Tobias Burghardt

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Tobias Burghardt

Edition Delta

Septembererde & August-Alphabet



Edition Delta



Tobias Burghardt

Septembererde & August-Alphabet

Edition Delta


www.edition-delta.de info@edition-delta.de © 2010 Edition Delta, Stuttgart. Alle deutschsprachigen Rechte © Tobias Burghardt www.tobiasburghardt.net Titelbild Nada: Juana Burghardt Herstellung und Druck in Baden-Württemberg ISBN 978-3-927648-35-7


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Septembererde


Una rosa en la vida. Otra rosa en la muerte. Y otra mĂĄs todavĂ­a. Roberto Juarroz

Eine Rose im Leben. Eine andere Rose im Tod. Und eine weitere noch. Roberto Juarroz


I



Kaddisch

für meinen Vater Johannes, in memoriam (24. 2. 1931 – Essen / Ruhr – 15. 8. 2004)


y mus iremus pur’l caminu qui lleva cerca dil calor calor dil mar di lus vaporis qu’in tus ojus stán aspirandu Clarisse Nicoïdsky

Und wir gehen den Weg, der in die Nähe der Wärme führt, Wärme des Meeres, der Dampfschiffe, die in deinen Augen immerzu warten. Clarisse Nicoïdsky


1 – (Hauch) Auf den Gleisen rückwärts fahren, sehen, wie du dich noch und nöcher entfernst oder vielleicht etwas vergißt – und auf einmal flattert der Frühlingswind; oder nach vorne, wohin du dich langsam bewegst und derweil der Kormorane entsinnst, deren Flug und Umrisse ich beschreibe. Alles bleibt dennoch gleich: die Fahrtrichtung, die Strecken, die Geschwindigkeiten, das Warten, die Pausen, die Vorhänge, die Erwartungen. Allein jener Blickwinkel entscheidet, ob wir zwischen dem Ort der Abfahrt und dem Ziel, das gemeint sein dürfte, ins Nirgendwo gehen oder kommen, wo dieser Wink nicht erwidert werden kann, du reichtest all deine Hände und keine, niemandes Stimmen, ein Hauch wendet das Blatt.

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2 – (in il vienti dil curasón di la mar) Letztlich alles Geschriebene fällt auf uns selber zurück, wie das Regal unter der List des Erdachten einknickt, auch kein Lager für Worte oder Taten mehr sein will, nur wieder Holz vom Stamm und Baum, Vogel, Segel. Unter Ahornblättern sitzen wir hernach auf einer Bank bei den Nachtfischern an der Flußmündung des Tejo, schauen zum Sternenteppich der Uferlampen hinüber, das letzte Fährenschiff dorthin, die Madragoa, legt ab. Exato, exato! Hier gehst du hinein in das Wort, vom Winken begleitet – in il curasón di la mar. Ein Antlitz aus Wasser, deiner Tränen Licht, schon weit entfernt – im Auge der Gezeiten. Der Mond zieht dich heiter hinaus in die Räume; zu ungesehenen Navigationen brichst du nun auf. Lisboa, 16./17. August 2004

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3 – (Südwestfriedhof, morgens) Wir begruben die Asche meines Vaters vor einer Libanonzeder, bei der Stele. Jeder Vers wird zur Schwelle, ein Übergang zum Begräbnis gelebter Epochen und Orte. Wir versenkten die Urne in Septembererde und mit ihr – zagende Ängste, flüchtigen Zweifel. Alles, was uns jetzt schon nicht gehört: der Staub und die Rosen, das Reisigbeet. Wir lasen die Schatten, deinen Namen; die Wange des Horizonts glänzte hernieder. Wie schreibt sich jeder Einzelne fort? Jene Träume? Dieses Erinnern? Das Gedicht?

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Tereziner Triptychon

Manchmal entz端nde ich bei Nacht ein Licht, um nicht zu sehen. Antonio Porchia

A veces, de noche, enciendo una luz para no ver. Antonio Porchia


Vier Schwestern Benot Nathan

für Rosel, Betty, Paula und Jenny

Nie lernte ich meine Großmutter väterlicherseits kennen, auch nicht ihre drei Schwestern, und Rosel überlebte für wenige Jahre, Zigaretten auf dem Tisch zählend, erzählte mein Vater mit verblassender Stimme, dies Wiedersehen in Zeitz, nach der Befreiung von Theresienstadt, mit dem Großvater Werner, der auf sie wartete, ihr nachgefahren war mit der Witterung in der Hand – auch ihn sah ich nie, höchstens auf einem Foto, sonst nicht, nur in den Worten meines Vaters, in denen er lebendig wurde, über die vier Jahreszeiten des Karnevals schreibend, ihre Verkleidung, als er seiner Liebe begegnete, die jüngste der Schwestern, mit der Witterung in seiner Hand, mit seiner Liebe an der Hand, in der Witterung, die Verschollenheit ihrer Leben – in den Sümpfen von Riga, hieß es, in die Wälder wurden sie getrieben, stundenlang einzeln erschossen, Bikernieki, die kleine Familie, Schwester Betty, ihr Mann Arthur und deren Tochter Inge, mit der mein Vater gemeinsam spielte und mal die Synagoge besuchte, früher, als sie klein waren. Paula hot Terezín íbergelebt un oysgeliten far wéjnike jorn. Die Jenny ist schon nicht zurückgekommen von Auschwitz. Es waren einmal 4 jüdische Schwestern an Rhein & Ruhr. Meine Bobe und drei Großtanten, unsere Nachtgespräche. 19


Stalagmiten, Stalaktiten Yo soy el que camina por la playa, sagtest du uns vor etwas mehr als einem Jahrfünft. Nun wandelst du durch die Abwesenheit, sag ich: damals verbindet sich hier mit dem Rauch. Trotz alledem läuft es seit Jahrhunderten oder so vielen Jahrzehnten nicht auf dasselbe hinaus, sogar irgendein alter Schornstein aus Ziegeln läßt die Verbrennungen auch nicht vergessen. Weder in jenen kargen Außenbezirken Gironas, wir durchquerten zuvor die verschollene Mitte, noch in den Straßen der Stadt mit Wald & Wasser, wo wir geboren wurden, um schon nicht zu sehen. Um jeden Tag ein wenig zu sterben und zu atmen unter der Sonne und dem Wort, wenn der Schlaf, der große oder kleine, ein anderes Sein ist oberhalb der Stille und des Mondes. Niemand sollte jemals einen Stern auf seine Seele nähen müssen, auch nicht den zehnten Buchstaben unterhalb der Seele verstecken. Wer, wer konnte zur Unzeit fortgehen, auf der Flucht vor dem Nichtort? Wir legen das Gesicht augenlos in beide Hände, um nichts mehr zu sehen: schwerlich weniger Tropfsteine jeglicher Art in Flammen. 20


Nachsatz Wo wir sind? Wo du bist. Wo ich bin? Wo wir sind. Wo du bist? Wo ich bin. Du weißt: wo einer ist, der schweigt, daß da, der wacht, ein Stummer ist, der hört, einer, der von dir weiß; was niemand, der nie einen Stummen gesehen, nirgends, der nie geschwiegen, nimmer, der nie gelauscht, nie und nimmermehr erkennt...

aber wir sind doch

(14. Februar 1945, Halle an der Saale - 18. Februar 1945, Theresienstadt)

Am Aschermittwoch der Luftangriffe auf Dresden begann in Halle an der Saale der letzte Transport mit Juden aus dem Ruhrgebiet, die in mitteldeutschen Arbeitslagern interniert waren. Die Viehwaggons wurden hin- und herrangiert, mehrfach abgestellt oder umgeleitet, bevor sie erst nach vier Tagen und vier Nächten in Theresienstadt an der Rampe ankamen.

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Edition Delta

ISBN 978-3-927648-35-7


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