Hwang Sok-Yong UNKRAUT und andere Prosa

Page 1

Hwang Sok-Yong UNKRAUT und andere Prosa

Edition Delta



Edition Delta Ko r e a n i s ch e Literatur Herausgegeben von Juana Burghardt


Die Übersetzung und Veröffentlichung der Erzählungen von Hwang Sok-Yong erfolgt mit freundlicher Förderung des Koreanischen Instituts für Literaturübersetzungen (KLTI) in Seoul

Deutsche Erstausgabe www.edition-delta.de info@edition-delta.de © 2011 Edition Delta, Stuttgart Alle deutschsprachigen Rechte © Originaltitel: Hwang Sok-Yong Falsche Blume (1971) (가화) An meinen Bruder (1972) (아우를 위하여) Kamelauge (1972) (낙타누깔) Unkraut (1973) (잡초) Der Weg nach Sampo (1973) (삼포 가는 길) Schweine bringen Glück (1973) (돼지꿈) Der Berg der Gräber. Ferner und einsamer Ort (1973) (북망, 멀고도 고적한 곳) Die zarten Hände einer Frau (1974) (섬섬옥수) Der Traum eines starken Mannes (1974) (장사의 꿈) Der wandernde Sänger (1975) (가객) Die Vögel von Molgaewol (1976) (몰개월의 새) Winterlicht (1976) (한등) Der Hahnenkamm blüht und verblüht (1977) (맨드라미 피고 지고) Das Tal (1987) (골짜기) Deutsche Lizenzausgabe mit Genehmigung von Éditions Zulma, Paris © an der Übersetzung: Kang Seung-Hee, Oh Dong-Sik, Torsten Zaiak und Martin Tutsch Umschlaggestaltung: Juana Burghardt Herstellung und Druck in Baden-Württemberg ISBN 978-3-927648-36-4


Hwang Sok-Yong

Unkraut

und andere Prosa

Aus dem Koreanischen von Kang Seung-Hee, Oh Dong-Sik, Torsten Zaiak und Martin Tutsch

Edition Delta



INHALT Falsche Blume

7

(übersetzt von Kang Seung-Hee, Oh Dong-Sik und Torsten Zaiak)

An meinen Bruder

25

(übersetzt von Kang Seung-Hee, Oh Dong-Sik und Torsten Zaiak)

Kamelauge

37

(übersetzt von Kang Seung-Hee, Oh Dong-Sik und Torsten Zaiak)

Unkraut

56

(übersetzt von Kang Seung-Hee, Oh Dong-Sik und Torsten Zaiak)

Der Weg nach Sampo

68

(übersetzt von Kang Seung-Hee, Oh Dong-Sik und Torsten Zaiak)

Schweine bringen Glück

(übersetzt von Martin Tutsch)

83

Der Berg der Gräber. Ferner und einsamer Ort

110

(übersetzt von Kang Seung-Hee, Oh Dong-Sik und Torsten Zaiak)

Die zarten Hände einer Frau

119

(übersetzt von Martin Tutsch)

Der Traum eines starken Mannes (übersetzt von Martin Tutsch)

Der wandernde Sänger

146

159

(übersetzt von Kang Seung-Hee, Oh Dong-Sik und Torsten Zaiak)

Die Vögel von Molgaewol

(übersetzt von Martin Tutsch)

Winterlicht

170

181

(übersetzt von Martin Tutsch)

Der Hahnenkamm blüht und verblüht (übersetzt von Martin Tutsch)

Das Tal

189

203

(übersetzt von Martin Tutsch) Glossar 219 Zeittafel/Hwang Sok-Yong 221 Der Autor/Die Übersetzer 223



Falsche Blume Es war zwanzig Minuten vor Mitternacht, als Mu den Nachtclub Paradies verließ, wo er – wie jeden Tag – seit dem frühen Abend Gitarre gespielt und dabei getrunken hatte. Heute waren die Gäste wesentlich zahlreicher gewesen als sonst, und außerdem war es auch ziemlich laut gewesen. Man trinkt wohl gern, wenn das Wetter schlecht ist. Als seine Musikerkollegen bereits nach Hause gegangen waren und man das Licht gelöscht hatte, war er noch an der Bar sitzen geblieben. Schließlich war er dort eingeschlafen. Nachdem ihm der Manager auf die Schulter geklopft und ihn so geweckt hatte, nahm er seine Gitarre und torkelte hinaus auf die dunkle Gasse. Abgesehen vom Trommeln des Regens, der auf seinen Schirm prasselte, und vom Rauschen des Wassers, das durch die Fallrohre strömte, herrschte Stille. An der Ecke, wo die Gasse in die Hauptstraße mündete, hielt er den Schirm schräg gegen den Wind und zündete sich eine Zigarette an. Die Gasse lag zwischen einem Bankgebäude und dem Hotel Freiheit. Ho-Tel-Frei-Heit, Ho-TelFrei-Heit, Heit-Frei-Tel-Ho blinkte schnell hintereinander die Neonreklame. Er blickte die Hauptstraße hinunter. Hin und wieder leuchteten die dicht fallenden Regentropfen im Scheinwerferlicht der vorbeifahrenden Autos silberfarben auf. Über ihm verlief eine Hochstraße. Dahinter zeichneten sich hier und da die dunklen Pfeiler einer Bauruine ab. Gerade in dem Moment, als Mu eine andere Gasse erreichte, überquerte ein großer LKW mit hoher Geschwindigkeit die Kreuzung und hupte. Das Seitenfenster gab eine Sekunde lang den Blick auf das Profil des Fahrers frei. Wie bei einem abendlichen Spaziergang im Wald, wenn er den senkrecht aufsteigenden Rauch beobachtete oder sah, wie Papierfetzen über den leeren Kinderspielplatz geweht wurden, oder wenn er die in einem kalten Regenschauer des Spätherbstes naß gewordene, im Wind flatternde Wäsche erblickte, hatte er auch jetzt das Gefühl, irgendeine einsame Gestalt gesehen zu haben. Direkt hinter sich vernahm er eine heisere Stimme, die ihn ansprach. Irgendetwas drückte gegen seinen Regenschirm. Es war eine Hand, die eine rote Blume hielt. Sie flüsterte. Das Geräusch brach sich an den hohen Mauern und klang in der Gasse nach. Der Atem der Alten verbreitete einen wahrhaft üblen Geruch. Sie war eine abstoßende, alte Frau und hielt ihr Gesicht ganz nah vor seine Brust. Ihr Kopfhaar war zu beiden Seiten des Scheitels ausgefallen. »Kaufen Sie die Blume. Es ist die einzige Chance.« Durch die Lücke, die ihre fehlenden Schneidezähne hinterlassen hatten, drang ihr Lachen. Verwirrt nahm Mu die Blume entgegen. Während er, die Gitarre zwischen den Knien, nach Geld suchte, fuhr die Alte unbeirrt fort: »Die Blume paßt zu Ihnen.« »Wieso denn?« »Weil Sie noch jung sind. Sie können noch lieben.« Er steckte sich die Blume in die Hemdtasche und hörte, wie sich ihre Stimme lachend in der Dunkelheit entfernte: »Ich wünsche Ihnen Glück ... Glück ... Glück!« Er stieg aus dem Taxi, das die steile, rutschige Straße nicht hinauffahren konnte, und

7


ging schwankenden Schrittes nach Hause. Nur mit Mühe erreichte er das Treppenhaus. Sein Kopf war zwar klar, seinen Körper aber hatte er nicht unter Kontrolle. Im engen Treppenhaus hielt er kurz inne und machte eine Pause. Seine Beine zitterten. Auf dem Weg in die dritte Etage verfehlte er eine Stufe und wäre beinahe gestürzt. Seine Wohnungstür stand offen. Im dunklen Zimmer sah er die Gestalt eines Menschen. Er räusperte sich. Dann legte er die Gitarre auf den Boden, nahm den Regenschirm in beide Hände und betrat das Zimmer. »Wer ist da?«, rief er und drückte auf den Lichtschalter. Zwar machte es Klick, doch das Licht funktionierte nicht. »Ich bin es. Der Regen war so laut, daß ich dich nicht habe kommen hören.« Mu erkannte die Stimme der Frau nicht. Nur widerwillig näherte er sich ihr. »Wer sind Sie denn?« »Ich habe lange auf dich gewartet.« Sie trat ihm freudig entgegen und legte ihre kleinen, kalten Hände auf seine Handrücken. Mu spürte einen unangenehmen Druck in der Herzgegend, einen Schmerz, der sich schnell in seinem ganzen Körper ausbreitete. Er bemühte sich jedoch, ruhig zu bleiben. Dann legte er ihr den Arm um die Schulter und ließ die Hand herunterhängen und ein wenig schwingen. »Ich bin überrascht, daß du gekommen bist.« »Ich habe wirklich lange nach dir gesucht.« Obwohl er betrunken und sehr erregt war, entgegnete er vollkommen gefaßt: »Gesucht? Nach mir?« »Ja, sehr lange ... endlich habe ich dich gefunden.« »Ich habe gehört, du hast geheiratet?«, fragte er tonlos, als hätte er kein wirkliches Interesse an der Antwort. »Ich habe mich scheiden lassen. Ich bin jetzt wieder allein.« Ihre Schultern bebten heftig. Er berührte ihr dünnes, durchnäßtes Kleid. »Es ist naß. Bist du im Regen gekommen?« »Ja, zu Fuß«, sagte sie. »Du hast dich gar nicht verändert. Du bist wie ein Kind.« Er erwiderte nichts, sondern lauschte nur aufmerksam ihrer Stimme und dem, was sie sagte. Sie sagte: »Tu nicht so gelassen.« Er ließ sich auf einen Stuhl fallen und betrachtete sie, wie sie im dunklen Zimmer geräuschlos auf und ab ging. Er konnte noch immer nicht glauben, daß sie ihn besuchte. Plötzlich überkam ihn die Angst, sie könnte auf einmal wie Schnee dahinschmelzen und verschwinden. »Hast du eine Kerze?«, fragte sie. »In der Schublade.« Sie zündete die Kerze an. Ihr schwaches Licht erhellte den Fußboden. Der flackernde Kerzenschein warf ihre Schatten an die Wand. Sie trug eine Art Abendkleid. Es war weiß und mit Spitze besetzt. Mit der Hand strich sie sich die leicht zerzausten, nassen Strähnen aus der Stirn. Nachdem sie ihre Haare getrocknet und das Bett bereitet hatte, ließ sie sich mit angezogenen Beinen darauf nieder. Dann legte sie ihr Kinn auf die Knie und blickte 8


in das Kerzenlicht. Hinter dem Fenster zuckte ein Blitz auf. »Was ist denn los?« »Ich habe es erst heute erfahren. Vorher habe ich weder etwas von dir hören noch zu dir kommen können.« Mu bemerkte überrascht, daß ihr Gesichtsausdruck weder sorgenvoll noch traurig war. Immerhin hatte sie früher stets einen sehr verängstigten und erschöpften Eindruck gemacht. »Vor langer Zeit ...«, er zögerte einen Moment, »... bin ich einmal bei deiner Wohnung gewesen. Du warst aber schon ausgezogen. Auch die Nachbarn wußten nichts mehr von dir.« »Ja, so war es. Was machst du jetzt?« »Ich habe erst seit kurzem einen festen Job. Aber ich sollte aufhören, in der Bar zu spielen.« Mu spielte bei der Hausband im Paradies. Einmal war seine ältere Schwester aus der Heimat zu Besuch gekommen und wollte ihn zur Heirat überreden. Sie bedauerte sehr, daß er diesen verdammten Beruf nicht aufgab und tagsüber faulenzte, um abends für diese armseligen Trinker Gitarre zu spielen. Auch er selbst war damit schon lange nicht mehr zufrieden. Aber was sollte er anderes tun? Schon während er gemeinsam mit den anderen Musikern im Aufenthaltsraum hinter der Bühne auf seinen Auftritt wartete, begann er zu trinken. Denn um die Gäste in gute Laune versetzen zu können, mußte er zunächst einmal sich selbst in Stimmung bringen. Wenn er trank, wurden sein Kopf und seine Muskeln warm, seine Finger glitten lockerer über die Saiten. Sobald das Licht auf der Bühne anging, stellte der Conferencier die Hausband vor und das Publikum klatschte. Das Licht der Scheinwerfer liebkoste ihn von Kopf bis Fuß. Hatten sie mehrere Lieder hintereinander gespielt, trat ein Sänger hinzu und begann zu singen. Die Musiker pausierten nun abwechselnd an einem Tisch bei der Bühne und tranken. Sie leerten jedes der Gläser, die man ihnen von allen Seiten zukommen ließ. Als hätten alle nur darauf gewartet, wurde beim Finale die beste Musik gespielt. Danach machten sich die Trinker auf den Heimweg, und in der Bar wurde es still. In dieser Ruhe kehrten die betrunkenen Musiker in ihre eigene Welt zurück. Sie sagte: »Ich hätte nicht gedacht, daß du noch allein lebst.« »Heiraten kann jeder.« Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er unbedingt heiraten wollen. Gleich nachdem man ihn aus dem Musikchor entlassen hatte. Doch wie das Leben so spielt, war die Frau, während er noch zögerte, bereits fortgegangen. Diese Frau aber, mit der er schon vor langer Zeit sein Leben hatte teilen wollen, saß jetzt neben ihm. Wenn man einfach so vor sich hin lebt, und die Zeit vergeht, kommen einem die Geschehnisse der Vergangenheit irgendwann nur noch lächerlich vor. »Ich war sogar auf der Insel.« »Auf der Insel?« »Ja, vor ein paar Jahren ... in der Nachsaison.« »Ich war letztes Jahr auch da. Ich wohne jetzt dort.« »Was, auf der Insel?«, fragte er überrascht. Sie aber gab ihm nur eine merkwürdige Antwort. 9


»Nein ... jetzt bin ich ja hier.« »Ich habe es nicht gewußt«, sagte er reuevoll, »ich habe es damals wirklich nicht gewußt.« »Was denn?«, fragte sie und lachte fröhlich. »Ich hatte wirklich keine Ahnung«, antwortete er. »Es hätte auch nichts geholfen, wenn du etwas davon gewußt hättest. Ein Kind kann ich ohnehin nicht mehr haben.« Er erinnerte sich, wie er einst über den Hügel und durch den Kieferwald mehr als vier Kilometer weit gerannt war, um nach einem Gurkenbeet zu suchen. Sie war mitten in der Nacht aufgewacht und hatte plötzlich Gurken essen wollen. Als er mit einigen großen Gurken wieder nach Hause gekommen war, hatte sie schon wieder fest geschlafen. »Ich habe sie auf der Insel von Anfang an beobachtet. Es waren drei.« »Du hast sie gesehen?« »Ja.« »Das dachte ich mir, das war schließlich meine Absicht.« »Absicht? Heißt das, du wolltest, daß ich euch dabei beobachte?« »Ja, so ist es.« Ruckartig hob sie ihr Kinn, als wollte sie ihn provozieren. Er hätte gedacht, daß ihr Hals etwas dicker geworden wäre und sich um ihre Augen erste Falten zeigen würden. Aber ihr Gesicht und ihre Stimme waren genauso mädchenhaft wie damals. Und sie sah auch ebenso erbärmlich aus. Wie manche Frauen, die verlassen worden waren, sprach sie mit übertriebener Fröhlichkeit. Er dachte an ihre Hände. Sie haßte ihre kurzen, dicken Finger. Sie hatte gesagt, sie würden wie Würste aussehen, würde man einen Ring daran stecken, und hatte sie stets hinter ihrem Rücken verborgen. Er hatte damals im Watt überall nach ihr gesucht. Sie war mitten in der Nacht aus dem Haus gerannt. Am Strand hatte er sie nicht finden können. Er hatte mit ihr zusammen ein paar Tage auf der Insel verbracht und schließlich so sehr die Nase voll gehabt, daß er sie beleidigt und gar geschlagen hatte. Er nahm an, daß sie sich in das Zelt irgendeines unbekannten Mannes geflüchtet hatte. Während er nach ihr suchte, hatte er immer wieder ausgespuckt, wenn er daran dachte, wie sinnlos das alles war. Als er sie kennengelernt hatte, war sie gerade von einem anderen verlassen worden. Er hatte sie im wahrsten Sinne des Wortes gefunden. Früher waren solche Kleinigkeiten gar kein Problem gewesen. Aber von ihm unbemerkt, oder anders gesagt, als er wieder zur Vernunft gekommen war, waren alle Gefühle in ihm erloschen. Ein Sturm, dem man einen fremdländischen Frauennamen gegeben hatte, wütete wie verrückt. Er sagte: »Da keine Schiffe mehr fuhren, habe ich mich eingeschlossen gefühlt und es nicht mehr ausgehalten.« »Ich war betrunken eingeschlafen. Als ich am Morgen in einem Zelt erwachte, war ein Schiff eingelaufen.« »Ich war auf dem Schiff. Ich hatte nur noch den einen Gedanken: von der Insel zu verschwinden.« »Ich bin noch drei Tage dort geblieben und zurückgekommen. Ich war mehrmals bei dir, aber du warst nie da.« »Ich wollte dich nicht mehr sehen.« 10


Ihre im Kerzenlicht leuchtenden Augen, ihr Profil mit der leicht aufwärts gerichteten Nase, ihre dünnen, streng angezogenen Beine und ihre Zehen, all das schien sich voneinander zu lösen und neu zusammenzusetzen. Ihre Körperteile, an die er aus der Zeit gewöhnt war, als er mit ihr zusammen gewesen war, schienen ihm nicht mehr in die Gegenwart zu passen, als wären sie entweder bereits in eine nicht vorhersehbare Zukunft entrückt oder in einer fernen Vergangenheit zurückgeblieben. Konnte etwas Unvollkommenes eigenständig Vollkommenheit erlangen und in die Gegenwart vordringen? Er erinnerte sich an den Geruch der Stachelbeeren und daran, wie rauh sich deren Haut angefühlt hatte. Sie hatte sich die jungen Triebe in den Mund gesteckt und darauf gekaut. Sie hinterließen einen bitteren Geschmack auf ihrer Zungenspitze. Später kam ihm dieser Geruch so manches Mal in den Sinn, etwa wenn er mitten in der Nacht erwachte und sich in der Dunkelheit herumwälzte. Oder während seiner Militärzeit, wenn er in einem engen Schlafsaal Wache gehalten hatte. Oder wenn er in seine dunkle Wohnung zurückkehrte, das Licht anschaltete und plötzlich das Bedürfnis hatte, laut aufzuschreien. Der Geruch der Stachelbeeren führte ihm immer wieder vor Augen, daß er allein schlafen mußte. »Erinnerst du dich noch? Ich habe hier und da getanzt.« »Wir waren beide arm.« Mu hatte stets vor dem Dorf gewartet, bis sie von der Arbeit kam, um sie rücklings über den am Rande des Dorfes entlang fließenden Bach zu tragen. An manchen Tagen aber war sie nicht erschienen. Plötzlich wurde es ihm etwas peinlich und sogar lästig, daß sie beide, sie und er, jetzt gemeinsam in seiner Wohnung waren. Frauen sagen immer, sie würden einem geben, was sie noch niemandem gegeben hätten. Das hat er schon damals nicht geglaubt. Er wußte, daß fast alle Frauen das so machten. Obwohl sein Herz dagegen rebellierte, nahm er es doch gelassen hin. »Auch als ich verheiratet war, habe ich getanzt. Ich habe im Golden Hill eine Tanzgruppe geleitet.« »Ich habe davon gehört. Sie hieß Maria.« »Mein Mann hat es aus eigener Kraft geschafft.« »Er war alt und geizig, oder?« »Alt schon, aber geizig war er nie. Was das Geld anging, ließ er mich machen, was ich wollte.« Sie kaufte und kaufte und versteckte dann die Sachen in der Schublade. Was Frauen am meisten ängstigt, ist das, was sie nicht besitzen können. Mu ging zum Fenster und öffnete es weit. Wind und Regen fegten herein und brachten die Kerze zum Erlöschen. Er blickte auf das Wohnviertel unterhalb des Hügels, wo hier und da noch einige Lichter brannten. Hinter ihm fuhr sie fort: »Frauen ... können mit beinahe jedem Mann zusammenleben.« Als sie eines Tages in ihrem Bett erwachte, hörte sie Kinder lachen und sah durch das große Fenster, wie draußen ein Federball hin- und herflog, ununterbrochen hin und her, wie ein Vogel, der seine Flügel nach hinten streckt. Sie sah den leicht bewölkten Himmel, die Sonne war hinter einer kleinen Wolke versteckt. Das Wetter hielt sich den ganzen Tag. Noch im Schlafanzug setzte sie sich vor den Spiegel und machte sich aufgeregt zum 11


Ausgehen zurecht. Sie freute sich darauf, ihre Freundinnen zu treffen und mit ihnen über dieses und jenes zu plaudern. Sie kramte in ihren Schminksachen. Dann nahm sie den Lippenstift und malte etwas auf den Spiegel. Genauso hatte sie es in ihrer Schulzeit auf jeder Ecke ihres Heftes getan. Es war ein Spiel, bei dem man zunächst einen Kreis und aus diesem planlos eine Figur malte. In den großen Kreis zeichnete sie drei kleinere und zwei Punkte. Ein lustiges Gesicht mit zwei großen Augen und einer Stupsnase entstand. Darauf folgte eine lange, herausgestreckte Zunge und eine dreieckige Mütze. Dann zeichnete sie einen weiteren Kreis und dazu eine Bommelmütze. Auf beide Wangen, ebenso wie auf die Nase, setzte sie jeweils einen Punkt. Mal war die Zunge klein und die Pupillen schielten. Ein andermal war das eine Auge geschlossen und das andere geöffnet. Der Spiegel war voller solcher lustiger Gesichter. Mit einem Wattebausch wischte sie alles wieder ab. Dann malte sie einen großen Kreis, der bis an die Ränder des Spiegels reichte. Wenn sie einmal mit einem Spiel angefangen hatte, begann sie solange immer wieder von vorn, bis sie es satt hatte. ›Was male ich jetzt?‹, überlegte sie kurz und begann dann, von der Mitte des Kreises aus nach außen einen Ringelschwanz und in den Kreis zwei Punkte zu zeichnen. Dann folgte noch ein kleiner Kreis, woraus die Nase entstand. Ein dickes Schwein mit einer großen Nase und winzigen, traurigen Augen erschien auf dem Spiegel. An den Rand schrieb sie ganz klein ›Trara, Trara, Trara‹. Doch sie hatte sich verschrieben. Sah man genau hin, stand da vielmehr ›Traum, Traum, Traum‹. Sie verließ das Haus und gelangte auf die Straße. Doch hatte sie nicht das Gefühl, die Straße zu betreten, sondern schien förmlich in sie einzutauchen. Nur seelenlose Tote liefen herum, und die Straße wirkte wie ein wogendes Meer. Sie glaubte, auf dem Meeresboden zu laufen, der von rotem Gras dicht bedeckt war. Selbst der Lärm in ihrer unmittelbaren Nähe klang, als käme er von weit her. Jenseits der Stadt würde sich ein riesiger Abgrund auftun, von der Küste bis zum Himmel würde sich vor grauem Hintergrund ein Teppich aus Meer und Wolken spannen. Erst, als sie in den Zug gestiegen war, merkte sie, wohin sie so aufgeregt fuhr. Erst jetzt fand sie die Richtung wieder. Wellen schlugen gegen den Bug des Schiffes, Gischt schäumte auf. Die stürmische See war von Linien durchzogen, die den Furchen eines Feldes glichen. In der Ferne lag – wie von einer riesigen Hand ins Meer geworfen – eine steile Felswand, auf der ein altertümlicher Leuchtturm stand. Am Rande der Felswand zeichnete sich die dunkle Gestalt eines Menschen ab. Darunter das schaumbedeckte Meer. Die Gestalt stand reglos da. Sie dachte, es sei eine Heiligenstatue, die das Meer beschützte, und das beruhigte sie. In Wirklichkeit aber handelte es sich um einen Felsen, der mindestens doppelt so groß war wie ein Mensch. Dann sah sie die Kinder, die wie früher barfuß zwischen den Steinmauern umherliefen. Schwindelgefühle, Mittagsschlaf, der sich verändernde Sonnenschein, der grobe Sandstrand nahe der Austernzucht, der von zerbrochenen Austernschalen übersät war. Hier wucherten noch immer die feuerroten Wildrosen. Die Frau stand auf dem Felsen und sah auf das tiefe, ruhige Wasser der Austernzucht hinab. Ihr wurde schwindelig. Aber nicht etwa wegen der Höhe, sondern vom starken Duft der Blumen. Eine nach der anderen warf sie ins Meer. Sie landeten auf der Wasseroberfläche und formten einen Kreis, der sich im leichten Wellengang langsam vergrößerte. Nahezu unmerklich erbebte der Schatten des Felsens. 12


Die vollen, roten Blüten glichen den schwimmenden Bruchstücken des Abendrots. Sie hielten sich an der Wasseroberfläche und wurden dann, einen Halbkreis bildend, weit ins Meer hinausgetrieben. Die Frau spürte, wie ihre bisher fest in sich geschlossenen Sinne frei wurden. Sie fuhr fort, Blumen ins Meer zu werfen. Schließlich riß sie die Blätter der letzten Blüte aus und streute sie in den Wind. Die Blütenblätter schienen laut »Uaah!« zu rufen, als sie ins Wasser fielen. Eine Arabeske aus schwimmenden Blüten. Als ihre Hände leer waren, zog sie die Schuhe aus. Zweifellos lag sie neben Mu. Im schwachen Licht konnte er das Profil ihres Gesichts erkennen. Es schien ihm aber, als ob es sich immer weiter entfernte, je mehr er sich ihm näherte. Er richtete sich auf, legte seinen Oberkörper auf ihre Brust und sah jetzt auf ihr Gesicht herab. In der Dunkelheit erschien es wie eine Fläche. Die Pupillen schienen sich aus Kreisen heraus auf ihn zu richten. »Ich muß gehen.« Sie legte dem verwirrten Mu die Hand auf den Kopf und fuhr ihm durchs Haar. »Es wird hell.« Mu spürte so etwas wie Stoff zwischen ihren beiden Gesichtern. Es war, als würde sie auf dem Grund eines endlos tiefen Lochs sitzen und nur ihre Stimme zu ihm dringen. Er ließ den Kopf auf ihre Brust sinken. Dann murmelte er irgendetwas, nur ab und zu bewegten sich die Finger am Ende des Armes, den er aus dem Bett hängen ließ. In seine Ohren, die in tiefe Stille versunken waren, drang plötzlich ein lautes Geräusch. Mit geschlossenen Augen streckte er nur seinen Arm aus und berührte die glatte Oberfläche des laut klingelnden Weckers. Dann nahm er ihn und warf ihn mit aller Kraft unters Bett. Sein Rücken war feucht. Das Laken unter ihm war schweißdurchnäßt. Er öffnete die Augen. Die lang andauernde Regenzeit hatte gestern mit einem Mal ihr Ende gefunden. Sonnenstrahlen erhellten den oberen Teil der Wand und etwa die Hälfte des Bettes. Er blickte auf die Schimmelflecken an der Decke, die der Regen durch das undichte Dach verursachte. Die mit Blitz und Donner angefüllten Nächte kamen ihm nun vor wie eine ferne Vergangenheit. Vor dem Sommer erreichten die Sonnenstrahlen, wenn er um diese Zeit erwachte, das Fenster nur mit Mühe. Aber mit Beginn des Sommers erfaßten sie die Wand, das Bett und drangen sogar bis zur Türschwelle vor. Wenn er beim Erwachen die Sonne sah, bekam er sofort schlechte Laune, weil er dann das Gefühl hatte, der Tag würde viel zu schnell vergehen. Aus diesem Grund hatte er sich überlegt, das Bett in die gegenüberliegende Ecke zu rücken. Aber schon am nächsten Tag schien ihm das nicht mehr so wichtig, und noch bevor er wieder schlafen ging, hatte er es vergessen. Während der Regenzeit passierte es manchmal, daß das Fußende seines Bettes vom Regen durchnäßt wurde, der durch die Zimmerdecke tropfte. Seit er vor einem Jahr hier eingezogen war, stand das eiserne Bett am selben Platz. Einerseits hatte er gar keine Lust, das Bett umzustellen, andererseits aber fürchtete er, sich fremd zu fühlen, wenn er im Zimmer irgendetwas veränderte. So hatte er es immer wieder aufgeschoben. Erbarmungslos durchfluteten die Sonnenstrahlen das gesamte Zimmer. Jetzt nahm er deutlich die verschiedenen Gerüche wahr: Seinen an der Unterwäsche und der fleckigen Bettdecke haftenden Körpergeruch, den vom Aschenbecher ausgehenden Geruch von 13


Zigaretten und Speichel und den des Urins in den Flaschen, in die er in der Not sein Wasser gelassen und die er unter dem Bett versteckt hatte. ›Mann!‹, schon wieder war es Mittag. Er drehte seinen schweren Kopf nach rechts und links. Sein Hals knackte. Wenn er leise ausatmete, konnte er den Schleim in seinen Bronchien rasseln hören. Wie üblich erfaßte ihn unmittelbar nach dem Erwachen eine unbestimmte Traurigkeit. Dann war er stets entschlossen, vom nächsten Tag an früh aufzustehen und seinen Job aufzugeben. Allerdings war das ein leerer Entschluß, der ihm fast zur Gewohnheit geworden war. Schließlich wollte er wenigstens auf das Dach gehen, dort seine Gymnastik machen und dann mit klarem Kopf ein Buch lesen, bevor er essen gehen würde. ›Und was soll ich danach machen?‹, fragte er sich und erschrak mit einem Mal, als ihm klar wurde, daß er nichts von alledem tun würde. Wenn er nachmittags das Haus verließ, ging er für gewöhnlich ins Kino und verbrachte die bis zum Auftritt verbleibenden Stunden damit, daß er sich zwei, drei Filme hintereinander ansah, deren Plot schon zu Beginn vorhersehbar war. Einmal ist er bis zum Sonnenuntergang Bus gefahren. Er stieg mehrmals um und fuhr von Endstation zu Endstation, die außerhalb der Stadt lagen. Um die Zeit, da die meisten Menschen nach getaner Arbeit mit hängenden Schultern nach Hause kamen, machte er sich, die Gitarre an seiner Seite, auf den Weg zum Auftritt im Paradies. In Wahrheit wünschte er sich, so weiter zu leben – sofern seine Unruhe nicht zu groß werden würde. Er schob die Bettdecke mit den Zehen beiseite und setzte sich auf. Er mochte es, wenn das Seidenlaken seine Haut berührte. Darum schlief er stets nackt. Und genauso lief er jetzt in seinem Zimmer umher. Er griff nach dem Wecker am Fußboden. Es war halb drei Uhr nachmittags. Obwohl der Wurf im Uhrenglas Risse hinterlassen hatte, bewegte sich der leuchtend blaue Zeiger unbeirrt weiter. Er zog den Wecker auf und stellte ihn wieder auf den Tisch. Danach zog er sich seine Sachen an, die ungeordnet auf dem Stuhl gelegen hatten. Dabei bemerkte er etwas in seiner Hemdtasche. Gerade ein Bein in der Hose, hielt er inne und zog die Blume heraus. Es war eine billige Plastikblume aus rotem Kunststoff, der aneinandergeklebt worden war. Er hatte das Gefühl, von dieser dunkelroten Blume in eine finstere Höhle gezerrt zu werden. Er versuchte, sich daran zu erinnern, was in der vergangenen Nacht geschehen war. Noch war alles durcheinander. Das rote Neonlicht des Hotels Freiheit fiel ihm ein. Jemand hatte ihm diese Blume entgegengehalten und gerufen, ach nein, ein Flüstern war es gewesen. Eine schwer atmende Stimme. Eine häßliche, alte Blumenverkäuferin. Er hatte gedacht, daß sie jemandem, den er gut kannte, sehr ähnelte. Da erinnerte er sich der dunklen, leicht gewölbten Narbe auf seinem Oberschenkel, und er dachte an seine Großmutter – die Mutter seiner Mutter –, die ihm seinerzeit den Eiter aus dem Geschwür gesaugt hatte. Ihre Augen waren immer feucht und blutunterlaufen gewesen. Andererseits wiederum erinnerte ihn die Verkäuferin an sein Kindermädchen, das ihn ab seinem vierten Lebensjahr jeden Abend zum Einschlafen auf dem Rücken getragen hatte. Als er nach zehn Jahren wieder einmal seine Heimat besucht hatte, waren beide Frauen schon nicht mehr am Leben. Obwohl sie wie Ersatzmütter für ihn gewesen waren, hatte er sie nie geliebt oder gar vermißt. Als er erwachsen war, blieben ihm nur die Erinnerungen an ihre ewigen Ermahnungen und ihr Schimpfen. Er hatte sie schon lange vergessen, ebenso wie die Heimat und seine Freunde im Dorf. Gestern abend war 14


er ziemlich betrunken gewesen. Er war sich nicht sicher, ob er die Blume von einem Tisch oder einer Wanddekoration mitgenommen, oder ob ein betrunkener Gast sie ihm in die Hand gedrückt hatte. Es war immerhin möglich, daß er sich die Sache mit der alten Blumenverkäuferin im Rausch nur eingebildet hatte. Plötzlich kam ihm die Geschichte von dem düsteren Haus, das es angeblich im Jenseits gab, in den Sinn. Alle Lebenden sollten im benachbarten Gebäude wohnen. Er fragte sich, ob ein Teil von ihm nicht schon seit langem zu diesem Haus im Jenseits gehörte. Wenn er im knallbunten Licht der Bar hemmungslos Gitarre spielte, überkam ihn stets das Gefühl, daß ihm von der anderen Seite aus noch ein weiteres Ich dabei zusah. In letzter Zeit fühlte er sich immer weniger lebendig, ganz so, als würde dieses andere Ich auf ihn warten, auf ihn, der noch immer die laute Musik in den Ohren hatte und auf der nächtlichen Straße nach Hause wankte. Als er gestern nacht in seine Wohnung gekommen war, hatte sie dort auf ihn gewartet. Sie hatte sich so verändert, daß er den Eindruck hatte, sie sei gekommen, um die alten, bruchstückhaften Erinnerungen zu zerstören und zu einem Ganzen zusammenzufügen. Die Kunststoffblume war weder verwelkt noch zerdrückt. Er hatte sich in seinem Zimmer noch nie so allein gefühlt wie in diesem Augenblick, und er bekam eine solche Sehnsucht nach ihr, wie er sie noch nie für eine Frau empfunden hatte. Er erinnerte sich an jenen engen, dunklen Eingang, den man nur geduckt passieren konnte. Dann beschloß er, zum Golden Hill zu gehen, um sie zu suchen. Immerhin war es ja möglich, daß er sie rasch finden würde, wenn er dort nach der Tänzerin Maria fragte. Er glaubte, dies sei seine letzte Chance, mit ihr neu anzufangen, und dieser Gedanke zog ihn in seinen Bann. In einem dunklen Wald hoher Nadelbäume suchte Mu nach dem Weg. Als er aus dem Wagen gestiegen war, hatte er auf einem bewaldeten Hügel Hochhäuser mit weißen Marmorfassaden gesehen, die ihn an das Pfefferkuchenhaus aus jenem Märchen erinnerten. Sie ragten in den wolkenlos heiteren Himmel, ihre großen Fenster glänzten im Sonnenschein. Er folgte dem Pfad, von dem er annahm, daß er ihn am schnellsten zum Ziel führen würde. Ringsum hatte man Holzzäune errichtet. Er sprang darüber hinweg und lief über ein Feld, auf dem Unkraut wucherte. Gab es anfangs nur vereinzelt Bäume, standen sie nun dicht an dicht. Sie waren immergrün wie Tannen. An jeder ihrer Nadeln hingen Tautropfen. Es herrschte Stille. Erst, nachdem er eine ganze Weile gelaufen war, merkte er, daß er wieder bei dem Hügel angelangt war. Er kehrte zu dem Zaun zurück, von wo aus er aufgebrochen war. Doch er zögerte, da er den Weg nach oben nicht gefunden hatte. Plötzlich hörte er ganz in der Nähe menschliche Stimmen und näherte sich ihnen, indem er die Zweige, die sein Gesicht streiften, beiseiteschob. Auf einem gut gepflegten Rasen standen Tische, an denen viele Leute, die sich miteinander unterhielten, saßen oder standen. Mu zauderte einen Augenblick und lief auf und ab. Da alle in ihre Gespräche vertieft schienen, wagte er nicht, sie anzusprechen. Eine ältere Frau von kräftiger Statur trat auf ihn zu, bot ihm ein Glas sowie einen Teller mit geschälten Orangen an. Als er ihr den ganzen Teller abnehmen wollte, lächelte sie und sagte: »Bitte nehmen Sie nur ein Stück.« Zögernd fragte er sie: »Wie kommt man zum Eingang des Golden Hill?« »Wie bitte?« 15


Er wich ihrem Blick aus und hielt sein Glas zunächst in der einen, dann in der anderen Hand. »Sie sind hier wohl kein Mitglied.« »Nein ... ich weiß nicht, wie ich dorthin komme«, erwiderte er und gab ihr das Glas zurück. Verlegen nahm sie es entgegen. »Dann haben Sie keine Einladung?« »Ich bin über den Zaun ...« »Gehen Sie bitte in diese Richtung und verlassen Sie das Grundstück!« Die Frau deutete mit der Hand nach rechts. Hinter ihnen hatten einige Männer das Gespräch verfolgt und machten nun ihrem Unmut Luft: »Was ist das denn für eine Organisation? Wie ist es möglich, hier einfach so hereinzukommen?« »Wozu braucht man noch eine Mitgliedschaft, wenn jeder hier so einfach herumlaufen kann?« Mu machte einen Bogen um die Leute und ging zur rechten Seite des Rasens, wo wesentlich weniger Bäume standen. Von dort folgte er einem Kiesweg, der zum Eingang des Hill hinaufführte. Hier stieß er auf eine dunkle, tiefe Treppe, die ins Untergeschoß führte. Menschen, die gerade aus ihrem Autos kamen, gingen grüppchenweise hinab. Er folgte ihnen. Unten gab es eine Pförtnerloge, in der ein Mann in weißer Dienstkleidung saß und die Drehtür überwachte. Die Leute zeigten dem Pförtner irgendetwas vor und verschwanden daraufhin im Gebäude. Als schließlich auch er durch die Tür gehen wollte, wurde er jedoch vom Pförtner aufgehalten. »In welcher Gruppe sind Sie Mitglied?« »Mitglied?« »Wir haben hier ein Mitgliedersystem. Zu welcher Gruppe in welcher Abteilung gehören Sie?« Mit starrer Miene versperrte der Pförtner ihm den Weg und musterte ihn von oben bis unten. »Ich suche jemanden.« »Wen suchen Sie denn?« »Eine Frau. Sie tanzt in diesem Club.« »Wie heißt sie? Ich muß vorher nachfragen.« Der Pförtner stand vor der Telefonanlage und blickte sich nach ihm um. Mu brachte den Namen kaum heraus, so fremd war er ihm schon geworden. »... Maria.« Der Pförtner stöpselte einen Stecker in eine nummerierte Buchse und sprach kurz mit jemandem. »Alles klar«, sagte er und wandte sich ihm kopfschüttelnd wieder zu. »Tut mir leid. Maria ist nicht der Name einer Person, sondern einer Tanzgruppe. Wie dem auch sei, wenn Sie da rein wollen, müssen Sie Mitglied werden.« »Mitglied werden? Hören Sie, ich suche doch bloß eine Frau.« »Wenn Sie Mitglied einer Gruppe werden, können Sie jederzeit im Nachtclub ein- und ausgehen.« 16


Mu kreuzte auf dem Aufnahmeantrag, den ihm der Pförtner entgegenhielt, irgendetwas an, trug seine Personalien ein und setzte seine Unterschrift darunter. Er war jetzt Mitglied der Gruppe der Kartenspieler. Der Pförtner streckte ihm seine Hand entgegen: »Ich bekomme dann die Aufnahmegebühr. Immer, wenn Sie hinein wollen, müssen Sie Eintritt zahlen.« Es war nicht wenig Geld, das Mu zahlen mußte. Der Pförtner übergab ihm die Mitgliedskarte und deutete mit dem Kinn auf den Eingang. Mu trat durch die Drehtür ein. Am Ende eines Ganges stieß er auf eine Treppe und einen Fahrstuhl. Er drückte einen Knopf und wartete. Die Fahrstuhltür öffnete sich und er stieg ein. Drinnen war außer ihm nur die Fahrstuhlführerin. Das Mädchen, das Dienstuniform und Kappe trug, fragte ihn: »Wohin wollen Sie?« »Zum Nachtclub.« »Dann also in die zehnte Etage.« »Wie hoch ist das Gebäude?« »Wir haben drei Etagen unter und zehn über der Erde.« »Gibt es nur in dieser obersten Etage einen Nachtclub?« »Es gibt noch andere Gebäude. Sie sind unterirdisch miteinander verbunden.« »Wie viele sind es?« »Drei.« »Dann gibt es dort auch Nachtclubs?« »Genau. Alle Gebäude haben die gleiche Struktur.« Die Tür öffnete sich. Auf dem Gang brannte kein Licht. Als er ihn entlangging, hörte er hinter sich den Hall seiner Schritte. Er passierte mehrere Türen. An einer Ecke des Ganges war ein Schild mit einem Pfeil angebracht, auf dem Nachtclub stand. Er folgte dem Pfeil und betrat den Club. Es war ruhig hier. Tische und Stühle waren ordentlich zusammengestellt, der Bühnenvorhang geschlossen. Durch ein Fenster, dessen Gardine beiseite gezogen worden war, blickte er auf den Wald im Abendlicht. Zwischen Tischen und Stühlen hindurch ging er dann durch die Seitentür in einen Raum, bei dem es sich offenbar um die Küche handelte. »Hallo, ist hier jemand?« Der Kopf eines Mannes erschien in der Tür, durch die Mu soeben eingetreten war. Scheinbar war er gerade erst erwacht; seine Augen waren noch halb geschlossen. Mißgelaunt sagte er: »Wie Sie eigentlich wissen sollten, haben wir nur dienstags, donnerstags und samstags geöffnet.« »Ich suche nach einer Tanzgruppe namens Maria.« »Die müßte im Probenraum sein. Heute hat sie aber keinen Auftritt.« »Wo bitte ist der Probenraum?« »In der siebten Etage.« Der Mann hielt die Tür auf und bedeutete ihm mit der Hand, daß er gefälligst schnell verschwinden sollte. Daraufhin verließ Mu den Club. Wieder zurück im dunklen Korridor, nahm er diesmal nicht den Fahrstuhl, sondern lief die Wendeltreppe hinunter. Er nahm mehrere Stufen auf einmal und verursachte dabei einen ziemlichen Lärm. In der siebten 17


Etage stieß er auf drei breite Gänge, die nach links, geradeaus bzw. nach rechts führten. Er folgte dem, der direkt vor ihm lag. Irgendwo hörte er Leute reden. Er öffnete eine große Flügeltür und betrat den Raum. Darin waren mehrere Tische quadratförmig angeordnet. Männer in Hemden diskutierten mit ernster Miene über irgendetwas. Einer von ihnen erhob sich und hielt eine Rede. Der junge Mann neben ihm drehte sich um und trat auf Mu zu. Der blieb verlegen stehen. Jetzt blickten alle auf ihn. Der junge Mann fragte mit tiefer Stimme: »Wer sind Sie denn?« »Ich bin auf der Suche nach dem Probenraum.« Der junge Mann baute sich bedrohlich vor Mu auf und herrschte ihn an: »Lügen Sie gefälligst nicht!« Mit dem Finger auf Mu deutend, sagte ein anderer: »Vielleicht ist er einer von unseren Gegnern.« »Ich ... gehöre zur Gruppe der Kartenspieler.« Alle lachten laut auf. Der junge Mann packte Mu am Schlafittchen und schüttelte ihn, woraufhin dieser seine zerknitterte Mitgliedskarte aus der Hosentasche zog und vorzeigte. »Es ist wahr. Ich suche nach der Tanzgruppe Maria.« Erneut brachen die Anwesenden in Lachen aus. Sie schlugen mit der flachen Hand auf die Tische, als könnten sie es kaum noch aushalten. Der junge Mann ließ von Mu ab und schob ihn hinaus. »Verschwinde, du Idiot! Und merk dir eins: es gibt zwei Arten von Clubs mit unterschiedlichem Niveau. Das hier ist einer, wo Kerle wie du, die mit einer Blume herumlaufen, nichts zu suchen haben! Wir haben wichtigere Dinge zu tun, verstanden?« Einige erregte Stimmen schlossen sich ihm an. »Der soll sich zu den Däumchendrehern und Stubenhockern scheren!« »Nun schmeißt ihn schon raus und laßt uns weitermachen!« Mu wurde auf den Gang geschubst, wo er lange Zeit verharrte. Von rechts näherte sich mit lauten Schritten eine Frau mit hohen Absätzen und ging an ihm vorüber. Er folgte ihr. Sie betrat einen Raum, der durch eine gläserne Wand vom Korridor abgetrennt war, so daß man von außen hineinsehen konnte. Er blieb davor stehen und blickte hinein. Etwa zwanzig Frauen – alle in der gleichen blauen Dienstkleidung – saßen vor ihren Schreibmaschinen. Ohne ihr Tippen zu unterbrechen, blickten sie ihn alle gleichzeitig an. Eine Frau, die bei der Tür saß, stand auf und kam heraus. Mu war verwirrt und sagte: »Ich suche jemand, aber hier scheint sie nicht zu sein.« »Wen suchen Sie denn? Eine Frau?« Er dachte, daß eine von ihnen sie möglicherweise kennen könnte. Inzwischen war er körperlich und seelisch erschöpft. »Also ... ihr Name ist Maria ...« »Sie müssen mir die Nummer sagen. Hier hat man keinen Namen, sondern eine Nummer.« »Sie ist Tänzerin. Ich weiß, daß sie keine von Ihnen ist.« »Sie meinen die Tanzgruppe Maria? Die ist heute nicht in diesem Gebäude.« »Wo ist sie dann?« Sie senkte den Kopf und überlegte kurz. Dann antwortete sie freundlich: »Gehen Sie ins 18


zweite Untergeschoß und von dort aus weiter zum Gebäude B. Da gibt es in der dritten Etage einen Probenraum.« Mu kehrte wieder zur Treppe zurück. Er lehnte sich an das Geländer und wartete auf den Fahrstuhl. Zwar war er im Golden Hill, doch hatte er nicht das Gefühl, ihr dadurch auch nur ein Stück näher gekommen zu sein. Überhaupt dachte er mit einem Mal, daß es vielleicht nicht nur sie war, nach der er so angestrengt suchte. Die Fahrstuhlfahrt schien eine Ewigkeit zu dauern. Im zweiten Untergeschoß stieg er aus. Durch einen langen, dunklen Korridor gelangte er in das Gebäude B. Als er auf den dortigen Fahrstuhl zuging, sah er eine Frau in einem weißen Abendkleid darin verschwinden. Obwohl er sie nur von hinten gesehen hatte, war er sicher, daß es Maria gewesen war. Er rief ihr lauthals nach. »... ria, ... ria, ... ria«, hallte seine Stimme durch den leeren Flur. Die auf der Anzeigetafel aufleuchtende Zahl verriet ihm, daß der Lift in der sechsten Etage gehalten hatte. Er stieg in den anderen Fahrstuhl, der gerade unten angekommen war. Er wischte mit der Hand über sein schweißnasses Gesicht und wandte sich an die Fahrstuhlführerin: »Was ist in der sechsten Etage?« »Da gibt es ... ein Restaurant, den Roten Salon ... die Bowlingbahn.« »Was ist der Rote Salon?« »Das weiß ich auch nicht.« »Warum sind die Gänge eigentlich alle so verlassen?« »Dafür sind die Räume mit Menschen überfüllt. Gehen Sie zu Ihrer Gruppe. Sie so ganz allein, das ist doch ...« Mu stieg in der sechsten Etage aus. Wie schon in dem anderen Gebäude waren die Korridore auch hier überall blitzsauber und menschenleer. Er überlegte kurz, in welchem Raum die Frau verschwunden sein könnte, als die blaue Glaswand und der Lüster des Restaurants seine Aufmerksamkeit erregten. Er ging hinein. Drinnen gab es kaum einen freien Tisch. Überall war man mit dem Essen beschäftigt. Weiße Tischdecken und Servietten, gedämpfte Stimmen, Musik. Er hatte das Gefühl, nicht wirklich in diesem Raum zu sein. Er ging zwischen den Tischen umher und suchte nach der Frau. Man aß, trank, schnitt sein Fleisch. Münder, Hälse, Finger, leere Teller. Mu trat auf die Terrasse. Offenbar war die Frau nicht hier. Er wischte sich den fortwährend rinnenden Schweiß aus dem Gesicht, setzte sich an einen Tisch, an dem noch ein Platz frei war, und bestellte etwas zu trinken. Ihm gegenüber saß ein alter Mann und aß. Mu lächelte ihm zu und sagte: »Es ist nicht leicht, in diesem Gebäude jemanden zu finden. Fast zwei Stunden laufe ich hier schon herum.« »Sind Sie ein Tourist?« Nachdem er den Bissen, den er gerade kaute, heruntergeschluckt hatte, fuhr der Alte fort: »Verdammt! Ein Müllhaufen ist das hier!« »Aber es sehen doch alle so fröhlich aus.« Der Alte war nun offensichtlich mit dem Essen fertig und wischte sich den Mund ab. »Sie träumen wohl! Hier gibt es keinen einzigen fröhlichen Menschen. Alle sind mehr oder weniger gegen ihren Willen hier.« »Aber es sind doch alle Mitglied. Haben die den Aufnahmeantrag etwa nicht freiwillig 19


unterschrieben?« »Das meine ich ja. Alle sind gekommen, um etwas herauszufinden.« »Ich suche auch eine Bekannte.« Der Alte hatte seine Augen fast vollkommen geschlossen und lächelte zufrieden. »Haben Sie sie gefunden?« »Noch nicht. Aber ich werde sie bestimmt finden, sie arbeitet ja hier.« »Dann ist es ja gut.« Der Alte seufzte. »Ich bin siebzig Jahre alt. Ich habe mein Geschäft meinem Sohn überlassen und verbringe meine Zeit nun hier. Meine Kinder kommen mich nie besuchen. Ich suche den Ausgang.« »Sie wollen rausgehen? Eine gute Idee!« »Aber ich weiß überhaupt nicht, was sich wo befindet.« »Sind die anderen aus dem gleichen Grund hier?« »Nein, die kommen, um zu spielen, um ihre Gruppe oder Bekannte zu treffen, oder um zu arbeiten. Ob hier drinnen oder draußen, diese Leute finden sich überall zurecht. Tja, sie haben wohl nicht einmal die Zeit, drinnen und draußen zu unterscheiden ...« »Ich bringe Sie hier raus.« Beide erhoben sich. Als sie von der Terrasse ins Restaurant traten, kam in der Nähe der Tür eine Frau auf sie zu, faßte den Alten am Arm und sagte in sanftem Ton: »Wir haben schon gegessen, Väterchen? Wo wollen wir denn hin?« »Lassen Sie mich los!«, rief der Alte und ergriff Mus Hand. »Nimm mich mit. Ich will nach Hause.« Mu sagte der Frau: »Er will nach Hause. Gehören Sie zur Familie?« Mit dem Finger auf ihrer Stirn einen Kreis beschreibend, flüsterte sie ihm zu: »Das Alter. Er ist zur Erholung hier. Gehen wir ins Bett und schlafen ein wenig, Väterchen.« Mu löste sich sanft aus dem Griff des Alten und ging weiter. Es wurde etwas unruhig. Mit Hilfe der Kellner und der Leute, die ebenfalls an ihrem Tisch gesessen hatten, plazierte die Frau den Alten auf einen Stuhl. Hier und da lachten Gäste. Als Mu das Restaurant verließ, hörte er den Alten rufen: »Laßt mich in Ruhe!« Er ging weiter den Korridor entlang. Daß die Frau im Abendkleid zur Bowlingbahn gegangen sein sollte, hielt er für unwahrscheinlich. Deshalb machte er vor der Tür Halt, über der ein Schild mit der Aufschrift Roter Salon angebracht war. Er schob sie leise auf und trat ein. Ähnlich wie im Kino waren am Ende eines langen Ganges rote Vorhänge angebracht. Er näherte sich ihnen und lugte durch einen offenen Spalt. Zunächst konnte er nichts erkennen, dann aber sah er im dunkelroten Licht aufwallende Dämpfe. Offenbar schien es sich hier um eine Art Sauna zu handeln. Im Hintergrund glaubte er, Tote zu sehen, die dicht nebeneinander lagen. Doch bewegten sie sich. Während die Mehrzahl von ihnen schnarchend schlief, lagen andere auf der Seite und aßen oder tranken etwas. Da sie allesamt so vollkommen kraftlos wirkten, waren sie ihm auf den ersten Blick wie tot erschienen. Zwischen den nackten Menschen liefen ebenfalls unbekleidete Frauen umher und servierten ihnen das Essen. In diesem Moment spürte Mu eine Hand auf seiner Schulter, die ihn nach hinten zog. Vor ihm stand ein kräftiger Mann, der sich ein 20


Badetuch um die Hüften geschlungen hatte. »Sind Sie hier Mitglied?« Diesmal wurde Mu nicht verlegen. Er zog ein paar Geldscheine aus der Hosentasche und hielt sie ihm hin. Als der Mann merkte, daß er Mu nicht so leicht einschüchtern konnte, trat er ihm weniger rigoros gegenüber. Mu entgegnete ihm: »Ich suche eine Frau. Ihr Name ist Maria. Helfen Sie mir herauszubekommen, wo ich sie finden kann.« »Das geht nicht. Verschwinden Sie sofort von hier.« Nichtsdestotrotz nahm der Mann die Geldscheine nun entgegen und bedeutete Mu, daß er hinausgehen solle, was er auch tat. Draußen wartete er. Kurz darauf wurde die Tür von einer älteren, gutaussehenden Frau einen Spaltbreit geöffnet. Sie war lediglich mit einem Bademantel bekleidet. Mit den Fingern, zwischen denen sie eine Zigarette hielt, rieb sie sich die Augen. Dann sagte sie: »Es ist nicht der, den ich suche.« »Ich suche eine Frau. Das ist wohl ein Mißverständnis.« »Ich weiß. Ich bin gekommen, weil man mir sagte, jemand würde eine Frau suchen. Ich warte hier auch auf jemanden.« Darauf sagte er höflich: »Es nervt ziemlich, nach jemandem zu suchen oder auf ihn zu warten.« Die Frau fuhr sich mit der Hand durchs Haar und fragte: »Sie haben sich eine Blume angesteckt?« »Ja, aber sie ist nicht echt.« »Wo gibt es heutzutage schon noch echte Blumen? Das macht keinen Spaß. Die verwelken ja viel zu schnell.« »Entschuldigen Sie, aber Sie gehen jetzt besser wieder rein.« Der Mann von vorhin war erschienen und zog sie sanft nach innen zurück. Dann stellte er sich vor ihn hin und sagte: »Ich habe die Frau über Lautsprecher ausrufen lassen, aber offenbar gibt es sie hier nicht.« Mu beruhigte diese Tatsache und er fragte: »Wo bitte ist der Probenraum?« »Ich glaube, in der dritten Etage.« Müde ging Mu die Treppen hinunter. In der dritten Etage angelangt, lief er in die Richtung, aus der Musik mit einer über Lautsprecher verstärkten Frauenstimme kam. Vor einer Tür standen, dicht hintereinander aufgereiht, mehrere Blumentöpfe, an einem Tisch saß eine Frau. Mu wartete auf einen günstigen Augenblick, dann sprach er sie an: »Ist das hier der Probenraum?« »Ja, aber im Moment läuft hier eine Modeschau.« »Was ist denn mit der Probe der Tanzgruppe?« »Die ist seit einer Stunde zu Ende.« »Wissen Sie zufällig, wo die Tänzerinnen hingegangen sind?« »Ich glaube, einige von ihnen sind hiergeblieben und sehen sich die Show an.« »Darf ich rein?« »Nein. Wen suchen Sie denn?« Er brachte den Namen nicht gleich heraus. Er schien ihm nur noch eine leere Hülle zu sein; die Bindung zu dem Menschen, zu dem er ursprünglich gehört hatte, schien verloren, 21


so daß er für ihn ebenso wenig von Belang war wie der Name eines Stadtviertels oder einer Straße. »Ich suche Maria.« »Meinen Sie die Tanzgruppe?« Die Frau erhob sich und ging in den spärlich beleuchteten Raum. Drinnen liefen Models in verschiedenen Kleidern über einen Laufsteg. So, wie sie ihre Schritte dem Rhythmus der Musik anpaßten, erinnerten sie an Marionetten. Gelegentlich wurde die Musik von Beifall übertönt. Betrat ein neues Model den Laufsteg, erklangen dazu über Lautsprecher detaillierte Ausführungen. Nach einer Weile verließ eine mädchenhaft wirkende Frau den Raum. Sie war stark geschminkt und trug lange, künstliche Wimpern. Offenbar hielt sie Mu für einen Freier, der eine feste Zusage bekommen wollte. Mit kalter Miene fragte sie: »Worum geht es?« »Ich suche eine Frau namens Maria.« »Ich bin Maria.« »Aber Sie sind es nicht.« »Ach, ich verstehe. Unsere Gruppe heißt Maria. Deshalb heißen wir alle Maria. Welche Nummer hat die Frau, nach der Sie suchen?« Sie schmunzelte, als wäre ihr jetzt alles klar. »Man hat eine Nummer?« »Jeder, der im Hill arbeitet, bekommt eine Nummer.« »Ich suche die Frau, die die Tanzgruppe leitet.« Da sie weiter schmunzelte, sagte er halb im Scherz: »Ich suche also Maria Nummer eins.« »Ich kenne sie nicht. Fragen Sie den Manager.« »Wo ist der?« »Wahrscheinlich im Kasino. Gehen Sie nach links. Es befindet sich am Ende des Ganges.« Ein weiteres Mal machte sich Mu auf den Weg. Die Glastür mit der Aufschrift Kasino fand er ohne Probleme. Drinnen saßen an jedem Tisch Leute und spielten Karten. Auch die Einarmigen Banditen und die Roulettetische waren voll besetzt. Mu trat an die CocktailBar und fragte den Barmann: »Kennen Sie den Manager der Tanzgruppe?« »Tut mir leid, es gibt so viele Leute hier.« »Er spielt Bridge an Tisch 18«, sagte ein Croupier, der gerade vorbeikam. Mu gab ihm etwas Geld und bat ihn: »Es ist dringend. Können Sie ihn bitte zu mir bringen?« Der Croupier nickte und verschwand in der Menschenmenge. Aber er kam nicht zurück. Statt seiner erschien ein dicker Mann mit aufgekrempelten Hemdsärmeln, der sich suchend umsah. Als sein Blick dem von Mu begegnete, kam er direkt auf ihn zu. »Sie suchen mich?« »Ja, ich suche die Frau, die die Tanzgruppe leitet. Sie heißt Maria.« Der Mann schien etwas angespannt zu sein. »Warum? ... Worum geht es? Sie ist nicht mehr hier.« »Wo kann ich sie dann finden?« »Sie werden sie nirgendwo finden.« Der Mann löste seine Krawatte und steckte sie in die Hemdtasche. Dann kühlte er sich 22


mit dem Glas, das er in Händen hielt, Stirn und Wangen und wandte sich ab. Seine Unhöflichkeit verwirrte Mu. Er faßte ihn beim Handgelenk. »Ich weiß, daß sie hier ist. Ich habe sie gestern nacht getroffen.« »Das kann nicht sein!« Es krachte laut. Der Mann hatte das Glas fallen lassen. »Wovon reden Sie überhaupt?!« »Ich habe die gestrige Nacht mit ihr verbracht. Ich habe zwei Stunden verschwendet, um sie hier ausfindig zu machen.« Der Mann starrte Mu entgeistert an. So, als wäre ihm endlich eingefallen, was er sagen wollte, rief er laut: »Sind Sie verrückt? Sie ist letztes Jahr gestorben. Sie ist nicht mehr auf dieser Welt, sie hat sich ins Meer gestürzt!« Mu war nicht überrascht. Der Mann betrachtete ihn eine Weile mit leerem Blick und verschwand daraufhin schnell in der Menge. Mu verließ den Raum. Im Licht des Ganges sah er mehrere Schatten, die über den Boden huschten. In einiger Entfernung erblickte er den Fahrstuhl, der sein Maul öffnete und Menschen ausspie. Er fuhr nach unten. Als sich der Fahrstuhl in Bewegung setzte, wurde ihm plötzlich schwindlig, und er meinte, in der Ferne das traurige Geheul eines Schakals zu vernehmen. Einstmals, es war im Winter gewesen, hatte Mu wegen eines heulenden Schakals die ganze Nacht wach gelegen. Seinerzeit wohnte er in einer Dachstube nahe dem Fischmarkt und versuchte, ohne eine feste Anstellung über die Runden zu kommen. Manchmal kam ein Freund zu Besuch und gab ihm etwas Geld für Lebensmittel. An den Tagen, an denen er nichts zu essen hatte, blieb er im Bett und versuchte, so lange wie möglich zu schlafen. Wenn er nicht schlief, lag er einfach nur da und beobachtete die Bewegung des Sonnenlichts, das an den trüben Wintertagen nur durch einen fingerbreiten Spalt ins Zimmer drang. Unten auf dem Markt schrien und stritten Leute den ganzen Tag. Nachts drang aus dem gegenüberliegenden Bretterverschlag das gleichmäßige Geräusch der Wattemaschine* zu ihm herüber. Am Deckenbalken seines Zimmers hing damals eine aus einer Wäscheleine geknüpfte Schlinge. ›Soll ich mich heute erhängen?‹ Diese Frage stellte er sich jeden Tag. Dann steckte er den Kopf in die Schlinge und zog sie so fest an, daß ihm die Luft wegblieb. Das hatte eine enorme Wirkung. Denn die Tatsache, daß er das Pochen seiner Schläfen sowie die Schmerzen im Hals und die tödliche Erstickungsgefahr gespürt hatte, verlieh ihm genug Kraft, den Tag zu überstehen. Einmal schneite es in den frühen Abendstunden, und wenig später wurde es bitterkalt. Ein eisiger Wind wirbelte den Schnee auf. Obwohl er sich die Bettdecke bis über den Kopf gezogen hatte, hörte er, wie der heftige Wind um die Häuser fegte. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite klapperte die Maschine. Unter der Decke nahm er allerdings noch ein weiteres Geräusch wahr, das sich von den anderen unterschied und wie ein leiser, langanhaltender Gesang anmutete. Unmittelbar bevor es verhallte, entstand eine Vibration, ganz so, als würde Eisendraht zerreißen. Er lauschte aufmerksam. Das Geräusch wurde immer deutlicher, und er konnte es bis in die frühen Morgenstunden hinein vernehmen. Hätte es sich um ein Bellen gehandelt, so hätte es von einem Hund ausgehen müssen. Doch bestand das Gebell eines Hundes nur aus kurzen Lauten. Diese langanhaltenden Töne allerdings glichen vielmehr jenem Heulen 23


der Schakale, das er schon als Kind in seinem Bergdorf gehört hatte. Bei Sonnenaufgang verebbte das Geräusch, und er vernahm nur noch das Klappern der Stange in der Wattemaschine. Sobald es hell war, verließ er erstmals seit langer Zeit sein Zimmer, machte sich auf den Weg zum Marktplatz und verlor sich im Labyrinth der Gassen. Als er schließlich die Flußbrücke überquerte, um zu den Lebensmittelläden zu gelangen, begegnete er endlich dem Schakal. Im Morgennebel zog ein Müllmann seine gelbe Karre hinter sich her. Seine schweißnasse Stirn dampfte. Wenn er hustete, kondensierte sein Atem. Die auf der schneebedeckten Straße rollenden Karrenräder gaben ein gleichmäßiges Quietschen von sich. Unter einem Strohsack lugten die geschwollenen roten Gliedmaßen eines Erfrorenen hervor. Der Müllmann hustete und zog die Karre unbeirrt weiter. Da er aus einer öffentlichen Toilette kam, war anzunehmen, daß der Tote wohl dort erfroren sein mußte. Mu fragte sich, ob es sich bei dem Geheul auch um das Stöhnen dieses vor Kälte zitternden, sterbenden Bettlers gehandelt haben könnte. Allerdings war die Toilette ziemlich weit von seiner Wohnung entfernt, und überdies war die laute Maschine die ganze Nacht gelaufen. Selbst wenn der Bettler mit aller Kraft geschrien und Mu seine ganze Aufmerksamkeit darauf gerichtet hätte, war die Entfernung einfach zu groß. Er kehrte in seine Wohnung zurück und entfernte die Schlinge, die wie ein Talisman an der Decke hing. Er hatte das Gefühl, in einer ihm fremden Welt zu leben. Mu blieb vor dem Eingang des Golden Hill stehen und blickte auf die vielen Lichter der Stadt hinunter. Dort war nichts geschehen. Auch nicht, als er in den verworrenen Gängen des Hill herumgelaufen war und nach etwas gesucht hatte, das in dieser Welt nicht mehr existierte. Aber er war noch immer auf dieser Welt. Die Tatsache, daß er ein heimatloser, trinkender Musiker war, hatte für ihn etwas Beruhigendes. Er zog die Kunstblume aus seiner Hemdtasche und warf sie in die Dunkelheit. Er wußte nicht mehr, welche Seite die falsche und welche die richtige war. Er begriff nun, wie sinnlos es war, in dieser Welt etwas besitzen zu wollen.

24



Die Literatur von Hwang Sok-Yong ist die Beschreibung des nicht endenden Kampfes gegen das gewaltige Unrecht, welches das menschliche Leben gefährdet. Das Wunderbare an ihm ist, daß dieser Kampf nicht der Ausdruck des Hasses, sondern der Liebe zu den Unterdrückten ist. Wir sehen in seinen Werken die zerstörerische Wirklichkeit, die durch die Teilung des Landes und die Industrialisierung verursacht wurde, sowie den Anspruch auf die Menschenwürde, worauf niemals verzichtet werden sollte.

Chin Jong-Sok

Hwang Sok-Yong ist fraglos die kraftvollste Erzählerstimme, die Ostasien zur Zeit besitzt.

Kenzaburo Ōe

ISBN 978-3-927648-36-4


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.