welt kam, ist ohne Computer aufgewachsen, ohne Taschenrechner und ohne irgendwelche elektronischen ‹Gadgets›, denn die gab es damals noch gar nicht. Ich bin mit zwanzig an die Uni gegangen und habe erst da begonnen, mich mit den damaligen Computern zu beschäftigen. Seither bewege ich mich in der digitalen Welt. Aber ich bin eben ein ‹Digital Immigrant›, das heisst, ich bin spät eingewandert in diese Welt. Leute, die nach 1980 geboren wurden, wie meine Enkelin, nennen wir ‹Digital Natives›, digitale Einheimische. Die sind mit diesen Dingen aufgewachsen, die können gar nicht mehr von Hand schreiben, sie müssen alles mit dem Computer machen, ihre Muttersprache ist gewissermassen schon digital. Zahlenmässig gibt es inzwischen weltweit mehr Leute, die nach 1980 geboren worden sind, als solche, die vor 1980 geboren sind. Aber das Problem ist: Die ‹Digital Immigrants› sind noch da. Bis sie aus dem System ‹geschwemmt› werden, vergehen noch einige Jahre.
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Das Denken verändert sich Wie zeigt sich der Unterschied zwischen einem ‹Digital Immigrant› und einem ‹Digital Native› im Alltag? Es gibt Studien, die zeigen, dass ein ‹Digital Native› sich bis zum zwanzigsten Geburtstag etwa 10 000 Stunden mit Computerspielen und anderen elektronischen Geräten beschäftigt hat. Das ist zwar kaum mehr als eine Stunde pro Tag. Aber es verändert das Denken. Dazu ein Beispiel. In einem Computerspiel geht es darum, bei einem Autorennen als Erster ins Ziel zu kommen. Welche Fähigkeiten braucht es, um ein solches Spiel zu gewinnen? Eine erste ist klar: Geschwindigkeit. Man muss lernen, Dinge sehr rasch zu verstehen, Situationen einzuschätzen, schnelle Entscheide zu treffen und umzusetzen. Die zweite Fähigkeit ist diejenige des selektiven Aufnehmens (Filtering). Man muss sich aufs Gewinnen konzentrieren. Alle Informationen, die nicht zum Gewinnen beitragen – zum Beispiel die sich im Fahrtwind biegenden Gräser am Strassenrand –, nimmt man wohl wahr, aber wenn man sie als unwichtig einschätzt, lässt man sie los. Dritte Fähigkeit: Risikofreude. Solche Spiele kann man nicht gewinnen, wenn man nicht riskante Sachen macht: schneller fahren als der Gegner, über Löcher im Boden rüberspringen, Kurven schneiden usw. Vierte Fähigkeit: Verlieren können. Wenn der Gegner oder der Zufallsgenerator des Computers besser gespielt hat, bekommt man eine Meldung: ‹Game over›. Aber man lernt, auf den roten Knopf zu drücken und wieder von vorne zu beginnen.
«Man entwickelt die Fähigkeit, alles sehr schnell zu machen, sehr viele Informationen als unwichtig rauszufiltern, riskante Handlungen vorzunehmen. Und verliert die Angst vor dem Verlieren.» Diese Fähigkeiten nimmt man mit ins Leben nach 10 000 Stunden an der Spielkonsole. Und das beeinflusst schon heute die Geschäftswelt. Vieles geht schneller. Uns hat man noch gesagt: Bevor du mit einem eigenen Projekt die Geschäftswelt erobern willst, überleg es dir gut, mach es sorgfältig. Der zweite Rat war: Wenn du dich entschlossen hast, den Plan umzusetzen, dann versuche dir so viele Informationen wie möglich anzueignen, geh in Kurse, lies Bücher und Zeitschriften, rede mit Experten. Du musst alles wissen über dieses Gebiet. Und dann noch: Wenn du in der Geschäftswelt Erfolg haben willst, musst du ein gewisses Risiko eingehen. Schau, dass du das Risiko möglichst klein halten kannst. Falls du aber grosse Risiken eingehst, wirst du unter Umständen bankrott gehen und ein grosser Verlierer sein, weil alle auf dich zeigen. – Die
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heutige Generation geht anders vor: Schneller ist besser als langsam, sie will gar nicht alles wissen und sucht das Risiko. Wenn es schief geht, kann man ja wieder neu anfangen: ‹Let’s start a new game›.
«Ein ‹Digital Native› hat sich bis zum zwanzigsten Geburtstag etwa 10 000 Stunden mit Computerspielen und anderen elektronischen Geräten beschäftigt. Das ist zwar kaum mehr als eine Stunde pro Tag. Aber es verändert das Denken.» Ob wir so denken oder so denken, das sind zwei Welten: ‹Digital Immigrants› und ‹Digital Natives›. Das zeigt sich auch im Alltag. Zum Beispiel an den neuen Billetautomaten. Immer wieder bilden sich Schlangen, in denen vor allem ältere Leute stehen. Wer vor dem Bildschirm steht, sucht nach der gewohnten Orientierung und findet sie nicht. Das geht mir auch so. Es ist aber eine Realität, dass Leute wie ich die nächsten zehn, fünfzehn Jahre immer noch da sein werden. Deshalb gilt es bei der Entwicklung von elektronischer Technologie in den nächsten Jahren zu berücksichtigen, dass es diese zwei Welten gibt.
Gemeinsame Lösungen bearbeiten Aber wie kann man Lösungen finden, die sowohl ‹Digital Immigrants› wie ‹Digital Natives› zufriedenstellen? Ein Beispiel dafür ist das iPhone. Es ist technologisch nicht das beste Telefon. Das Geheimnis für den Erfolg ist, dass sich die Leute von Apple darüber Gedanken gemacht haben, wie ein Telefon ausschaut, das jungen und älteren Leuten Freude macht. Sie sind hingegangen und haben bei den möglichen Nutzerinnen und Nutzern nachgefragt. Entstanden ist so ein Telefon mit einer intuitiven Bedienung, die einfach zu verstehen ist. Genau das war der Erfolg des iPhones.
«Bei der Entwicklung von elektronischer Technologie gilt es, in den nächsten Jahren zu berücksichtigen, dass es zwei Welten gibt, diejenige der ‹Digital Natives› und jene der ‹Digital Immigrants›.» Die technische Seite der Geräte ist aber nur das eine. Heutzutage wird auch ganz anders kommuniziert als früher. Als ‹Digital Immigrants› können wir allenfalls telefonieren, E-Mails und SMS verschicken, vielleicht noch ein Profil auf
Moshe Rappoport Executive Technology Briefer IBM Forschungslabor Rüschlikon Moshe Rappoport hat Mathematik studiert und dazu ein Lehrerpatent erworben. Seit 1970 ist er in der Informatik tätig, die damals noch in den Kinderschuhen steckte. Er unterrichtet nebenbei Lernende, im Moment für 17- bis 18-jährige Jugendliche. Im Hauptberuf arbeitet Moshe Rappoport als Executive Technology Briefer im IBM Forschungslabor in Rüschlikon. Etwa 350 Mitarbeitende befassen sich dort mit Zukunftstechnologien und überlegen sich, wie diese für die Gesellschaft nutzbringend einzusetzen sind.
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Facebook anlegen. So vernetzen wir uns, wenn wir nicht gerade physisch zusammenkommen. Für ‹Digital Natives› gibt es jede Woche neue Arten, wie sie sich vernetzen. Es gibt unheimlich viele Möglichkeiten, niemand kennt sie alle. Junge Leute haben nicht nur kein Problem, diese neuen Technologien zu verwenden, sie haben auch kein Problem mit den ständigen Wechseln. Wir ‹Digital Immigrants› sind aufgewachsen mit den Werten Stabilität und Bodenständigkeit, damit, nicht jeden Tag alles zu verändern. Junge Leute haben Freude, wenn es immer wieder wechselt. Das gehört mit zu dieser neuen Kultur.
«Wir müssen generationenübergreifend zusammenarbeiten, wollen wir die Probleme lösen, die auf uns zukommen.» Wie kann man erreichen, dass sich diese beiden Kulturen nicht fremd bleiben? Mitarbeitende des Forschungslabors in Rüschlikon – Heinrich Rohrer / Gerd Binnig und J. Georg Bednorz / K. Alex Müller – haben 1986 und 1987 zweimal nacheinander den Physik-Nobelpreis gewonnen. Beide Male für Einsichten, welche die Physik stark verändert haben. In beiden Teams arbeiteten erfahrene zusammen mit jungen Wissenschaftern. Die älteren waren Physiker
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von Grund auf, mit guten Netzwerken und guten Ideen. Mit Computern wussten sie weniger gut umzugehen. Die jungen Wissenschafter waren sehr gewandt mit neuen Computertechnologien, sie waren voller Energie, sie waren bereit Dinge zu tun, von denen sie gesagt bekamen, man solle sie nicht tun. Sie gingen Risiken ein. Dieses Erfolgsrezept lässt sich auf jede Firma übertragen. Die älteren Mitarbeitenden werden nie supergut sein im Umgang mit Computern. Das liegt nicht in ihrem Blut, sie sind nicht damit aufgewachsen. Dafür besitzen sie andere Qualitäten, die sie in die Zusammenarbeit mit jungen Computercracks einbringen können. So entstehen wirkungsvolle Teams, die einen machen das, die anderen das, genau das, was sie gut können. So können ‹Digital Natives› und ‹Digital Immigrants› gemeinsam an zukunftsweisenden Lösungen arbeiten. Wenn wir einen ‹Smarter Planet› wollen, dann müssen wir in diesem Ökosystem generationenübergreifend zusammenarbeiten.»
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Benno Ackermann
Was bleibt übrig, wenn das Wissen und die Erfahrung gehen? Von Mensch zu Mensch. Der Wissenstransfer in der Geschäftswelt will organisiert sein; wenn Schlüsselpersonen den Schlüssel übergeben, ist es dafür zu spät – das Schlüsselwissen unwiderbringlich verloren. Benno Ackermann hat die Weitergabe von Wissen für die Nachfolgeplanung der Credit Suisse optimiert. Seine Methodik ist durchdacht und lässt sich auch auf andere Organisationen gewinnbringend übertragen.
Ein neues Projekt, ein Generationenwechsel, eine Rochade innerhalb des Betriebs – Benno Ackermann kommt immer dann ins Spiel, wenn Vorgesetzte merken, dass ihnen mit dem Abgang eines Mitarbeiters auch Know-how abhanden kommt. «Unser Ziel ist es, möglichst schnell möglichst viel Erfahrungswissen an die nachfolgende Person weiterzugeben», sagt er. Dafür gilt es, sich zuerst einmal einen Überblick zu verschaffen über die Aufgabenfelder und Kompetenzen der abtretenden Person. Das ist jedoch nur möglich, wenn die aus der Firma ausscheidende Person auch willens und motiviert ist, ihr Wissen weiterzugeben. Ackermann: «Sonst macht das keinen Sinn, dann lassen wirs.»
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Seine Erfahrung habe aber gezeigt, dass die meisten durchaus bereit seien, ihr Wissen weiterzuvermitteln. Wenn sie Zeit dafür haben und vor allem: Wenn ihnen jemand zur Seite steht und Ihnen aufzeigt, wie sie das effizient tun können. Das Ziel einer gut organisierten Nachfolgeplanung muss es also sein, genau diese Dienstleistung anzubieten und die Motivierten durch den ganzen Prozess der Weitergabe ihres Wissens zu begleiten. Menschenverstand in drei Phasen Was Benno Ackermann tut, ist «keine Raketenwissenschaft», sondern «angewandter gesunder Menschenverstand». In einem ersten
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Schritt versucht er, jeweils eine gemeinsame Sprache zu finden zwischen den abtretenden und den neu eintretenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Der ganze Prozess läuft in drei Phasen ab: 1. Wissensidentifizierung, 2. Weitergabe von Wissen im Detail, 3. Vorgabe einer Struktur, wie die sich einarbeitende Person ihr Wissen vermehren kann. Ertrag und Aufwand Konkret funktioniert Ackermanns Methode wie folgt: Zuerst lädt der oder die Linienvorgesetzte alle Beteiligten zu einem einstündigen Gespräch ein. Diese Sitzung dient primär der Klärung der Frage, ob sich ein optimierter Wissenstransfer überhaupt lohnt; ist die abtretende Person dazu bereit, an diesem Prozess mitzuarbeiten? «Ich glaube nicht, dass das nötig ist», «Das geht schon gut, auch wenn ich nicht mehr da bin», solche Statements von Mitarbeitenden, welche in Pension gehen, lassen Benno Ackermann hellhörig werden: «Das sind die Fälle, wo man ganz genau hinschauen muss.» Wenn die Experten hingegen behaupteten, dass die Bank nach ihrem Abgang still stehe, könne man erfahrungsgemäss eher auf eine begleitende Unterstützung verzichten. Oft ist es auch das Team, mit welchen eine Expertin oder ein Experte gearbeitet hat, das darauf hinweist, welch wertvolles Expertenwissen hier verloren gehen könnte. Das Team vermag die Rolle eines Mitarbeitenden und die Bedeutung seines Wissens in der Regel verlässlicher einzuschätzen als der Mitarbeitende selbst. Wenn das Team dieses Wissen für die Weiterarbeit braucht, dann lohnt sich auch der Aufwand für einen organisierten Wissenstransfer.
«Die erste Sitzung dient der Klärung der Frage, ob sich ein optimierter Wissens transfer überhaupt lohnt; ist die abtretende Person bereit, an diesem Prozess mitzuarbeiten?»
in einem Wust von unübersichtlichen Flip-Charts unter. Was sind die wichtigen Kunden? Was wollen die? Was muss ich eigentlich im Alltag tun? Was macht die Kunden zufrieden, was unglücklich? Wo gibt es Probleme, wo Optimierungspotenzial? Welches sind die wichtigsten Prozesse? usw. Bekennen sich die am Erstgespräch Beteiligten dazu, den Weg einer begleiteten Wissensweitergabe zu beschreiten, wird darum zuallererst eine sogenannte «Wissenslandkarte» erstellt, welche solche wesentlichen Fragen beantwortet. Sie gibt die ganze Situation wieder.
«Wo, was, wie, wer mit wem, warum – bei einem unbegleiteten Nachfolgeprozess gehen die Antworten auf die wichtigsten Fragen meist in einem Wust von unübersichtlichen Flip-Charts unter.» Grafisch ähnelt eine solche Landkarte etwas einem Verschnitt aus Mind Map und Schnittmuster (siehe Bild). Wichtig sind die Farben: Schwarz = Organisationsteile, Rot = Systemkomponenten, Grün = Prozesse. Aus der Legende dazu erkennt man auch, dass Strich-Männlein die wichtigen Ansprechpartner bezeichnen, Listen weisen auf erklärende Papiere oder Manuals hin, Ausrufezeichen auf Wichtiges, Fragezeichen auf ungeklärte Probleme, Pfeile auf Beispiele für gute Lösungen. Diese Wissenslandschaft veranschaulicht auf einem Bild alles Wesentliche
BEISPIEL EINER WISSENSLANDKARTE Die Wissenslandkarte zeigt die ganze Situation auf einen Blick:
Der Nachfolger oder die Nachfolgerin müssen allerdings ebenfalls daran interessiert sein, wie der frühere Stelleninhaber seine Aufgabe erledigt hat. Manche neuen Mitarbeitenden möchten lieber von Anfang an ihre eigenen Wege gehen. Auch da wird Ackermann skeptisch: «Die Schlauen schauen sich zuerst einmal an, welche Aufgaben bisher wie gelöst wurden, bevor sie sich Gedanken darüber machen, was man verbessern könnte.» Eine Landkarte des Wissens Wo, was, wie, wer mit wem, warum – bei einem unbegleiteten Nachfolgeprozess gehen die Antworten auf die wichtigsten Fragen meist
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rund um einen neuen Job. Auch indirekt: Es gibt auch Partien, die wichtig sind, um zu verstehen, warum und für wen die neue Mitarbeiterin diese Arbeit macht. Wissen beginnt zu fliessen Solche von Hand gezeichnete Wissenslandkarten auf Papier können dann am Computer in eine saubere Grafik überführt werden, zum Beispiel in ein Mind Map. Oder in ein Visio-Dokument; dieses Programm bietet beispielsweise die Möglichkeit, weitere elektronische Dokumente einzubinden.
«Der Erfolg misst sich in eingesparten Einarbeitstagen.» Die Wissenslandkarte bildet die Grundlage für die Einarbeitung im Detail. Ackermann vergleicht das gesamte Know-how rund um ein Jobprofil mit einem Eisberg, die Wissenslandkarte bildet gewissermassen nur die Spitze dieses Eisberges ab. Aber: Sie umfasst alles Wichtige, um zu verstehen, was sich alles darunter befindet, hilft, das Zusammenwirken der Details zu verstehen. Wenn Wissensgeberin und Wissensempfänger anfangen, sich über das auf der Landkarte Verzeichnete auszutauschen, beginnt Wissen zu
fliessen. Die erste Phase der Identifikation des Wissens ist abgeschlossen, die zweite Phase des eigentlichen Wissenstransfers beginnt. Auf der Wissenslandkarte finden sich A-, B-, C-, D-Themen. Sie bezeichnen die Wissenslücken des neuen Mitarbeiters und sind nach ihrer Bedeutung geordnet: A = sehr wichtig, D = weniger wichtig. Diese Priorisierung erfolgt immer aus der Perspektive des neuen Mitarbeiters: Je nachdem, welchen Hintergrund der neue Mitarbeiter von intern oder extern mitbringt, wird er andere Wissenslücken haben, die für seinen neuen Job unterschiedlich bedeutsam sind. Dem Wissen eine Strukur geben Sofern die Weitergabe des Wissens nicht direkt mündlich zwischen Vorgänger und Nachfolgerin erfolgen kann, wird für diese zweite Phase ein digitales Video- und Tondokument erstellt: In diesem «icast» oder «educast» zeichnet der austretende Mitarbeitende sein Wissen zu den identifizierten A-,B-,C-,D-Themen auf, und sein Nachfolger kann sich das nötige Wissen auf diesem Weg aneignen oder abrufen. In der dritten Phase wird ein TransferDokument erstellt. Diesem kommt eine Wegweiser-Funktion zu: Der sich Einarbeitende soll den ganzen Umfang des für seine Aufgaben nötigen Wissens zuordnen und abholen können: Wo fin-
Benno Ackermann Senior Knowledge Manager Credit Suisse Benno Ackermann bekleidet den Posten eines Assistant Vice President und arbeitet im Global IT Knowledge Management Competence Center der Credit Suisse. Seine Spezialgebiete sind der Wissenstransfer und die Bilanzierung von Wissen, aber auch technologische Lösungen für das Wissensmanagement. Bevor er in die Privatwirtschaft wechselte, war er 10 Jahre lang Sekundarlehrer im Kanton Aargau. Anschliessend hat er als Projektmanager und Berater für Blended-Learning und Wissensmanagement in verschiedenen Dienstleistungsunternehmen gearbeitet, zum Beispiel für Sunrise. Er hat einen MAS/MBA in E-Learning und Wissensmanagement der Hochschule Luzern ikf erworben. Benno Ackermann hat die Methodik «Optimierter Wissenstransfer» der Credit Suisse vom Konzept über die Pilotierung bis zur Implementierung begleitet. Dafür hat er als Innovation auch erstmals mit digitalen «icasts» gearbeitet. Seine Passionen sind Segelfliegen und Klarinette spielen.
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de ich Angaben von Expertinnen und Experten zu einem bestimmten Thema? Welche Prozesse muss ich befolgen? Wer im Team macht genau was? An wen muss ich Ende Monat rapportieren? In dieser vorgegebenen Struktur legt der sich Einarbeitende Wissen ab und kann es sich zu gegebener Zeit aneignen oder abrufen. Vielfältiger Nutzen Der Nutzen eines solchen Vorgehens für die Firma liegt auf der Hand: - Das Erfahrungswissen des Vorgängers bleibt in der Firma, - Arbeitsabläufe und Funktionen werden transparent, - Leerläufe und ineffiziente Einarbeitungsschritte lassen sich vermeiden, - der oder die Neue gelangt rascher auf Augenhöhe zu Kolleginnen und Kollegen, - Potenziale für Verbesserungen werden bewusst, - sowohl die abtretenden wie die neu eintretenden Angestellten erfahren Wertschätzung, - es wird eine motivierende Basis für die persönliche Entwicklung neuer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gelegt, - das persönliche Beziehungsnetzwerk des Vorgängers bleibt erhalten usw.
«Wenn Wissensgeberin und Wissensempfänger anfangen, sich über das auf der Landkarte Verzeichnete auszutauschen, beginnt Wissen zu fliessen.» Der ganze Prozess ist aber nur dann ein Erfolg, wenn die neuen Mitarbeitenden vergleichsweise weniger Einarbeitungszeit benötigen, also schneller dazu in der Lage sind, ihre wesentlichen Aufgaben effizient zu erledigen als ohne organisierte Begleitung. Ob das auch wirklich der Fall ist, kann nur der Vorgesetzte der neu zu besetzenden Stelle beurteilen. Ackermann: «Wenn Sie den Bäcker fragen, ob er gutes Brot bäckt, wird er das natürlich bejahen.» Er selbst könne den Erfolg seiner Dienstleistung also nicht messen, das müssten seine Auftraggeber nach abgeschlossenem Wissenstransfer-Auftrag in ihren Feedbacks tun. Erfolg gemessen in Tagen Beziffern lässt sich der Erfolg von Benno Ackermanns Dienstleistung genau. Die zentrale Frage dafür lautet in etwa: «Wie viele Einarbeitungstage habe ich eingespart im Vergleich zu einer Neubesetzung ohne begleiteten Wissenstransfer?» Die internen Kunden bewerten die Einarbeitungszeitverkürzung sehr unterschiedlich: Der Nutzen wird zwischen 0 und 200 Einarbeitungstagen angegeben. Wieso das so ist, klärt
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die Credit Suisse derzeit zusammen mit Spezialisten der Universität St. Gallen ab. Diese Drei-Phasen-Methodik ist nicht auf der grünen Wiese entstanden. Ackermann hat sich während seiner MBA-Weiterbildung in Luzern intensiv mit den Lösungen für den Wissenstransfer in verschiedenen Unternehmungen befasst und für sein Umfeld eine eigene Methodik entwickelt. Er ermutigt alle, die sich mit Fragen des Knowledge Management befassen dazu, sich nach guten Praxisbeispielen in anderen Organisationen umzuschauen und diese Lösungen an die eigenen Bedürfnisse anzupassen.
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Elsbeth Stern
«Lernen heisst, an bereits Gelerntes andocken» Vom Wissen zum Können. Was man können will, das muss man vorher gelernt haben. Die Verhaltensforscherin Elsbeth Stern zeigte in ihrem Vortrag mit dem Titel «Intelligentes Wissen als der Schlüssel zum Können», dass niemand das Lernen geschenkt bekommt. Auch diejenigen nicht, die mit viel Intelligenz gesegnet sind. Das ist trivial, aber es wird immer wieder vergessen.
«Was wir uns an eingehenden Informationen merken können, hängt entscheidend von unserem bereits verfügbaren Wissen ab. Zum Beispiel können wir uns Zahlen dann gut merken, wenn wir schon Information dazu gespeichert haben. Wenn manche Menschen ein besseres Zahlengedächtnis haben, dann lässt das nicht auf eine Art Computerhirn schliessen. Diese Menschen haben viele Informationen gespeichert, die mit diesen Zahlen zusammenhängen. Wer die Zahlenreihe ‹91119893101990› als solche hört, kann damit kaum etwas anfangen und wird sie sich deshalb auch nicht merken können. Werden die Zahlen gegliedert und als 9.11.1989
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und 3.10.1990 notiert, werden hinter den Zahlen der Tag des Mauerfalls und der Tag der deutschen Wiedervereinigung erkennbar und können entsprechend einfach memoriert werden. Wie lernen Schachspieler? Um herauszufinden, wie Menschen Informationen verarbeiten, führten die amerikanischen Psychologen William G. Chase und Herbert A. Simon* ein inzwischen klassisches Experiment durch. Sie wollten wissen, was tolle Schachspieler ausmacht. Verfügen diese allenfalls über ein holografisches Gedächtnis, das zur gleichen Zeit ganz viele Informationen verarbei-
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ten kann? Das Experiment ging folgendermassen: Auf einem Schachbrett liess man etwa die Hälfte aller Figuren stehen. Dieses Brett durften sich die guten Schachspieler ungefähr eine Minute anschauen. Dann wurde das Brett abgeräumt. Die Aufgabe bestand darin, die Schachfiguren wieder da hinzustellen, wo sie vorher gestanden hatten. Parallel dazu wurde die gleiche Aufgabe auch jungen Spielern gestellt, die die Regeln des Schachspiels nur in den Grundzügen verstanden. Die guten Schachspieler zeigten markant die besseren Leistungen beim Wiederaufbau, wenn es um reale Spielsituationen ging. Standen die Figuren aber wahllos auf dem Brett, waren die Experten genauso schlecht wie die jungen Spieler. Im ersten Fall konnten sie ihr Wissen über Stellungen, das sie über die Jahre aufgebaut hatten, nutzen, im zweiten eben nicht. Dann waren auch sie auf einfache Strategien angewiesen.
«Luat eienr Stduie der Cambrdige Unievrstiät speilt es kenie Rlloe, in welcehr Reiehnfogle die Buhcstbaen in eniem Wrot vorkmomen, die eingzie whctige Sahce ist, dsas der ertse und der lettze Buhcstbaen stmimt.»
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Die Gedächtnisleistung hängt also sehr stark von der Wissensorganisation ab. Der Prozess der Verknüpfung von Informationen wird in der Fachsprache mit Chunking (Bündelung) bezeichnet. Bei Menschen, die ein funktionsfähiges Gehirn haben – das dürfte bei 99 Prozent aller Menschen der Fall sein – wird neue Information immer an bestehende angebunden. Und wenn die bestehende Information gut gespeichert war, dann kann man sich auch viel Neues merken. Das hat nichts mit Gehirntraining zu tun. Es gibt zwar Menschen, die viel Geld mit Gehirnjogging-Programmen verdienen, mit denen man angeblich die Kapazität seines Arbeitsgedächtnisses verbessern kann. Aber das alles ist ein frommer Wunsch, das funktioniert nicht. Wer regelmässig Kreuzworträtsel löst, mag sich dabei verbessern, auf seine Leistungen im Rechnen hat das keinen Einfluss. Zwei Formen von Wissen Denn Wissen ist nicht einfach Wissen. Die Kognitionswissenschaft hat zwei verschiedene Formen eingeführt. Die lassen sich zwar auf Gehirnebene nicht unterscheiden, tragen aber zum Verständnis bei, dass es unterschiedliche Wege gibt, um kompetent zu werden. Dass Paris die Hauptstadt von Frankreich ist, das ist sogenannt deklaratives Wissen. Das können wir
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in Worte oder Formeln fassen. Daneben gibt es das prozedurale Wissen, das ist das Wissen ‹wie›, z.B. wie man ein Handy bedient. Das sind oftmals automatisierte Handlungsabläufe, die nur schwer in Worte zu fassen sind.
«Es gibt zwar Menschen, die viel Geld mit Gehirnjogging-Programmen verdienen, mit denen man angeblich die Kapazität seines Arbeitsgedächtnisses verbessern kann. Aber das alles ist ein frommer Wunsch, das funktioniert nicht.» Wie muss nun das Wissen im Gedächtnis einer Person organisiert sein, damit es bei der Bewältigung einer Anforderung zum richtigen Zeitpunkt aktiviert und genutzt wird. Diese Frage stellt sich aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht. Wer über das entsprechende prozedurale Wissen verfügt, kann zum Beispiel einen Text lesen, ohne dass er jedes einzelne Wort entziffern muss. Beispiel: –Luat eienr Stduie der Cambrdige Unievrstiät speilt es kenie Rlloe, in welcehr Reiehnfogle die Buhcstbaen in eniem Wrot vorkmomen, die eingzie whctige Sahce
ist, dsas der ertse und der lettze Buhcstbaen stmimt.– Wem das nicht gelingt, der wird den Inhalt eines Textes kaum erfassen können, weil er zu stark am einzelnen Wort klebt. Wer Buchstabe für Buchstabe einen Text aufbauen muss, absorbiert somit die gesamte Arbeitskapazität. Differenziertes Lernen Diese Form von automatisiertem und prozeduralem Wissen erwirbt man noch relativ einfach durch Wiederholung, egal in welchem Alter. Das ist Lernen am Erfolg, man baut auf positiven Resultaten auf. Wenn es nur darum ginge, Schülerinnen und Schülern diese Form von Wissen beizubringen, dann könnte man dieses Ziel durch üben, üben, üben sicher erreichen. Vielleicht kombiniert mit einem guten System aus Zuckerbrot und Peitsche, um die Lernenden bei der Stange zu halten. Das würde einigermassen funktionieren. Fehler sollte man bei dieser Prozeduralisierung allerdings nicht zu oft machen, weil diese Fehler auch abgespeichert werden. Wenn man Wörter mal so geschrieben sieht und mal so, dann wird man sie nicht so schnell wiedererkennen. Komplizierter wird das Lernen, wenn es darum geht, Begriffe und Erklärungen zu erwerben, die relativ schwer an das anzubinden sind,
Elsbeth Stern Professorin Lehr- und Lernforschung ETH Zürich Dr. Elsbeth Stern studierte Psychologie an der PhilippsUniversität Marburg und an der Universität Hamburg. 1994 habilitierte sie sich mit einer Arbeit über «Die Entwicklung des mathematischen Verständnisses im Kindesalter». Nach Stellen an verschiedenen deutschen Universitäten nahm sie 2006 einen Ruf an die ETH Zürich auf eine Professur für Lehr- und Lernforschung an. Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde sie u.a. durch eine Untersuchung über den Einfluss des Lateinunterrichts auf die Intelligenzentwicklung. In Zusammenarbeit mit Aljoscha Neubauer veröffentlichte Elsbeth Stern ein Buch mit dem Titel «Lernen macht intelligent. Warum Begabung gefördert werden muss.» (Deutsche Verlagsanstalt, 2007). Wissenschaftliche Schwerpunkte sind neben der Lehr-Lern-Forschung, Kognitionspsychologie und Intelligenzforschung.
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was wir schon können. Erschwerend dabei ist, dass Lehrende und Lernende oftmals von einer verschiedenen Begrifflichkeit ausgehen, weil die einen ja schon mehr wissen als die andern. Die Diskrepanz zwischen Alltagswissen und Wissenschaft ist teilweise sehr gross. Zum Beispiel rollt ein Ball physikalisch aufgrund des Trägheitsprinzips. Trägheit im Alltag meint aber eher Stillstand. Da ist es entscheidend, Lernende bei ihrem Verständniskonzept abzuholen und dann allfällige Missverständnisse zu klären. Man muss mit dem Vorwissen der Lernenden arbeiten, man muss ihnen die Chance geben, ihre Erklärungsversuche darzulegen. Dazu gehört auch eine gute Fehlerkultur, auch falsche Aussagen können zu einem Erkenntnisgewinn führen. Man kann dann immer noch sagen, wo Erklärungen tragfähig sind und wo nicht. Aber nur so fühlen sich Lernende ernst genommen und entwickeln eine gewisse Offenheit dafür, ihre Konzepte zu erweitern und sich nochmals mit dem Stoff zu beschäftigen. Das ist eine erfolgversprechende Herangehensweise, wenn es darum geht, wirklich komplizierte Begriffe und Inhalte einzuführen. Dafür braucht es Zeit.
«Man muss mit dem Vorwissen der Lernenden arbeiten, man muss ihnen die Chance geben, ihre Erklärungsversuche darzulegen.»
von Genen sorgt irgendwann dafür, dass man es eben leichter oder schwerer hat beim Lernen. Es kommt gar nicht so selten vor, dass sich Kinder und Eltern nicht so ähnlich sind in der geistigen Leistungsfähigkeit, wie es das Sprichwort ‹Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm› besagt. So ist es nichts Unnormales, wenn Akademikereltern ein Kind bekommen, das nicht das gleiche Potenzial mitbringt. Da ist nichts schief gelaufen, das ist einfach bei der Befruchtung so passiert.
«Es gibt kein sogenanntes Intelligenzgen. Man kann davon ausgehen, dass sehr viele Gene zusammenwirken müssen, die über das ganze Genom verteilt sind.» Entscheidend dafür, was man mal kann, was man sich merken kann, wie gut man denken kann, ist das Wissen. Deshalb muss man sich das Wissen aufbauen, egal wie intelligent man ist. Aus zahlreichen Untersuchungen ist bekannt, dass man ein Weniger an Intelligenz durch ein Mehr an Fleiss in vielen Bereichen kompensieren kann. Umgekehrt zu glauben, man sei so intelligent, dass man nicht lernen müsse und trotzdem alles könne: Das geht völlig schief. » * Chase, William G., and Herbert A. Simon. 1973. «Perception in chess.»
Viele Lehrpläne sind so aufgebaut, dass man zuerst das lernen muss und dann das. Aber Lernen ist nicht wie das Besteigen einer Leiter. Es braucht eine gewisse Strukturierung in der Art und Weise, wie man etwas präsentiert. Aber man darf nicht erwarten, dass sich diese Struktur in den Köpfen der Lernenden abbildet. Diese müssen die Chance haben, ihre eigenen Konzepte mit den neuen Inhalten zu verknüpfen und mit der Zeit Querverbindungen zu bilden. Das ist dann möglich, wenn Lernende den Lernstoff selber formulierend mitschreiben oder in einem Partnergespräch erklärend vermitteln. Da steckt eine wichtige Eigenleistung dahinter. Rolle von Intelligenz und Begabung Hängt die Fähigkeit solchen Lernens von der Intelligenz ab? Intelligenz kann man messen, das Resultat zeigt sich im sogenannten Intelligenzquotienten. Dieser IQ sagt recht gut voraus, wie Lernende mit gewissen Herausforderungen zurechtkommen. Heute gilt als sicher, dass Intelligenz vererbt wird. Allerdings nicht wie die Hautfarbe, es gibt kein sogenanntes Intelligenzgen. Man kann davon ausgehen, dass sehr viele Gene zusammenwirken müssen, die über das ganze Genom verteilt sind. Eine grosse Anzahl
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Graziella Contratto
Führen in Musik und Wirtschaft Von der Geste zum Klang. Dirigenten oder Dirigentinnen, die vor dem Orchester stehen und den Takt angeben, gibt es noch gar nicht so lange. Diese Funktion kam erst mit der industriellen Revolution auf, als aus Werkmeistern «Chefs d’entreprise» wurden. Graziella Contratto zeigte in ihrem Vortrag noch weitere Parallelen auf zwischen ihrem Beruf und der Entwicklung in der Wirtschaft. Antizipation, Charisma und Flow sind wichtige Stichworte dazu.
Wer als Dirigent oder als Dirigentin ein Orchester führt, exponiert sich stark, kann sich nicht hinter einem Instrument – wie etwa dem Klavier – verstecken. Und so können Orchestermusiker und Orchestermusikerinnen sehr schnell ein Urteil fällen: Kann der was? Ist sie fähig, mit dem Orchester eine empathische Beziehung einzugehen oder nicht? Kennt die Dirigentin die Partitur oder kommt sie einfach mal «en passant» vorbei? In ähnlicher Form sind das Haltungen, denen wohl auch Führungspersonen begegnen, die in ganz anderen Gebieten tätig sind als in der klassischen Musik. Die Parallelen zeigen sich auch im historischen Rückblick.
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Dirigent als Teil des Orchesters Bis Mitte des 18. Jahrhunderts gab es an den meisten Fürstenhöfen eine Hofkapelle. Je reicher der Fürst war, desto teurere und internationalere Virtuosen konnte er sich ans Haus holen. So musizierten damals zum Beispiel die besten italienischen Geiger, die besten französischen Flötisten, die besten holländischen Organisten in Dresden. Weil das alles Solisten waren, entstanden daraus aber noch keine Orchester im heutigen Sinn: Da musizierten ein fantastischer Geiger, ein Cellist, ein Flötist, ein Cembalist. Die Besetzung war also eher solistisch angelegt und nicht chorisch, wie das später der Fall wurde. Der
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Dirigent war meistens derjenige, der am Cembalo sass, der sogenannte «Maestro al Cembalo». Der Cembalist spielte mit und hob für die wichtigsten Einsätze seine rechte oder linke Hand. Er blieb aber Teil des Ensembles. Im Gefolge der Mannheimer Schule Mitte des 18. Jahrhunderts waren es dann die Gebrüder Stamitz, die als erste Geiger aufgestanden sind und vom ersten Pult aus mit dem Bogen oder manchmal auch mit einer Papierrolle den Takt angaben. Auch sie waren aber immer noch Teil des Ensembles. Das änderte sich erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts, als die Idee eines Orchesters mit mehreren Musikern pro Stimme aufkam. Das hatte auch mit dem Aufstieg des Bürgertums zu tun. Nach der Französischen Revolution stieg das Selbstbewusstsein des Bürgertums, die Orchester wurden immer grösser und wichtiger.
«Wer in einer Führungsposition ist, muss den andern immer ein bisschen voraus sein.» Mit der industriellen Revolution änderten sich im beruflichen Alltag die Rollen. In der vorindustriellen Tradition ging es in einem Betrieb darum, dass man erst einmal als Lehrbub begann, dann Geselle wurde, Obergeselle, später mal Meister und irgendwann vielleicht Werkstattleiter oder Werkstattbesitzer. Man lernte den Produktionsprozess von der Pieke auf. Im 19. Jahrhundert kam es zur Geburt des «Chef d’entreprise». Die neuen Unternehmer wussten nicht mehr, wie man die Produkte produzierte. Aber sie mussten die Strategie entwickeln, wie ihr Produkt den grössten Absatz fand. Das war ihre Aufgabe. Ganz ähnlich veränderte sich auch die Funktion des Dirigenten. Entwicklung des dirigentischen Gestus Bis um 1800 war die Leitung ein integraler Bestandteil des Ensembles. Danach kam immer mehr die Tendenz, die Leitung nach aussen zu delegieren, von oben einzusetzen. Dadurch bekam der Dirigent etwas Göttliches. Der Dirigent ist die einzige Person, die steht, alle andern sitzen. Er ist der Einzige, der kein Instrument hat, sondern dieses seltsame Stäbchen zur Armverlängerung. Der Dirigent erscheint wie eine Verstümmelung der ursprünglich multifunktionalen Aufgabe. Ab 1800 gab es nur noch wenige Dirigenten, die auch Komponisten waren, als Beispiele wären Richard Wagner oder Karl Maria von Weber zu nennen, auch Felix Mendelssohn, das waren Anfang des 19. Jahrhunderts noch komponierende Dirigenten und Interpreten. Aber mit Hans von Bülow (1830–1894) war dann das Dirigentenmetier eigentlich geboren: Er komponierte nicht mehr, er interpretierte nur noch. Komischerweise wuchs mit dieser Wandlung der
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Mythos des Dirigenten. An dieser Entwicklung hatte aber auch das Publikum seinen Anteil, es war nicht nur so, dass sich die Dirigenten einfach in den Vordergrund gedrängt hätten. Führungsqualitäten sind gefragt Stellt sich die Frage, welche Qualitäten Männer oder auch Frauen zeigen müssen, um in der Funktion als Dirigentin oder als Dirigent Erfolg zu haben. Ein erstes Stichwort dazu heisst Antizipation. Wer in einer Führungsposition ist, muss den andern immer ein bisschen voraus sein. Die Frage ist: Worin voraus sein? Indem man zum Beispiel ein tolles Konzept hat, ganz intuitiv richtig führt oder eine sehr starke visionäre Seite hat. Das sind alles Aspekte, die sich auf eine Führungspersönlichkeit in der Wirtschaft wie auch im musikalischen Kontext übertragen lassen. Musikalisch lässt sich das noch etwas genauer fassen, was zum Beispiel den Umgang mit der Partitur betrifft. Heute muss man gegenüber früher sehr viel wissen. Lange Zeit ging es einfach darum, dass man sich als grosse Persönlichkeit ein Werk von Beethoven vorgenommen und gesagt hat: «So, das wird nun mein Beethoven.» Heutzutage geht das nicht mehr. Denn in der Zwischenzeit sind ein Nikolaus Harnoncourt aufgetreten, Rene Jacobs, Martin Kofsky, viele englische Dirigenten. Diese setzen sich einige Zeit in Bibliotheken, um herauszufinden, wie man ein Stück früher gespielt hat. In der Zwischenkriegszeit im 20. Jahrhundert klang Bach genauso wie Brahms, obwohl zwischen der Entstehung ihrer Werke fast dreihundert Jahre liegen. Heute muss ein Dirigent in Stilkunde Bescheid wissen und dieses Wissen in die Arbeit mit dem Orchester einbringen. Antizipation heisst aber auch, die musikantische Aktivität des Orchesters zu führen und zu verstehen. Wenn der Dirigent eine Geste macht, muss sie so klar sein, dass sie vom
Verschiedene Führungsstile Dirigieren ist nicht gleich dirigieren Um verschiedene Arbeitsweisen von Dirigenten zu illustrieren, zeigte Contratto verschiedene Videos. Als Vertreter der älteren autoritären Garde war Sergiu Celibidache zu sehen in einer Probe mit den Münchner Philharmonikern. Als Vertreter einer jüngeren Generation, die ihr Konzept mit den Musikerinnen und Musikern gemeinsam entwickeln, stand Antonio Pappano. Als persönliches Vorbild stellte Contratto schliesslich Carlos Kleiber vor, der eine Mischung aus klarer Führung und «Laisser faire» verkörpert. Wer in Youtube «Kleiber, Bauernpolka; Neujahrskonzert» eingibt, kann sich das Beispiel ansehen. Auch von Celibidache und Pappano gibt es Videos.
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Orchester aufgenommen werden kann. Sie muss verstanden werden. Das ist überall so, ob man als Lehrer vor einer Klasse steht oder als Dirigentin vor einem Orchester. Eine Geste, die wunderbar aussieht, aber keine musikalische Botschaft hinterlässt, trägt auch das interpretatorische Gefüge nicht. Da sind klare Anweisungen gefragt.
«Eigentlich entscheiden die Orchestermusikerinnen und die Orchestermusiker, ob ein Dirigent oder eine Dirigentin Charisma hat.» Vorbildfunktion ist wichtig Zum Antizipationsvermögen sollte die humane oder humanistische Disposition hinzukommen. Was ist damit gemeint? Gerade in der heutigen Zeit ist es wichtig, dass ein Dirigent einem Orchester etwas vorlebt. Es wäre sicher vermessen, als Karrierehopser in einem Jet von einem Orchester zum andern zu fliegen und dann zu erwarten, dass ein Orchester an irgendeinem Ort den Eindruck hat, dass der Dirigent eine tie fere Idee zu einer Partitur aufgebaut habe. Dafür braucht es Ruhe und Konzentration. Die sollte man sich suchen. Zentral beim Führen eines Orchesters ist auch das Charisma. Was ist damit gemeint?
Ist es jemand der unglaublich charmant wirkt, ist es jemand, der ohne geringste Anstrengung ein ganzes Orchester für sich einnehmen kann? Das gibt es wirklich. Gerade bei Dirigenten ist Charisma immer wieder anzutreffen. Aber entsteht Charisma aufgrund einer Disposition eines Orchesters, das einen Dirigenten verehren möchte? Max Weber hat Charisma mal so definiert: «Über die Geltung des Charisma entscheidet die durch Bewährung – ursprünglich stets durch Wunder – gesicherte Anerkennung durch die Beherrschten. Diese Anerkennung ist psychologisch eine aus Begeisterung oder Not und Hoffnung geborene ganz persönliche Hingabe.»* Das heisst, eigentlich entscheiden die Orchestermusiker, ob ein Dirigent Charisma hat. Die älteren, vielleicht etwas despotisch veranlagten Dirigenten haben auf das Wohlwollen der Untergebenen zählen können. Als Bedienstete setzten sie alles daran, die vom Dirigent als Alleinherrscher vorbereitete Interpretation perfekt zum Ausdruck zu bringen. Das hat sich heute verändert. Das Charisma eines Dirigenten ist sicher immer noch toll, wenn es frisch ist, vielleicht auch mit viel Enthusiasmus vermischt. Inzwischen sollten Dirigentinnen und Dirigenten die Orchestermusikerinnen und -musiker ernster nehmen. Dazu gehört auch viel Sachkenntnis, so dass man einem Musiker, der eine Sinfonie vielleicht schon fünfzigmal gespielt
Graziella Contratto Dirigentin Graziella Contratto kam 1966 in Schwyz zur Welt. Sie hat eine Ausbildung zur Konzertpianistin hinter sich, ist als Kammermusikerin und Musikdozentin tätig. 1998 wurde sie von Claudio Abbado als musikalische Assistentin an die Berliner Philharmonie und an die Salzburger Osterfestspiele geholt. Im Jahre 2000 wählte sie das Orchestre National de Lyon unter David Robertson zum «Chef résident». Zwischen 2003 und 2009 war Graziella Contratto Chefdirigentin des Orchestre des Pays de Savoie. Seit Juli 2007 ist sie Intendantin des Davos Festival – «Young Artists in Concert». Im Herbst 2010 übernahm Graziella Contratto die Leitung des Fachbereichs Musik der Hochschule der Künste Bern.
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hat, trotzdem noch eine Facette aus der neusten musikwissenschaftlichen Forschung präsentieren kann.
«Im Idealfall fliessen alle Energien der einzelnen Musikerinnen und Musiker zusammen. So kann es zu einem kollektiven rauschhaften Erleben kommen.» Zuletzt noch der «Flow», ein Begriff, der auch in der Wirtschaft beliebt ist. Rein medizinisch lässt sich von einer Kardialkohärenz sprechen, das heisst, die linke und die rechte Herzklappe sind in perfektem Einklang. Von der wirtschaftlichen Seite her kann man sagen, dass der «Flow» ein glückliches Zusammenfallen zwischen Vision und Umsetzung ist. Im Idealfall kommt es bei der Umsetzung eines Werks zu einer wunderbaren Übereinstimmung zwischen der Idee des Dirigenten und der tatsächlichen Umsetzung des Orchesters. Dabei sollten die Orchestermusikerinnen und Orchestermusiker weder überfordert noch unterfordert sein. Sind sie unterfordert, langweilen sie sich, üben nicht mehr und sind dann nur mittelmässig aufs Konzert vorbereitet. Sind sie dauernd überfordert, kommt es zu Stresssymptomen, zu gesundheitlichen Schäden und allgemeinenen Frustrationen oder es tauchen im Kollegium Probleme auf. Der
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«Flow» ist ein ziemlich heikles und sehr fragiles Gefühl, es ist eine Resonanz des inneren Erlebens mit der Umwelt. Im Idealfall fliessen alle Energien der einzelnen Musikerinnen und Musiker zusammen. So kann es zu einem kollektiven rauschhaften Erleben kommen, das sehr befriedigend ist. Das sollte auch Ziel des Dirigenten wie des Wirtschaftsführers sein. Der «Flow» beinhaltet eine Harmonie zwischen Körper, Seele und Geist, eine gesteigerte Leistungsorientierung, er basiert auf einem Zusammengehörigkeitsgefühl und ist erst noch sozialverträglich. Aus diesem Geist heraus können Spitzenleistungen entstehen, in der Musik wie in der Wirtschaft. *Max Weber; Wirtschaft und Gesellschaft. Kapitel III: Die Typen der Herrschaft; §10: Charismatische Herrschaft.
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Organisation: Boris Widmer
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SCHWEIZERISCHES FORUM FÜR ERWACHSENENBILDUNG Das «Schweizerische Forum für Erwachsenenbildung» fördert die Debatte um Weiterbildung und lebenslanges Lernen. Es gibt den an Bildungsfragen Interessierten eine gute Gelegenheit, neuste Entwicklungen kennenzulernen, sich auszutauschen und zu vernetzen. Das Forum findet einmal im Jahr im Herbst statt. Veranstalter ist das Bildungszentrum für Erwachsene BiZE in Zürich, welches die beiden öffentlichen Institutionen EB Zürich, Kantonale Berufsschule für Weiterbildung, und KME, Kantonale Maturitätsschule für Erwachsene, gemeinsam betreiben. Am Forum präsentieren Bildungsexperten und Persönlichkeiten in Referaten ihre Sichtweisen rund um Bildung und Beruf und regen die Teilnehmenden zur Diskussion über Trends und Perspektiven der Weiterbildung an. In dieser Broschüre sind die Referate des Forums 2010 in gekürzter und redigierter Form als Bericht oder als Interview enthalten. Weiteres Material zu den Referaten findet sich unter: www.swissadultlearning.ch. Das dritte «Schweizerische Forum für Erwachsenenbildung» fand am 18. November 2010 statt. Organisation und Moderation: Boris Widmer. Vormerken: Das vierte «Schweizerische Forum für Erwachsenenbildung» wird am 4. November 2011 stattfinden.
Stimmen zum Forum 2010 Die Teilnehmenden waren mit dem Gebotenen mehrheitlich sehr zufrieden. Das zeigt die Evaluation, die am Schluss des Tages durchgeführt wurde. Hier eine kleine Auswahl an Rückmeldungen aus der Rubrik «Besonders gefallen haben mir…» «… Inspiration von den Referierenden, das Vernetzen mit Teilnehmenden, die kulinarischen Köstlichkeiten.» «… die grosse Vielfalt.» «… kurze prägnante Ausführungen mit Bezug zur Praxis.»
«… die guten Referentinnen und Referenten – und: Das Mittagessen war sehr gut!» «… die Vielfalt der Referentinnen und Referenten mit ihren spezifischen Sichtweisen aufs Thema: höchst anregend.» «… dass alle Vortragenden sehr authentisch wirkten.» «… Organisation, Infrastruktur, Rahmen, kompetente Referent/innen, guter Mix w/m, Alter, Branche.» «… dass ich generell aus allen Referaten etwas mit nach Hause nehmen konnte.»
«… die unterschiedlichen Zugänge zum Thema.»
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Bildungszentrum fĂźr Erwachsene Riesbachstrasse 11 8008 ZĂźrich www.bize.ch