SFE Report 2011

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LERNEN OHNE GRENZEN Perspektiven der Weiterbildung Jacqueline Fehr, Paola Ghillani, Lucien Criblez, Gunter Dueck, Nadine Gembler, Bänz Friedli

Bildungszentrum für Erwachsene BiZE-Report 5 Februar 2012


IMPRESSUM HERAUSGEBER Bildungszentrum für Erwachsene BiZE, Zürich KONZEPT UND REDAKTION Serge Schwarzenbach, EB Zürich Christian Kaiser, silbensilber Fritz Keller, silbensilber GESTALTUNG Philipp Schubiger, Hubertus Design FOTOS Reto Schlatter DRUCK Kantonale Drucksachen- und Materialzentrale KDMZ

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5 EDITORIAL Dem Wachstum auf Erden sind Grenzen gesetzt, nicht aber dem Lernen.

6 JACQUELINE FEHR «Die Politik kommt nicht darum zu klären, was sie von der Weiterbildung will. Dafür brauchen wir das seit langem geforderte Weiterbildungsgesetz als Grundlage für die Zieldefinitionen.»

10 PAOLA GHILLANI «Wir sind in Krisen extrem kreativ: Krise meint ursprünglich die Fähigkeit, zu wählen, zu entscheiden. Dafür braucht es Mut: Courage. Und da schwingt das Wort Herz (cœur) mit.»

14 LUCIEN CRIBLEZ «Lebenslanges Lernen ist eine Chance, aber auch eine Zumutung. Man kann fast nicht mehr anders, als sich ständig weiterzubilden, weil der Druck nicht abnimmt.»

18 GUNTER DUECK «Professionelle Intelligenz umfasst die menschliche ‹Gesamthardware›: Es geht immer um ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Intelligenzen.»

22 NADINE GEMBLER «Die Erhaltung der Arbeitsmarktfähigkeit ist uns ein grosses Anliegen. Unsere Mitarbeitenden sollen auch in schwierigen Zeiten eine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben.»

26 BÄNZ FRIEDLI «Haushalt, Familie, das ist der wichtigste Job überhaupt. Der Job gehört aufgewertet, braucht dringend mehr Prestige und Anerkennung.»

31 DIE VERANSTALTERIN Das Schweizerische Forum für Erwachsenenbildung SFE fördert den Gedankenaustausch rund um Lernen und Weiterbildung.

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EDITORIAL Liebe Leserinnen, liebe Leser «If your only tool is a hammer, everything looks like a nail», provozierte Dennis Meadows jüngst in einem Streitgespräch den Nobelpreisträger von 1987 Robert M. Solow. Der sagt, dass ohne Wachstum keine wirtschaftliche und somit keine gesellschaftliche Entwicklung möglich sei. Meadows veröffentlichte 1972 seine berühmte Studie «Limits to Growth» (Die Grenzen des Wachstums), in der er und seine Mitautoren zum Schluss kamen, dass ein ständiges Wachstum die Erde und mit ihr die Menschen überfordert und letztlich die Welt zerstören wird. 40 Jahre nach dem Erscheinen seiner Studie fordert Meadows eindringlicher denn je, dass wir alternative Lebensformen entwickeln müssen. Genau das aber würden die Ökonomen verhindern, weil sie auf ein einziges Werkzeug fixiert sind, das Wachstum. Meadows hätte am diesjährigen Schweizerischen Forum für Erwachsenenbildung SFE «Lernen ohne Grenzen» seine Freude gehabt. Alternative Denkansätze wurden diskutiert, z.B. wie wir die Weiterbildung auf die Bedürfnisse einer modernen Gesellschaft ausrichten. Oder wie wir neue Werte im Handel umsetzen, die sich an Fairness und Respekt gegenüber den Produzierenden und den Produkten orientieren. Das Aufbrechen von überholten Mustern widerspiegelte sich auch in Gunter Duecks Aufforderung, dass wir uns nicht weiter auf das Sammeln von Qualifikationen und Abschlüssen versteifen sollten. Weit wichtiger sei es, «persönlich etwas zu Stande zu bringen» – sozial-, kommunikativ-, zusammenarbeits- und kreativkompetent. Wer das ständige Wachstum nicht als Quelle von Entwicklung, sondern als Ursache für Zerstörung beurteile, der habe die Ökonomie nicht verstanden, schimpfte Solow im erwähnten Gespräch. Meadows quittierte dies mit der lakonischen Bemerkung: «I don’t care what economists think.» Meadows Verweigerung könnte durchaus eine Alternative eröffnen: Wir lernen, wie wir das Denken künftig nicht nur den wachstumsorientierten Ökonomen überlassen. Hans-Peter Hauser Rektor EB Zürich

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JACQUELINE FEHR

«LERNEN OHNE GRENZEN: POLITIK MIT VORBILDFUNKTION?» Jacqueline Fehr, SP-Nationalrätin aus Winterthur, ist überzeugt, dass die Politik vormachen sollte, wie wir lernen. Sie fordert einen ehrlichen Diskurs über Ziele und Massnahmen. Lernen bedeute immer auch ausprobieren, Erfahrungen machen, entwickeln, in den Griff bekommen. Am Schluss gehe es darum, Erwartungen und Resultate möglichst deckungsgleich hinzukriegen. Probleme einfach zu negieren, sei der falsche Weg.

«Die Gesellschaft und damit auch die Politik sind lernende Organisationen. Wir haben gelernt, wie wir mit der AHV die Armut im Alter bekämpfen. Wir haben gelernt, mit welchen Massnahmen die Chancen arbeitsloser Menschen steigen, wieder eine Stelle zu finden. Wir haben gelernt, die Verkehrspolitik so auszurichten, dass mit den öffentlichen Verkehrsmitteln viele Menschen gleichzeitig auf umweltschonende Art von A nach B kommen. Und wir haben gelernt, wie man eine Drogenpolitik entwickelt, die Menschenleben rettet und die öffentliche Ordnung besser wahrt. Aber wir haben noch nicht alles gelernt. Armut im Alter gibt es nach

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wie vor. Und Arbeitslosigkeit auch. Die Verkehrspolitik steht nicht zum besten. Da steigt der Anteil des motorisierten Individualverkehrs zwar langsamer, aber er steigt. Und Drogentote gibt es weiterhin. Das Glas ist nicht leer Was also haben wir bisher gelernt? Das ist eine Frage des Standpunktes: Ist das Glas halb voll oder halb leer? Einig sind wir uns wohl, dass das Glas nicht leer ist. Und dieses nicht leere Glas ist der Beweis, dass die Gesellschaft ständig lernt. Sie verändert sich. Und Veränderungen basieren auf Erfahrungen und Erkennt-

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nissen. Wir stossen auf Probleme, dabei entstehen Reibungen, Bewegungen, Neugier, Abwehr. Wir schauen weg, wir starren hin. Wir wenden uns ab, wir treten ein. Wir verweigern uns oder wir beginnen zu handeln. Egal, was wir tun oder nicht tun: Wir sammeln damit Erfahrungen. Und diese lösen Prozesse aus, Prozesse, die uns zu Erkenntnissen führen. Und irgendwann handeln wir anders, gezielter, sicherer und bekommen das Problem in den Griff.

«Wir sammeln Erfahrungen. Und diese lösen Prozesse aus, die uns zu Erkenntnissen führen.» Wie aber lernen wir? Das bleibt oft ein Mysterium. Was uns genau die Impulse gibt, um Erlebtes zu Wissen und Erkenntnis zu verarbeiten, wissen wir nicht. Was wir aber wissen, ist die Tatsache, dass das Umfeld einen entscheidenden Einfluss auf unser Lernen hat. Am besten nachgewiesen ist dies in der Lernbiografie der Kleinsten. Kinder, welche die ersten Jahre mehrheitlich im geschlossenen Familiensystem verbringen, entwickeln sich quasi nach der Länge des Büchergestells der Eltern. Leben die Kinder in diesen ersten Jahren in einem bildungsbewussten Umfeld, in dem sie viele soziale, kulturelle und körperliche Lerngelegenheiten antreffen und wahrnehmen können, haben sie optimale Chancen, ihr Potenzial entwickeln zu können. Leben sie in bildungsfernen Familien, haben sie schlechte Chancen. Chancengleichheit – Chancenungleichheit Die schlechten Chancen am Startpunkt des Lebens können weder die obligatorische Schule noch die Weiterbildung ausgleichen. Unser Bildungssystem reproduziert die sozialen Ungleichheiten stärker als vergleichbare Länder wie die nordischen Staaten oder auch Kanada. Hauptfaktoren sind die späte Einschulung und die fast fehlende Frühförderung respektive die Tatsache, dass in der Schweiz Angebote wie Krippen und Kindertagesstätten nicht ins Bildungssystem integriert, für viele Eltern zu teuer und gesellschaftlich nach wie vor umstritten sind. 650 000 Menschen in der Schweiz haben keine Ausbildung auf Sekundarstufe II. Das entspricht bei den Männern 12 Prozent der Bevölkerung und bei den Frauen 20 Prozent. 49 Prozent davon sind Schweizerinnen und Schweizer, 51 Prozent Menschen ohne Schweizer Pass. Rund 800 000 Menschen sind sogenannte ‹funktionale Analphabeten› und rund 15 Prozent der heutigen Schulabgängerinnen und Schulabgänger verfügen gemäss PISA-Untersuchungen über unzureichende Basiskenntnisse in Lesen, Schreiben und Rechnen, können also weder Fahrpläne lesen,

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noch verstehen sie schriftliche Informationen der Behörden oder der Arbeitgeber.

«Von Weiterbildung profitieren die gut gebildeten weit stärker als bildungsferne Schichten.» Schlecht ausgebildete Menschen haben in unserer hoch entwickelten Gesellschaft Probleme. Statistisch erwerben Menschen ohne Ausbildung einen Drittel tiefere Einkommen als die Ausgebildeten. Das Risiko, Arbeitslosengeld zu beziehen, ist doppelt so hoch, und dasjenige, von der Sozialhilfe oder der IV abhängig zu sein, ist gar dreimal so hoch wie bei den Menschen, die mindestens einen Sek-II-Abschluss haben. Von Weiterbildung profitieren die gut Gebildeten weit stärker als bildungsferne Schichten. Von den Menschen ohne Sek-II-Abschluss besucht über die ganze Altersspanne gerechnet gerade mal ein Prozent eine spätere Ausbildung, darunter vor allem Menschen zwischen 25 und 34 Jahren. Nur gerade 4,3 Prozent der Menschen ohne Sek-II-Abschluss nehmen an einem Weiterbildungskurs teil. Und wie sieht es bei den gut ausgebildeten Menschen aus? Der Bildungsbericht 2010 weist auf ein paar interessante Fakten hin. So ist der Unterschied zwischen Menschen mit einem tertiären Abschluss und jenen mit einem SekII-Abschluss in Bezug auf die Weiterbildung mit einem Faktor von 1,2 nur gering. Die höheren Fachschulen und die Fachhochschulen spielen hier wohl eine wichtige Rolle. Frauen zahlen drauf Und eine zweite zentrale Feststellung: Frauen sind bezüglich Weiterbildung aktiver als Männer, bezahlen sie aber in viel höherem Ausmass selber. Erwerbstätige Frauen finanzieren 60 Prozent der Weiterbildung. Männer kommen nur für einen Drittel der Aufwendungen auf. Man kann hier mutmassen. Möglicherweise bildet sich hier die Tatsache ab, dass Frauen mehrheitlich in den schwach finanzierten sozialen und edukativen Branchen tätig sind, während Männer sich mehr in der Finanz- und Versicherungswelt oder in den technischen Domänen tummeln.

«Frauen sind bezüglich Weiterbildung aktiver als Männer, bezahlen sie aber in viel höherem Ausmass selber.» Auf jeden Fall hält der Bildungsbericht fest: ‹Würden sich die Frauen nur dann weiterbilden, wenn ihre Kurse durch den Arbeitgeber finanziert werden, so läge ihre Teilnahmequote an Weiterbildung deutlich tiefer als die der Män-

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ner. Frauen kompensieren die Ungleichbehandlung durch die Arbeitgeber (d.h. die Schlechter­ stellung bei der finanziellen Unterstützung), indem sie selber die Mittel für ihre Weiterbildung aufbringen. Der Geschlechtervergleich der Gruppe der vollzeitlich Erwerbstätigen zeigt, dass die Ungleichbehandlung, welche Frauen hier erfahren, nicht wirklich mit objektiven Tatbeständen erklärt werden kann, und es sich demzufolge um Diskriminierung handelt und eine Verletzung der Chancengerechtigkeit ist.› Über Wirkung reden, als Labor handeln Die Politik hat nach wie vor grosse Mühe mit der Diskussion um Wirkung. Welche Effekte ausgelöst werden, interessiert meist weniger als die Frage, was getan wird. In der Weiterbildung ist es nicht anders. Wenn Wirkung die Suche nach der Übereinstimmung zwischen Erwartung und Resultat ist, müssen wir uns genauer darüber unterhalten, was wir erwarten. Und wir müssen genauer feststellen, welches die Resultate sind. Methodisch müssen wir uns zur ständigen Überprüfung, zur Evaluation zwingen. Politik als Labor. Ziele setzen, Massnahmen umsetzen, überprüfen, Schlüsse ziehen, Anpassungen vornehmen. Ein ständiger Wirkungskreislauf mit

dem Ziel, Erwartungen und Resultate möglichst zur Übereinstimmung zu bringen.

«Politik als Labor: Ziele setzen, Massnahmen umsetzen, überprüfen, Schlüsse ziehen, Anpassungen vornehmen.» Versteht die Gesellschaft die Politik als Labor, verändert sich die Erwartung an sie. Lernen, ausprobieren, Erfahrungen machen, entwickeln, in den Griff bekommen statt aus der Welt schaffen, negieren, so tun als ob. Lernfelder im politischen Labor Im heutigen Bereich Weiterbildung sehe ich folgende gesellschaftliche und politische Lernfelder. Wir müssen Weiterbildung für alle Menschen zu gleichen Bedingungen zugänglich machen. Dieses strategische Oberziel muss unsere Aufmerksamkeit lenken. Wo braucht es Impulse, wo braucht es Korrekturen? Wie gestalten wir Weiterbildung so, dass sie nicht an Schule erinnert und damit auch schultraumatisierte, bildungsferne Menschen erreicht, jene Menschen, die einen grossen Bogen um alles machen, was nach Schule riecht? Welche Rolle

JACQUELINE FEHR Projektarbeiterin und Politikerin Jacqueline Fehr wohnt in Winterthur und vertritt den Kanton Zürich seit zwölf Jahren im Nationalrat. Sie schloss ein Studium zur Sekundarlehrerin ab und arbeitete einige Jahre als Lehrerin. Jacqueline Fehr absolvierte später ein Teilstudium in Psychologie, Betriebswirtschaft und Politologie. Neben ihrer politischen Tätigkeit ist sie als Projektarbeiterin tätig. Jacqueline Fehr ist Mitglied der SP Schweiz und als Vizepräsidentin auch in der Geschäftsleitung der Partei. Sie gehört zu den bekanntesten Politikerinnen der Schweiz: In einem Ranking der SonntagsZeitung im letzten Jahr wurde sie als einflussreichste Persönlichkeit des Schweizer Parlaments bezeichnet. www.jfehr.ch

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kommt den Arbeitgebern zu? Wie können Menschen an ihrem Arbeitsplatz weitergebildet werden und wie kann solche Weiterbildung Bestandteil und Aufgabe von Coaching, Begleitung und Führung werden? Wie muss die Weiterbildung finanziert sein, damit Frauen dieselben Chancen haben? Wie erreichen wir die Nichterwerbstätigen und dabei insbesondere die Mütter? Wie verhindern wir vererbte Bildungsaversion? Davon abgeleitet möchte ich folgende Ziele setzen: 1. Wir müssen die Nachholbildung und die Weiterbildung für die Nicht-Ausgebildeten so ausbauen, dass auch diese Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt die Chance haben, eine existenzsichernde und passende Arbeit zu finden. Dazu braucht es die Maxime: Bildung vor Beschäftigung. 2. Wir müssen Bildung besser validieren. Vor dem Hintergrund, dass wir vielerorts Erfahrungen machen und lernen, ist es umso wichtiger, treffgenaue Portfolios zu erstellen. Stichworte sind Anerkennung von Familien- und Freiwilligenarbeit, Ausbildungen in anderen Ländern, informelles Lernen … 3. Wir müssen Transparenz, Lesbarkeit und Durchlässigkeit herstellen. Die Unübersichtlichkeit schreckt ab und verunsichert.

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Wir müssen lernen, die Wirkung von Weiterbildung zu messen und darüber Auskunft zu geben.

Um diese Ziele zu erreichen, brauchen wir zweifellos das seit langem geforderte Weiterbildungsgesetz als Grundlage für die Zieldefinition, die Zuständigkeiten, die Qualität, die statistischen Grundlagen und die finanziellen Mittel. Die Politik kommt nicht darum herum zu klären, was sie von der Weiterbildung erwartet. Sie wird Entscheide fällen und Massnahmen beschliessen. Ob sie Wirkung zeigen, werden wir dann sehen, wenn wir die Resultate an den Erwartungen messen, daraus Schlüsse ziehen und die Massnahmen anpassen. Und so Politik als Labor verstehen – als Labor der lernenden Organisation, die Gesellschaft heisst.»

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PAOLA GHILLANI

DIE ALCHEMIE NACHHALTIGEN WIRTSCHAFTENS Fairness und Nachhaltigkeit in der Wirtschaft zu verwirklichen ist für Paola Ghillani nicht nur ein ehrgeiziges, sondern auch ein absolut notwendiges Anliegen. «Wir erleben besondere Zeiten, und wir können nicht einfach so weitermachen wie bisher.» Sie fordert von der kurzfristigen Profitmaximierung abzukehren und auf eine wahrhaft nachhaltige und ethische Wirtschaftsweise zu setzen. Die Schweiz sei dafür prädestiniert, zu einem «Valley der Nachhaltigkeit» zu werden. Obschon sich Ghillani selbst als «Optimistin von Natur» bezeichnet, sieht sie erst einmal vier grosse Krisen – sie spricht auch von «Katastrophen» – am Horizont aufziehen: 1. Eine neue Finanzkrise Bereits die Finanzkrise von 2008, verursacht durch die Deregulierungen im Finanzsektor, hat gezeigt: Es gibt diese Gier in der Finanzwelt, kurzfristig so viel Geld wie möglich zu verdienen. Dabei wird nicht mehr auf die Risiken geschaut, die sich daraus für die Gesellschaft und die Menschheit ergeben. Und: «Man muss nicht Einstein sein, um zu verstehen, dass die Regierun-

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gen selber am Rande der Pleite stehen werden, wenn sie Hunderte von Milliarden ausgeben, um die Banken und die Konjunktur zu stützen.» Am WEF in Davos hat Ghillani mehrmals Jean-Claude Trichet, den damaligen Präsidenten der Europäischen Zentralbank, getroffen: Es habe sie geärgert, wie er jeweils die kurzfristige Profitmaximierung als notwendiges Prinzip in der Finanzwelt verteidigt habe. Dann nach 2008 habe Trichet am WEF plötzlich zu den Bankern gesagt, die Bevölkerung werde bald auf die Strasse gehen, wenn die Finanzmanager nicht mehr Verantwortung übernehmen würden. «Trichet war visionär: Denn wer muss die Konjunk-

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turpakete und Bankenstützungen bezahlen? Der Steuerzahler.» Diese Krise ist noch nicht vorbei, weder in den USA noch in Europa; weder in Kalifornien noch in Griechenland ist der Staat noch in der Lage, die Löhne der staatlichen Angestellten zu bezahlen. Und das kurzfristige Profitdenken in der Finanzwelt hat sich noch nicht geändert; die Boni geben den Akteuren der Branche auf der Top-Ebene falsche Anreize. 2. Energiekrise Die fossilen Energien gehen zur Neige. Laut den Prognosen des wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung in Deutschland haben wir den Förderpeak bereits überschritten, während die Nachfrage weiter steigt. Das heisst: Fossile Energieträger werden immer knapper, die Preise steigen. Darauf wird auch an der Börse spekuliert. Die Kernenergie ist nach Fukushima weltweit ein Auslaufmodell. Eine Ausnahme bildet China, wo man weitere neue Kernkraftwerke bauen will. Frankreich ist zu 80 Prozent abhängig von der Kernkraft, und wenn dort die Bevölkerung aussteigen will, wird das sicher länger dauern als anderswo. Die Entwicklung alternativer erneuerbarer Energien wurde lange Zeit verschlafen. Jetzt wird es eine Phase geben, wo Energieeffizienz extrem wichtig wird, aber es braucht auch Anreize, damit rasch und viel in erneuerbare Energien investiert wird. 3. Klimatische und natürliche Katastrophen Hier seien die CO2-Problematik und die Erderwärmung zu erwähnen. Aber nicht nur der Mensch, sondern auch «das Universum» sei mitverantwortlich für die Häufung natürlicher Katastrophen: Die Intensivierung der Solarstürme führt zu magnetischen Feldern, welche bis zur Erde reichen und auch das magnetische Feld auf der Erde verändern. Nicht nur Kurzschlüsse und gestörte Funkverbindungen seien die Folge. Die Solarstürme könnten auch zu Veränderungen in der Tektonik führen oder die Erdachse leicht verschieben: Das sei eine mögliche Erklärung für das Wiederausbrechen von Vulkanen, Erdbebenaktivitäten und Tsunamis. 4. Landwirtschafts- und Ernährungskatastrophe Ein Teil der Ursachen für die drohende Ernährungskrise ist in der industriellen Lebensmittelproduktion zu suchen, welche die landwirtschaftlichen Flächen übernutzt, verödet und vergiftet. «Wir müssen zurück zu kleineren und mittleren Betrieben gelangen: Mit kleineren Gemeinschaften mehr Leute ernähren und mit weniger Giften.» Die Gifte verursachen Krankheiten, erhöhen das Krebsrisiko (selbst in der Schweiz mit seiner IP- und Bio-Landwirtschaft sind 4 von 10 Menschen mit Krebs konfrontiert): Pestizide, Herbizide, Fungizide. Viele Stoffe

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in unseren Nahrungsmitteln sind nicht gut für unseren Organismus: Konservierungsstoffe oder Farbstoffe sind petrochemischen Ursprungs. Courage kommt von Cœur Schwierig werde es, wenn alle vier Katastrophen zusammenkämen. Doch die gute Nachricht laute: «In solchen Situationen ist der Mensch extrem kreativ; Paradigmenwechsel werden möglich.» Vom griechischen Wort­ ursprung her ist Krise «die Fähigkeit, zu wählen und zu entscheiden». Dafür braucht es Mut: Courage. Da schwingt für Ghillani auch «Cœur» mit, das Herz. Um mutig zu entscheiden, reiche es also nicht, nur mit dem Kopf zu denken, das Herz sei dafür extrem wichtig. «Ich behaupte sogar: Das Herz ist der Stein des Weisen; es transformiert negative Situationen in positive.»

«Wir sind in Krisen extrem kreativ: Krise ist die Fähigkeit, zu wählen, zu entscheiden. Dafür braucht es Mut: Courage.» Jeder und jede könne und müsse immer wieder entscheiden und könne das mit oder ohne Herz tun. «Nehmen Sie das Beispiel von Kenneth Ley, der als Chef von Enron bis im Jahr 2000 Bilanzen und Erfolgsrechnungen manipuliert hat. Er war eigentlich ein guter Manager. Aber die Boni und Beteiligungsprogramme für das Management haben so falsche Anreize gesetzt, dass er mehr an sein Ego-System gedacht hat als an sein Öko-System.» Ethisches Handeln für das eigene Öko-System Mit diesem Öko-System meint Ghillani nicht nur die natürliche Umwelt; «Öko kommt von griechisch ‹oikos›, das Haus. Man muss an seinem Haus bauen, dass es dauerhaft ist.» Unsere Erde sei ein Haus, aber auch die Familie oder eine Firma. «Das alles muss man so nachhaltig wie möglich managen.»

«Es gibt auch viele ehrliche Menschen, die für die Finanzinstitute arbeiten.» Ihren Studenten am IMD in Lausanne versucht Ghillani eine Vorstellung davon zu geben, was ethisches Handeln ist. Ghillani selbst will dabei so pragmatisch wie möglich definieren. «Konfuzius hat etwas Interessantes gesagt: Das Gute und das Böse existieren nicht, es gibt nur menschliches und unmenschliches Verhalten.» Dank dem freien Willen, der uns von den Tieren unterscheidet, stehe es uns jeden Tag frei, in welche Richtung wir uns bewegen wollen. «Und niemand steht wohl mit dem Vorsatz auf: Heute will ich unmenschlich sein.»

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Aber hier komme eben eine andere Komponente ins Spiel, die uns vom rechten Weg abbringen wolle; diese wird für Ghillani durch «die sieben Versuchungen» oder die sieben Todsünden, wie sie in der christlichen Religion heissen, verkörpert: Superbia (Hochmut), Avaritia (Geiz, Habgier), Luxuria (Genusssucht, Wollust), Ira (Zorn, Wut, Rache), Gula (Völlerei, Selbstsucht), Invidia (Neid, Eifersucht), Acedia (Faulheit, Feigheit). Ghillani defniert entsprechend: «Ethik heisst, sich möglichst menschlich zu verhalten und auch zu versuchen, den sieben Versuchungen zu wiederstehen.» Profit für die Gesellschaft als Ganzes Auch in Bezug auf die Nachhaltigkeit ist für Ghillani eine Neudefinition gefordert. Die herkömmliche mit ihren drei Pfeilern «erfolgreiches Wirtschaften», «soziale Entwicklung» und «ökologische Verantwortung» ist ihr zu statisch. Das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung müsse viel mehr eine dynamische «Gewinnoptimierung auf allen drei Ebenen» sein. Noch erfolgreicheres Wirtschaften bei gleich bleibender sozialer und ökologischer Verantwortung reiche nicht. Firmen und Organisationen müssten auch ihren Beitrag zur sozialen Entwicklung verbessern und den negativen Einfluss auf die Umwelt reduzieren.

In diesem Zusammenhang erinnert Ghillani an den ursprünglichen Wortsinn wichtiger Zielgrössen: «Rendite heisst im Französischen <benefice>; das kommt aus dem Lateinischen und heisst eigentlich <Gutes tun>.» In dieselbe Richtung ziele das im Englischen und Deutschen verwendete Wort Profit; «Es bedeutet <für tun>, nicht <gegen>.» Ghillani: «Der Mensch ist das Ziel, die menschliche Entwicklung, nicht der Gewinn, nicht das Bruttoinlandprodukt.» Sie mag die grossen philosophischen Fragen: «Was ist der Sinn unseres Daseins? Materieller Wohlstand oder einfach menschlich zu sein? Was ist die Rolle der Wirtschaft? Ist sie ein Selbstzweck, muss man unbedingt die Produktivität erhöhen? Ressourcen sind begrenzt, wir können nicht immer mehr aus ihnen herausholen, auch nicht aus uns selbst. Es gibt heute extrem viele Burnouts: Wir sind Menschen, emotional, ein zeitlich begrenztes System, wir können nicht wie eine Maschine funktionieren.» Gefragt sind Alchemisten Deshalb propagiert Ghillani eine Art «Management by Alchemia»: «Was es braucht, sind Alchemisten: diejenigen, die daran glauben, dass es möglich ist, das Negative ins Positive zu transformieren.» Beispiele solcher alchemisti-

PAOLA GHILLANI Unternehmensberaterin und Dozentin Paola Ghillani ist in der Romandie aufgewachsen. Nach dem Studium der Pharmazie an der Universität Lausanne arbeitete sie 10 Jahre für die Pharmaindustrie. 1999 wechselte sie als Geschäftsführerin zur Max-HavelaarStiftung Schweiz, wo sie u.a. dank der Einführung der Fairtrade-Banane den Umsatz von 42 Mio. auf 210 Mio. Franken pro Jahr steigern konnte. Ghillani ist Mitglied des Verwaltungsrates des IKRK und war Präsidentin und Vorsitzende der internationalen Fairtrade-Organisation FLO. 2005 gründete sie ihre eigene Firma Paola Ghillani & Friends AG, mit der sie in der Förderung und Implementierung von Nachhaltigkeit und Ethik in der Wirtschaft aktiv ist. Sie erhielt diverse Auszeichnungen: So wurde sie am WEF 2000 als Global Leader for Tomorrow gewählt, 2009 erhielt sie den Grossen Binding-Preis. Sie hat sich am IMD Lausanne weitergebildet, wo sie heute 180 BWL-Studenten in Wirtschaftsethik unterrichtet. www.paolaghillani.ch

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scher Leaderfiguren von Unternehmern findet sie bei Rudolf Steiner (Weleda) und Gottlieb und Adele Duttweiler (Migros). Die 15 Thesen der Duttweilers findet sie heute noch aktuell und relevant für nachhaltiges Wirtschaften. «Gottlieb Duttweiler hat gesagt: <Der Geist ist mächtiger als Geld.> Und wenn man den Geist ins Zentrum stellt, kommt auch das Geld. Eine Erfahrung, die wir auch bei Max Havelaar gemacht haben.»

«Wir sind Menschen, emotional, ein zeitlich begrenztes System, wir können nicht wie eine Maschine funktionieren.» Schliesslich sei es der Max-HavelaarStiftung gelungen, mit der Fairtrade-Banane – einem Produkt, welches die wirtschaftliche, soziale und ökologische Verantwortung verkörpere – innert vier Jahren 50 Prozent Marktanteil zu erobern. Und das mit einem vergleichsweise winzigen Marketingbudget – notabene in einem riesigen Markt, der unter drei mächtigen Akteuren (Chiquita, Del Monte, Dôle) aufgeteilt war. «Am Anfang wurden wir ausgelacht, als wir uns einen Marktanteil von 30 Prozent zum Ziel gesetzt haben.» Am Ende habe die Banane von Max Havelaar weltweit die Entwicklung und die Einführung von Fairtrade-Produkten und -Labels befördert.

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Das neue Nachhaltigkeits-Valley: die Schweiz Es gebe zahlreiche andere Beispiele für solche Innovationen aus der Schweiz mit weltweiter Ausstrahlung. Ghillani wünscht sich ein entsprechend selbstbewussteres Auftreten. Ihre Botschaft für die Schweiz: «Unsere Kraft ist unser Kreuz.» Manchmal sei dieses Kreuz schwer zu tragen, aber es sei nach wie vor weltweit eine starke Marke, die mit menschlichen Werten verbunden sei. Ihre Vision ist, dass die Schweiz zu einem «Valley der Nachhaltigkeit» wird. «Die Schweiz hat alle Voraussetzungen dafür: Wir verfügen über so viel Innovationskraft, wir haben eine so gute Bildung!» Weil unsere Ressourcen so begrenzt sind, bleibe uns nichts anderes übrig, als kreativer und innovativer zu sein. Möglichkeiten sieht sie insbesondere in den Bereichen Wassermanagement, Abfallmanagement, Energieeffizienz oder erneuerbare Energien. Den Teilnehmenden gab sie einen Spruch der amerikanischen Anthropologin Margaret Mead mit auf den Weg: «Dont ever think that a small group of conscious and dedicated people aren‘t able to change the world. In fact this is the way it always happened!»

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LUCIEN CRIBLEZ

MIT DEN BILDUNGSSYSTEMEN WACHSEN DIE BILDUNGSBIOGRAFIEN: CHANCE ODER ZUMUTUNG? Expansion und Wachstum, so machte Lucien Criblez in seinem Vortrag deutlich, ist ein grundlegendes Phänomen von Schulen und Bildungsinstitutionen, spätestens seit dem 17. und 18. Jahrhundert. Das Wachstum war zuerst vor allem in der Volksschule zu spüren, sprang später auch auf die weiteren Stufen des Bildungssystems über – mit unterschiedlichen Folgen.

«Bildung ist ein teuflisches Gut, in dem Masse wie sein Bedarf wächst, sinkt sein Wert.» Dieses provokative Zitat des deutschen Bildungssoziologen Heinz Bude stellte Lucien Criblez seinem Vortrag voran, um damit auf das Problem eines immer mehr expandierenden Bildungssystems hinzuweisen. Dann kam er auf die Fakten zu sprechen. Wachstum nach oben und unten Laut Criblez wächst das Bildungssystem in zwei Richtungen. Zum einen wächst es nach unten. Vor der Grundschule kommen neue Bildungsbereiche hinzu. In den 60er und 70er

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Jahren des 20. Jahrhunderts war das der Kindergarten. Heute beträgt der durchschnittliche Kindergartenbesuch in der Schweiz 1,9 Jahre. Inzwischen wird darüber diskutiert, ob die Kinderkrippen nur eine Betreuungsfunktion oder auch einen Bildungsauftrag haben sollen. Das System wächst also weiter nach unten. Das Bildungssystem wächst aber vor allem nach oben. De facto ist heute ein Besuch einer Ausbildung auf der Sekundarstufe II obligatorisch. Jugendliche, die da nicht «mitmachen», gehören zu jenen, die potenziell mit Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt konfrontiert sind. De facto ist für ein erfolgreiches Gestalten des

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Berufslebens ein Abschluss auf Sekundarstufe II obligatorisch geworden.

«Das System wächst auch nach unten, aber vor allem nach oben.» Gleichzeitig wächst das Bildungssystem aber weiter über die Sekundarstufe hinaus. Die Hochschulabschlussquote beträgt heute in der Schweiz rund 27 Prozent, davon entfallen rund 15 Prozent auf die Universitäten und rund 12 Prozent auf die Fachhochschulen. Bei letzteren steigt diese Quote stärker an und es ist absehbar, dass in den nächsten Jahren Gleichstand erreicht wird. Nimmt man die Abschlussquote von rund 24 Prozent in der höheren Berufsbildung dazu, zeigt sich, dass heute mehr als jeder zweite Erwachsene einen Abschluss im tertiären Bildungsbereich erwirbt. Darüber hinaus belegen Zahlen, dass auch der Weiterbildungsbereich in den letzten Jahren beträchtlich gewachsen ist. «Das System wächst auch nach unten, aber vor allem nach oben», fasste Criblez zusammen. Differenzierung und Dezentralisierung Der Bildungshistoriker verwies auf einen weiteren Mechanismus: Das Bildungssystem wächst in die Breite durch Differenzierung und es wächst in der Fläche durch Dezentralisierung. Differenzierung meint, dass auf derselben Bildungsstufe, zum Beispiel der Sekundarstufe II, durch das Wachstum parallele Bildungsgänge mit unterschiedlichen Anspruchsniveaus und Abschlüssen entstehen. In der Schweiz hat sich so eine Dreiteilung ergeben sowohl im Berufsbildungsbereich (Berufsattest, Fähigkeitszeugnis, Berufsmatur) als auch auf Maturitätsebene (gymnasiale Matur, Berufsmatur, Fachmatur). Auch im Hochschulbereich zeigt sich eine solche Dreiteilung: Universität, Fachhochschule, Pädagogische Hochschule. Mit der funktionalen Differenzierung würde meist auch eine hierarchische Differenzierung, eine der Wertigkeit, einhergehen, hielt Criblez fest, wenn zum Beispiel verschiedene Sekundarabschlüsse bei der Lehrstellensuche nicht die gleichen Türen öffneten. Die Dezentralisierung zeigte sich vor allem in den 60er und 70 er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Da versuchte man, Bildungsinstitutionen ausserhalb der grossen Zentren zu schaffen, um die Bildungsbenachteiligung von Jugendlichen auf dem Land zu reduzieren. «Damit wollte man Bildungsreserven mobilisieren, um den Nachwuchsmangel zu beheben», sagte Criblez. Heute ist eher wieder ein Gegenprozess hin zu den Zentren feststellbar, weil Jugendliche viel mobiler sind.

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Vielfältige Gründe Das Bildungssystem wächst unter anderem, wenn die Bevölkerung wächst. Wenn die Geburtenrate steigt, hat dies nach wenigen Jahren Auswirkungen auf das Bildungssystem. Das Wachstum beginnt unten und setzt sich nach oben fort. Das Bildungssystem wächst aber auch, weil seit der Industrialisierung der Qualifikationsbedarf in Wirtschaft und Gesellschaft zunimmt: In der postindustriellen Gesellschaft ist der Bedarf an gut gebildeten Bürgern ungleich grösser als in einer Agrargesellschaft. Die Bildungsinstitutionen passen ihr Angebot den neuen Bedürfnissen jeweils an, und die Bildungspolitik definiert dafür neue Rahmenbedingungen. Wie wächst das Bildungssystem? Laut Criblez gibt es zum «Wie» unterschiedliche Thesen. Da ist zum Beispiel die Isomorphismus-These, laut der ein System andere Systeme nachahmt und sich ihnen angleicht, insbesondere in zukunftsoffenen und handlungsunsicheren Situationen. So stand die Schweiz wegen ihrer tiefen Hochschulabschlussquote immer wieder in der Kritik der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, OECD. Mit einer Erhöhung dieser Quote hat die Schweiz versucht, den steigenden Qualifikationsbedarf zu decken – und hat sich internationalen Verhältnissen anzupassen begonnen. Eine andere These besagt, das System wachse, weil die Erwartungen von Bevölkerung, Politik und Wirtschaft steigen. Wenn zwei Prozent eines Jahrgangs eine Matur vorweisen können, wie noch 1950, dann haben viel weniger Eltern die Erwartung, dass ihre Kinder auch ein Gymnasium besuchen, als wenn heute gut 20 Prozent eine Matur ablegen. Die grosse Menge fördert zudem das Bedürfnis, sich mit exklusiveren Abschlüssen von andern zu unterscheiden.

«Wir brauchen heute verstärkt sehr gut qualifiziertes Personal. Um das bereitstellen zu können, wachsen die Bildungsinstitutionen.» Beide Thesen erklären einen Teil der Bildungsexpansion, sagte Criblez. Einen weiteren Beitrag zur Erklärung kann die so genannte Sättigungsthese leisten. Sie geht davon aus, dass das Wachstum auf eine neue Bildungsstufe springt, wenn die jeweils untere Bildungsstufe gesättigt ist. Das lässt sich aktuell beobachten. Die Hochschulabschlussquote steigt rapide. Rund ein Drittel der jungen Erwachsenen absolviert heute in der Schweiz ein Hochschulstudium. Der Verschulungsprozess auf der Sekundarstufe II ist dagegen weitgehend abgeschlossen, also springt

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das Wachstum auf die nächste Stufe. Wenn man nun zehn, fünfzehn, zwanzig Jahre vorausdenkt, dann wird voraussichtlich der nächste grosse Wachstumsbereich die Weiterbildung sein. Verschiedenes deutet schon heute darauf hin (Attraktivität von Weiterbildungsmastern, Verankerung der Weiterbildung in der Bundesverfassung usw.). Ein Hochschulabschluss allein wird dann nicht mehr genügen; es braucht zusätzliche Qualifikationen aus der Weiterbildung, um sich von Mitbewerbern auf dem Arbeitsmarkt abzuheben. «Das ist zunächst einfach eine Beschreibung von Veränderungsprozessen, die ich nicht werten will», sagte Criblez. Ob man diese Entwicklung verhindern könne, wenn man es denn wolle, sei eine schwierige Frage. Aber der Zwang zur Unterscheidung führe zu einer Bildungsspirale mit steigendem Bedarf nach immer höheren Abschlüssen.

Spitzen: Universität, Fachhochschule, höhere Berufsbildung. Ausserdem ist es sehr viel durchlässiger geworden, fast alle Entscheide für den einen oder andern Bildungsweg sind revidierbar. Das ist nach Criblez ein «riesiger Zugewinn von Freiheitsgraden in einer liberalen Gesellschaft». Die Expansion hat dazu geführt, dass sich heute alle länger im Bildungssystem aufhalten. Die Ausbildung ist nach neun Schuljahren nicht abgeschlossen, sie ist auch nach dem Abschluss der Berufslehre nicht zu Ende. Lebenslanges Lernen ist eine Chance, aber auch eine Zumutung: Man kann fast nicht mehr anders, als sich ständig weiterzubilden. Die Möglichkeiten und der Wille, sich weiterzubilden, sind in der Gesellschaft aber sehr ungleich verteilt. Das Verteilungsprinzip ist relativ einfach: Wer hat, dem wird gegeben. Und: Der «Weiterbildungszwang» kann für das Individuum auch zur Last werden.

Folgen des Wachstums Criblez sieht positive und negative Konsequenzen dieses Wachstumsprozesses. Positiv wertet er, dass die Berufswahl und die damit verbundenen Ausbildungswege sehr viel flexibler geworden sind. Das Bildungssystem ist heute nicht mehr als klare Pyramide organisiert – unten breit die Volksschule und oben schmal die Universität. Das System hat inzwischen drei

Was tun? Criblez illustriert die entstandene Situation mit einem weiteren Zitat von Heinz Bude: «Darin steckt der Wahnsinn eines Entwertungsund Überbietungswettbewerbs. Höhere Qualifikation für den einen bedeuten unweigerlich niedrigere Qualifikationen für einen andern. Das ist der perverse Effekt der Inflation von Bildungszertifikaten durch Bildungsexpansion.» Bildung

LUCIEN CRIBLEZ Bildungsforscher Lucien Criblez hat in Bern Pädagogik, Psychologie, Geschichte und Germanistik studiert. Er war unter anderem im Erziehungsdepartement des Kantons Solothurn tätig. Als Bildungsforscher an den Universitäten Bern und Zürich beschäftigte er sich mit Bildungsgeschichte, Bildungspolitik, Schultheorie und Lehrerbildung. Später wurde er Professor für Pädagogik und Leiter des Instituts Forschung und Entwicklung an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz. Seit 2008 ist er Professor für Pädagogik mit Schwerpunkt Historische Bildungsforschung und Steuerung des Bildungssystems an der Universität Zürich. www.ife.uzh.ch

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ist zur entscheidenden Leistungskategorie unserer Gesellschaft geworden. Der «flexible Mensch» (Richard Sennett) kann sich auf dem Arbeitsmarkt gut verkaufen, wenn er über entsprechende Bildung verfügt. Die einfache Logik ist: Je mehr, desto besser. «Das kann man beklagen», sagte dazu Criblez, «aber es ist schwer zu ändern.»

«Lebenslanges Lernen ist eine Chance, aber auch eine Zumutung. Man kann fast nicht mehr anders, als sich ständig weiterzubilden.» Der Bildungshistoriker geht davon aus, dass dieser Wachstumsprozess weitergeht. Weiteres Wachstum im Bildungssystem verhindern zu wollen, wäre unrealistisch und wahrscheinlich auch unpraktikabel. Wo allenfalls Grenzen des Wachstums liegen, wage er nicht zu sagen. Der kritische Punkt könnte allenfalls die Finanzierung sein. Weiterbildung wohin? Was bedeutet das für die Weiterbildung? Die Weiterbildung ist laut Criblez inzwischen ein wesentlicher Teil dieses Systems. Dass die Weiterbildung seit 2006 in der Bundesverfassung

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aufgeführt ist, sei ein deutliches Zeichen dafür. Criblez verweist auf die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK), die bereits 2003 Empfehlungen zur Weiterbildung erlassen hat. «Die Kantone treffen geeignete Massnahmen, um die Weiterbildung allen Bevölkerungsschichten zugänglich zu machen. Sie unterstützen oder schaffen namentlich spezifische Angebote der Nachholbildung und Angebote für Bevölkerungsgruppen, die hinsichtlich Bildung situationsbedingt benachteiligt sind. Die Kantone fördern auch die Koordination innerhalb der Angebote sowie eine umfassende Information der Bevölkerung.» Was das im Einzelnen heisst, muss sich noch zeigen. Vieles im Bereich der Weiterbildung ist offen, nicht nur die Finanzierung. Die Kantone sehen sich jetzt – mit oder ohne nationales Weiterbildungsgesetz – in der Pflicht, diese Weiterbildungsansprüche in sichtbare Angebote umzusetzen. Dabei soll nicht einfach das Giesskannenprinzip gelten. Criblez findet es richtig, vor allem diejenigen zu unterstützen, die auf dem Weiterbildungsmarkt benachteiligt sind. «Das halte ich für eine richtige Strategie, aber sie muss erst noch konkretisiert und dann um- und durchgesetzt werden.»

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GUNTER DUECK

PROFESSIONELLE INTELLIGENZ STATT TÜTENSUPPE Gunter Dueck spürt den Trends in der Arbeitswelt von morgen nach. Der ehemalige Professor und Chief Technology Officer bei IBM ist sich sicher, dass wir künftig mehr Exzellenz im Beruf brauchen. Der Weg dorthin führt über die Verbesserung unserer «professionellen Intelligenz»; diese beinhaltet neben der Verstandes-Intelligenz (IQ) auch unsere emotionale, kreative, vitale, mentale und verführende Intelligenz. Die von ihm geforderte «Erziehung zur Professionalität!» müsse alle Teil-Intelligenzen miteinbeziehen und fördern. Um sein Anliegen zu illustrieren, stieg Gunter Dueck mit einer persönlichen Anekdote ein: «Es ist gar nicht so schwer nach oben zu kommen: Man muss nur hingehen. Von wegen Konkurrenz da oben; das ist Quatsch. Es ist keiner da. Mein Doktorvater beispielsweise wollte immer der Beste sein, war er auch. Sein Ziel war, den grössten Preis in der Nachrichtentechnologie zu gewinnen. Gleich am ersten Tag hat er zu mir gesagt: ‹Pass auf, Informationstechnologie ist kein Mainstream-Fach, das heisst, du musst richtig gut sein, wenn du je Professor werden willst. Hast du das verstanden? ‹Ja.› Wie lange willst du an so einer

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dösigen Doktorarbeit schreiben, vier Jahre wie jeder? Ich gebe dir erst einmal einen Halbjahresvertrag. Wenn du vier Jahre für eine Doktorarbeit verschwendest, hast du erst ein Paper. Du brauchst zehn Paper, um Professor zu werden, wie lange willst du das treiben? Vierzig Jahre? Es ist doch klar, dass du alle sechs Monate eine vernünftige Arbeit produzieren musst, sonst wirst du nie Professor. Hast du das verstanden? ‹Ja.› Ist dir auch klar, dass von den zehn, zwölf Arbeiten mindestens zwei, drei berühmt sein müssen? Drum: Fang gleich mit den berühmten an; mach von Anfang an was Richtiges, statt dich mit irgendwelchen Miniproblemen rumzuschlagen.›

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Mit dem Berühmten anfangen Nach vier Wochen hatte ich etwas geschrieben, wir waren zusammen beim Essen, und er hat die Arbeit vor allen Anwesenden zerrissen und gesagt: ‹Wir fangen mit dem Berühmten an.› Ja, und dann haben wir später diesen Preis gewonnen (siehe Kasten S. 20). Er hat immer gesagt: ‹Wenn du an was forschst, dann erklär doch mal deinem Grossvater, was darin der Fortschritt für die Menschheit sein wird. Wenn du das nicht kannst, dann fang erst gar nicht damit an.› Das habe ich alles beherzigt, mehr nicht. Denn er hatte total recht: Ich habe das bei IBM bei jeder Neueinstellung genauso gemacht; ich habe jedem gesagt: ‹Wisse, du bist hier beim Weltmeisterteam, und nicht Weltmeister sein wollen, das gibt es hier nicht›. Dann hat der vielleicht geantwortet: ‹Ich weiss nicht, ob ich das kann. Doch, ich stelle dich ein, weil ich weiss, dass du das kannst.› Meine Abteilung habe ich ‹Technologie für Optimierung – Consulting› genannt, ich habe sehr sorgfältig über den Namen nachgedacht, das heisst abgekürzt TOP mit einem hohen C – wie beim Orangensaft.

«Da gibt es verschiedene Sichten auf das Bildungssystem, und darüber müssen wir reden: Die einen sind die Ordnungskräfte und die anderen setzen sich für Sinn und Seele und wahre Bildung ein.» Meine Mitarbeiter waren dann die MA TOPs. Und dann haben wir auch alle akademischen Preise gewonnen, ist gar kein Problem. Dieses Mentoring, diese Förderung, das funktioniert. Aber dafür braucht man eine andere Form von Bildung. Da gibt es verschiedene Sichten auf das Bildungssystem, und darüber müssen wir reden: Die einen sind die Ordnungskräfte und die anderen setzen sich für Sinn und Seele und wahre Bildung ein. Die einen sagen immer: ‹Man muss vorankommen und einfach diesen Stempel erlangen, damit man einen bestimmten Beruf ergreifen darf›, das ist aber überhaupt nicht der Punkt.» Abgesang aufs Mittelmass Der Punkt für Dueck ist, dass uns ein «dramatischer Wandel» bevorsteht, der von uns allen berufliche Top-Leistungen fordern wird. Denn die Ära des Internets macht jede Art von mittelmässigem Fachwissen zum für jedermann zugänglichen Allgemeingut, Rechenmaschinen erledigen immer mehr Standard-Dienstleistungen ebenso gut oder sogar besser als die Menschen. Deshalb werde in absehbarer Zukunft

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niemand mehr bereit sein, für Mittelmässigkeit zu bezahlen, deshalb hätten mittelmässiger Service und Routinearbeiten schlicht keine Zukunft. Und das werde unsere Berufswelt natürlich radikal umkrempeln. «Im neuen Zeitalter müssen alle richtig gut sein», lautet seine zentrale Botschaft. Davon seien alle Berufsgruppen betroffen: der Automechaniker genauso wie die Ärztin, die Angestellte im Reisebüro ebenso wie der Anwalt. Patienten stellen aufgrund von Interneteinträgen Selbstdiagnosen, die Anwaltskundschaft wird dazu befähigt, einfache Prozesse selbst zu führen oder Firmen zu gründen. «Mittelmässige Experten sind schlechter als zwei Stunden surfen», bilanziert Dueck. «Das Mittelmass wird verschwinden. Und darum muss das Bildungsniveau insgesamt nach oben gehen.» Die Exzellenz-Revolution Uns bleibe nur eine Antwort auf diese Veränderungen und die lautet: Exzellenz – wahre professionelle Meisterschaft. Aber genau auf diese Exzellenz seien die heutigen Berufstätigen in keinster Weise vorbereitet. Im Dueckschen Originalton lautet das dann so: «Die Manager und die Verkäufer sagen immer wieder gern, sie seien Generalisten: ‹Ich weiss von allem nichts.› Hierin zeigt sich diese inhaltsfreie BWL-Sicht auf alles, was im Arbeitsleben fehlt.» Richtig spannend wirds, wenn Dueck ausdeutscht, worin genau denn dieses Fehlende besteht; er nennt es «professionelle Intelligenz». Diese professionelle Intelligenz setzt sich nach Dueck aus sechs Teil-Intelligenzen zusammen: Der IQ (Intelligenz des Verstandes) ist dabei nicht wichtiger als der EQ (emotionale Intelligenz), der CQ (Intelligenz der Kreativität), der AQ (Intelligenz der Anziehung oder Sinnlichkeit), der VQ (vitale Intelligenz) und der MQ (Sinn

EXZELLENZ UND MEISTERSCHAFT Die sechs Könnerstufen: 1. Noch nie davon gehört! 2. Schon davon gehört! 3. Ich kann einiges Leichte und helfe schon mit. (Lehrling) 4. Ich wende es in Grundzügen mit Erfolg an. (Facharbeiter) 5. Ich bin Experte und wende es professionell an. Alles klappt. (Meisterschaft) 6. Ich bin ein Massgebender, ich verbreite die Lehre und erweitere sie. Ich zeige die Erfolge. (Führender Experte, «world class»)

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für Sinn; Sinnstiftung und Intuition von engl. «meaning»). Dabei betont Dueck immer wieder, dass es im Berufsleben viel mehr brauche als Ausbildungswissen und klassische Bildung. Für wahrhaft professionelles Handeln seien «Geist, Herz und Hand» vonnöten. Die bisherige Vorstellung von Intelligenz beziehe sich allerdings lediglich auf die «Hirnhardware» des Menschen. Professionelle Intelligenz umfasse aber die menschliche «Gesamthardware», wobei für Dueck zu dieser Hardware eben auch die sogenannten weichen Kompetenzen (Soft-Skills) gehören. «Es ist nicht die EINE Intelligenz, die eine Rolle spielt, es geht immer um ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Intelligenzen.» Dueck fordert darum nicht weniger als eine fundamentale Abkehr vom herkömmlichen Intelligenzbegriff, der sich rein am IQ orientiert. Multi-intelligent und multi-kompetent Denn die Welt um uns erfordere immer stärker, dass wir «multi-intelligent» arbeiteten. Professionell intelligent ist, wer diese Teil-Intelligenzen nicht nur besitzt, sondern sie auch wohlgestaltend anwendet: «Wer einen hohen PQ (Professionalitäts-Quotienten) hat, schafft, dass es gelingt», sagt Dueck. Wie sehr die einzelnen TeilIntelligenzen nötig seien, um etwas «zum Klap-

pen» zu bringen, hänge von der Arbeit des jeweiligen Professionals ab. Im Grunde aber müssten immer alle sechs Teil-Intelligenzen zusammenspielen, damit Exzellenz möglich werde.

«Das Tütensuppen-System schafft keine Exzellenz, ja es zerstört die übrigen Intelligenzen wie etwa die Kreativität sogar.» Die Herleitung und Beweisführung dafür klingt bei Gunter Dueck live ganz simpel: «Ich habe mal ein paar Kompetenzen aufgezählt, die man im normalen Arbeitsleben so braucht.» Seine Liste der «Multikompetenzen», welche in der Berufswelt von morgen von jeder und jedem erwartet werden, reicht von sozialer Kompetenz über Kommunikations- und Kooperations- und Konfliktlösungsfähigkeit, Sach- und Führungskompetenz, Lernkompetenz, Sprach- oder Internetkompetenz bis hin zur Verkaufskompetenz – und umfasst insgesamt 24 verschiedene Kompetenzen. Der Erfolg ist in dir Dueck: «Man kann da jeden beliebigen Beruf nehmen, auch Bauarbeiter oder Taxifahrerin und im Einzelnen durchgehen: Soll er fachli-

GUNTER DUECK Informatiker, Buchautor, gefragter Referent Nach dem Studium der Mathematik und der Betriebswirtschaft promovierte Gunter Dueck in Mathematik. Anschliessend an die Habilitation war er fünf Jahre Professor für Mathematik an der Universität Bielefeld. 1987 zog es ihn zur IBM. 1991 erhielt er gemeinsam mit seinem wissenschaftlichen Vater den «Prize Paper Award der IEEE Information Theory Society» – einer Art Nobel-Preis in der Informatik. Knapp ein Vierteljahrhundert arbeitete er bei IBM, zuletzt als Chief Technology Officer, bis er im August 2011 mit 60 Jahren in Pension ging. Sehr schnell im Unruhestand angekommen, widmet er sich weiterhin schreibend und vortragend der Weltverbesserung; er hat u.a. zahlreiche Bücher verfasst und schreibt auch satirische Kolumnen im Netz. Die «Computerwoche» zählt ihn zu den 100 massgebenden Persönlichkeiten in der Informations- und Kommunikationstechnologie. Buchtipp: Gunter Dueck: Professionelle Intelligenz – Worauf es morgen ankommt. Eichborn, 2011 www.omnisophie.com

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che Kompetenz haben, analytische Kompetenz, soziale Kompetenz, soll er Methodenkompetenz haben, ... ja, ja, ja!» Hier sieht er aber eine grosse Lücke klaffen zwischen Soll- und Ist-Zustand. «Die fachliche Kompetenz ist total da, auch die analytische – und der Rest nicht.» Und Dueck akzeptiert auch keine Ausflüchte, wenn die gefragten Kompetenzen nicht vorhanden sind: «Immer wenn Projekte scheitern, bringen wir dieselben Ausreden: Ich hatte Mühe, meine Idee zu verkaufen, wir hatten Kommunikationsprobleme, keiner hat mir geglaubt, ich kann mich nicht durchsetzen, keiner wollte das Geld geben, blablabla. Seit Jahrzehnten immer dasselbe. Könnt ihr nicht damit aufhören? Jeder muss verstehen: Das Gelingen des Projektes ist in dir!»

«Immer wenn Projekte scheitern, bringen wir dieselben Ausreden: Ich hatte Mühe, meine Idee zu verkaufen, wir hatten Kommunikationsprobleme, keiner hat mir geglaubt, ich kann mich nicht durchsetzen, keiner wollte das Geld geben, blablabla.»

professionelle Intelligenz auszubilden: Die Bildungssysteme, insbesondere die Hochschulbildung, fokussierten einzig und allein auf den IQ – weil dieser leicht messbar und der Zuwachs an dieser Form der Intelligenz überprüfbar sei. Damit aber versäume man, die anderen wichtigen Teil-Intelligenzen ebenfalls zu fördern. Mit der Folge: «Die Ausgebildeten haben keine Ahnung von Menschen, keinen Sinn für das Neue, keine Ahnung von Verkaufen, keinen Willen, keine Sinnhaftigkeit.» Dueck spricht in diesem Zusammenhang viel und gern von «Tütensuppen-Bildung»: Die Päckchensuppe mit ihrem einfachen, ja idiotensicheren Rezept steht für Dueck metaphorisch für die Ausrichtung unseres Bildungssystems auf Nachahmung und Reproduzierbarkeit, auf simple, starre Vorgaben für Problemlösungen; und wer bloss lerne, eine Tomatensuppe aus der Tüte zu kochen, werde es halt kaum je zum herausragenden Chefkoch bringen. «Das TütensuppenSystem schafft keine Exzellenz, ja es zerstört die übrigen Intelligenzen wie etwa die Kreativität sogar.» Nach Dueck müssen wir uns deshalb dringend fragen, welche Form von Bildung und Weiterbildung wir brauchen, damit wir auch die künftig gefragten Intelligenzen erlangen.

Das Problem sei allerdings, dass unser Bildungssystem nicht darauf ausgerichtet sei,

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NADINE GEMBLER

«AUSBILDUNG IST IMMER EINE INVESTITION FÜR DIE ZUKUNFT» Coop ist mit seinen gut 50 000 Mitarbeitenden der drittgrösste Arbeitgeber der Schweiz. Aus- und Weiterbildung für all diese Mitarbeitenden sicherzustellen, ist keine leichte Aufgabe. Nadine Gembler, Leiterin Personal / Ausbildung, macht deutlich, dass innerbetriebliche Aus- und Weiterbildung dann Erfolg hat, wenn sie sich an den Bedürfnissen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter orientiert.

Frau Gembler, welchen Stellenwert hat die Ausbildung bei Coop? In unserem Leitbild steht unter anderem «Wir eröffnen unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine Fülle von beruflichen Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten» und «Wir setzen Massstäbe in Ausbildung und Information.» – Das sollen nicht nur leere Worte sein. Wir arbeiten konsequent und mit grosser Freude für dieses Ziel und investieren zwei Prozent des Umsatzes in die Aus- und Weiterbildung unseres Personals.

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Coop ist ein grosses Unternehmen. Lässt sich da überhaupt eine einheitliche Weiterbildungspolitik durchziehen? Wir haben für unsere gut 50 000 Mitarbeitenden sieben regionale Personalabteilungen, die sind alle gleich organisiert. In den diversen Kompetenzzentren sind alle Regionen vertreten und stimmen monatlich die Aufgaben und Schwerpunkte ab. Dies ermöglicht uns, dass wir national in die gleiche Richtung steuern. Insgesamt sind es 200 Mitarbeitende, die bei Coop für die Ausbildung arbeiten.

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Aber bei 50 000 Mitarbeitenden können Sie nicht für alle das gleiche Programm machen. Natürlich nicht. Wenn wir von den Mitarbeitenden reden, arbeiten 90 Prozent im Verkauf, 5 Prozent in der Logistik / Produktion, 5 Prozent in der Verwaltung. Knapp die Hälfte hat eine Lehre abgeschlossen, aber über ein Drittel sind ungelernt, haben in diesem Sinne keine Ausbildung. Mitarbeitende mit Hochschulabschlüssen gibt es nur wenige. 70 Prozent sind Schweizerinnen und Schweizer, 30 Prozent sind Ausländerinnen und Ausländer aus über 120 Nationen. 78 Prozent arbeiten bei uns im Monatslohn, 22 Prozent im Stundenlohn. Insgesamt arbeiten 60 Prozent Frauen, 40 Prozent Männer bei Coop. In diesem Sinne werden unsere Ausbildungsprogramme auf die individuellen Bedürfnisse der verschiedenen Bereiche ausgerichtet. Welche Ziele verfolgen Sie mit der Weiterbildung? Wir sagen von uns, dass wir eine lernende Organisation sind. Diesen Spruch haben natürlich nicht wir erfunden. Aber es ist so. Wir müssen vielen von unseren Mitarbeitenden immer wieder sagen, dass keine Weiterbildung nicht nur Stillstand, sondern sogar Rückschritt bedeutet. Das ist immer noch vielen zu wenig klar. Vor allem das ungelernte Personal verbindet Lernen eher mit «in die Schule gehen» und mit negativen Erlebnissen. Die haben nicht einfach Freude, wenn es um Weiterbildung geht. Aber gerade bei diesen Mitarbeitenden ist uns die Erhaltung der Arbeitsmarktfähigkeit ein grosses Anliegen. Unsere Mitarbeitenden sollen so ausgebildet sein, dass sie auch in schwierigen Zeiten eine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben. Das führt natürlich auch dazu, dass sie uns dann ab und zu verlassen, aber das ist uns immer noch lieber, als Mitarbeitende zu beschäftigen, die anderswo keine Anstellung finden würden. Alle unsere Mitarbeitenden haben Anrecht auf mindestens zwei Tage Ausbildung pro Jahr. Was passiert in diesen Ausbildungstagen? Zu etwa 50 Prozent sind das klassische Fachausbildungen, welche die erforderlichen Kompetenzen ausbilden, Verkaufsschulungen, Freundlichkeit, Systemschulungen etc. Die übrigen 50 Prozent sind bedarfs- oder projektorientiert. Es ist nicht mehr so wie früher, dass wir ein schönes Ausbildungsprogramm entwickeln und sich die Leute dann für einen Kurs anmelden, der mehr oder weniger etwas mit ihrer Arbeit zu tun hat. Wir haben noch wenige Kurse zur allgemeinen Arbeitstechnik, die angeboten werden. Alles andere ist eigentlich massgeschneidert für die Teams, und vieles ist Training on the job. Können Sie ein Beispiel dafür geben? Zum Beispiel wollen wir vermitteln, wie gelenkschonendes Heben und Tragen möglich

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ist, oder warum die Kühlkette einzuhalten ist. Solche Weiterbildungsaufgaben haben wir an die Geschäftsführenden der einzelnen Filialen oder an die Logistikverantwortlichen delegiert. Sie bekommen von uns eine Anleitung, wie sie die Schulung vorbereiten müssen, wie lange die Schulung dauert, was zur Nachbereitung gehört. In der Regel dauert eine solche Kurzsequenz 15 Minuten. Diese Schulungssequenzen erfolgen vor Ladenöffnung. Wir bilden hier sehr einfach und interaktiv aus, mit Bildern, Fragen, was durchaus auch einmal einen spielerischen Charakter haben darf. Und wie sieht die Erfolgsbilanz dieser Weiterbildungsmassnahmen aus? Das zu evaluieren ist nicht immer ganz einfach, die Nachhaltigkeit einer Ausbildung ist eine grosse Herausforderung, nicht zuletzt

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wegen dem relativ hohen Anteil der Teilzeitmitarbeitenden und aufgrund der Fluktuation. Wir haben aber in den vergangenen Jahren diesbezüglich grosse Fortschritte gemacht. Dafür braucht es natürlich die richtige Ausbildungsmethodik. Heute wird der Mitarbeitende immer stärker mit seiner Selbstverantwortung eingebunden. Diese Entwicklung haben wir ja im öffentlichen Schulsystem ebenfalls. Dürfen, sollen sich Ihre Mitarbeitenden auch extern weiterbilden? Natürlich, das ist uns auch sehr wichtig. Leute, die ihre Karriere bei Coop machen, sollen auch Anstösse von aussen bekommen. Wir unterstützen vor allem die eidgenössischen Fachausweise und Diplome. Das ist im Verkauf der Detailhandelsspezialist und neu der Detailhandelsmanager. In der Verwaltung haben wir aber immer häufiger auch Nachdiplomstudien, CASund MAS-Lehrgänge. 150 Mitarbeitende pro Jahr schliessen bei Coop ein eidgenössisches Diplom ab. Wir finanzieren diese Weiterbildungen, und die Leute dürfen auch teilweise während der Arbeitszeit ihre Weiterbildung machen, natürlich mit einer vertraglichen Verpflichtung, wie es die meisten Arbeitgeber machen.

Was macht Coop im Bereich der Nachwuchsförderung? Wir bilden viele Lernende aus und bereiten diese jungen Leute optimal für ihr Berufsleben vor. Das ist für uns eine Investition in die Zukunft, deshalb sind diese jungen Lernenden auch so wichtig für uns. Bereits in der beruflichen Grundausbildung legen wir grossen Wert auf die Selbstverantwortung, wie ich bereits vorher bei den Mitarbeitenden erwähnt habe. Diese fördern wir bei der Arbeit und zwischendurch auch in speziellen Weiterbildungstagen. Die Jungen sollen dabei vor allem an ihren Stärken arbeiten. Ein Motto, das wir ihnen mit auf den Weg geben, heisst: «Hey, ich packs!» Reicht ein solches Motto, um mit den Jugendlichen Erfolg zu haben? Natürlich nur, wenn das Motto auch gelebt wird und die Jugendlichen unterstützt werden, wenn sie sich mal in einer schwierigen Lage befinden. Wir übernehmen jährlich rund 70 Prozent aller Lernenden nach dem Lehrabschluss. Das zeigt, dass es für beide Seiten stimmt. Ich bin übrigens eine absolute Verfechterin des dualen Berufsbildungssystems in der Schweiz. Diese Art der Ausbildung bringt uns gerade im Detailhandel sehr viel.

NADINE GEMBLER Personalchefin / Leiterin Ausbildung Nadine Gembler absolvierte eine Ausbildung zur Lehrerin an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Später bildete sie sich zur eidgenössisch diplomierten Personalfachfrau weiter und hängte noch einen MBA an. Nadine Gembler ist 1998 als Personalberaterin beim Detailhandelsunternehmen Coop eingetreten. 2003 wurde sie Leiterin der Personalabteilung des Coop-Hauptsitzes in Basel. Nach 2007 war sie stellvertretende Leiterin Personal/Ausbildung national, und seit 2010 ist sie oberste Personalchefin und Leiterin der Ausbildung von Coop.

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Bleibt noch das Kader. Was kann es von der Weiterbildung bei Coop erwarten? Wir bieten für unsere Kader in einem 2- bis 3-Jahresrhythmus sogenannte Leadership-Programme an, z.B. Teamentwicklung, Führung, aber auch persönliche Themen wie Gesundheit, Ressourcenmanagement etc. Der Leadership-Zyklus, den unsere Kaderleute aktuell durchlaufen, ist dem Thema Selbstmanagement gewidmet. Da werden Fragen gestellt wie «Was sind die Werte von Coop?», aber auch «Wie sieht meine persönliche Wertvorstellung aus, beruflich wie privat?» oder «Kann ich mit meinen Ressourchen gut umgehen?», «Ist mein Energiehaushalt im Gleichgewicht oder laufe ich Gefahr, in einem Burn-out zu enden?». Wir schenken in diesem Leadership-Zyklus, der insgesamt zwei Tage dauert, den Kaderleuten einen halben Tag Zeit, um über diese und ähnliche Fragen nachzudenken. Sie sollen einfach mal aus dem normalen Trott rauskommen und bei sich selber genau hinschauen, was gut läuft und was weniger gut läuft. Selbstmanagement tönt gut. Aber heisst das nicht, dass der Einzelne Verantwortung übernehmen muss, wo eigentlich das Unternehmen gefordert ist? Das eine geht nicht ohne das andere. Der Einzelne ist gefordert, für sich selbst zu schauen, das Unternehmen muss den Raum schaffen, damit alle gute Arbeit leisten können. Sicher beispielhaft dafür ist unser Zielsetzungsprozess, an dem sich bei Coop jedes Jahr alle Kadermitarbeitenden beteiligen, dies sind über 3000. Alle erhalten fünf Ziele im Jahr und definieren pro Ziel drei Massnahmen . Die ersten vier Ziele sind individuell, das fünfte Ziel ist für alle Kadermitarbeitenden gleich und wird gemeinsam entwickelt.

3000 Mitarbeitenden geplant, mit einer Firma, die spezialisiert ist auf diese Arbeit mit Grossgruppen. Zusammen wollen wir versuchen, das Ziel Nummer fünf für das Jahr 2013 aus diesem Setting herauszukristallisieren. Ich freue mich darauf und bin sehr gespannt, wie das herauskommt. Vermutlich gibt das noch einmal eine ganz andere Dynamik, wenn wir auf diese Art das gemeinsame Ziel formulieren. Wo setzt sich Nadine Gembler die persönlichen Ziele für ihre Arbeit als Verantwortliche für die Ausbildung bei Coop? Vieles ist sicher gut aufgegleist, davon bin ich überzeugt. Die Ausbildungsabteilungen leisten eine engagierte und professionelle Arbeit. Potenzial sehe ich z.B. noch im E-Learning, das hat sicher Zukunft. Nur arbeitet die grosse Mehrheit unserer Mitarbeitenden ja nicht mit einem Computer, deshalb müssen wir für das OnlineLernen ein spezielles Konzept entwickeln. Das wird seine Zeit brauchen. In einem ersten Schritt denken wir daran, Lernzielkontrollen über den PC abzuwickeln. Alles bestens, also? Nicht ganz. Meine ganz grosse Herausforderung besteht in diesen schwierigen Zeiten für den Detailhandel darin, das Budget für Ausbildung stabil zu halten, es gilt, den Blick in die Zukunft zu richten. Wenn wir nicht konstant unsere Kader und Mitarbeitenden ausbilden und auf dem neusten Stand halten, so haben wir keinen Vorteil mehr gegenüber unseren Konkurenten. Denn Ausbildung ist immer eine Investition für die Zukunft, dafür stehe ich mit grosser Überzeugung gerne ein.

Ziele für das kommende Jahr herauszugeben, das passiert in vielen Unternehmen. Was ist bei Ihnen anders? In Zusammenarbeit mit der Geschäftsleitung entwickeln wir die Inhalte des Zielsetzungsworkshops. Für 2012 heisst das allgemeine Ziel: «Wir finden Lösungen». Im 2011 war es «Wir denken und handeln unternehmerisch», in anderen Jahren lautete es «Wir machen den Unterschied» oder «Wir konzentrieren uns auf das Wesentliche». Wäre es nicht sinnvoller, selber zu entwickeln, als fremdbestimmte Ziele annehmen zu müssen? Ziele und Strategien vorzugeben, gehört nun mal zu den Aufgaben einer Geschäftsleitung oder eines Vorgesetzten. Aber tatsächlich wollen wir nächstes Jahr etwas Neues ausprobieren: Wir haben eine Kadertagung im Juni 2012 mit

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BÄNZ FRIEDLI

«UNS HATS JA KEINER BEIGEBRACHT» Bänz Friedli gilt dank der meistbeachteten Kolumne des Landes als «Hausmann der Nation», aber der Hefezopf gelingt ihm immer noch nicht. Und er weigert sich, Fixleintücher zu falten. Den Männern habe ja keiner beigebracht, wie der Haushalt funktioniert. Friedli: «Ich würde gern die eine oder andere Weiterbildung absolvieren … zum Beispiel im Maschinennähen, aber daheim fällt so viel Arbeit an, dass ich dafür schlicht keine Zeit habe.» Ein augenzwinkerndes Plädoyer für den Wert der Haus- und Erziehungsarbeit.

«Haushalten will gelernt sein. Aber es hats einem ja niemand beigebracht. Schlimmer noch: Inzwischen wurde fast überall der Hauswirtschaftsunterricht auch für Mädchen abgeschafft, vorbei die Zeiten von ‹Rüebli-RS› und, wie es in Bern hiess, ‹Füfwücheler›, er wurde für Mädchen abgeschafft, statt dass man ihn auch für Burschen eingeführt hätte. Im Kanton Zürich wurde soeben an der Urne sang- und klanglos die Unterstützung für Hauswirtschaftskurse in den Gemeinden gestrichen. Schon eigenartig: Alle Politikerinnen und Politiker schwafeln, jedenfalls vor den Wahlen, dauernd von der Familie – ‹Meine Schweiz, mein

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Erfolg, meine Familie!› –, aber in Wahrheit hat die tatsächliche Haus- und Familienarbeit überhaupt keinen Stellenwert mehr. Sie soll nur noch rasch husch, husch nebenbei erledigt werden. Ein Grossverteiler (Nei, i säge nid wele …) wirbt für Fixfertigfood mit dem hirnverbrannten Slogan: ‹Mehr Zeit zum Leben!› Als ob Kochen, Kinder betreuen nicht gelebt wäre! Überhaupt der wichtigste Job Jetzt mal im Ernst und auf die Gefahr hin, dass Sie mich mit, sagen wir mal, Ueli Maurer verwechseln: Haushalt, Familie, das ist der wichtigste Job überhaupt. Der Job gehört auf-

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gewertet, braucht dringend mehr Prestige, Anerkennung. Gut, eine Differenz gäbe es da schon noch mit Ueli Maurer. Er meinte ja, unser Bundesrat, dass Mütter und nur Mütter zu kleinen Kindern schauen dürften. Krippen, Horte, Tagesschulen … das ist sowieso vom Teufel. Aber eben auch der Vater könne nicht zum kleinen Kind schauen, findet Maurer. Begründung: ‹Das ist einfach so in der Biologie.› Öhm … seither zweifle ich ein bisschen, ob vielleicht mit meiner Biologie etwas nicht in Ordnung … ‹Zum Kalb schaut ja auch die Kuh und nicht der Muni›, sagte er noch. Da wusste ich dann wenigstens, wer das Kalb ist. Aber im Ernst jetzt: Was gibt es denn gesellschaftlich Relevanteres, als Kinder auf ihrem Weg zu möglichst vernünftigen Erwachsenen zu begleiten. Ihnen gewisse Werte zu vermitteln, ihnen zu erklären, dass Erdbeeren im Sommer Saison haben und Sellerie im Spätherbst … und, ja, auch dies, ihnen einen gewissen Anstand beizubringen.

«Und woher haben wir unsere Erziehungsmethoden? Hat jemand sie uns beigebracht? Von wegen. Wir machens ‹nach bestem Wissen und Gewissen› … will heissen: nach schlechtestem Wissen und mit schlechtem Gewissen.» Dass es das noch gibt! ‹Wott der Bänzli no nes Redli Wurscht?›, fragte die Frau des Dorfmetzgers stets und reichte mir, ohne die Antwort abzuwarten, mit ihrer zweizinkigen Fleischgabel eine Scheibe Lyoner über die Glastheke, manchmal auch Fleischkäse, seltener Salami. Mich rührt, dass es Jahrzehnte später im Supermarkt in der grossen Stadt noch genauso geschieht. ‹Wott däm Wurscht?›, fragt eine – sofern ich das Namensschildchen richtig entziffere – Frau Stojanovic, und mit ‹däm› ist unser Hansli gemeint. Er streckt seine Hand nach dem Wursträdchen aus, schon herrsche ich ihn an: ‹Wi …› Und könnte mir sogleich auf die Zunge beissen. Himmel, Neiiin! Dass es auch das noch immer gibt! Eltern, die, noch ehe das Kind eine Chance hatte, von sich aus Merci zu sagen, dreinschnorren: ‹Wi seisch?!› Eltern? Was sage ich? Ich bins, der oberpeinlich den Erziehungsberechtigten markiert: ‹Wi seisch?!› Wie meist antwortet Hans, Wurst kauend und leicht eingeschnappt: ‹Ha … mpf … mmpf … scho lang … mmmpf … Merci gseit.› Die alten Bären neu aufbinden Und als Frau Stojanovic ihn nun in Schutz nimmt: ‹Sii! Däm hätt Dankä gsäit›, könnte ich für Momente mitsamt Einkaufswagen im Supermarktboden versinken. Man würde

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sich Reflexe wie ‹Wi seisch?!› und ‹Hesch Merci gseit?› gern abgewöhnen, denn es nervt einen, dass man nervt, wie die eigenen Eltern nervten. Andererseits möchte man ihnen ja doch ein Minimum an Umgangsformen vermitteln, so bünzlig einem dies zuweilen auch vorkommt: die Ellbogen beim Essen nicht auf die Tischplatte zu stützen, der Akkordeonlehrerin beim Grüezi sagen in die Augen zu schauen, die schmutzigen Winterstiefel vor der Wohnungstür draussen auszuziehen … solche Dinge, halt. Und wenn sie etwas wollen, sollen sie bitteschön ‹bitte› sagen. Und woher haben wir unsere Erziehungsmethoden? Hat jemand sie uns beigebracht? Von wegen. Wir machens ‹nach bestem Wissen und Gewissen› … will heissen: nach schlechtestem Wissen und mit schlechtem Gewissen …, kurzum: Wir machens so falsch … wie die eigenen Eltern es einst machten. Hans hat eifrig kneten geholfen, aber als er vom Teig naschen will, warne ich: ‹Du bekommst dann Bauchweh!› Und lange, kaum ist er aus der Küche, selber tüchtig zu. Mmmmh! Frischen Teig mochte ich schon als Bub fürs Leben gern. ‹Du bekommst dann Bauchweh!›, sagte meine Mutter stets, doch ich bekam nie welches. Schon eigenartig, wir binden unseren Kindern dieselben Bären auf, die unsere Eltern uns aufbanden. Entlarvte Elternlügen Liest ein Kind – ‹S isch drum grad sooooo spannend!› – mit einer Taschenlampe unter der Bettdecke, heissts: ‹Du wirst dann kurzsichtig!› Die Kleinen knabbern an einem Blatt Papier – ‹Du bekommst dann Würmer!› Sie essen, wie alle Kinder es tun, im Winter Schnee – ‹Der ist giftig!› Im Sommer: ‹Nicht trinken, nachdem du Kirschen gegessen hast! Entzündet den Blinddarm.› Im Herbst: ‹Zieh Socken an, du erkältest dich sonst!› (Unsinn, bei der Bodenheizung.)

«Männer an den Herd. Weil aber Männer eitle Säcke sind, wollen sie nur wichtige Jobs machen.» Die Elternlügen halten sich hartnäckig. Spätestens aber, wenn im ‹Blick› die unübertreffliche Eliane – meine Lieblingskolumne! – wieder mal von einem ratlosen Teenager gefragt wird, ob es stimme, dass Onanieren impotent mache, denke ich, wir sollten aufhören, unseren Kindern denselben Mist zu erzählen, der seit Generationen erzählt wird. Es müsste doch subtilere Erziehungsmethoden geben. Oder stimmt der Mist am Ende doch? ‹Vati, i ha Buuchweh›, klagt Hans am späten Nachmittag. Und statt mich zu grämen, dass ich sein Bauchweh mit meiner Drohung womöglich höchst selbst ausgelöst habe und es rein psy-

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chosomatisch ist, sage ich einen Satz, den ich als Kind nicht ausstehen konnte und der, wenn wir Erwachsenen ihn sagen, wirklich saudumm ist, denn er nützt dem Kind in diesem Augenblick wenig, ist bloss Machtdemonstration, Rechthaberei. Ich sage: ‹Ich habs dir ja gesagt.› Aber es ist schon verheerend, Haushalten wäre eine Wissenschaft, ein Fulltime-Job sowieso, aber bald kann es niemand mehr. Das Fatale ist, dass im Zuge der Gleichberechtigung die Hausarbeit abgewertet wurde. Je mehr die Berufswelt den Frauen offenstand, desto weniger galt die Hausarbeit. Ein Kollateralschaden der Emanzipation, den ich hundertfach verfluche: Der wichtigste Job der Welt gilt nichts mehr. Denn da gibt es kein MBA und keinen Bachelor und kein Was-weiss-ich-wie-all-die-Titel-sonstnoch-lauten zu holen, kein Diplom, keinen Bonus und schon gar keine Lorbeeren … Hausarbeit statt Riverrafting! Dabei wäre es für eine Gesellschaft von morgen, und obacht, jetzt klinge ich dann gleich wie einer dieser Politiker, aber es wäre für eine künftige Gesellschaft von entscheidender Wichtigkeit, der Haus- und Familienarbeit ihren Wert zurückzugeben. Denn dass die Frauen noch mehr in die Arbeitswelt integriert werden müssen, das ist mittlerweile keine Frage des ideologischen

Standpunkts und keine linke Träumerei mehr, sondern eine ökonomische Notwendigkeit. Kinder sollten sie trotzdem noch bekommen, sonst stirbt ja die Schweiz aus. (Wäre auch irgendwie schade. Nicht wahr, Herr Maurer?)

«Haushalt, Familie, das ist der wichtigste Job überhaupt. Der Job gehört aufgewertet, braucht dringend mehr Prestige, Anerkennung.» Dazu aber, dass nicht jede berufstätige Mutter unter ihrer Doppelbelastung zusammenbricht, weil sie zusätzlich zu ihrem 65-ProzentJob-Pensum daheim noch den ganzen Bettel allein macht, dazu müssen die Männer zu Hause mehr mit anpacken. Und zwar nicht nur in der klassischen Dreieinigkeit Grill, Garage, Garten, sondern echt: im Alltag. Rührei kochen, Fudi putzen, den Dreck unterm Fernsehmöbeli hervorklauben. Meine Idealvorstellung ist noch immer, dass Väter und Mütter beide Teilzeit arbeiten und sich die Hausarbeit teilen. So entstünde auch eine echte Bindung zwischen Vater und Kind, die entsteht nur im Alltag und wenn man ganz viel Zeit füreinander hat. Wenn ich Manager von ‹Quality time› schwadronieren höre, die sie

BÄNZ FRIEDLI Hausmann, Kolumnist, Satiriker Bänz Friedli lebt als Hausmann und freier Autor mit seiner Frau und den beiden Kindern in Zürich. 1983 bis 2005 war er für die Presse, das Radio und das Fernsehen in den Bereichen Sport und Populärkultur, unter anderen für «Das Magazin», «Rolling Stone», «Süddeutsche Zeitung Magazin», «La Repubblica», «Sportmagazin» und «Die Welt» tätig. Während zehn Jahren arbeitete er als Redaktor beim Nachrichtenmagazin «Facts». Seine «Pendlerregeln» in «20 Minuten» wurden Kult, heute schreibt Bänz Friedli wöchentlich im «Migros-Magazin» und, soweit es die Beanspruchung als Desperate Househusband erlaubt, für die «NZZ am Sonntag» und andere. Regelmässig bestreitet er die Samstagssatire «Zytlupe» auf Radio DRS1. Seine Pendler- und Hausmann-Kolumnen sind als Buch erschienen, seine Bühnenprogramme und «Zytlupen» gibt‘s auf CD. Buchtipp: «Wenn die mich nicht hätten», Orell Füssli 2011 www.derhausmann.ch

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alle vier Monate mal mit ihren Kindern verbringen, beim Riverraften oder Heliskiing oder sonst einem Schwachsinn, muss ich fast kotzen. Der Mann muss an den Herd. Aber dazu müssten es die Männer ja zuerst können. Und dann müssten sie es auch WOLLEN. Da wäre es vielleicht hilfreich, die kalifornische Studie heranzuziehen … wonach … je mehr der Mann im Haushalt hilft, der Sex in der Ehe desto besser sei. Ich, ähm, kann das nur bestätigen. Wer wollte Wissenschaftlern der Uni Berkeley widersprechen?

neusten Stand der Wissenschaft und sind durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Nachhaltigkeit ist ihr Leitmotiv, Sie sind initiativ, stark in der Kommunikation, besitzen Umsetzungsstärke, Einsatzbereitschaft, organisatorisches Geschick, strategisch-konzeptionelles Flair und eine ausgeprägte Fähigkeit zur Konfliktlösung. Kurzum, Sie sind eine verhandlungssichere und verantwortungsvolle Persönlichkeit, die sich durchzusetzen weiss.»

Klares Anforderungsprofil für Hausmänner! Männer an den Herd. Weil aber Männer eitle Säcke sind, wollen sie nur wichtige Jobs machen. ‹Wäisch, d Entschäidigsfindigsmatrix für de Level vom Ventschr Käppitel isch en Riiisetschällensch …› Man muss ihnen deshalb eine Schürze ‹Hier kocht der Chef› umbinden, und man muss den Beruf Hausfrau beziehungsweise Hausmann so definieren: Sie handeln proaktiv in einem selbstständigen und dynamischen Tätigkeitsbereich, Sie sind entscheidungsfreudig, flexibel, vielseitig, extrem belastbar, klar in Ihren Aussagen und konsequent in Ihrem Tun. Sie haben mehrjährige Erfahrung als Facility Manager, sind führungsstark, zählen pädagogisches Know-how zu Ihren Kernkompetenzen, sind im Food- und Non-Food-Bereich auf dem

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Organisation: Boris Widmer

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SCHWEIZERISCHES FORUM FÜR ERWACHSENENBILDUNG Das «Schweizerische Forum für Erwachsenenbildung» fördert die Debatte um Weiterbildung und lebenslanges Lernen. Es bietet an Bildungsfragen Interessierten eine ideale Gelegenheit, Denkanstösse zu erhalten, neuste Entwicklungen kennenzulernen, sich auszutauschen und zu vernetzen. Am Forum präsentieren Experten und Bildungsverantwortliche in Referaten ihre Sichtweisen rund um Bildung und Beruf, überraschen zum Teil mit unkonventionellen Denkanstössen und regen die Teilnehmenden zur Diskussion über Trends und Perspektiven der Weiterbildung an. Diese Broschüre gibt die am Forum 2011 gehaltenen Referate in stark gekürzter und redigierter Form als Bericht oder als Interview wieder. Weiteres Material zu den Referaten findet sich unter: www.swissadultlearning.ch. Das Forum findet einmal im Jahr im Herbst statt. Veranstalter ist das Bildungszentrum für Erwachsene BiZE in Zürich, welches die beiden öffentlichen Institutionen EB Zürich, Kantonale Berufsschule für Weiterbildung, und KME, Kantonale Maturitätsschule für Erwachsene, betreiben. Das vierte «Schweizerische Forum für Erwachsenenbildung» fand am 4. November 2011 statt. Organisation und Moderation: Boris Widmer. Vormerken: Das fünfte «Schweizerische Forum für Erwachsenenbildung» wird am 26. September 2012 stattfinden.

OECD: HUMANKAPITAL WÄCHST WELTWEIT UND STETIG Der OECD-Bildungsbericht 2011 gibt anhand verschiedener Indikatoren den Bildungsstand von Erwerbsgruppen und Ländern wieder. Der Bildungsstand wird oft als Kennzahl für das in einzelnen Ländern vorhandene Humankapital herangezogen, d.h. für die in der Bevölkerung vorhandenen Kenntnisse und Fähigkeiten. Gemessen wird der Bildungsstand anhand der prozentualen Anteile einer Bevölkerung mit einem bestimmten Bildungsabschluss. Einer der zentralen Schlüsse des Berichts lautet: «Nach einem Rückgang der Nachfrage nach Arbeitskräften für einfache Tätigkeiten und für Tätigkeiten mit geringen kognitiven Anforderungen, die von Computern übernommen werden können, verweisen jüngs-

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te Entwicklungen auf eine deutlich steigende Nachfrage nach Arbeitskräften, die komplexe Kommunikationsprozesse beherrschen und über ausgeprägte analytische Fähigkeiten verfügen.» (Siehe auch die Berichte ab S. 14 und S. 18) Dafür sei eine besser ausgebildete Erwerbsbevölkerung notwendig und darum steige die Nachfrage nach Bildung, Ausbildung und Weiterbildung in vielen Ländern rasch an. Die Wirtschaftskrise erhöhe nicht nur das Tempo der Veränderungen, sondern verstärke auch die Anreize für den einzelnen in Bildung zu investieren. Quelle: OECD: Bildung auf einen Blick 2011

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Bildungszentrum fĂźr Erwachsene Riesbachstrasse 11 8008 ZĂźrich www.bize.ch


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