Kaspar Hauser

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ANSELM VON FEUERBACH KASPAR HAUSER

Kaspar Hauser

KASPAR HAUSER

Wer war Kaspar Hauser? Diese Frage stellen sich die Menschen noch heute. Im Jahr 1828 findet man einen fremden jungen Mann auf dem Unschlittplatz in Nürnberg. Er spricht kaum, kann nicht richtig laufen und er hält einen Brief in der Hand. Hier beginnt das Rätsel. Paul Johann Anselm Ritter von Feuerbach (1775 - 1833) ist Rechtsgelehrter und interessiert sich für diesen außergewöhnlichen Fall. Er lernt Kaspar kennen und erzählt mit viel psychologischem Gespür seine Geschichte.

ANSELM VON FEUERBACH

Anselm von Feuerbach

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ELI-Lektüren: Texte für Leser jeden Alters. Von spannenden und aktuellen Geschichten bis hin zur zeitlosen Größe der Klassiker.

-V ereinfachter und gekürzter Text mit Erklärung schwieriger Wörter als Fußnoten - Übungen zu Leseverständnis, Wortschatz und Grammatik - Übungen zur Prüfungsvorbereitung A2 - Abschlusstest

Themen Herkunft

Identität

Psychologie

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START DEUTSCH 2

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ELI-Lektüren: Texte für Leser jeden Alters. Von spannenden und aktuellen Geschichten bis hin zur zeitlosen Größe der Klassiker. Eine redaktionell anspruchsvolle Bearbeitung, ein klares didaktisches Konzept und ansprechende Illustrationen begleiten den Leser durch die Geschichten. So lernt man Deutsch wie von selbst!

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Die FSC-Zertifizierung garantiert, dass das für diese Veröffentlichung verwendete Papier aus zertifizierten Wäldern stammt und damit weltweit eine verantwortungsvolle Forstwirtschaft unterstützt.

Für diese Reihe an Lektüreheften wurden 5000 Bäume gepflanzt.


Anselm von Feuerbach

Kaspar Hauser Nacherzählt von Gudrun Gotzmann Illustrationen von Martina Peluso

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Kaspar Hauser Anselm von Feuerbach Nacherzählt von Gudrun Gotzmann Übungen: Gudrun Gotzmann Illustrationen: Martina Peluso Redaktion: Iris Faigle ELI-Lektüren Konzeption: Paola Accattoli, Grazia Ancillani, Daniele Garbuglia (Art Director) Grafische Gestaltung Sergio Elisei Produktionsleitung Francesco Capitano Layout Diletta Brutti Fotos ELI © 2013 ELI S.r.l. B.P. 6 - 62019 Recanati - Italien Tel. +39 071 750701 Fax +39 071 977851 info@elionline.com www.elionline.com Verwendeter Schriftsatz: Monotype Dante 11,5/15 Druck in Italien: Tecnostampa Recanati - ERA 211.01 ISBN 978-88-536-1598-5 Erste Auflage Februar 2013 www.elireaders.com


Inhalt 6

Hauptfiguren

8 10 18 20 27 30 38 40 48 50 58 60 68 70 78 80 86

Vor dem Lesen Kapitel 1 Aufgaben Kapitel 2 Aufgaben Kapitel 3 Aufgaben Kapitel 4 Aufgaben Kapitel 5 Aufgaben Kapitel 6 Aufgaben Kapitel 7 Aufgaben Kapitel 8 Aufgaben

Ein Fremdling in Nürnberg Kaspar unter Menschen Kaspars Leben im Gefängnis Kaspar entdeckt die Welt Umzug zu Professor Daumer Kaspars Besonderheiten Das Attentat Kaspar heute

88 Zum Weiterlesen

Paul Johann Anselm Ritter von Feuerbach

90 Zum Weiterlesen

Wer war Kaspar Hauser?

93 Zum Weiterlesen Kaspars Aktualität 94 Testen sie sich selbst 95 Syllabus

Zeichen für die Hörtexte auf der CD Anfang

Ende


HAUPTFIGUREN

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VOR DEM LESEN

Wortschatz 1

Setzen Sie die passenden Wörter ein (Es gibt für jedes Wort eine Lücke). Stiefel • Kind • Ausdruck • Haare • Hut • sprechen • Jahre • Jacke • Augen Als Kaspar Hauser nach Nürnberg kommt, hat er einen runden roten (1) ___________ von städtischer Form auf dem Kopf. An den Füßen trägt er zerrissene (2) ___________. Über einem Hemd und einer alten Weste trägt er eine graue (3) ___________. Er ist wahrscheinlich 16 oder 17 (4) ___________ alt. Er hat hellbraune, dünne und lockige (5) ___________. Er hat klare bläuliche (6) ___________. Sein Gesicht ist fast ohne (7) ___________. Kaspar geht wie ein kleines (8) ___________. Auch kann er kaum (9) ___________.

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Welches Wort passt nicht? Streichen Sie das unpassende Wort durch. Beispiel: Kaspar 1 Gefängnis 2 lernen 3 Sinne

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fremd, kindlich, dunkel, hilflos Himmel, Käfig, Loch, Unterkunft sprechen, lesen, schreiben, schlafen, zeichnen hören, sehen, riechen, essen


Grammatik 3

Aus welchen einzelnen Substantiven setzen sich die folgenden Wörter zusammen? Nennen Sie bitte auch den bestimmten Artikel (im Singular). 1 2 3 4 5 6 7 8

der Polizeisoldat das Sonnenlicht die Spielsachen das Spiegelbild der Familientisch die Bauernhochzeit die Gartenarbeit der Regenbogen

_______________ und _______________ _______________ und _______________ _______________ und _______________ _______________ und _______________ _______________ und _______________ _______________ und _______________ _______________ und _______________ _______________ und _______________

Leseverständnis 4 Welche Definition ist richtig? Kreuzen Sie an. 1 der Fremdling a ■ eine Person, die Touristen durch fremde Orte führt und ihnen Sehenswürdigkeiten erklärt b ■ eine Person, die in einem Ort niemanden kennt und von keinem gekannt wird c ■ eine Person, die in einem Ort fast alle Einwohner kennt 2 der Rittmeister a ■ der Führer einer Kavallerie b ■ ein Reitlehrer c ■ eine Person, die das Reiten lernt 3 der Turm a ■ ein hohes, meist enges Gebäude; häufig Teil einer Burg oder einer Kirche b ■ der Eingang zu einer Stadt oder einem Schloss/einer Burg c ■ eine Tür, die zum Keller eines Schlosses oder einer Burg führt

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Kapitel 1

Ein Fremdling in Nürnberg

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Der zweite Pfingsttag1 gehört in Nürnberg zu den wichtigen Feiertagen. Der größte Teil der Einwohner geht aufs Land und in die benachbarten Orte. Die Stadt wird dann, besonders bei schönem Frühlingswetter, sehr still und menschenleer. Am 26. Mai, zweiter Pfingsttag des Jahres 1828, nachmittags zwischen vier und fünf Uhr, passiert Folgendes: Ein Bürger, der auf dem sogenannten Unschlittplatz wohnt, ist vor seinem Haus und will durch das sogenannte neue Tor gehen. Er sieht ganz in seiner Nähe einen jungen Menschen, der als Bauernjunge gekleidet ist. Er steht in sehr auffallender Körperhaltung da und versucht zu laufen. Er sieht dabei aus wie ein Betrunkener. Der Bürger geht auf den Fremdling zu. Dieser hält ihm einen Brief entgegen mit der Aufschrift: An den Rittmeister bei der 4. Esgataron2 beim 6. Schwolischen Regiment3 in Nürnberg. Weil der Rittmeister ganz in der Nähe des neuen Tors wohnt, bringt der Bürger den Fremden dort hin. Ein Diener4 des Rittmeisters Wessening öffnet die Tür. Der Fremde hat den Hut auf dem Kopf und geht mit seinem Brief in der Hand auf ihn zu. Er sagt: „Ä sechtene möcht ih wähn, wie mei Vottä wähn is.5“

r Pfingsttag, e christliches Fest des Heiligen Geistes, Pentekoste Cavalleggeri (ital.) Kavallerie im Königreich Bayern 4 r Diener, - Hausangestellter e Esgataron, en eigentlich: die Eskadron oder die 5 dialektal für „Ein Sechster möchte ich werden, wie mein Vater Schwadron, kleinste Einheit der Kavallerie 3 Schwolisches Regiment, e eigentlich: die Cheveaulegers (frz.)/ [einer] gewesen ist.“ 1

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Der Diener fragt ihn, was er will, wer er ist und woher er kommt. Der Fremde scheint1 keine Frage zu verstehen und antwortet immer nur: „Ä sechtene möcht ih wähn, wie mei Vottä wähn is.“ Er weint, weil er starke Schmerzen hat und zeigt auf seine Füße. Er scheint Hunger und Durst zu haben und man gibt ihm ein Stückchen Fleisch. Dies spuckt er sofort wieder aus. Als er etwas Bier probiert, zeigt der denselben Abscheu2. Ein Stück schwarzes Brot und ein Glas frisches Wasser mag er sehr gern. Er scheint zu hören, ohne etwas zu verstehen. Er scheint zu sehen, ohne etwas zu bemerken3. Er scheint seine Füße zu bewegen, ohne dass er sie zum Gehen benutzen kann. Seine Sprache sind meistens Tränen4, Schmerzenslaute, unverständliche Töne oder die Worte: „Reutä wähn, wie mei Vattä wähn is5.“ Im Haus des Rittmeisters denkt man, dass er ein wilder Mensch ist, und führt ihn in den Pferdestall. Dort legt er sich sofort hin und schläft tief ein. Als der Rittmeister nach Hause kommt, erzählen ihm seine Kinder viel Seltsames über den wilden Menschen. Er geht sofort in den Pferdestall und will ihn sehen. Dieser liegt noch in einem tiefen Schlaf. Man versucht, ihn zu wecken. Man hebt ihn vom Boden auf und versucht, ihn auf die Füße zu stellen, aber er schläft weiter. Endlich macht er die Augen auf und wird wach. Er sieht den Rittmeister in seiner bunten, glänzenden Uniform und betrachtet sie mit kindischem Wohlgefallen6. Dann sagt er wieder: „Reutä wähn, wie mei Vattä wähn is.“ Herr von Wessenig kennt den fremden Burschen nicht und versteht auch den Brief nicht. Weil er auf seine Fragen nichts scheinen, schien, geschienen glauben, dass etw. so ist e oder r Abscheu (nur Sg.) Widerwille, Aversion, Ekel 3 bemerken, wahrnehmen, erkennen

e Träne, n Flüssigkeit, die aus den Augen kommt, wenn man weint dialektal für „Ein Reiter werden, wie mein Vater [einer] gewesen ist.“ 6 s Wohlgefallen (nur Sg.) Gefallen, Freude

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antwortet, ruft er die Polizei. Sie soll sich um den fremden Unbekannten kümmern. Gegen acht Uhr abends hat er den Weg zur Polizeistation zurückgelegt, der für ihn sehr schmerzvoll ist. Dort sind mehrere Beamte1 und Polizeisoldaten. Alle finden, dass er eine seltsame Erscheinung ist und fragen sich, unter welche Kategorie sie zu ordnen ist. Bei den polizeilichen Fragen „Wie heißt er? Welchen Beruf hat er? Woher kommt er? Warum ist er hier? Wo ist sein Reisepass?“ zeigt er keine Reaktion. „Ä Reutä wähn, wie mei Vottä wähn is“, „woas nit“ oder „hoam weissa!2“ sind die einzigen Worte, die er sagt. Er scheint nicht zu wissen, wo er ist. Er zeigt keine Angst, kein Befremden oder Verlegenheit, vielmehr eine fast tierische Stumpf heit3. Äußere Dinge bemerkt er nicht oder starrt sie gedankenlos an. Durch seine Tränen, sein Weinen und seine kindliche Art gewinnt er bald das Mitgefühl der Personen auf der Polizeistation. Ein Soldat bringt ihm ein Stück Fleisch und ein Glas Bier, aber er isst nur Brot zu frischem Wasser. Ein anderer gibt ihm eine Münze. Er zeigt darüber die Freude eines kleinen Kindes. Er spielt damit und ruft mehrmals: „Ross!4 Ross!“ Es scheint, dass er diese Münze einem Ross anhängen möchte. Sein ganzes Wesen5 und Verhalten ist das eines zwei- bis dreijährigen Kindes im Körper eines jungen Mannes. Die Meinungen der Polizeimänner sind darüber geteilt, ob man ihn für einen Blöd- oder Wahnsinnigen6 halten soll oder für einen Halbwilden. Einige meinen, dass der Bursche ein Betrüger7 ist. Man hat die Idee, eine Feder mit Tinte und Papier vor ihn zu legen. Man r Beamte, n hier: Angestellter bei der Polizei dialektal für „[Ich] weiß nicht.“ „ Heim weiß er.“ 3 e Stumpfheit (nur Sg.) Apathie 4 s Ross, e oder "er Reitpferd

s Wesen (nur Sg.) Charakter, Art r Blödsinnige/Wahnsinnige, n Pers., die mental zurückgeblieben/ verrückt ist 7 r Betrüger, - jd., der zu seinem Vorteil lügt

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sagt ihm, dass er schreiben soll. Er nimmt die Feder in die Hand und schreibt deutlich den Namen Kaspar Hauser Er soll auch den Namen des Ortes schreiben, aus dem er kommt. Aber er sagt nur wieder: „Reutä wähn“, „Hoam weissä“ und „Woas nit.“ Ein Polizeidiener bringt ihn auf den Turm des Vestner Tors, der für Polizeisträflinge bestimmt ist. In dem Arreststübchen1 fällt er sofort in einen tiefen Schlaf. Als Kaspar Hauser nach Nürnberg kommt, trägt er auf dem Kopf einen runden, großen roten Hut von städtischer Form. Er trägt Stiefel mit Absätzen2. Aus diesen sehen die Zehen seiner nackten Füße heraus. Sie sind ganz zerrissen und passen nicht. Über einem Hemd und einer Weste trägt er eine graue Jacke. Sie war früher ein Frack3, bei dem die Hinterteile abgeschnitten und dann wieder zusammengenäht wurden. Seine Hose sieht aus wie eine alte Reithose. In seiner Tasche findet man einen hölzernen Rosenkranz4 und mehrere religiöse Schriften. In dem Brief, der an den Rittmeister der 4. Eskadron des 6. Cheveaulegers-Regiments adressiert ist, steht Folgendes: Ich schicke Ihnen diesen Knaben. Er möchte seinem König dienen. Er heißt Kaspar. Man hat mir diesen Knaben am 7. Oktober 1812 gegeben. Ich bin selbst ein armer Tagelöhner5, ich habe selbst 10 Kinder und ich habe selbst genug zu tun. s Arreststübchen, - kleine Stube/ kleines Zimmer, wo Gefangene wohnen 2 r Absatz, "e am hinteren Teil des Schuhs unter der Sohle befestigt 3 r Frack, "e lange elegante Jacke 1

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r Rosenkranz, "e eine Art Kette, die man zum Beten benutzt r Tagelöhner, - Arbeiter, der jeden Tag sein Gehalt bekommt 4 5


KASPAR HAUSER

Seine Mutter hat ihn mir zur Erziehung1 gegeben. Ich konnte seine Mutter nicht fragen. Ich habe niemandem gesagt, dass man mir den Knaben gegeben hat. Ich habe mir gedacht, dass ich ihn als Sohn bekommen habe. Ich habe ihn christlich erzogen. Seit 1812 habe ich ihn nicht aus dem Haus gelassen. Kein Mensch und auch er selbst weiß nicht, wo ich wohne. Lesen und Schreiben habe ich ihn schon gelehrt. Wenn man ihn fragt, was er werden will, sagt er, dass er auch ein Schwolischer werden will, wie sein Vater gewesen ist. Er weiß nicht, wo ich bin. Ich habe ihn in der Nacht weggeführt und deshalb kennt er den Weg nach Hause nicht. Ich nenne meinen Namen nicht, weil ich bestraft werden könnte. Er hat kein Geld bei sich, weil ich selbst nichts habe. Bei dem Brief liegt ein Zettel, wahrscheinlich von der gleichen Hand geschrieben: Das Kind ist schon getauft2. Es heißt Kaspar. Einen Schreibnamen müssen Sie ihm selbst geben. Sein Vater ist ein Schwolischer gewesen. Wenn er 17 Jahre alt ist, schicken Sie ihn nach Nürnberg zum 6. Schwolischen Regiment. Da ist auch sein Vater gewesen. Ich bitte um die Erziehung bis zum 17. Jahr. Geboren ist er am 30. April im Jahr 1812. Ich bin eine arme Magd und kann das Kind nicht ernähren3. Sein Vater ist gestorben. Kaspar Hauser war bei seinem Erscheinen in Nürnberg 4 Schuh4 und 9 Zoll5 groß und in seinem 16. bis 17. Lebensjahr. Ein ganz dünner e Erziehung (nur Sg.) das Sorgen, Kümmern um eine Pers., meist ein Kind; 3ernähren jdm. zu essen geben 4 es gehören viele Aspekte dazu, wie z.B. das Lehren von Verhaltensformen r Schuh, - veraltete Längeneinheit: 1 Schuh = ca. 30 cm 2 5 taufen das Sakrament geben, durch das man ein Christ wird; r Zoll, - veraltete Längeneinheit: 1 Zoll = ca. 2,4 cm 1

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Bartwuchs überzieht Kinn und Lippen. Er hat hellbraune dünne und lockige Haare. Sein Körperbau ist kräftig und breitschultrig und ohne sichtbare Gebrechen1. Seine Haut ist sehr weiß und fein. Auch seine Beine und Arme sind fein. Die kleinen Hände sind schön geformt. So auch die Füße, die wahrscheinlich noch nie Schuhe getragen haben. Sie sind sehr weich, aber voll von frischen Blutblasen. An beiden Armen zeigen sich die Narben einer Impfung2. Sein Gesicht ist, wenn es ruhig ist, fast ohne Ausdruck. Die unteren Teile treten etwas hervor. Das gibt ihm ein tierisches Aussehen. Auch der starre Blick seiner klaren bläulichen Augen hat den Ausdruck tierischer Stumpf heit. Die Physiognomie seines Gesichts ändert sich nach einigen Monaten völlig. Der Blick gewinnt an Ausdruck und Leben und die unteren Teile treten mehr zurück. Das Weinen ist in der ersten Zeit ein hässliches Verzerren des Mundes. Bei etwas Schönem lächelt er mit einer liebenswerten Freundlichkeit. Das ist die Freude eines unschuldigen Kindes. Er weiß nicht, wie er seine Hände und Finger gebrauchen soll. Wenn andere Menschen nur einige Finger brauchen, nimmt er die ganze Hand. Er ist sehr ungeschickt3. Sein Gehen ist wie das eines Kindes, das seine ersten Laufversuche macht. Er setzt mit gehobenen Beinen den ganzen Fuß auf den Boden. Sein Oberkörper hängt nach vorn über und seine Arme sind weit ausgestreckt4. Langsam und ungeschickt bewegt er sich vorwärts. Oft fällt er in seinem Zimmer hin, der Länge nach zu Boden. Beim Aufs Gebrechen, - körperliches Problem e Impfung, en eine Person bekommt einen bestimmten Impfstoff, weil sie nicht krank werden soll 1

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ungeschickt wenn man unpräzise Bewegungen macht ausstrecken in einer geraden Position vom Körper weg halten


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und Absteigen von Treppen muss er noch lange nach seiner Ankunft geführt werden. Bei einer gerichtsärztlichen Untersuchung1 im Jahr 1830 findet man folgende Besonderheiten, die Licht in sein Leben und sein Schicksal bringen. Dr. Osterhausen sagt, dass das Knie eine anormale Bildung hat. Beim Strecken des Unterschenkels tritt in der Regel die Kniescheibe2 hervor. Bei Hauser aber liegt sie in einer starken Vertiefung. Wenn er mit ausgestreckten Beinen in horizontaler Lage auf dem Boden sitzt, liegt das Knie so fest auf dem Boden, dass kaum ein Kartenblatt unter die Kniekehle3 zu schieben ist.

gerichtsärztliche Untersuchung vom Gericht veranlasste ärztliche Untersuchung; das Gericht: staatliche Institution, die über Recht und Unrecht entscheiden soll 2 e Kniescheibe, n oberer Teil des Knies 3 e Kniekehle, n unterer Teil des Knies 1

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AUFGABEN

START 2 - Lesen 1

Sind die folgenden Aussagen richtig (R) oder falsch (F)? Kreuzen Sie an. Beispiel: Kaspar trägt einen Brief für den Rittmeister bei sich.

R F ✓ ■ ■

1 Der Rittmeister will Kaspar als Soldat in sein Regiment aufnehmen. ■ ■ 2 Weil Kaspars Mutter und Vater gestorben sind, hat sein Onkel ihn erzogen. ■ ■ 3 Kaspar sieht aus wie ein Jugendlicher, seine Sprache ist aber die eines kleinen Kindes. ■ ■

Schreiben 2

Bringen Sie die Wörter in die richtige Reihenfolge. Schreiben Sie die Sätze und achten Sie dabei auf die Zeichensetzung (Komma und Punkt) und Groß- und Kleinschreibung. Beispiel: einen jungen Menschen Er sieht der gekleidet ist als Bauernjunge ganz in seiner Nähe. Er sieht ganz in seiner Nähe einen jungen Menschen, der als ___________________________________________________ Bauernjunge gekleidet ist. ___________________________________________________ 1 zeigt starke Schmerzen Er weint weil er hat und auf seine Füße ___________________________________________________ 2 und will sofort in den Pferdestall Er geht ihn sehen ___________________________________________________ 3 seinen Namen Er in die Hand nimmt die Feder und deutlich schreibt ___________________________________________________ 4 Hände und Finger Er weiß nicht gebrauchen soll wie er seine ___________________________________________________

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Wortschatz 3

Finden Sie das Gegenteil zu den kursiv gedruckten Adjektiven und notieren Sie die Adjektive (in der Grundform). Beispiel: Die Stadt wird dann sehr still und ist menschenleer. laut voller Menschen ___________________________________________________ 1 Er sieht ganz in seiner Nähe einen jungen Menschen. ___________________________________________________ 2 Seine Sprache sind meistens Tränen, Schmerzenslaute und unverständliche Töne oder Worte. ___________________________________________________ 3 Dieser liegt noch in einem tiefen Schlaf. ___________________________________________________ 4 Ich bin eine arme Magd und kann das Kind nicht ernähren. ___________________________________________________

Vor dem Lesen 4 Was glauben Sie? Was passiert im nächsten Kapitel? Kreuzen

Sie die Alternative an, die Sie für richtig halten. 1 A ■ Kaspar isst nur Brot und trinkt nur Wasser und hat Probleme, sich an andere Speisen zu gewöhnen. B ■ Kaspar gewöhnt sich schnell an neue Speisen. Am liebsten mag er Milch und Fleischgerichte. 2 A ■ Kaspar spielt gerne mit dem Spielzeug, das ihm die Nürnberger geschenkt haben. B ■ Kaspar beschäftigt sich nicht mit dem Spielzeug, das man ihm geschenkt hat. 3 A ■ Anfangs spricht er unverständlich und die Zuhörer müssen häufig erraten, was er sagen will. B ■ Er spricht sofort verständlich und erzählt den Nürnbergern von seiner Vergangenheit.

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Kapitel 2

Kaspar unter Menschen

3 In den nächsten Tagen und Wochen versucht man ohne Erfolg das

dunkle, schreckliche Rätsel um Kaspar Hauser zu lösen. Er ist nicht blöd- oder wahnsinnig. Er ist so sanft, folgsam1 und gutartig, dass keiner ihn für einen Wilden halten kann oder für einen Knaben, der unter den Tieren des Waldes aufgewachsen ist. Er kennt keine Worte und Begriffe, keine alltäglichen Gegenstände und Erscheinungen der Natur. Er zeigt Abscheu gegenüber allen Gewohnheiten2, Bequemlichkeiten3 und Bedürfnissen4 des Lebens und hat starke Besonderheiten in seinem ganzen Wesen. Man könnte ihn für einen Bürger halten, der von einem anderen Planeten kommt und erst im reifen Alter durch ein Wunder auf die Erde herab gekommen ist. Allein der Geruch unserer Speisen erregt in ihm einen Schauder5. Ein Tropfen Wein oder Kaffee, ohne sein Wissen unter sein Wasser gemischt, verursachen in ihm Angstschweiß, Erbrechen und starke Kopfschmerzen. Auch Milch mag er nicht. Man versteckt einmal Fleisch in seinem Brot. Er riecht es sofort und zeigt darüber starke Abscheu. Die Nacht fängt für ihn mit Sonnenuntergang an und endet mit Sonnenaufgang. Er liegt dann auf seinem Strohsack. Bei Tag sitzt er mit ausgestreckten Füßen auf dem Boden.

folgsam gehorsam; das tun, was andere sagen e Gewohnheit, en das, was man immer wieder tut 3 e Bequemlichkeit, en etwas Angenehmes, Komfort 1

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s Bedürfnis, se das, was man zum Leben braucht r Schauder (nur Sg.) sehr unangenehmes Gefühl, ähnlich wie Angst; wird auch körperlich empfunden 4 5


KASPAR HAUSER

Als er in den ersten Tagen zum ersten Mal eine brennende Kerze vor sich sieht, zeigt er große Freude. Er greift hinein und verbrennt sich Hand und Finger, die er zu spät unter Schreien und Weinen zurückzieht. Sie wollen ihn prüfen und hauen mit Säbeln1 nach ihm. Er bewegt sich nicht, weil er die Gefahr nicht erkennt. Als man ihm einen Spiegel gibt, greift er nach seinem Spiegelbild und sucht den Menschen hinter dem Spiegel. Menschen nennt er „Bua“ und zu Tieren sagt er „Ross“. Bei weißen Tieren zeigt er Wohlgefallen, bei schwarzen Tieren zeigt er Furcht. Am Anfang scheinen Kaspers Seele2 und Sinne3 wie erstarrt. Dann nimmt er immer mehr von der Welt wahr. Erst nach einigen Tagen hört er die Turmuhr und die Glocken und ist sehr erstaunt4. Einige Wochen später hört er die Musik einer Bauernhochzeit, die ihm sehr gut gefällt. Als man ihn neben eine laute Trommel5 stellt, ist er sehr erschüttert. Er bekommt Zuckungen und muss weggebracht werden. Kaspar wird täglich auf die Polizeistation geführt, wo er einen großen Teil des Tages verbringt. Dort untersucht man ihn. Bald haben ihn alle lieb. Weil Kaspar oft „Ross! Ross!“ ruft, schenkt ein Polizeisoldat ihm ein weißes, hölzernes Spielpferd. Als Kaspar das Pferd sieht, ist er sehr froh. Er begrüßt es wie einen alten Freund, den er lange nicht gesehen hat und auf den er gewartet hat. Er weint mit lächelndem Gesicht und setzt sich sofort auf den Boden zu dem Pferd. Er streichelt6 es und schaut es die ganze Zeit an. Dann behängt er es mit bunten und r Säbel, - lange Waffe e Seele, n Psyche; religiöse Bedeutung: das, was nach dem Tod weiterlebt 3 r Sinn, e man nimmt Außenreize durch die Sinne wahr

erstaunt überrascht, verwundert e Trommel, n Musikinstrument, bei dem man mit Stöcken schlägt und so die Töne erzeugt 6 streicheln etwas/jdn. vorsichtig und liebevoll berühren

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ANSELM VON FEUERBACH

goldenen Gegenständen, wie zum Beispiel Papierstücken, Bändern1 oder Münzen. Als er die Polizeistation verlassen soll, versucht er, das Ross mitzunehmen. Aber es ist zu schwer für ihn und er muss weinen. Jedes Mal, wenn er auf die Polizeistation kommt, setzt er sich zu seinem lieben Ross auf den Boden. Ein Polizeisoldat sagt später: „Stundenlang hat Kaspar mit seinem Ross gespielt. Er hat kein bisschen auf das geschaut, was um ihn herum passiert ist.“ Er bekommt weitere Rösser für seine Wohnung im Turm. Sie sind immer bei ihm. Auch hier sitzt Kaspar auf dem Boden und dekoriert sie mit verschiedenen Gegenständen, die er oft wechselt. Er versucht auch, ihnen Brot zu fressen zu geben. Der Gefangenenwächter2 will ihm verständlich machen, dass diese Pferde nicht fressen3 können. Kaspar ist sicher, dass sie es können und zeigt auf die Brotkrumen an ihrer Schnauze4. Sie sind dort hängen geblieben. Einmal schläft er auf einem Pferd ein. Als er herunterfällt, verletzt er sich am Finger. Er meint, dass das Pferd ihn gebissen hat. Tiere und Menschen unterscheidet er nur an ihrem Aussehen. Männer und Frauen unterscheidet er an der Kleidung. Die Kleidung der Frauen gefällt ihm besser, weil sie viele auffällige Farben hat. Weil er gerne Frauenkleider tragen möchte, äußert er auch später noch oft den Wunsch, ein Mädchen zu werden. Er kann nicht verstehen, dass aus kleinen Kindern große Leute werden. Man erklärt ihm, dass er auch einmal ein Kind gewesen ist und dass er wahrscheinlich noch viel größer wird, als er schon ist. Erst als er einige Monate später die Markierungen seiner Größe an der Wand sieht, versteht er, dass er größer geworden ist. s Band, "er längerer Streifen, meistens aus Stoff r Gefangenenwächter, - Person, die auf die Gefangenen aufpasst 3 fressen, fraß, gefressen Tiere fressen, wenn sie Hunger haben (Menschen essen) 4 e Schnauze Maul von bestimmten Tieren 1

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ANSELM VON FEUERBACH

Von Religion oder einer Dogmatik sind in seiner Seele nichts zu finden. Einige Geistliche1 kommen schon in den ersten Wochen nach seinem Erscheinen in Nürnberg zu ihm. Kaspar aber versteht von ihren Fragen, Reden und Predigten so viel wie ein Tier. Als er auf dem Turm wohnt, beobachtet der Gefangenenwächter Hiltel ihn für mehrere Wochen. Dieser erzählt Folgendes über Kasper Hauser: „Er verhält sich wie ein kleines Kind und zeigt dabei die größte Natürlichkeit und Unschuld2. Anfangs hat er alles um sich herum vergessen, wenn er sich mit seinen Spielsachen beschäftigt hat. Die große Freude am Spiel war aber nur von kurzer Dauer. Als man ihm nützlichere3 Gegenstände gezeigt hat, hatte er an diesen mehr Interesse. Er hatte nichts Falsches an sich. Auch als ich und meine Frau ihm zum ersten Mal die Kleidung ausgezogen haben und ihn gewaschen haben, war sein Verhalten so natürlich wie das eines Kindes. Ich habe manchmal meinen elfjährigen Sohn Julius und meine dreijährige Tochter Margareta zu ihm gelassen. Julius hat ihn das Sprechen gelehrt, ihm Buchstaben gezeigt und versucht, ihm Begriffe zu erklären. Mit Margareta hat er anfangs sehr gern gespielt. Sie hat ihm gezeigt, wie man Glasperlen an eine Schnur reiht.“ Schon nach den ersten Tagen wird Kaspar nicht mehr als Gefangener, sondern als Kind behandelt, das Pflege4 und Erziehung braucht. Der Gefangenenwächter nimmt ihn mit an seinen Familientisch. Dort isst er nichts, aber er sitzt mit Hiltel und seiner Familie zusammen. Er 1 2

r Geistliche, n Person, die in der Kirche tätig ist e Unschuld (nur Sg.) Reinheit, Naivität

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3 4

nützlich praktisch e Pflege (nur Sg.) Hilfe, Unterstützung


KASPAR HAUSER

lernt, wie man seine Hände auf menschliche Art gebraucht. Er lernt auch andere Sitten1 kennen und ahmt2 sie nach. Er spielt gerne mit den Kindern des Wächters. Auch sie beschäftigen sich gerne mit dem gutmütigen3 und unwissenden Jüngling4. Julius hat ihn besonders lieb und er freut sich, dass er einen so großen Burschen das Sprechen lehren kann. Bald kommt eine Menge neugieriger Menschen zu Kaspar. Nur wenige wollen ihn nur anschauen. Manche lachen über ihn oder machen wissenschaftliche Experimente mit ihm. Es gibt aber auch viele, die versuchen, mit ihm zu sprechen und ihn zum Sprechen zu bringen. Sie sagen ihm Worte und Redensarten5 vor, die er nachsprechen soll. Sie versuchen ihm durch Zeichen und Pantomime, Unbekanntes bekannt und Unverständliches verständlich zu machen. Durch jede Sache, durch jedes Spielzeug lernt er neue Begriffe und Worte. Besonders der Kontakt mit den Menschen bringt Kaspar Hauser zum Denken und Reflektieren. Er will sich auch mitteilen können und lernt deshalb in dieser Zeit immer mehr dazu. Zwei Wochen nach Kaspars Ankunft in Nürnberg kümmert sich Professor Daumer, ein junger Gelehrter, um seine geistige6 Entwicklung7 und Bildung. In kurzer Zeit lernt Kasper so gut sprechen, dass er auf einfache Art seine Gedanken ausdrücken kann. Natürlich ist seine Sprache für lange Zeit lückenhaft, arm und e Sitte, n Umgangs-, Verhaltensnormen nachahmen imitieren 3 gutmütig mit einem freundlichen Charakter 4 r Jüngling, e veraltet für: Jugendlicher 1

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e Redensart, en idiomatische Sprichwörter oder Sätze 6 geistig intellektuell 7 e Entwicklung, en Veränderung, Fortschritt 5

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ANSELM VON FEUERBACH

kindisch. Man kann nur selten mit Sicherheit wissen, was er sagen will. Der Zuhörer muss vieles erraten und durch Vermutungen1 ergänzen. Der Bürgermeister Herr Binder hat als Chef der städtischen Polizei ein besonderes Interesse an Kaspar. Er lässt den Jungen fast täglich in seine Wohnung zu seiner Familie bringen. Er spricht mit Kaspar und lässt ihn sprechen. Durch viele Fragen versucht er, Auskunft über sein Leben und Erscheinen zu bekommen. Am Ende schreibt er eine Geschichte über Kaspers Leben, die am 7. Juli öffentlich gemacht wird. Man weiß nicht, wie viel wirklich aus Kaspars Erinnerung kommt. Die Geschichte stimmt aber im Großen und Ganzen mit dem überein, was Hauser später selbst schreibt und dem Autor dieses Buches in verschiedenen Situationen erzählt.

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e Vermutung, en Hypothese

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AUFGABEN

Wortschatz 1

Finden Sie in jeder Reihe das Wort, das nicht passt, und streichen Sie es durch. 1 gutmütig • verständlich • unwissend • folgsam 2 Milch • Wein • Fleisch • Kaffee 3 Gedanken • Worte • Redensarten • Begriffe 4 Erziehung • Bildung • Pflege • Familie

2

Tragen Sie die Lösungswörter in das Worträtsel ein. Beginnen Sie in dem Feld mit dem entsprechenden Anfangsbuchstaben. (Für Umlaute benutzen Sie bitte nur ein Kästchen) Beispiel: Viele Besucher machen .... mit Kaspar (Wort mit 11 Buchstaben, senkrecht) 1 2 3 4 5 6

Am liebsten mag er die bunte ... der Frauen. (8 Buchstaben, waagerecht) Für Kaspar fängt die Nacht bei ... an. (15 Buchstaben, waagerecht) So nennt er sein Lieblingsspielzeug. (4 Buchstaben, waagerecht) Herr Binder stellt Kaspar viele ... (6 Buchstaben, senkrecht) Er schmückt sein Holzpferd mit ... (6 Buchstaben, waagerecht) Bei der Familie Hiltel lernt er verschiedene ... kennen (6 Buchstaben, senkrecht) 2

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E X P E R I M E N T E

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3

Im Kapitel 2 werden Kaspars Gefühle oft mit Substantiven beschrieben. Suchen Sie die Substantive im Text und formulieren Sie jeweils einen Satz mit dem passenden Verb. Beispiel: Man versteckt einmal Fleisch in seinem Brot. Er riecht es sofort und zeigt darüber starke Abscheu. Er verabscheut Fleisch. der/die Abscheu _____________________ 1 die Freude 2 das Schreien/das Weinen 3 das Wohlgefallen/das Gefallen 4 die Furcht

_____________________ _____________________ _____________________ _____________________

START 2 - Lesen 4 Welche Aussagen passen zu welcher Person? Ordnen Sie zu.

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Es gibt für jede Person nur eine richtige Aussage (zwei Aussagen passen zu keiner Person). 1 2 3 4 5 6

■ ein Polizeisoldat ■ Kaspar ■ Professor Daumer ■ der Gefangenenwächter Hiltel ■ Julius (Sohn von Hiltel) ■ Herr Binder

a b c d e f g h

nimmt Kaspar zum Essen mit zu seiner Familie. schenkt Kaspar ein weißes, hölzernes Spielpferd. mag es sehr, wenn Musik gespielt wird. will Kaspar das Sprechen beibringen. ist sehr an Religion interessiert. kümmert sich um die Bildung und Entwicklung Kaspars. schreibt Kaspars Geschichte auf und macht sie der Öffentlichkeit bekannt. schenkt Kaspar viel Spielzeug


Schreiben 5

Beschreiben Sie Kaspar! Welche Eigenschaften und Gefühle hat er? Schreiben Sie kurze Sätze zu den folgenden Punkten: 1 sein Aussehen: Größe, Alter, Haarfarbe, Gesichtsausdruck. ... (siehe auch Kapitel 1) 2 seine Gefühle: Wann hat Kaspar welche Emotionen? (Beschreiben Sie mindestens drei Situationen und nennen Sie die Gefühle, die er in diesen Situationen zeigt.)

START 2 - Sprechen 6 Nun sollen Sie Informationen zu Ihrer Person geben! Stellen Sie

sich bitte vor. Die folgenden Stichpunkte helfen Ihnen. Name • Alter • Land • Wohnort • Sprachen • Beruf • Hobby

Vor dem Lesen 7

Was glauben Sie - wie wird Kaspars Geschichte weitergehen? Kreuzen Sie die Alternative an, die Sie für richtig (R) halten. R 1 A Schon bald verlieren die Nürnberger Interesse an Kaspar. ■ B Kaspar wird wie eine Zirkus-Attraktion behandelt und bekommt den ganzen Tag Besuch von Leuten, die ihn sehen wollen. ■ 2 A Kaspar freut sich sehr über die Besuche und geht offen auf die Besucher zu. ■ B Kaspar ist ängstlich, wenn er Besuch bekommt und spricht nicht mit Fremden. ■ 3 A Kaspar hat keine Lust, lesen, schreiben und andere Fähigkeiten zu erlernen und beschäftigt sich am liebsten mit seinem Spielzeug. ■ B Kaspar ist sehr neugierig und motiviert und will alles für ihn Neue lernen. ■

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Kapitel 3

Kaspars Leben im Gefängnis 4 Seine Angaben sind im Kurzen folgende:

Er weiß nicht, wer er selbst ist oder wo seine Heimat ist. Erst in Nürnberg ist er auf die Welt gekommen. Hier erst hat er erfahren, dass es, außer ihm und dem Mann, bei dem er immer war, auch noch andere Menschen und Lebewesen gibt. Solange er sich erinnern kann, hat er immer in einem Loch gelebt. Es war ein kleiner niedriger Raum, den er auch Käfig nennt. Er hat nur ein Hemd und hinten aufgeschlitzte1 Lederhosen getragen und hat barfuß2 auf dem Boden gesessen. Nach Kaspars Erzählung hat er niemals, auch nicht im Schlaf, mit dem ganzen Körper gelegen, sondern immer mit angelehntem Rücken gesessen. Wahrscheinlich war diese Position in seiner Unterkunft notwendig. Er selbst kann dazu keine nähere Auskunft geben. Er hat nie einen Laut gehört, nicht von Menschen und nicht von Tieren oder von sonst etwas. Er hat nie den Himmel3 gesehen und er hat auch nie das helle Sonnenlicht, wie in Nürnberg, wahrgenommen. Einen Unterschied zwischen Tag und Nacht hat er nie erfahren und die schönen Lichter am Himmel hat er nie gesehen.

aufschlitzen mit einem scharfen Gegenstand (z.B. einem Messer) einen Einschnitt machen 2 barfuß ohne Schuhe 1

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r Himmel (nur Sg.) Wenn es regnet sieht man am Himmel viele Wolken. 3


KASPAR HAUSER

Auf dem Boden gab es ein Loch, wahrscheinlich mit einem Topf, wo er seine Notdurft1 verrichtet hat. Jedes Mal, wenn er aus dem Schlaf erwacht ist, hat ein Brot neben ihm gelegen und Wasser neben ihm gestanden. Manchmal hatte das Wasser einen schlechten Geschmack. Dann konnte er nach dem Trinken seine Augen nicht mehr offen halten und musste einschlafen. Wenn er wieder aufgewacht ist, hatte er ein sauberes Hemd an und seine Nägel2 waren geschnitten. Er hat das Gesicht des Mannes, der ihm Essen und Trinken gebracht hat, nie gesehen. In seinem Loch hatte er zwei hölzerne Pferde und verschiedene Bänder. Mit diesen Rossen hat er sich, solange er wach war, zu jeder Zeit unterhalten. Er hat sie neben sich herlaufen lassen und ihnen die Bänder unterschiedlich aufgelegt oder umgebunden. So ist ein Tag wie der andere vergangen3. Er hat aber nichts vermisst4, war nicht krank und hatte keine Schmerzen. Es ist ihm besser gegangen als auf der Welt, wo er viel leiden muss. Wie lange er so gelebt hat, weiß er nicht, weil er die Zeit nicht gekannt hat. Er kann nicht sagen, wann und wie er dort hingekommen ist. Er kann sich auch nicht daran erinnern, dass er je in seinem Leben in einem anderen Zustand5 und an einem anderen Ort war. Der Mann, bei dem er immer war, hat ihm nicht wehgetan. Er hat ihn nur einmal mit dem Stock auf seinen Arm geschlagen, weil er zu laut war. In dieser Zeit ist der Mann in sein Gefängnis gekommen. Er hat ein e Notdurft (nur Sg.) auf der Toilette verrichtet man seine Notdurft r Nagel, " an den Fingern und Füßen hat man Finger- oder Fußnägel 3 vergehen, verging, vergangen zu Ende gehen 1

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vermissen das Fehlen einer Sache/einer Person als negativ empfinden 5 r Zustand, "e Situation, Umstand 4

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ANSELM VON FEUERBACH

Tischchen über seine Füße gestellt und etwas Weißes vor ihn gelegt. Jetzt weiß er, dass es Papier war. Von hinten hat er dann seine Hand genommen. So konnte Kaspar sein Gesicht nicht sehen. Mit einem Bleistift, den er ihm zwischen die Finger gesteckt hat, ist er auf dem Papier hin und her gefahren. Kaspar hat nicht gewusst, was das ist. Er hat aber große Freude empfunden1, als er die schwarzen Figuren auf dem weißen Papier gesehen hat. Dann war seine Hand wieder frei und der Mann ist wieder gegangen. Er konnte nicht auf hören, diese Figuren immer wieder auf das Papier zu zeichnen. Seine Freude über diese neue Entdeckung2 war sehr groß, auch wenn er nicht verstanden hat, was die Figuren bedeuten sollten. Der Mann hat diese Besuche zu verschiedenen Zeiten wiederholt. Ein anderes Mal ist der Mann gekommen, hat ihn aus seiner Unterkunft aufgehoben und hat ihn auf die Füße gestellt. Er hat sich dann hinter Kaspar gestellt, ihn gehalten und versucht, ihn laufen zu lehren. Auch das hat er zu verschiedenen Zeiten wiederholt. Einmal ist der Mann gekommen, hat Kaspars Hände über seine Schultern gelegt und ihn auf dem Rücken aus dem Loch getragen. Er hat ihn auf einen Berg gebracht. Dort hat er Kaspar auf den Boden gelegt und es ist Nacht geworden. Dieses ,Nachtwerden‘ heißt in Kaspars Sprache auch ,ohnmächtig werden3‘, wie später in verschiedenen Situationen in Nürnberg klar wird. Von der Reise erzählt Hauser weiter, dass er mehrmals mit dem Gesicht auf dem Boden gelegen hat und es dann Nacht geworden ist. Er hat einige Male Brot gegessen und Wasser getrunken. Der Mann, empfinden, empfand, empfunden Emotionen, Gefühle haben e Entdeckung, en das Finden von etwas Neuem 3 ohnmächtig werden die Sinne verlieren 1

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ANSELM VON FEUERBACH

bei dem er immer gewesen ist, hat mit ihm immer öfter Gehen geübt. Das hat ihm immer sehr weh getan. Der Mann hat nicht mit ihm gesprochen, er hat nur immer die Worte „Reutä wähn, wie mei Vottä wähn is.“ gesagt. Kaspar konnte das Gesicht des Mannes auch nicht auf dieser Reise sehen. Jedes Mal, wenn er ihn geführt hat, musste Kaspar immer vor sich auf den Boden und auf seine Füße blicken. Dies hat er auch deshalb gemacht, weil er mit sich und seinen Füßen schon genug zu tun hatte. Bevor er nach Nürnberg gekommen ist, hat ihm der Mann die Kleider angezogen, mit denen er am neuen Tor erschienen ist. Sehr schmerzhaft ist es für ihn gewesen, als der Mann ihm die Stiefel angezogen hat. Er hat nichts von der Umgebung1 gesehen. Deshalb kann er nicht sagen, von woher, in welcher Richtung und auf welchem Weg er nach Nürnberg gekommen ist. Er kann sich nur daran erinnern, dass ihm zuletzt der Mann den Brief in die Hand gegeben hat und dann weggegangen ist. Dann hat ihn ein Bürger gesehen und ihn zur Wache am neuen Tor gebracht. Diese Geschichte der Geheimhaltung2 und Aussetzung3 eines jungen Menschen ist nicht nur ein grauenvolles4, sondern auch ein seltsames, dunkles Rätsel5. Man kann bei dieser Geschichte viel fragen und raten, aber wenig mit Sicherheit beantworten. Der Seelenzustand Kaspars während seines Lebens im Gefängnis war der Zustand eines Menschen, der als Kind in einen tiefen Schlaf e Umgebung, en das, was einen umgibt, z. B. die Landschaft 2 e Geheimhaltung (nur Sg.) wenn etw. geheim, versteckt gehalten wird, so dass es keiner bemerkt 1

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e Aussetzung, en man bringt eine Person/ein Tier an einen Ort und lässt sie/es allein 4 grauenvoll schrecklich, erregt Angst und Schrecken 5 s Rätsel, - etw., das man nicht versteht; Geheimnis, Mysterium 3


KASPAR HAUSER

fällt. Diesen Schlaf hat er ohne Traum geschlafen, bis er im wilden Lärm der bunten Welt mit Angst und Schmerz aus dem Traum erwacht ist. Nun weiß er nicht, was passiert ist. Deshalb ist es kein Wunder, dass Kaspar Hauser nicht berichten kann, wie und durch welche Orte er nach Nürnberg gekommen ist und was er auf dem Weg gesehen hat. Die frische Luft hat ihn betäubt1, das helle Sonnenlicht hat seine Augen geblendet2. Auch in der Natur, mit all ihren Erscheinungen3, kann er noch nichts unterscheiden. Kaspar selbst erinnert sich nur an sein Gehen. Aufgrund seiner Erzählung kann man nicht sagen, wie lange und wie weit er zu Fuß gegangen ist. Er hat ans Fahren gar keine Erinnerung. Das bedeutet aber nicht, dass ihn nicht trotzdem jemand gefahren hat. Kaspar fällt auch jetzt noch beim Fahren, besonders in freier Luft, sehr bald in einen förmlichen Totenschlaf. Der Wagen kann rollen oder stillstehen, man kann ihn dann nur sehr schwer wecken. Auch kein Geräusch ist stark genug, ihn aufzuwecken. Kaspar erzählt, dass er in Ohnmacht gefallen ist, sobald er an die freie Luft gekommen ist. Man hat ihm, wahrscheinlich zur Vorsicht, vorher noch von dem Wasser mit dem schlechten Geschmack, Wasser mit Opium verdünnt, zu trinken gegeben. So konnte man ihn ohne Schwierigkeiten in einen Wagen werfen und dann einige Tagesreisen mit ihm machen. Man musste sich keine Sorgen machen, dass er aufwacht, schreit oder andere Probleme macht. Es gibt viele Vermutungen über diese Geschichte. Sicher ist, dass die Person, die Hauser nach Nürnberg gebracht hat, Nürnberg gut betäuben gefühllos machen blenden man kann nicht richtig sehen, weil die Helligkeit zu stark ist 3 e Erscheinung, en hier: Merkmal, Eigenschaft 1

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ANSELM VON FEUERBACH

gekannt hat. Es ist auch sehr wahrscheinlich, dass sie früher dort Soldat bei einem Regiment war. Das bayrische Strafgesetzbuch1 hat die Verbrechen2 an der Person Kaspars beurteilt: 1. Das Verbrechen der Gefangenhaltung wird doppelt3 angerechnet. Wegen der Dauer, das heißt von der frühsten Kindheit an bis in das Jünglingsalter, und wegen der Art. Die tierische Unterkunft hat den Körper Kaspars verkrüppelt4 und das Essen war kaum gut genug für einen Hund. Außerdem hatte er keine Möglichkeit zur geistigen Entwicklung und Ausbildung. Man hat eine menschliche Seele gegen die Natur im tierischen Zustand gehalten. 2. Das Verbrechen der Aussetzung. Die Aussetzung Kaspars war lebensgefährlich. Dieser Mensch war in seinem früheren geistigen und körperlichen Zustand in Gefahr, zu fallen oder überritten5 oder überfahren zu werden. Im bayrischen Gesetzbuch gibt es das Verbrechen am Seelenleben, wie es zu nennen ist, nicht. Es ist aber das schwerste Verbrechen. Man hat Kaspar von der Natur und anderen Menschen ausgeschlossen. Er hat nicht die geistigen Nahrungsmittel bekommen, welche die Natur der menschlichen Seele zum Wachsen, zur Erziehung, Entwicklung und Bildung gegeben hat. Das ist der strafwürdigste6 Eingriff in der Seele eines Menschen. s Strafgesetz, e Gesetz, das Taten als strafbar erklärt und ihre 4 verkrüppeln körperlichen Schaden verursachen 5 Bestrafung regelt überreiten, überritt, überritten wenn ein Pferd über etw./jdn. läuft 2 6 s Verbrechen, - kriminelle Tat strafwürdig etwas muss bestraft werden, verdient eine Strafe 3 doppelt zwei Mal 1

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KASPAR HAUSER

Außerdem war Kaspar in seiner Jugendzeit in einem tierischen Seelenschlaf. Er hat diesen Teil seines Lebens verlebt1, ohne ihn gelebt zu haben. Er war in dieser Zeit wie ein Toter. Er bleibt für immer ein Mensch ohne Kindheit und Jugend. Weil er sein Kinderleben erst im Alter der physischen Reife2 beginnen kann, bleibt sein Geist immer hinter seinem Alter zurück. Sein Alter aber ist seinem Geist voraus. Es gibt also einen unnatürlichen Gegensatz zwischen dem geistigen und physischen Leben Kaspars. Zu dem Verbrechen am Seelenleben gehört außerdem die Zerstörung in seinem Gemüt. Diese Geschichte hat eine besondere Seite: Gegenstand der Untersuchung und Beurteilung von Seelenzuständen ist normalerweise der Verbrecher selbst. Hier gibt es einen einzigartigen Fall, bei dem man das Verbrechen in einer Menschenseele findet. Man muss es auf psychischem Wege untersuchen und den Geist und das Gemüt3 dieses Menschen beobachten. Auch über die Geschichte der Tat haben wir nur die Erzählung der Person, die das Verbrechen erlitten4 hat. An seinem Körper, seinem Geist und seinem Gemüt kann man die Tat deutlich erkennen. Wer also an Kaspers Erzählung zweifelt5, der zweifelt an der Person Kaspers.

verleben hier: die Zeit verbringen, vergehen lassen e Reife (nur Sg.) fortgeschrittener Entwicklungszustand 3 s Gemüt, er hier: Seelenleben, Gefühlsleben 1

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2

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erleiden, erlitt, erlitten etwas Negatives erleben zweifeln etw. nicht glauben

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AUFGABEN

Grammatik 1

Setzen Sie die passenden Satzverbindungen in die Lücken ein. Für jede Satzverbindung gibt es eine Lücke. dass • weil • trotzdem • deshalb • aber Beispiel: Er hat ans Fahren gar keine Erinnerung. Das bedeutet aber nicht, trotzdem jemand gefahren hat. dass ihn nicht ___________ Man kann bei dieser Geschichte viel fragen und raten, (1) ___________ wenig mit Sicherheit beantworten. Der Seelenzustand Kaspars während seines Lebens im Gefängnis war der Zustand eines Menschen, der als Kind in einen tiefen Schlaf fällt. Diesen Schlaf hat er ohne Traum geschlafen, bis er im wilden Lärm der bunten Welt mit Angst und Schmerz aus dem Traum erwacht ist. Nun weiß er nicht, was passiert ist. (2) ___________ ist es kein Wunder, dass Kaspar Hauser nicht berichten kann, wie und durch welche Orte er nach Nürnberg gekommen ist und was er auf dem Weg gesehen hat. Kaspar erzählt, (3) ___________ er in Ohnmacht gefallen ist, sobald er an die freie Luft gekommen ist. Man hat ihm, wahrscheinlich zur Vorsicht, vorher noch von dem Wasser mit dem schlechten Geschmack, Wasser mit Opium verdünnt, zu trinken gegeben. (4) ___________ er sein Kinderleben erst im Alter der physischen Reife beginnen kann, bleibt sein Geist immer hinter seinem Alter zurück.

2

Schreiben Sie die Sätze im Perfekt und Präteritum im Präsens (Gegenwart). Beispiel: Er hat immer in einem Loch gelebt. Er lebt immer in einem Loch. ___________________________________________________ 1 Er hat nur ein Hemd und hinten aufgeschlitzte Lederhosen getragen und hat barfuß auf dem Boden gesessen. ___________________________________________________ ___________________________________________________

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2 Wahrscheinlich war diese Position in seiner Unterkunft notwendig. ___________________________________________________ 3 Auf dem Boden gab es ein Loch, wahrscheinlich mit einem Topf, wo er seine Notdurft verrichtet hat. ___________________________________________________ ___________________________________________________ 4 Von hinten hat er dann seine Hand genommen. ___________________________________________________ 5 Dann war seine Hand wieder frei und der Mann ist wieder gegangen. ___________________________________________________ ___________________________________________________

Schreiben 3

Beantworten Sie die folgenden Fragen schriftlich in kurzen Sätzen. (Die Fragen beziehen sich auf Kaspars früheres Leben.) 1 Wo hat Kaspar bis zu seiner Ankunft in Nürnberg gewohnt? 2 Wer hat ihm Essen und Trinken gebracht? 3 Wie hat er sich die meiste Zeit über beschäftigt? 4 Was hat er gelernt, kurz bevor er nach Nürnberg gekommen ist?

Vor dem Lesen 4 Welcher Satzanfang passt zu welchem Satzende? Ordnen Sie

bitte zu! 1 2 3 4 5 6

■ Solange er sich erinnern kann, ■ Er hat nie einen Laut gehört, ■ Er hat niemals mit dem ganzen Körper gelegen, ■ Er kann nicht sagen, ■ In seinem Loch hatte er ■ Mit einem Bleistift ist er

a b c d e f

wann und wie er dort hin gekommen ist. sondern immer mit angelehntem Rücken gesessen. nicht von Menschen und nicht von Tieren. auf dem Papier hin und her gefahren. hat er immer in einem Loch gelebt. zwei hölzerne Pferde und verschiedene Bänder.

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Kapitel 4

Kaspar entdeckt die Welt

5 Schon war Kaspar Hauser mehr als einen Monat in Nürnberg, als ich

von diesem Findling höre. Als Privatmann, aus menschlichem und wissenschaftlichem Interesse, komme ich am 11. Juli 1828 nach Nürnberg. Kaspar hat noch immer seine Wohnung am Vestner-Tor. Es kann jeder zu ihm kommen, der Lust hat, ihn zu sehen. Ich besuche ihn zusammen mit einem Obristen1, zwei Damen und zwei Kindern. Er ist barfuß, trägt eine alte, lange Hose und ein Hemd. Kaspar hat die Wände des Zimmers mit gemalten Bilderbogen2 ausgeschmückt. Es sind Geschenke der vielen Besucher. Er klebt sie jeden Morgen mit seinem Speichel3 an die Wand. Am Abend nimmt er sie wieder ab und legt sie neben sich zusammen. In der Ecke befindet sich sein Bett. Es ist ein Strohsack mit einem Kopf kissen4 und einer Wolldecke5. Der Raum ist voll mit verschiedenem Kinderspielzeug, mit Hunderten Soldaten aus Blei, mit hölzernen Hündchen, Pferdchen und anderen Waren aus Nürnberg. Bei Tag beschäftigt er sich nur noch wenig damit, aber abends legt er alle diese Sachen wieder zusammen. Nach dem Aufwachen packt er sie dann wieder aus und stellt sie in einer bestimmten Ordnung in einer Reihe nebeneinander.

Obrist, en veraltet für: Oberst (Dienstgrad beim Militär) r Bilderbogen, - oder " Papier mit Bilderfolge 3 r Speichel (nur Sg.) Flüssigkeit, die aus dem Mund kommt

s Kopfkissen, - man liegt beim Schlafen mit dem Kopf darauf e Wolldecke, n Decke aus Wolle, die man z. B. beim Schlafen über sich legt

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2

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KASPAR HAUSER

Die Nürnberger haben ihm auch mehrere Kleidungsstücke geschenkt, die er unter sein Kopf kissen gelegt hat. Diese zeigt er uns mit kindlicher Freude und einiger Eitelkeit1. Es liegen verschiedene Geldstücke herum, denen er aber keine Aufmerksamkeit schenkt. Als ich ihn frage, welches Geldstück er am liebsten hat, wählt er das kleine, glänzende Geldstück. Ich versuche ihm zu erklären, dass das Große mehr Wert2 hat. Er denkt nach und sagt am Ende, dass er das nicht versteht. Als wir hereinkommen, zeigt er keine Angst und Schüchternheit3, sondern zutrauliches4 Entgegenkommen und Freude über unseren Besuch. Er interessiert sich sehr für die Uniform des Obristen und kann nicht auf hören, seinen goldenen Helm anzusehen. Seine Aufmerksamkeit wechselt dann zu den bunten Kleidern der Frauen. Ich trage einen einfachen schwarzen Frack und bin anfangs gar nicht interessant für ihn. Jeder stellt sich vor und nennt seinen Namen und Titel. Ich beobachte, dass Kaspar sich nahe an die Person stellt und einen schnellen, durchdringenden5 Blick auf jeden besonderen Teil des Gesichts wirft. Am Ende fasst er die stückweise gelesenen Teile der Physiognomie in ein Ganzes zusammen. Er wiederholt dann den Namen der Person. Nun kennt er die Person und kennt sie, wie spätere Erfahrungen zeigen, für immer. Er versucht, nicht ins helle Tageslicht zu schauen. Wenn ein einfallender Sonnenstrahl seine Augen trifft, blinzelt6 er stark, runzelt7 die Stirn und zeigt, dass er Schmerzen hat. Seine Augen sind außerdem etwas entzündet8 und sehr empfindlich9 gegenüber Licht. e Eitelkeit, en Selbstgefälligkeit r Wert (nur Sg.) hier: das, was man dafür bekommt 3 e Schüchternheit Scheuheit, Timidität

zutraulich offen, mit Vertrauen, ohne Scheu durchdringend intensiv 6 blinzeln die Augen schnell auf und zu machen

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runzeln zusammenziehen, in Falten legen 8 entzünden krankhaft rot werden 9 empfindlich sensibel 7

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ANSELM VON FEUERBACH

Die linke Hälfte des Gesichts ist sehr von der rechten Seite verschieden. Sie ist deutlich verzerrt und zuckt1 häufig. An diesen Zuckungen nimmt immer die linke Seite des Körpers, besonders der Arm und die Hand, teil. Wenn man ihm etwas zeigt, was ihn neugierig macht, oder ein Worts spricht, das er nicht versteht, fangen diese Zuckungen an. Diese werden meistens zu einer Art Erstarrung. Er steht dann still da, kein Muskel des Gesichts bewegt sich und die Augen starren wie leblos vor sich hin. Diesen Zustand kann man immer dann beobachten: wenn er nachdenkt; wenn er für ein neues Wort den passenden Begriff sucht; wenn er für ein neues Ding das passende Wort sucht; wenn er versucht, etwas noch Unbekanntes mit etwas Bekanntem zu verbinden und so versucht, das Unbekannte zu verstehen. Die Worte, die er sagen kann, spricht er klar und deutlich. Nur an eine zusammenhängende2 Rede ist bei ihm noch nicht zu denken. Seine Sprache ist so arm wie die Anzahl der bekannten Begriffe. Es ist deshalb auch schwer, sich ihm verständlich zu machen. Von sich spricht er fast immer in der dritten Person. Man darf zu ihm nicht „Du“, sondern man muss „Kaspar“ sagen. Nur so versteht er, dass man ihn meint. Viele Wörter für nur eine Spezies gebraucht er für die ganze Gattung3. So gilt das Wort „Berg“ für jede Wölbung4 oder Erhöhung. Deshalb nennt er einen dickbäuchigen Mann, dessen Namen er vergessen hat, „Mann mit dem Berg“. Für mich ist es wichtig, seinen Geschmack5 hinsichtlich der zucken schnelle, meist automatische Bewegungen machen zusammenhängend vollständig, logisch miteinander verbunden

e Gattung, en Art e Wölbung, en Rundung 5 r Geschmack, "e hier: subjektives Werturteil

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KASPAR HAUSER

Farben zu prüfen. Auch hier verhält er sich so wie die Kinder und die sogenannten Wilden. Er liebt die rote Farbe, besonders die intensiv rote. Die gelbe mag er nicht, nur wenn sie als Gold glänzt. Weiß lässt ihn gleichgültig, Grün hasst er fast so wie Schwarz. An der Natur hat er deshalb keinen Gefallen. Er findet sie nur schön, wenn er sie durch ein rot gefärbtes Glas sieht. Die Neugier, der Wissensdurst und die starke Beharrlichkeit1, mit der er versucht zu lernen und zu verstehen, sind unglaublich und herzergreifend. Tagsüber beschäftigt er sich zusammen mit Professor Daumer mit Schreiben, Zeichnen und anderen Lehrgegenständen. Er beschwert sich immer wieder, dass die Leute auf der Welt so viel wissen und er so viel noch gar nicht gelernt hat. Mit seinem Leben auf der Welt ist er nicht zufrieden. Zu Hause in seinem Loch, sagt er, hat er nie so viele Schmerzen im Kopf gehabt und man hat ihm nicht so weh getan wie jetzt auf der Welt. Damit meint er die vielen neuen Eindrücke2 und Gerüche, die vielen Besuche der Neugierigen mit ihren Fragen und nicht sehr humanen Experimenten. Über den Mann beschwert er sich nur, weil er noch nicht gekommen ist, um ihn wieder nach Hause zu bringen, und weil er ihm von den vielen schönen Sachen auf der Welt nichts gezeigt oder gesagt hat. Als ich ihn frage, warum er zu dem bösen Mann wieder zurück will, antwortet er: „Mann nit bös. Mann mir nit bös tan3.“ Er hat ein erstaunliches und schnelles Gedächtnis4. Bei jedem der vielen kleinen und großen Geschenke nennt er uns den Namen und Titel der Person, von der er es bekommen hat. e Beharrlichkeit (nur Sg.) Ausdauer, Hartnäckigkeit, Insistenz 4 s Gedächtnis (nur Sg.) wenn man ein gutes Gedächtnis hat, r Eindruck, "e Wahrnehmung erinnert man sich an Vieles 3 dialektal für „Der Mann [ist] nicht böse. Der Mann [hat] mir nichts Böses getan.“ 1

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ANSELM VON FEUERBACH

Der Arzt Dr. Osterhausen zeigt Kaspar einen Blumenstrauß und sagt ihm die Namen der einzelnen Blumen vor. Mehrere Tage später kann er jede dieser Blumen wiedererkennen und mit ihrem Namen benennen. Später, als sein Verstand mehr Arbeit bekommt, wird dieses Gedächtnis aber viel schlechter. Wenn Personen eine väterliche Autorität für Kaspar sind, macht er alles, was sie sagen. Dazu gehören besonders der Herr Bürgermeister, der Herr Professor Daumer und der Gefangenenwächter Hiltel. Er sagt, dass er das von dem Mann „bei dem er immer gewesen ist“ gelernt hat. Auf fremde Autoritäten hört er aber nur, wenn es ums Tun oder Nichttun geht. Um etwas als sicher oder wahr anzunehmen, ist seine eigene Überzeugung1 nötig. Diese bildet er entweder durch sinnliche Wahrnehmung oder durch einen Grund, den er verstehen kann. Wenn er etwas nicht versteht, widerspricht2 er nicht und lässt die Sache zunächst dahingestellt3. Er sagt dann, dass er zuerst mehr lernen muss. Ich erzähle ihm von dem nächsten Winter und sage, dass dann die Dächer der Häuser und alle Straßen der Stadt ganz weiß sind. Er glaubt es erst, wenn er es sieht. Als im folgenden Winter der erste Schnee fällt, zeigt er große Freude, dass alles so gut „angestrichen“ ist. Er geht nach draußen, um sich etwas von der weißen Farbe zu holen. Kaspar kommt weinend wieder und schreit: „Die weiße Farbe hat mich in die Hände gebissen4.“ Kaspar liebt die Ordnung und Sauberkeit. Diese Liebe treibt er bis zur Pedanterie. Er hasst die Unsauberkeit, oder was er dafür hält, bei sich und bei anderen. e Überzeugung, en feste Meinung, fester Glaube widersprechen, widersprach, widersprochen einer Sache nicht zustimmen, mit einer Person nicht übereinstimmen 1

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etw. dahingestellt lassen etw. offen lassen, nicht mehr weiter über etw. diskutieren 4 beißen, biss, gebissen jdn. mit den Zähnen verletzen 3



ANSELM VON FEUERBACH

Die merkwürdigste1 Erfahrung mache ich, als ich Kaspar sage, dass er aus dem Fenster sehen soll. Man hat eine weite Aussicht auf eine schöne Sommerlandschaft. Als ich ihn frage, ob das nicht schön ist, ruft er „Garstig2! Garstig!“. Sein Gesicht drückt Abscheu und Schrecken aus. Als nun Kaspar einige Jahre später, im Jahre 1831, einige Wochen lang bei mir Gast ist, frage ich ihn, warum er damals beim Anblick der Landschaft „Garstig! Garstig!“ gerufen hat. Er antwortet: „Ja, natürlich. Das war sehr garstig, was ich damals gesehen habe. Ich habe gedacht, ein Maler hat die Fensterläden mit Weiß, Blau, Grün, Gelb, Rot, alles bunt durcheinander angemalt. Ich konnte die einzelnen Dinge nicht erkennen und nicht unterscheiden. Ich hatte Angst, weil ich gedacht habe, dass ein bunter Fensterladen3 das Fenster verschlossen hat, damit ich nicht ins Freie sehen kann. Ich habe erst später auf meinen Spaziergängen ins Freie verstanden, dass ich Felder, Berge und Häuser gesehen hatte. Anfangs konnte ich auch nicht unterscheiden, was wirklich rund und dreieckig war oder nur rund und dreieckig gemalt war.“ Der ständige Umgang mit den vielen Besuchern bringt den Gewinn, dass Kaspar schnell viele Dingen und Wörter kennenlernt und bald im Verstehen und Sprechen Fortschritte macht. Zu jeder Stunde des Tages lernt er von vielen Seiten etwas Neues kennen. Das alles kann er aber nicht zu einem Ganzen zusammenbringen. Die vielen Vorstellungen und Gedanken bleiben ungeordnet nebeneinander. Sein Körper und sein Nervensystem sind zu schwach für das ungewohnte Licht und die frische Luft, die vielen verschiedenen 1 2

merkwürdig komisch, seltsam, interessant garstig schrecklich, hässlich

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r Fensterladen, " damit schützt und verdunkelt man die Fenster von außen, wenn man sie schließt; meist aus Holz 3


KASPAR HAUSER

Sinneseindrücke und die Anstrengung1 seiner wissensdurstigen Seele. Kaspar wird krank. Sein Arzt, Dr. Osterhausen, sagt, dass Kaspar verändert ist. Er ist traurig und schwach. Die Empfindlichkeit seiner Nerven ist krankhaft erhöht. Seine Gesichtsmuskeln zucken ständig. Seine Hände zittern so sehr, dass er kaum etwas halten kann. Seine Augen sind entzündet, können kein Licht vertragen und schmerzen beim Lesen. Sein Gehör ist so empfindlich, dass er bei jedem lauten Sprechen starke Schmerzen bekommt. Er kann die Musik, die er liebt, nicht mehr hören. Er hat keinen Appetit und einen erschwerten Stuhlgang2. Er hat Beschwerden im Unterleib3 und fühlt sich nicht gut.

e Anstrengung, en Bemühung, Kraftaufwand r Stuhlgang (nur Sg.) Darmentleerung, Notdurft 3 r Unterleib, er unterer Teil des Bauches 1

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AUFGABEN

START 2 - Schreiben 1

Stellen Sie sich vor: Sie sind ein Freund/eine Freundin des Autors Anselm von Feuerbach und bekommen einen Brief von ihm. In diesem Brief erzählt er Ihnen von seinem ersten Besuch bei Kaspar Hauser. Schreiben Sie einen kurzen Antwortbrief, in dem sie Feuerbach nach genaueren Informationen über Kaspar fragen. Von den folgenden 4 Punkten wählen Sie bitte 3 Punkte aus. Herkunft und Wohnort • Alter und Aussehen • Verhalten (bei Besuch) • Beschäftigungen

Leseverständnis 2

Finden Sie die inhaltlichen Fehler in den folgenden Aussagen und korrigieren Sie sie! (Es gibt in jedem Satz einen Fehler.) Beispiel: Schon war Kaspar Hauser mehr als ein Jahr in Nürnberg, als ich von diesem Findling höre. Schon war Kaspar Hauser mehr als einen Monat in Nürnberg, ___________________________________________________ als ich von diesem Findling höre. ___________________________________________________ 1 Ich besuche ihn zusammen mit einem Pfarrer, zwei Damen und zwei Kindern. ___________________________________________________ ___________________________________________________ 2 Die Nürnberger haben ihm auch mehrere Spielsachen geschenkt, die er unter sein Kopfkissen gelegt hat. ___________________________________________________ ___________________________________________________ 3 Tagsüber beschäftigt er sich zusammen mit Herrn Binder mit Schreiben, Zeichnen und anderen Lehrgegenständen. ___________________________________________________ ___________________________________________________ 4 Zu Hause in seinem Loch, sagt er, hat er noch mehr Schmerzen im Kopf gehabt und man hat ihm nicht so weh getan wie jetzt auf der Welt ___________________________________________________ ___________________________________________________

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Sprechen 3

Im Kapitel 4 berichtet der Autor über den Farben-Geschmack Kaspars. Sprechen Sie mit einem/-er Partner/-in über die Farben, die Sie mögen/nicht mögen. (Sie können zum Beispiel auch über Farben bei Kleidung sprechen.)

Vor dem Lesen 4 Kreuzen Sie für jedes Wort die richtige(n) Definition(en) an. R 1 der Traum A nicht reales Erlebnis während des Schlafs ■ B Zustand großer Müdigkeit ■ C etwas, das man sich sehr wünscht/etwas, das in Erfüllung gehen soll ■ 2 die Gleichgültigkeit A Haltbarkeit bis zu einem bestimmten Datum, zum Beispiel bei Lebensmitteln B etwas hat den gleichen Wert wie etwas anderes C einer Person ist alles egal/nicht wichtig

■ ■ ■

3 die Bewunderung A man kann etwas nicht verstehen ■ B es passiert etwas Außergewöhnliches/ein Wunder ■ C man schätzt die positiven Eigenschaften einer Sache/einer Person ■ 4 der Regenbogen A Naturphänomen, das entsteht, wenn es regnet und gleichzeitig die Sonne scheint ■ B Ansammlung von Wasser bei Regenfall ■ C Gegenstand, den man zum Schutz vor Regen aufspannt ■

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Kapitel 5

Umzug zu Professor Daumer 6 Kaspar kann am 18. Juli seine Wohnung auf dem Turm verlassen und

zieht zu dem Gymnasialprofessor Daumer. Er hat einen guten Geist und ein gutes Herz. Er hat sich schon väterlich um die Bildung Kaspars gekümmert und nimmt ihn nun zur Erziehung und häuslichen Pflege zu sich. Kaspar findet in der Familie dieses Mannes, dessen Mutter und Schwester den Ersatz für die Personen, die ihm die Natur gegeben hat und Menschenbosheit genommen hat. Kaspar Hauser bekommt ein richtiges Bett, das ihm sehr gefällt. Erst seit er in einem Bett schläft, hat er Träume. Diese erkennt er aber anfangs nicht als Träume. Beim Erwachen erzählt er sie seinem Lehrer als wirkliche Ereignisse. Eine der schwersten Aufgaben ist es, ihn an richtiges Essen zu gewöhnen. Als Erstes gewöhnt1 er sich an Wassersuppe, die er täglich lieber mag. Auch Mehlspeisen, Hülsenfrüchte2 und was sonst mit dem Brot Ähnlichkeit hat, isst er gern. Langsam gewöhnt man ihn an Fleischspeisen. Professor Daumer schreibt in seinen Notizen: „Nachdem er zuletzt richtig Fleisch essen gelernt hat, hat sich seine geistige Wachheit vermindert3.

jdn. an etw. gewöhnen jdn. vertraut, bekannt machen mit etw. e Hülsenfrucht, e Erbsen, Bohnen, Linsen 3 sich vermindern schwächer oder kleiner werden, verringern 1

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KASPAR HAUSER

Die Augen haben ihren Glanz und Ausdruck verloren. Seine Lust nach Tätigkeit ist schwächer und das Intensive seines Wesens ist zu Zerstreuungssucht1 und Gleichgültigkeit2 geworden. Auch die Fähigkeit seines Verstandes hat abgenommen.“ Es ist schwer zu entscheiden, ob dies die Folge der Fleischspeisen oder die Folge der schmerzhaften Überreizung ist. Das Essen warmer Speisen und einiger Fleischspeisen hat aber sicherlich großen Einfluss auf sein Wachstum. Im Daumerschen Haus wächst er nach wenigen Wochen um zwei Zoll. Seine entzündeten Augen und die Kopfschmerzen, die er bei jeder Anstrengung des Gesichts bekommt, machen ihm das Lesen, Schreiben und Zeichnen unmöglich. Deshalb beschäftigt Herr Daumer ihn mit Papparbeiten3, wobei er geschickt ist. Auch lehrt er ihn das Schachspiel4, das er schnell erlernt und mit Freude übt. Außerdem beschäftigt man ihn mit leichten Gartenarbeiten und macht ihn mit der Natur bekannt. Jeden Tag lernt er unzählig Neues und er zeigt darüber Befremden, Bewunderung5 und Erstaunen. Als er zum ersten Mal das große Kruzifix an der Außenseite der Sebalduskirche sieht, ist er entsetzt6 und will, dass man den Menschen von dort oben herunternimmt. Er gibt sich lange nicht zufrieden, obwohl man versucht, ihm zu erklären, dass dieses kein wirklicher Mensch, sondern nur ein Bild ist und deshalb nichts empfindet. Gegenstände hält er für belebt und ihre Bewegungen für freiwillig. Ein Blatt Papier, das der Wind herunterweht, ist vom Tisch weggelaufen. Ein Kinderwagen, der von einer Anhöhe herab rollt, macht sich den Spaß, sich selbst von der Höhe herab zu fahren. e Zerstreuungssucht (nur Sg.) übertriebenes Verlangen nach 4 s Schachspiel, e klassisches Brettspiel mit vielen verschiedenen Unterhaltung, Zeitvertreib Figuren für zwei Personen 2 5 e Gleichgültigkeit (nur Sg.) Interessenlosigkeit, Indifferenz e Bewunderung (nur Sg.) Hochschätzung, Wertschätzung 3 6 e Papparbeit, en Kartonage entsetzt schockiert 1

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Der Baum bewegt seine Zweige und Blätter und zeigt so Leben. Er spricht, wenn der Wind durch seine Blätter weht. Für Kaspar laufen die Kugeln einer Kegelbahn1 freiwillig, tun anderen Kugeln weh und sind, wenn sie endlich stillstehen, vom Laufen müde. Professor Daumer versucht ihm vergeblich2 zu erklären, dass eine Kugel sich nicht freiwillig bewegen kann. Kaspar versteht dies erst, als er selbst aus seinem Brot eine Kugel formt und diese vor sich hin und her rollen lässt. Für längere Zeit glaubt er, die Tiere haben die gleichen Eigenschaften3 wie die Menschen und er unterscheidet sie nur durch ihr Aussehen. Er ärgert sich darüber, dass die Katze beim Essen nur mit dem Mund isst und nicht ihre Hände gebraucht. Er versucht, sie das Essen mit den Pfoten4 und das aufrechte Gehen zu lehren und spricht mit ihr wie mit einem Menschen. Als er zum ersten Mal einen Regenbogen5 sieht, zeigt er im ersten Augenblick6 Wohlgefallen, sieht dann aber kurz danach in eine andere Richtung. Die Frage, wer dieses Ding gemacht hat, liegt ihm viel mehr am Herzen als die Schönheit des Regenbogens selbst. Ein großes, für ihn unvergessliches Ereignis seines geistigen Lebens findet im Monat August 1829 statt, als ihm an einem schönen Sommerabend sein Lehrer zum ersten Mal den Sternenhimmel zeigt. Sein Erstaunen und Entzücken7 sind sehr groß. Er kann nicht auf hören, den Himmel anzusehen. Er schaut immer wieder zum Himmel, betrachtet die verschiedenen Sterngruppen und bemerkt die hellen Sterne mit ihren verschiedenen Farben. Er ruft: „Das ist aber doch das Schönste, was ich noch auf der Welt gesehen e Kegelbahn, en Bowling-Bahn vergeblich ohne Erfolg, ohne gewünschtes Ergebnis 3 e Eigenschaft, en Merkmal, Charakteristikum 4 e Pfote, n Bein der Tiere (Katze, Hund usw.) 1

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r Regenbogen, - bunter Bogen am Himmel, den man sieht, wenn es regnet und gleichzeitig die Sonne scheint 6 r Augenblick, e Moment 7 s Entzücken (nur Sg.) Begeisterung, Freude 5


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habe. Wer aber hat die vielen schönen Lichter da hinauf gestellt? Wer macht sie an? Wer macht sie wieder aus?“ Man sagt ihm, dass sie, wie auch die Sonne, immer weiter leuchten, auch wenn man sie nicht immer sehen kann. Er fragt wieder, wer sie denn da oben hinaufgesetzt hat, sodass sie immer leuchten. Am Ende kommt er in tiefes, ernstes1 Nachdenken. Sein Entzücken wechselt in Schwermut2. Er fragt, warum der böse Mann ihn immer eingesperrt gehalten hat und von allen diesen schönen Sachen nichts gezeigt hat. Er bricht in ein langes Weinen aus und sagt, dass man auch den Mann ein paar Tage einsperren soll. So versteht er, wie hart dies ist. Vor diesem Ereignis hat Kaspar nie Verärgerung über den Mann gezeigt, noch weniger wollte er dessen Bestrafung. Nur die Müdigkeit kann seine Empfindungen zur Ruhe bringen. Er schläft erst spät ein. Seit er in Daumers Familie lebt, beginnt er über sein Schicksal3 nachzudenken. Er versteht immer mehr, was es ihm nicht gegeben hat und was es ihm weggenommen hat. Das ist eine schmerzliche Empfindung für ihn. Er lernt erst hier, was eine Familie, Verwandtschaft und Freundschaft ist und wie das menschliche Verhältnis zwischen Eltern, Kindern und Geschwistern ist. Erst hier bekommen die Namen Mutter, Schwester und Bruder für ihn eine Bedeutung. Er sieht, dass sie durch gegenseitige Liebe verbunden sind und sich umeinander kümmern. Man findet ihn, wie er mit Tränen in den Augen und sehr nachdenklich auf seinem Stuhl sitzt. Als man ihn fragt, was er denn wieder hat, antwortet er: „Ich habe darüber nachgedacht, warum ich ernst das Gegenteil von heiter, lustig e Schwermut (nur Sg.) Traurigkeit, Melancholie 3 s Schicksal, e Bestimmung, Vorsehung 1

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ANSELM VON FEUERBACH

nicht auch eine Mutter, einen Bruder und eine Schwester habe; weil dies doch so schön ist.” Kaspar ist sehr reizbar1 und soll deshalb keine geistigen Anstrengungen machen. Außerdem sollen körperliche Beschäftigungen seinen schwachen Körper stärken und für seine Gesundheit förderlich sein. Er hat besondere Lust zum Reiten. Wie früher die hölzernen Rosse, ist für ihn das lebende Pferd das schönste Wesen. Wenn er einen Reiter auf einem Ross sieht, hat er den starken Wunsch, auch einmal so ein Ross unter sich zu haben. Der Stallmeister von Nürnberg, Herr von Rumpler, nimmt ihn als seinen Schüler. Kaspar beobachtet den Lehrer und die anderen Schüler mit großer Aufmerksamkeit und lernt die Regeln und Elemente der Reitkunst sehr schnell. Nach wenigen Tagen ist er ein besserer Reiter als die Schüler, die schon mehrere Monate lang Unterricht hatten. Seine Haltung, sein Mut und die richtige Führung des Pferdes überraschen jeden. Schon bald möchte er mit dem Ross ins Freie, und hier zeigt er große Geschicklichkeit, Ausdauer, Härte und Zähigkeit2 des Körpers. Er reitet oft viele Stunden lang ohne Unterbrechung, ohne müde zu werden, ohne sich wund3 zu reiten oder Schmerzen in den Beinen oder am Gesäß zu empfinden. Professor Daumer glaubt, dass der Grund für die Unempfindlichkeit seines Hinterteils das vieljährige Sitzen auf dem harten Boden ist. Das ist möglich. Man kann aus der Pferdelust Hausers und seiner instinktmäßigen Reitergeschicklichkeit außerdem den Schluss4 ziehen, dass er von Geburt zu einer Reiternation gehört. reizbar empfindliche Nerven haben e Zähigkeit (nur Sg.) Unermüdlichkeit 3 wund durch Reibung an der Haut verletzt 4 r Schluss, "e hier: Folgerung, Konklusion 1

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KASPAR HAUSER

Ein aufmerksamer Polizeimann ist durch das auffallende Reitertalent Kaspars zu der Hypothese gekommen, dass Kaspar vielleicht ein englischer Kunstreiter ist, der seiner Gruppe weggelaufen ist und nun vor den gutmütigen Nürnbergern eine Komödie1 spielt.

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eine Komödie spielen auf theatralische Art etwas vortäuschen

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AUFGABEN

Wortschatz 1

Bilden Sie Sätze: Trennen Sie die einzelnen Wörter ab! Achten Sie auf Groß- und Kleinschreibung und auf die Satzzeichen (Punkt, Komma). Beispiel: Kasparkannam18.JuliseineWohnungaufdemTurmverlassenund ziehtzudemGymnasialprofessorDaumer. Kaspar kann am 18. Juli seine Wohnung auf dem Turm ___________________________________________________ verlassen und zieht zu dem Gymnasialprofessor Daumer. ___________________________________________________ 1 KasparfindetinderFamiliediesesMannesdessenMutterundSchw esterdenErsatzfürdiePersonendieihmdieNaturgegebenhatund Menschenbosheitgenommenhat ___________________________________________________ ___________________________________________________ ___________________________________________________ 2 ProfessorDaumerversuchtihmvergeblichzuerklärendasseineKuge lsichnichtfreiwilligbewegenkann ___________________________________________________ ___________________________________________________ 3 ErfragtwarumderböseMannihnimmereingesperrtgehaltenhatu ndvonallendiesenschönenSachennichtsgezeigthat ___________________________________________________ ___________________________________________________ 4 NurdieMüdigkeitkannseineEmpfindungenzurRuhebringen ___________________________________________________

Grammatik 2

Formen Sie die folgenden Sätze im Präsens ins Perfekt um. Beispiel: Kaspar Hauser bekommt ein richtiges Bett, das ihm sehr gefällt. Kaspar hat ein richtiges Bett bekommen, das ihm sehr gefallen hat. ___________________________________________________ 1 Beim Erwachen erzählt er seinem Lehrer die Träume als wirkliche Ereignisse. ___________________________________________________ ___________________________________________________

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2 Außerdem beschäftigt man ihn mit leichten Gartenarbeiten und macht ihn mit der Natur bekannt. ___________________________________________________ ___________________________________________________ 3 Für Kaspar laufen die Kugeln einer Kegelbahn freiwillig und tun anderen Kugeln weh. ___________________________________________________ ___________________________________________________ 4 Er ärgert sich darüber, dass die Katze beim Essen nur mit dem Mund isst und nicht ihre Hände gebraucht. ___________________________________________________ ___________________________________________________

Vor dem Lesen 3

Setzen Sie die folgenden Wörter in die passenden Lücken ein. Dunkelheit • Metallreize • Blumen • Nacht • Gott • Erinnerungen • Schritte • Auge Beispiel: Was das Sehen betrifft, so gibt es für ihn keine Dämmerung, Dunkelheit keine Nacht und keine ____________. Bei (1) ___________ geht er überall hin mit der größten Sicherheit und wenn er an einen dunklen Ort geht, benutzt er kein Licht. Sein (2) ___________ ist sehr scharf in der Nähe und sehr weitreichend in der Ferne. Aus einer verhältnismäßig großen Entfernung hört er bei einem Spaziergang auf dem Feld die (3) ___________ mehrerer Wanderer. Die feinsten, lieblichsten Gerüche der (4) ___________ sind Gestank für ihn oder reizen schmerzlich seine Nerven. Auf die besondere Qualität der Sinne Kaspars und deren Empfänglichkeit, besonders für (5) ___________, wird Professor Daumer aufmerksam, als Kaspar sich noch auf dem Turm befindet. Professor Daumer versucht auf folgende Weise, ihn für eine unsichtbare Welt und besonders für einen (6) ___________ empfänglich zu machen. Im Sommer 1829 schreibt er die (7) ___________ seines Lebens auf.

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Kapitel 6

Kaspars Besonderheiten

7 Neben dem seltenen Reitertalent Hausers machen sich die fast

übernatürliche Qualität, Schärfe1 und Verstärkung aller seiner Sinne während seines Aufenthalts bei Professor Daumer bemerkbar. Was das Sehen betrifft, so gibt es für ihn keine Dämmerung2, keine Nacht und keine Dunkelheit. Bei Nacht geht er überall hin mit der größten Sicherheit, und wenn er an einen dunklen Ort geht, benutzt er kein Licht. Im Dämmerlicht sieht er sogar besser als am hellen Tag. Bei völliger Nacht unterscheidet er die Farben. Wenn bei beginnender Dämmerung ein gewöhnliches weitsichtiges Auge erst drei oder vier Sterne am Himmel sieht, erkennt er bereits die Sterngruppen. Er kann die einzelnen Sterne darin nach ihrer Größe und ihrem besonderen Farbenspiel unterscheiden. Sein Auge ist sehr scharf in der Nähe und sehr weitreichend in der Ferne. Genauso scharf und weitreichend ist sein Gehör. Aus einer verhältnismäßig großen Entfernung hört er bei einem Spaziergang auf dem Feld die Schritte mehrerer Wanderer und unterscheidet diese Schritte nach ihrer Stärke. Unter allen Sinnen ist es der Geruch, der für ihn am aufdringlichsten3

e Schärfe, en hier: Genauigkeit e Dämmerung, en Halbdunkel, Übergang von Tag zur Nacht und von der Nacht zum Tag 3 aufdringlich lästig, penetrant 1

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KASPAR HAUSER

und unangenehmsten ist und ihm das Leben auf dieser Welt zur Qual1 macht. Was für uns geruchlos ist, ist es für ihn nicht. Die feinsten, lieblichsten Gerüche der Blumen sind Gestank2 für ihn oder reizen schmerzlich seine Nerven. Er riecht Gerüche in der weitesten Ferne. Mit Ausnahme des Geruchs von den Gewürzen, an die er sich schon in seinem Gefängnis gewöhnt hat - weil sein Brot im Gefängnis damit bestreut war - sind ihm alle Arten von Gerüchen mehr oder weniger widerlich. Am angenehmsten ist ihm gar kein Geruch. Alles, was ihn umgibt oder in der Nähe ist, haucht3 ihm widerliche oder schmerzliche Gerüche entgegen. Wenn auf der Straße ein Schornsteinfeger4 mehrere Schritte vor ihm hergeht, wendet er schaudernd sein Gesicht ab. Bei einem alten Käse wird ihm unwohl und er muss sich erbrechen. Als er einmal Essig5 riecht, wirkt die Schärfe so sehr auf die Geruchs- und Augennerven, dass ihm das Wasser aus den Augen tritt. Wenn Wein, in größerer Entfernung von ihm auf dem Tisch eingeschenkt steht, beschwert er sich über den schlechten Geruch und Hitze im Kopf. Der Geruch von frischem Fleisch ist für ihn der schrecklichste von allen. Als Professor Daumer und Kaspar im Herbst 1828 in die Nähe des Johanniskirchhofs bei Nürnberg kommen, wirkt der Totengeruch so stark auf ihn, dass er sofort zu frieren6 und zu schaudern anfängt. Der Frost wird zu Fieberhitze und zuletzt zu starkem Schweiß. Auf die besondere Qualität der Sinne Kaspars und deren Empfänglichkeit7, besonders für Metallreize, wird Professor Daumer aufmerksam, als Kaspar sich noch auf dem Turm befindet. e Qual, en unerträgliches Leiden r Gestank (nur Sg.) schlechter, unangenehmer Geruch 3 hauchen vorsichtig blasen, pusten 4 r Schornsteinfeger, - Mann, der die Kamine sauber macht

r Essig, e man isst Salat meistens mit Essig und Öl frieren, fror, gefroren unangenehme Kälte spüren 7 e Empfänglichkeit (nur Sg.) Rezeptivität

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Hier schenkt ihm ein Fremder ein Spielpferdchen, das vorne mit Eisen1 beschlagen ist und eine kleine Magnetstange2 hat. Man kann mit der Magnetstange das Pferdchen im Wasser schwimmend umherziehen. Als Kaspar den Magneten gebrauchen will, fühlt er sich sehr unangenehm gereizt. Er verschließt das Spielzeug sofort in sein Kästchen und holt es nie wieder daraus hervor. Bei Professor Daumer bewahrt er das Kästchen mit dem Magnet in einem Koffer auf. Es kommt einmal beim Aufräumen seiner Sachen zufällig3 wieder zum Vorschein. Professor Daumer erinnert sich an das frühere Ereignis und kommt auf den Gedanken, mit dem Magneten des Pferdchens an Kaspar ein Experiment zu machen. Als Professor Daumer den Nordpol des Magneten gegen ihn hält, greift er sich an sein Herz und zieht seine Weste nach außen. Er sagt, es zieht ihn in diese Richtung. Wie ein Luftzug geht es aus ihm heraus. Der Südpol wirkt weniger stark auf ihn und er sagt, es weht ihn ein Luftzug an. Professor Daumer und Professor Herrmann machen dann verschiedene ähnliche Experimente mit ihm, die ihn in die Irre führen4 sollen. Aber immer sagen ihm seine Empfindungen ganz richtig, ob ihm der Südpol oder der Nordpol oder keiner von beiden zugewendet ist. Über seine Empfindlichkeit gegenüber anderen Metallen und seine Fähigkeit, sie durch das Gefühl zu unterscheiden, hat Professor Daumer viele Tatsachen5 gesammelt. Ein Fremder gibt ihm einmal ein kleines Goldstück in die Hand, ohne dass Kaspar es ansehen kann. Sofort sagt er, dass er Gold in seiner Hand fühlt. s Eisen, - Schwermetall r Magnet, e(n) zieht Eisen oder andere Materialien an, sodass sie an ihm haften bleiben

zufällig unabsichtlich, ungeplant jdn. in die Irre führen jdn. täuschen, auf den falschen Weg führen 5 e Tatsache, n Faktum

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Professor Daumer legt ihm einmal einen Ring, einen Zirkel1 und andere Gegenstände aus verschiedenen Metallen unter ein Papier. Es ist unmöglich zu merken, was darunter ist. Mit seinem Finger, ohne das Papier zu berühren, fährt er darüber. An der Verschiedenheit und Stärke des Zugs der Metalle in den Fingerspitzen unterscheidet er alle Gegenstände nach ihrem Material und nach ihrer Form. Einmal will Professor Daumer ihn auf die Probe stellen. Auf einem Tisch mit einer Tischdecke liegt ein Bogen Papier. Kaspar soll wieder mit dem Finger darüber fahren und sagen, ob ein Metall darunter liegt oder nicht. Er sagt: „Da zieht es“. Professor Daumer antwortet: „Diesmal hast du dich getäuscht, denn es liegt nichts darunter.“ Er hebt das Papier auf. Kaspar wiederholt, dass er dort einen Zug fühlt. Man hebt die Tischdecke auf und findet eine Nadel. Wir verlassen nun die physische und physiologische Seite Kaspars und werfen einen Blick in eine tiefere Region seines Wesens. Seine Seele voll kindlicher Güte und Milde2 macht ihn unfähig, einem Wurm, einer Fliege oder einem Menschen wehzutun. Er bringt keine Idee, keine Ahnung von Gott aus dem Kerker3 mit in die Welt. Wie ein Tier, selbst im Wachen schlafend, wurde er von nichts angeregt4 außer von tierischen Bedürfnissen. Er war mit nichts beschäftigt außer seinem Futter und dem Einerlei5 seiner Rosse. Sein Seelenleben kann man mit dem einer Auster6 vergleichen. Diese klebt am Felsen und empfindet nichts, frisst und nimmt nur den einförmigen Schlag der Wellen wahr. Im engen Raum ihres Gehäuses r Zirkel, - Gerät zum Zeichnen von Kreisen e Milde (nur Sg.) Gutmütigkeit, Nachsicht 3 r Kerker, - Gefängnis

anregen aktivieren, stimulieren s Einerlei (nur Sg.) Einförmigkeit, Monotonie 6 e Auster, n essbare Meeresmuschel

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KASPAR HAUSER

hat sie keine Vorstellung von der äußeren Welt und noch weniger von dem, was über der Erde und über allen Welten ist. So kommt Kaspar ohne Sinn für Unsichtbares, Unkörperliches, Ewiges1 auf die obere Welt. Dort hat er mit den sichtbaren Dingen schon so viel zu tun, dass er kein Bedürfnis nach dem Unsichtbaren hat. Alle Bemühungen, religiöse Vorstellungen in ihm zu wecken, sind lange ohne Erfolg. Professor Daumer versucht auf folgende Weise, ihn für eine unsichtbare Welt und besonders für einen Gott empfänglich zu machen: Daumer fragt ihn, ob er Gedanken, Vorstellungen und einen Willen in sich hat. Als Kaspar bejaht, fragt er, ob er diese sehen und hören kann. Weil er mit „Nein“ antwortet, erklärt ihm sein Lehrer, dass es folglich Dinge gibt, die man nicht sehen oder sonst äußerlich wahrnehmen kann. Daumer fährt fort2: Kaspar kann in seinem Körper durch unsichtbares Denken und Wollen sichtbare Veränderungen hervor bringen. Er kann zum Beispiel seine Hände und Füße bewegen. So kann es auch Gott in der Welt. Er ist das Leben in allen Dingen. Kaspar zeigt große Freude, als ihm dies klar wird. Auf diesem Weg können nun religiöse Vorstellungen seiner Seele nahe gebracht werden. Einmal fragt er, ob er Gott bitten darf, ihn von seinem Augenübel zu befreien. Die Antwort ist, dass er Gott bitten darf. Er soll es aber der Weisheit Gottes überlassen, ob dieser ihm seine Bitte erfüllt. „Aber“, sagt er, „ich will ja meine Augen wieder haben, damit ich lernen und arbeiten kann. Das muss doch gut für mich sein. Gott kann also nichts dagegen haben.“ 1 2

s Ewige (nur Sg.) etw., das für immer andauert fortfahren, fuhr fort, fortgefahren weitermachen

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ANSELM VON FEUERBACH

Seine Zweifel, Fragen und Einwände1 bringen seinen Lehrer oft in Verlegenheit. Als einmal von Gottes Allmacht2 die Rede ist, stellt er die Frage, ob Gott auch die Zeit rückgängig machen kann. Dahinter steckt die Frage, ob Gott ihm seine verlorene Kindheit und Jugend wieder zurückgeben kann. Vor zwei Ständen3 hat Kaspar lange Zeit Abscheu: vor den Ärzten und den Geistlichen. Vor den ersten wegen der abscheulichen Medizin, die sie verschreiben und mit der sie die Leute krank machen. Vor den letzten, weil sie ihn ängstigen und durch unverständliche Dinge verwirren4. Kaspar sagt: „Einmal sind vier von ihnen zu mir auf den Turm gekommen und haben mir Dinge gesagt, die ich damals nicht verstanden habe. Wenn ich um Erklärungen gebeten habe, so haben alle zusammen geschrien und jeder hat etwas anderes gesagt. Sie sind nicht eher weggegangen, bis ich ihnen zu verstehen gegeben habe, dass sie mich endlich in Ruhe lassen sollen.“ In Kirchen fühlt er sich nicht wohl. Die Kruzifixe darin erschrecken ihn, weil für lange Zeit in seiner Vorstellung Bilder lebendig sind. Das Singen der Gemeinde ist für ihn ein schreckliches Schreien. Er sagt einmal nach einem Kirchenbesuch: „Zuerst schreien die Leute, und wenn diese auf hören, fängt der Pfarrer5 zu schreien an.“ Kaspars Gesundheit wird bei der guten Pflege der Daumerschen Familie, bei richtiger körperlicher Bewegung und angemessener Beschäftigung viel besser. Er lernt fleißig6, macht Fortschritte7 im Rechnen und Schreiben. Im Sommer 1829 schreibt er die Erinnerungen seines Lebens r Einwand, "e Widerspruch, Gegenmeinung e Allmacht (nur Sg.) Omnipotenz 3 r Stand, "e Berufsstand, -gruppe 4 verwirren unsicher machen, verunsichern

r Pfarrer, - vorstehender Geistlicher in einer Kirchengemeinde fleißig unermüdlich, arbeitsam 7 r Fortschritt, e positive Entwicklung

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auf. Er zeigt sie den einheimischen und fremden Besuchern. Bald erzählt man in mehreren öffentlichen Blättern, dass Kaspar an einer Lebensbeschreibung arbeitet. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es deshalb kurz danach, im Oktober desselben Jahres, zur Katastrophe kommt. Diese hat die Absicht1 seinem kurzes Leben ein tragisches Ende zu bereiten.

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e Absicht, en Intention, Zweck

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AUFGABEN

Wortschatz 1

Finden Sie zu den folgenden Substantiven die passenden Verben. Bilden Sie dann mit diesen Verben jeweils einen Satz, mit dem Sie Kaspars besondere Fähigkeiten beschreiben. 1 das Sehen: _________________________________________ 2 das Gehör: _________________________________________ 3 der Geruch: _________________________________________

Grammatik 2

Verbinden Sie die folgenden Hauptsätze mit der Konjunktion wenn. Schreiben Sie zwei Sätze: im ersten soll der Nebensatz mit wenn am Anfang stehen, Im zweiten der Hauptsatz! Beispiel: Es ist Nacht. Er geht überall hin mit der größten Sicherheit. Nacht ist, geht er überall hin mit der größten Sicherheit. A Wenn ________________________________________________ geht überall hin mit der größten Sicherheit, wenn Nacht ist. B Er ________________________________________________ 1 2 3

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Er geht an einen dunklen Ort. Er benutzt kein Licht. A ________________________________________________ B ________________________________________________ Auf der Straße geht ein Schornsteinfeger mehrere Schritte vor ihm her. Er wendet schaudernd sein Gesicht ab. A ________________________________________________ B ________________________________________________ Wein steht in größerer Entfernung von ihm auf dem Tisch eingeschenkt. Er beschwert sich über den schlechten Geruch und Hitze im Kopf. A ________________________________________________ B ________________________________________________


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Ergänzen Sie (wenn nötig) die passenden Endungen. Was das Sehen betrifft, so gibt es für ihn (1) kein___ Dämmerung, (2) kein___ Nacht und (3) kein___ Dunkelheit. Im Dämmerlicht sieht er sogar besser als am (4) helle___ Tag. Er kann die (5) einzeln___ Sterne darin nach ihrer Größe und ihrem besonderen Farbenspiel unterscheiden. Die (6) feinst___, (7) lieblichst___ Gerüche der Blumen sind Gestank für ihn oder reizen schmerzlich seine Nerven. Am angenehmsten ist ihm gar (8) kein___ Geruch. Ein Fremder schenkt ihm (9) ein___ Spielpferdchen, das vorne mit Eisen beschlagen ist und (10) ein___ (11) klein___ Magnetstange hat. Ein Fremder gibt ihm einmal (12) ein___ (13) klein___ Goldstück in die Hand, ohne dass Kaspar es ansehen kann. Professor Daumer legt ihm einmal (14) ein___ Ring, (15) ein___ Zirkel und andere Gegenstände aus verschiedenen Metallen unter (16) ein___ Papier.

Vor dem Lesen 4 Setzen Sie das passende Verb ein. bleiben • heranwachsen • kommen • denken • geben • werden • bekommen • fühlen • gehen Beispiel: heranwachsen zum Jüngling ____________ 1 Angst ______________ 2 sich unwohl _____________ 3 zu Hause ______________ 4 sich nichts Schlimmes ______________ 5 nicht pünktlich zum Essen _____________ 6 in den Keller _____________ 7 verletzt ____________ 8 ein Lebenszeichen von sich ____________

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Kapitel 7

Das Attentat

Kaspar Hauser wurde zur gefährlichen Last1 für die Person, die ihn versteckt gehalten hat. Das ist meine Vermutung. Das Kind, das man lange gefüttert hat, ist zum Knaben und dann zum Jüngling herangewachsen. Er hat angefangen, unruhig zu werden. Seine Kräfte wurden wach. Warum hat man ihn nicht getötet, warum hat man ihn nicht schon als Kind aus der Welt geschafft? Ob er nicht vielleicht seinem Wärter in mörderischer2 Absicht übergeben wurde? Wollte dieser passendere Zeiten abwarten oder hat er das Kind auf eigene Gefahr am Leben erhalten und gefüttert? Das bleibt der Vermutung eines jeden überlassen. Der Versteckte konnte nicht länger verborgen gehalten werden. Man musste ihn loswerden und hat ihn im Bettlergewand3 nach Nürnberg gebracht. Man hat gehofft, dass er als Vagabund oder Blödsinniger in einer öffentlichen Anstalt4 oder als Soldat in einem Regiment verschwindet. Der unbekannte Findling aber findet menschliche Teilnahme und wird Gegenstand öffentlicher, allgemeiner Aufmerksamkeit. Die Zeitungen füllen sich mit Nachrichten und Nachfragen über den

e Last, en schweres Gewicht, hier: Problem mörderisch in verbrecherischer Weise tötend 3 s Bettlergewand, "er Kleidung einer armen Person, die andere um Geld oder Essen bittet 1

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e Anstalt, en hier: Einrichtung für psychisch Kranke oder mental Zurückgebliebene 4


KASPAR HAUSER

rätselhaften jungen Mann. Er ist zuerst das Adoptivkind Nürnbergs und wird dann sogar das Kind Europas. Man spricht überall von Kaspar Hausers geistiger Entwicklung. Und nun schreibt dieser Halbmensch seine Lebensbeschreibung! Wer sein Leben beschreibt, kann von seinem Leben etwas erzählen. Diejenigen, die im Dunkeln bleiben wollen, haben deshalb bei der Nachricht von der Autobiografie Kaspars Angst bekommen. Der Plan, den armen Kaspar in der fremden Welt lebendig zu begraben, war verhindert. Nun wird, wie die geheimen Verbrecher wahrscheinlich glauben, Kaspars Ermordung für sie eine Art von Notwehr1. Kaspar besucht immer vormittags von elf bis zwölf Uhr außer Haus eine Rechenstunde. Aber am Sonnabend, dem 17. Oktober, bleibt er zu Hause, weil er sich unwohl fühlt. Professor Daumer macht um diese Zeit einen Spaziergang. Außer Kaspar bleiben nur Daumers Mutter und seine Schwester im Haus zurück, die mit der Reinigung des Hauses beschäftigt sind. Das Haus liegt in einem entfernten, wenig besuchten Teil der Stadt, auf einem sehr großen, kaum übersehbaren Platz. Das Haus ist, nach alter Nürnberger Art, sehr unregelmäßig gebaut, voller Ecken und Winkel2. Das Vordergebäude bewohnt der Hausherr und im Hintergebäude hat die Daumersche Familie ihre Wohnung. Man geht durch eine eigene Haustür und über einen Hofgang zur Treppe der Daumerschen Wohnung. Auf diesem Gang gibt es eine Holzkammer und andere ähnliche Räume. In einem Winkel dicht 1 2

e Notwehr (nur Sg.) Defensive, Verteidigung r Winkel, - hier: enger, versteckter Ort in einem Raum

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ANSELM VON FEUERBACH

unter einer Wendeltreppe1 ist ein niedriger und enger Abtritt2. Wer sich auf dem Gang in der Nähe der Holzkammer befindet, kann sehr gut beobachten, wer von der Treppe herunterkommt und auf den Abtritt geht. Als gegen zwölf Uhr desselben Tages die Schwester des Professors Daumer, Katharina, mit dem Fegen3 der Wohnung beschäftigt ist, bemerkt sie auf der Treppe mehrere Blutflecken und blutige Fußspuren. Sie wischt sie sofort auf und denkt sich dabei nichts Schlimmes. Sie meint, Kaspar hat auf der Treppe aus der Nase geblutet. Sie geht auf sein Zimmer, doch dort findet sie Kaspar nicht. Sie bemerkt aber in seinem Zimmer, in der Nähe der Tür, ebenfalls ein paar blutige Fußtritte. Als sie die Treppe wieder herabgeht und den Gang im Hof fegen will, sieht sie wieder einzelne Blutspuren auf dem Boden. Sie kommt bis zum Abtritt und hier ist eine ganze Menge Blut. Sie zeigt es der gerade vorbeikommenden Tochter des Hausherrn. Diese meint, es ist das Blut von einer Katze, die hier Junge geworfen4 hat. Daumers Schwester spült das Blut sofort weg. Sie glaubt, dass Kaspar in die Blutlache5 getreten ist und beim Hinaufgehen seine Füße nicht gereinigt hat. Es ist bereits nach zwölf Uhr. Der Tisch ist gedeckt und Kaspar, der sonst immer um diese Stunde pünktlich zum Essen kommt, ist nicht da. Die Mutter von Professor Daumer geht deshalb aus ihrem Zimmer herab, um Kaspar zu suchen. Sie findet ihn nirgends. Schon will sie wieder hinauf in ihr Zimmer gehen, als sie etwas an der Kellertür sieht, das wie Blut aussieht. Sie macht die Kellertür auf und bemerkt auf e Wendeltreppe, n spiralförmig verlaufende Treppe r Abtritt, e veraltet für: Toilette 3 s Fegen (nur Sg.) Saubermachen mit einem Besen 1

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werfen, warf, geworfen hier: Junge zur Welt bringen e Blutlache, n Ansammlung, Pfütze von Blut


KASPAR HAUSER

allen Kellerstufen teils Blutstropfen, teils größere Blutflecken. Sie steigt bis zur untersten Stufe herab und sieht etwas Weißes. Sie eilt zurück und sagt der Magd1 des Hausherrn, dass sie mit einem Licht in den Keller gehen soll und nachsehen soll, was darin liegt. Diese leuchtet auf den Gegenstand hin und schreit: „Da liegt der Kaspar tot!“ Die Magd und der Sohn des Hausherrn, der nun auch herbeigekommen ist, heben Kaspar vom Boden auf und tragen ihn aus dem Keller. Er gibt kein Lebenszeichen von sich und sein totenbleiches Gesicht ist mit Blut bedeckt. Oben angekommen gibt er durch ein starkes Stöhnen2 das erste Lebenszeichen. Dann ruft er: „Mann! Mann!“ Er wird sofort ins Bett gebracht. Dort schreit er mit geschlossenen Augen von Zeit zu Zeit Worte und unvollständige Sätze und murmelt3 sie dann vor sich hin. Er bekommt einen starken Fieberfrost, der bald in heftige Anfälle und schließlich in völlige Tobsucht4 übergeht. Einige starke Männer haben Mühe, ihn zu halten. In seinen Delirien, während der Nacht, spricht er von Zeit zu Zeit folgende unvollständige Sätze: „Mann weg!- Mann kommt!- Nicht umbringen!- Nicht Mund zuhalten!- Nicht sterben!- Meine Notdurft verrichten!- Schon Kopfweh!- Der Mann mich umbringen!- Weg!- Ich alle Menschen lieb!- Warum du mich umbringen? Ich dir niemals was tun.- Ich bitten, dass du nicht eingesperrt wirst.- Hast mich niemals heraus getan aus meinem Gefängnis. - Du mich zuerst umgebracht, ehe ich verstanden, was Leben ist.- Du musst sagen, warum du mich eingesperrt gehabt!“ Die meisten dieser Sätze wiederholt er sehr oft zusammenhangslos. e Magd, "e veraltet für: Hausangestellte s Stöhnen (nur Sg.) hier: vor Schmerzen schwer ausatmen 1

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murmeln leise und undeutlich etwas sagen, das meistens nicht für andere bestimmt ist 4 e Tobsucht (nur Sg.) aggressiver Wutausbruch 3

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ANSELM VON FEUERBACH

Der Gerichtsarzt Dr. Preu untersucht Kaspar am 20. Oktober und findet die Stirn in der Mitte durch eine scharfe Wunde verletzt. Über die Größe und Beschaffenheit gibt der Arzt zu Protokoll: „Die Wunde befindet sich auf der Stirn. Die ganze Länge der in gerader Linie verlaufenden Wunde beträgt 19 1/2 Linien1. Was die Entstehung der Wunde betrifft, so ist sie mit einem sehr schneidenden Instrument verursacht worden, am wahrscheinlichsten durch einen Hieb2.“ Die Wunde ist, wie der Arzt erklärt, unbedeutend und kann leicht in sechs Tagen heilen. Bei seinem höchst reizbarem Nervensystem wird Kaspar aber erst nach 22 Tagen gesund. Kaspar erzählt das Ereignis folgendermaßen: „Am 17. muss ich die Rechenstunde, die ich täglich bei Herrn E. von 11 bis 12 Uhr besuche, ausfallen lassen. Ich fühle mich höchst unwohl. Herr Professor Daumer sagt mir, dass ich meine Stunde nicht besuchen soll, sondern zu Hause bleiben soll. Herr Professor Daumer geht aus und ich gehe auf mein Zimmer. Ich will mich etwas mit Schreiben beschäftigen, aber Bauchschmerzen hindern mich daran. Ich muss auf den Abtritt gehen. Dort höre ich von der unteren Holzkammer ein Geräusch. Das Geräusch ist mit dem Öffnen der Tür verbunden und mir wohl bekannt. Sofort danach höre ich leise Fußtritte vom unteren Gang. Dann sehe ich, dass ein Mann den Gang entlang schleicht3. Ich bemerke den schwarzen Kopf des Mannes und denke, es ist der Schornsteinfeger. Als ich von dem Sitz des Abtritts aufstehe und meine Hose wieder hochziehen will, strecke ich meinen Kopf aus dem engen Abtritt etwas hervor. Plötzlich steht der schwarze Mann vor mir und gibt mir einen Schlag auf den Kopf. Ich falle sofort mit dem ganzen Körper e Linie, n veraltetes Längenmaß (1 Linie= ca. 0,22 cm) r Hieb, e Schlag 3 schleichen, schlich, geschlichen langsam und leise gehen 1

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ANSELM VON FEUERBACH

auf den Boden vor dem Abtritt. Vom Gesicht und den Haaren dieses Mannes kann ich nichts sehen. Ich glaube, dass er sich ein schwarzes Tuch über den ganzen Kopf gezogen hat. Ich bin lange bewusstlos1 und komme dann endlich wieder zu mir. Ich spüre etwas Warmes, das mir über das Gesicht läuft, und greife mit beiden Händen nach der Stirn. Die Hände werden blutig. Darüber erschrecke ich mich und will zur Mutter hinaufgehen. Ich komme aber in der Verwirrung und Angst nicht zur Tür der Mutter, sondern an den Kleiderschrank vor meiner Stube. Ich fürchte, dass der Mann, der mich geschlagen hat, noch im Haus ist und mich ein zweites Mal schlägt. Ich versuche, mich mit der Hand am Schrank aufrecht zu halten. Als ich mich erholt habe, will ich wieder zur Mutter hinauf. Ich bin immer noch verwirrt und gehe aber die Treppe herab und befinde mich, zu meinem Entsetzen, wieder unten im Gang. Als ich die Kellertür sehe, habe ich den Gedanken, mich im Keller zu verstecken. Ich mache die schwere Falltür2 auf, gehe in den Keller hinein und setze mich auf den Boden. Ich denke mir, nun bist du hier so ganz verlassen. Es wird dich niemand finden, und hier wirst du umkommen3. Dieser Gedanke füllt meine Augen mit Tränen und ich muss mich erbrechen. Dann verliere ich das Bewusstsein. Als ich mein Bewusstsein wieder erlange, bin ich in meiner Stube auf dem Bett und die Mutter ist neben mir.“ Ich habe mehrere Gründe zu glauben, dass man es bei der Verwundung nicht auf die Stirn, sondern auf den Hals abgesehen hat. Aber weil Kaspar sich beim Anblick des Mannes instinktmäßig mit dem Kopf gebückt4 hat, leitet er den Hieb zur Stirn hinauf. 1 2

bewusstlos wenn man das Bewusstsein, die Sinne verloren hat e Falltür, en Tür auf dem Fußboden, die zu einer Kellertreppe führt

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umkommen, kam um, umgekommen sterben bücken sich mit dem Körper nach unten beugen


KASPAR HAUSER

Der Täter1 kann, weil Kaspar sofort blutend zusammenstürzt, sein Werk für gelungen halten. Er muss jeden Augenblick befürchten, von jemandem entdeckt zu werden und darf deshalb nicht länger bei seinem Opfer2 bleiben. So kommt Kaspar mit einer Stirnwunde davon. Bald gibt es mehrere Hinweise auf Spuren3 des Täters. Am selben Tag, zur selben Stunde der Tat wird der von Kaspar beschriebene Mann gesehen, als er sich wieder aus dem Daumerschen Haus entfernt. Um dieselbe Zeit wird die Person gesehen, wie sie sich nicht weit vom Daumerschen Haus in dem Wasserbecken auf der Straße die wahrscheinlich blutigen Hände wäscht. Ungefähr vier Tage nach der Tat hat sich vor den Toren der Stadt ein eleganter Herr bei einer Frau nach dem verwundeten Hauser erkundigt. Er trägt Kleider wie der von Hauser beschriebene schwarze Mann. Er liest den Anschlag4 über die Verwundung Hausers und entfernt sich dann auf höchst verdächtige Art wieder, ohne die Stadt zu betreten.

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r Täter, - Person, die ein Verbrechen begeht s Opfer, - Person, die ein Verbrechen erleidet

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e Spur, en Anzeichen, Indiz r Anschlag, "e hier: Bekanntmachung an einer Mauer

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AUFGABEN

Lesen 1

Bringen Sie die folgenden Sätze in die richtige Reihenfolge! Nummerieren Sie die Sätze neu und schreiben Sie die Zahlen in die Kästchen. 1 In seinen Delirien, während der Nacht, spricht er von Zeit zu Zeit folgende unvollständige Sätze. 2 Sie macht die Kellertür auf und bemerkt auf allen Kellerstufen teils Blutstropfen, teils größere Blutflecken. 3 Die Mutter des Professor Daumer geht deshalb aus ihrem Zimmer herab, um Kaspar zu suchen. 4 Als gegen zwölf Uhr desselben Tages die Schwester des Professor Daumer, Katharina, mit dem Fegen der Wohnung beschäftigt ist, bemerkt sie auf der Treppe mehrere Blutfleckenn und blutige Fußspuren 5 Aber am Sonnabend, dem 17. Oktober, bleibt er zu Hause, weil er sich unwohl fühlt. 6 Diese meint, es ist das Blut von einer Katze, die hier Junge geworfen hat. 7 Es ist bereits nach zwölf Uhr. Der Tisch ist gedeckt und Kaspar, der sonst immer um diese Stunde pünktlich zum Essen kommt, ist nicht da. 8 Diese leuchtet auf den Gegenstand hin und schreit: „Da liegt der Kaspar tot!“

Wortschatz 2

Finden Sie fünf Wörter aus dem Kapitel 7! (Sie finden die Wörter in der Waagerechten, Senkrechten oder in der Diagonalen.)

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Z I M M E R I T B L A A U R E I E L I N E T O N E W U N D E U S S T Ä T E R I N P Ö L E I N S A

Lösungswörter 1 ______________________ 2 ______________________ 3 ______________________ 4 ______________________ 5 ______________________

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Grammatik 3

Setzen Sie die passenden Personalpronomen oder Possessivartikel in die Lücken ein! ihn • seine • er • ihn • seinem • ihn • sein • seine Beispiel: Kaspar Hauser wurde zur gefährlichen Last für die Person, die ihn versteckt gehalten hat. ______ _____ Kräfte wurden wach. Man musste (2) _____ loswerden und hat (3) _____ im Bettlergewand nach Nürnberg gebracht. Man hat gehofft, dass (4) _____ als Vagabund oder Blödsinniger in einer öffentlichen Anstalt oder als Soldat in einem Regiment verschwindet. Und nun schreibt dieser Halbmensch (5) _____ Lebensbeschreibung! Wer (6) _____ Leben beschreibt, kann von (7) _____ Leben etwas erzählen. (1)

Vor dem Lesen 4 Was glauben Sie – wie ist Kaspar vier Jahre nach seinem

Erscheinen in Nürnberg? Kreuzen Sie an, ob Sie die Aussagen für richtig (R) oder für falsch (F) halten. R F 1 Wenn sich Kaspar heute unerkannt in einer Menschengruppe befindet, fällt er sofort jedem als eine fremde Erscheinung auf. ■ ■ 2 Er hat seine Naivität und kindliche Unerfahrenheit verloren und ist sehr verschlossen und misstrauisch geworden. ■ ■ 3 Er spricht wie jeder andere auch, seine Sprache ist wie die eines normalen jungen Mannes. ■ ■ 4 Er hat einen gesunden Menschenverstand, aber kein bisschen Fantasie, keinen Humor und er kann keine bildliche Redensart verstehen. ■ ■ 5 Er ist immer noch sehr gutmütig, aber seit dem Attentat ist er ängstlich geworden. ■ ■

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Kapitel 8

Kaspar heute

Würde Kaspar heute, der jetzt zu den gesitteten Menschen gerechnet werden kann, unerkannt in eine gemischte Gesellschaft1 treten, so würde er bald jedem als eine fremde Erscheinung auffallen. In seinem Gesicht vermischen sich die weichen Züge eines Kindes mit den eckigen Formen des Mannes und einigen leichten Falten. Es vermischen sich liebenswerte Freundlichkeit mit Ernst und leichter Melancholie. Er besitzt Naivität, zutrauliche Offenheit und kindliche Unerfahrenheit. Diese sind verbunden mit einer bestimmten Art von Altklugheit2 und vornehmer, aber natürlicher Gravität im Reden und Benehmen. Er spricht langsam, sucht manchmal nach Worten und seine Sprache klingt fremd und hart. Seine Haltung und seine Bewegungen sind steif3. Deshalb scheint er ein Gemisch von Kind, Jüngling und Mann zu sein. Er hat nichts von Genialität, nicht einmal von einem besonderen Talent. Was er lernt, verdankt er seinem Fleiß. Sein anfänglicher Feuereifer4 ist schwächer geworden, fast verschwunden. Bei allem, was er macht, bleibt er am Anfang oder bei der Mittelmäßigkeit5 stehen. Er hat einen gesunden Menschenverstand, aber kein bisschen Fantasie, keinen Humor und er kann keine bildliche Redensart verstehen.

e Gesellschaft, en hier: Gruppe von Menschen e Altklugkeit (nur Sg.) wenn jemand, meist ein Kind, vorlaut ist und eigentlich nicht kindgemäße Äußerungen macht

steif starr, rigide r Feuereifer (nur Sg.) Leidenschaft, Passion 5 e Mittelmäßigkeit, en mittlere Qualität

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3

2

4

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KASPAR HAUSER

Sein Reden und Benehmen zeigt oft eine kontrastierende Mischung von Männlichkeit und kindischem Wesen. Mit ernster Miene und wichtigem Ton macht er Äußerungen, die bei jedem anderen seines Alters als dumm und kindisch erscheinen würden. Er ist mild, ohne lasterhafte1 Neigungen2 und Leidenschaften. Er ist unfähig, einem Tier wehzutun, aber seit dem Attentat ist er furchtsam und er wird rücksichtslos3, wenn es darum geht, Recht durchzusetzen. Er ist gehorsam, willig und nachgebend. Wenn ihm aber jemand mit Unrecht an etwas Schuld gibt oder etwas behauptet, was er für unwahr hält, besteht er auf seinem Recht. Er ist ein reifer Jüngling, der seine Kindheit und Jugend verschlafen hat; zu alt, um noch als Kind zu gelten und zu kindlich unwissend, um als Jüngling zu gelten; ohne Altersgenossen, ohne Vaterland, ohne Eltern und Verwandte. Jeder Augenblick erinnert ihn an seine Einsamkeit4 mitten in der umgebenden Welt, an seine Ohnmacht und Schwäche gegenüber der Macht seines Schicksals und besonders an seine Abhängigkeit von der Gunst5 oder Ungunst der Menschen. Deshalb ist er fähig, die Menschen zu beobachten und mit seinem scharfen Blick ihre Besonderheiten und Schwächen zu verstehen. Seine Klugheit6 hilft ihm, seinen Freunden und Gönnern7 zu gefallen und seine Wünsche zu äußern. So kann er deren guten Willen zu seinem Vorteil nutzen. Einer der größten Fehler in der Erziehung dieses Menschen ist sicherlich, dass man ihn seit einigen Jahren auf das Gymnasium schickt. Dort hat er außerdem sogar in einer höheren Klasse den Anfang gemacht. lasterhaft moralisch schlecht e Neigung, en Tendenz 3 rücksichtslos egoistisch; ohne Skrupel 4 e Einsamkeit , en das Alleinsein

e Gunst (nur Sg.) Wohlwollen e Klugheit, en Intelligenz 7 r Gönner, - Person, die jdn. fördert, jdm. hilft

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ANSELM VON FEUERBACH

Der arme Jüngling hat erst vor Kurzem den ersten Blick in die Welt getan und muss noch nachholen1, was unsere Kinder schon an der Mutterbrust lernen. Er muss auf einmal seinen Kopf mit der lateinischen Grammatik, Übungen und Texten quälen. Sein Geist erlebt so eine zweite Gefangenschaft. Wie früher die Gefängnismauern sperren ihn jetzt die Wände der Schulstube von der Natur und dem Leben aus. Statt nützlicher Dinge gibt man ihm Worte und Phrasen, die er nicht versteht und verlängert so auf unnatürliche Art seine Kindheit. Er vergeudet2 seine Zeit und seine geringen Kräfte mit dem Schulstoff. Es fehlt ihm aber an Wissen über Dinge, die seine Seele nähren und erfreuen, etwas Ersatz3 für die verlorene Jugend geben und ihm für einen Beruf nutzen können. Er hat das drückende Gefühl von Unwissenheit und Abhängigkeit. Er weiß, dass er die verlorene Jugend nicht nachholen kann, nicht wie seine Altersgenossen sein kann und in der Welt kein brauchbarer Mensch werden kann. Er weiß, dass man mit seiner Jugend nicht nur den schönsten Teil des Menschenlebens genommen hat, sondern auch sein ganzes restliches Leben im Wert herabgesetzt hat. Außerdem hat er den grauenhaften Gedanken, dass ihm jeden Augenblick ein unsichtbares Mordbeil, ein Banditenmesser droht4. Dies alles ist der schwere Inhalt der Trauerwolken, die ihn umgeben. Wenn äußere Anlässe zunehmen, werden sie nicht selten zu Tränen oder Klagen5. Zur Zeit seines Aufenthalts bei mir nehme ich ihn oft mit auf meine Spaziergänge. An einem schönen Morgen führe ich ihn einmal auf nachholen später (noch) machen die Zeit vergeuden auf sinnlose Art die Zeit verbringen 3 r Ersatz (nur Sg.) Ausgleich, Substitut 1

2

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drohen es kann möglicherweise etw. Schlimmes, Negatives passieren 5 e Klage, n - Beschwerde 4



ANSELM VON FEUERBACH

einen unserer Berge. Von dort aus hat man eine gute Aussicht auf die hübsche Stadt und das Tal. Kaspar ist anfangs von diesem Anblick sehr erfreut, wird aber dann bald still und traurig. Auf meine Frage nach der Ursache seiner veränderten Stimmung antwortet er: „Ich denke, wie viel Schönes es auf der Welt gibt. Wie hart es für mich ist, dass ich schon so lange gelebt habe und nichts davon gesehen habe. Wie glücklich die Kinder sind, die dies alles von ihren ersten Jahren an sehen konnten und noch immer sehen können. Ich bin schon so alt und muss immer noch lernen, was die Kinder schon lange wissen. Ich wünsche mir, ich wäre nie aus meinem Käfig gekommen. Wer mich dort hineingetan hat, hätte mich darin lassen sollen. Dann hätte ich von all dem nichts gewusst und hätte nichts vermisst. Ich hätte kein Leid darüber gehabt, dass ich kein Kind gewesen bin und so spät auf die Welt gekommen bin.“ Ich versuche ihn zu beruhigen und sage, dass er keinen Grund hat, sich zu beklagen. Die meisten Menschen, die mit den Schönheiten der Natur aufgewachsen sind, sehen sie als etwas Gewöhnliches, Alltägliches, mit gleichgültigen Augen. Er aber ist als Jüngling in die für ihn neue Welt gekommen und kann sie in ihrer Frische und Reinheit genießen1. Das ist ein guter Ersatz für den Verlust2 der früheren Jahre und ein bedeutender Vorteil gegenüber anderen Menschen. Er antwortet nichts. Er scheint nicht überzeugt zu sein, aber etwas getröstet3. Er wird zu keiner Zeit über sein Schicksal ganz zu trösten sein. genießen, genoss, genossen mit Freude, Wohlbehagen, Genuss auf sich wirken lassen 2 r Verlust, e hier: Deprivation 1

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getröstet beruhigt, weil man etwas Negatives mit etwas Positivem ausgleicht 3


KASPAR HAUSER

Bei diesen Stimmungen, bei diesem Gefühl findet die Religion, der Glaube an Gott und gläubiges Hoffen an die Vorsehung1, Eingang in seine Seele. Er ist jetzt wirklich ein frommer2 Mensch. Er ist frei von jedem Aberglauben3. Er spottet sehr über den Glauben an Gespenster4 und fürchtet nur den Unsichtbaren mit dem Mordwerkzeug. Seine Lebensweise ist jetzt fast wie die anderer Menschen. Er isst, bis auf Schweinefleisch, alle Arten von Speisen, aber ohne starke Gewürze. Sein Getränk ist immer noch Wasser. Nur morgens trinkt er eine Tasse Gesundheitsschokolade. Vor Getränken wie Bier, Wein, Tee und Kaffee hat er immer noch Abscheu und ein Tropfen davon würde ihn sicher krank machen. Die besondere, fast übernatürliche Erhöhung seiner Sinne ist fast auf die normale Stärke zurückgegangen. Er sieht zwar immer noch im Dunkeln, sodass es für ihn keine wirkliche Nacht gibt. Er kann aber nicht mehr im Dunkeln lesen oder, wie früher, in weiterer Entfernung die kleinsten Gegenstände erkennen. Wie andere Menschen liebt er nun das Sonnenlicht, das nicht mehr wie früher seine Augen verletzt. Von der Größe seines Gedächtnisses und anderen erstaunlichen Eigenschaften ist nichts mehr zu finden. Nichts Außerordentliches ist mehr an ihm als das Außerordentliche seines Schicksals und seiner unbeschreiblichen Güte und Liebenswürdigkeit.

e Vorsehung (nur Sg.) Bestimmung des Schicksals durch Gott fromm gläubig, religiös 3 r Aberglauben (nur Sg.) Superstition 4 s Gespenst, er übernatürliche Erscheinung 1

2

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AUFGABEN

Wortschatz 1

2

Der Autor benutzt viele Substantive, um Kaspar zu charakterisieren. Finden Sie für die folgenden Substantive die passenden Adjektive! Beispiel: der Ernst

ernst/ernsthaft _______________________

1 2 3 4 5 6 7 8 9

_______________________ _______________________ _______________________ _______________________ _______________________ _______________________ _______________________ _______________________ _______________________

die Freundlichkeit die Melancholie die Naivität die Offenheit die Unerfahrenheit die Mittelmäßigkeit die Männlichkeit die Einsamkeit die Klugheit

Bringen Sie die Buchstaben in die richtige Reihenfolge. Es ergeben sich Substantive aus Kapitel 8, die sich auf die Situation Kaspars beziehen. 1 Uhneitwssien 2 laSickchs 3 namOthch 4 keiAhäntgigb

_______________________ _______________________ _______________________ _______________________

Grammatik 3

Setzen Sie die richtigen Präpositionen ein! (Für jede Präposition gibt es eine Lücke.) bei • mit • nach • mit • in • zu • an • in • zu • von • auf Beispiel: zu Kaspar kann heute _______ den gesitteten Menschen gerechnet werden.

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1 _____ seinem Gesicht vermischen sich die weichen Züge eines Kindes mit den eckigen Formen des Mannes und einigen leichten Falten. 2 Es vermischen sich liebenswerte Freundlichkeit _____ Ernst und leichter Melancholie. 3 Er spricht langsam, sucht manchmal _____ Worten. 4 Er scheint ein Gemisch _____ Kind, Jüngling und Mann zu sein. 5 _____ ernster Miene und wichtigem Ton macht er Äußerungen, die _____ jedem anderen seines Alters als dumm und kindisch erscheinen würden. 6 Jeder Augenblick erinnert ihn _____ seine Einsamkeit mitten _____ der umgebenden Welt. 7 Er besteht _____ seinem Recht. 8 So kann er deren guten Willen _____ seinem Vorteil nutzen.

START 2 - Sprechen 4 Formulieren Sie Fragen zum Inhalt des Kapitels 8.

(Die Adjektive aus Aufgabe 1 und die folgenden Substantive sollen Ihnen helfen.) Überlegen Sie sich außerdem die Antworten und notieren diese in Stichpunkten. Stellen Sie Ihre Fragen dann einem/-er Partner/-in, der/die diese beantworten soll. Tauschen Sie anschließend die Rollen. Eigenschaften/Charakter • Aussehen • Verhalten • Gefühle (z.B. ängstlich, traurig, einsam) Beispiel: Wie würde Kaspar in einer Gruppe von Menschen wirken? 1 Warum _____________________________________________? 2 Welche ____________________________________________? 3 Wie _______________________________________________? 4 ___________________________________________________?

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ZUM WEITERLESEN

Paul Johann Anselm Ritter von Feuerbach Paul Johann Anselm Ritter von Feuerbach wird am 14. November 1775 in Hainichen bei Jena geboren. Er wächst in Frankfurt am Main auf, wo sein Vater Advokat ist. Ab 1792 studiert er an der Universität Jena Philosophie und ab 1796 Rechtslehre und promoviert in beiden Fächern. Er möchte ursprünglich Professor für Philosophie werden. Als er seine spätere Frau Wilhelmine Tröster kennenlernt, entscheidet er sich aber für die Rechtswissenschaft. Er glaubt, dass er als Jurist besser eine Familie ernähren kann. Paul Johann Anselm Ritter von Feuerbach

Jurist und Kriminologe 1801 wird er Professor für Recht in Jena, später in Kiel und Landshut. Er arbeitet auch als Richter. Feuerbach setzt sich für humanere Strafen und die Abschaffung der Folter ein. Er entwirft 1813 ein neues Strafgesetzbuch für das Königreich Bayern. Darin spielt die Idee, dass die Strafe als Abschreckung für potenzielle Straftäter dient, eine große Rolle. Das von ihm formulierte Prinzip „keine Strafe ohne Gesetz“ gehört zu den heutigen Justizgrundrechten. (Es bedeutet, dass eine Tat nur bestraft werden 88

kann, wenn diese Tat in einem Gesetz festgeschrieben ist.) Ab 1814 ist Feuerbach Richter in hohen Ämtern in Bamberg und Ansbach. Er wird zum Ritter (Paul Johann Anselm Ritter von Feuerbach) und zum Staatsrat ernannt. Feuerbach veröffentlicht 1828 und 1829 in zwei Bänden die Aktenmäßige Darstellungen merkwürdiger Verbrechen. Er beschreibt darin die psychologischen Hintergründe verschiedener Straftaten und leistet somit einen wichtigen Beitrag für die Kriminalpsychologie.


Paul Johann Anselm Feuerbach und Kaspar Hauser Feuerbach lernt Kaspar Hauser 1828, kurz nach seinem Erscheinen in Nürnberg, kennen. Im Jahre 1832 veröffentlicht er das Buch Kaspar Hauser. Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben des Menschen. Feuerbach vermutet, dass Kaspar in Wirklichkeit ein badischer Prinz ist. Deshalb sendet er sein Werk der Königin Karoline von Bayern, einer geborenen badischen Prinzessin. In seiner Schrift Memoire über Kaspar Hauser (1832) erläutert er der Königin die Einzelheiten seiner „Theorie“. Diese Schrift bleibt lange geheim und wird erst 19 Jahre später von seinem Sohn Ludwig

Kaspar Hauser

veröffentlicht. Sie muss schließlich aus dem Handel genommen werden, weil den Verlegern der Prozess gemacht wird. Am 29. Mai 1833 stirbt der kranke Feuerbach auf einer Reise nach Frankfurt. Es entsteht das Gerücht, dass er wegen seines Interesses für Kaspar Hauser vergiftet wurde. Für diese Version gibt es allerdings keine Beweise. Paul Johann Anselm Ritter von Feuerbach

Die Familie Paul Johann Anselm Feuerbach hat fünf Söhne, die sich alle in verschiedenen wissenschaftlichen Gebieten hervortun, und drei Töchter. Das berühmteste seiner Kinder ist der Philosoph Ludwig

Feuerbach (1804 – 1872). Er schreibt 1852 die Biografie seines Vaters (Leben und Wirken A. v. Feuerbachs). Der bekannte Maler Anselm Feuerbach (1829 – 1880) ist sein Enkel. 89


ZUM WEITERLESEN

Wer war Kaspar Hauser? Erbprinzentheorie Der Autor Paul Johann Anselm Feuerbach ist ein Vertreter der Erbprinzentheorie. Nach dieser Theorie ist Kaspar Hauser in Wirklichkeit der erste männliche Nachkomme des Großherzogs Karl von Baden und somit Erbprinz des Hauses Baden. Die Großherzogin Stéphanie Beauharnais, Adoptivtocher Napoleons, bringt am 29. September 1812 einen Sohn zur Welt. Anhänger der Erbprinzentheorie

glauben, dass er mit einem sterbenden Säugling vertauscht wird. Laut dieser Theorie stirbt am 16. Oktober des gleichen Jahres der angebliche Erbprinz und Kaspar Hauser (der echte Erbprinz) wird versteckt. Man vermutet, dass die zweite Frau von Karl Friedrich von Baden (Vater von Karl und angeblicher Großvater Kaspars) Luise die Kindesvertauschung veranlasst hat, damit ihr Sohn Leopold Großherzog werden kann.

Stéphanie Beauharnais

Betrugstheorie Vertreter der Betrugstheorie glauben, dass Kaspar ein Betrüger ist. Kaspar ist vielleicht als Kind vernachlässigt worden, ausgesetzt worden und schließlich nach Nürnberg gekommen. Waren die Attentate in Wirklichkeit eine Methode, um weitere Aufmerksamkeit zu erregen? Hat er den Zettel, den sein angeblicher Mörder ihm in dem Beutel überreicht, selbst geschrieben? Der englische Lord Philip Henry Earl Stanhope lernt Kaspar 1831 kennen und ist sehr von ihm fasziniert. Er glaubt zunächst, dass Kaspar aus einer ungarischen Adelsfamilie stammt. Er übernimmt im 90

gleichen Jahr die Vormundschaft und unterstützt ihn finanziell. Außerdem gibt er viel Geld aus, um Kaspars Herkunft zu klären. Später veröffentlicht er die Schrift Materialien zur Geschichte Kaspar Hausers (1835), in der er erklärt, dass Kaspar Hauser ein Betrüger ist und ihn getäuscht hat. Auch viele heutige Wissenschaftler zweifeln an Kaspar Hausers Geschichte. Besonders Psychiater meinen, dass ein Kind nach einer jahrelangen völligen Isolation später unmöglich so schnell sprechen und andere Fähigkeiten erlernen kann. Auch der körperliche Zustand eines solchen Kindes ist viel schlechter.


Gen-Analysen

J. F. Carl Kreul, Kaspar Hauser

Ein Gemälde von Kaspar Hauser

Das Institut für Rechtsmedizin der Universität München und Experten aus Birmingham untersuchen im Jahr 1996 im Auftrag des Magazins der SPIEGEL, SPIEGEL TV und der Stadt Ansbach den Blutfleck auf der angeblichen Unterhose Kaspars. Dann vergleichen sie das Blut mit Blutproben lebender Angehöriger des Hauses Baden. Das Ergebnis: Die Person, von der das Blut stammt, ist genetisch nicht mit dem Hause Baden verwandt. Im Jahr 2002 analysieren Rechtsmediziner der Universität Münster für das ZDF (Zweites Deutsches Fernsehen) mit neuen wissenschaftlichen Methoden die angeblichen Haare Kaspars. Sie finden, dass das Erbgut der Haare und das Erbgut des Blutes auf der Hose von verschiedenen Personen stammen. Sie vergleichen dann die Haarprobe mit den Haaren einer direkten Nachfahrin von Stéphanie de Beauharnais. Man stellt eine Abweichung fest, die aber bei Verwandten vorkommen kann. Fazit der Untersuchungen: Es gibt keine klaren Ergebnisse und keinen Beweis, dass Kaspar Hauser mit dem Haus Baden verwandt ist. Man kann diese Möglichkeit aber nicht ausschließen.

Ein Gemälde von Kaspar Hauser

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Wie geht Kaspars Geschichte weiter?

Nach dem Attentat im Hause des Professors Daumer im Jahr 1829 zieht Kaspar mehrere Male um: Er wohnt bei der Familie des Magistratsrates Biberbach, bei dem Juristen Gottlieb von Tucher (der von 1829 bis 1831 Kaspars Vormund ist) und zuletzt bei dem Lehrer Johann Georg Meyer. Am 14. Dezember 1833 wird er im Hofgarten in Ansbach von einem Unbekannten mit einem Messer niedergestochen. Kaspar berichtet später, dass ihm ein bärtiger Mann einen Beutel überreicht hat. Als er ihn annehmen will, sticht der Mann zu. Der mysteriöse Beutel enthält einen Zettel mit einem Text, er in Spiegelschrift geschrieben ist: „Hauser wird es euch ganz genau erzählen können, wie ich aussehe, und 92

wo her ich bin. Den Hauser die Mühe zu ersparen will ich es euch selber sagen, woher ich komme _ _ Ich komme von von _ _ _ der Baierischen Gränze _ _ Am Fluße _ _ _ _ _ Ich will euch sogar noch den Namen sagen: M. L. Ö.“ Der bayrische König Ludwig I setzt eine hohe Belohnung für die Ergreifung des Täters aus – jedoch ohne Erfolg. Kaspar Hauser stirbt am 17. Dezember 1833 an den Folgen der Verletzung. Kaspar Hausers Grab in Ansbach hat die Inschrift: „Hier ruht Kaspar Hauser. Rätsel seiner Zeit, unbekannt seine Herkunft, dunkel sein Tod 1833.“


ZUM WEITERLESEN

Kaspars Aktualität Die Faszination Kaspars Trotz – oder gerade wegen – der Widersprüchlichkeiten und Zweifel an der Wahrheit der Geschichte Kaspars übt sein Fall auch heute noch große Faszination aus. Immer noch wird über seine Herkunft spekuliert.

Literatur, Musik und Film Der berühmte deutsche Journalist und Schriftsteller Kurt Tucholsky (1890-1935) benutzt Kaspar Hauser als eines seiner Pseudonyme. In der politischen Wochenzeitschrift Weltbühne veröffentlicht er unter diesem und anderen Pseudonymen Artikel, in denen er die Gesellschaft und die Politik – besonders den Militarismus und den aufkommenden Nationalsozialismus in der Weimarer Republik – kritisiert. Der bekannte deutsche Liedermacher Reinhard Mey (geb. 1942) erzählt die Geschichte Kaspars in dem Lied Kaspar (1968) aus der Perspektive des Sohnes eines Lehrers von Kaspar. Es gibt unzählige Publikationen zu Kaspar Hausers Schicksal, zum Beispiel den erfolgreichen Roman Caspar Hauser oder die Trägheit des Herzens (1908) von Jacob Wassermann. Seine Geschichte wird auch mehrmals verfilmt. Die bekanntesten deutschen Filme sind Jeder für sich und Gott gegen alle (1974) von Werner Herzog und Kaspar Hauser (1993) von Peter Sehr.

Kaspar in Ansbach Im Markgrafen-Museum am KasparHauser-Platz in Ansbach gibt es eine Ausstellung zum Thema Kaspar Hauser. Dort befinden sich wichtige Fundstücke, unter anderem die Kleidung, die er am Tag des tödlichen Attentats getragen haben soll. Seit 1998 finden in Ansbach alle zwei Jahre Kaspar-Hauser-Festspiele statt. 93


TESTEN SIE SICH SELBST Kreuzen Sie an! (Es gibt nur eine richtige Antwort.) 1 Kaspar Hauser erscheint zum ersten Mal in Nürnberg am A ■ 26. Mai 1732. B ■ 26. Mai 1828. C ■ 26. Mai 1928. 2 Als Kaspar auf dem Unschlittplatz gesehen wird, A ■ kann er nicht richtig laufen und sprechen. B ■ ist er betrunken. C ■ ist er verletzt. 3 Kaspar lebt anfangs A ■ bei Professor Daumer. B ■ in einem Gefängnis im Turm. C ■ auf der Polizeistation. 4 In Nürnberg A ■ wird Kaspar sofort bekannt und alle interessieren sich für ihn. B ■ ist Kaspar meist allein und keiner kümmert sich um ihn. C ■ wird Kaspar am Anfang versteckt gehalten. 5 Bevor Kaspar nach Nürnberg kommt A ■ hat Kaspar bei einem alten Mann gewohnt, der für ihn gesorgt hat. B ■ hat er viele Jahre lang in einem dunklen Kerker ohne menschlichen Kontakt gelebt. C ■ war er Kunstreiter im Zirkus. 6 Professor Daumer entdeckt, dass Kaspar A ■ ein anormal geformtes Knie hat. B ■ sehr musikalisch ist und gut singen kann. C ■ besonders gute Sinneswahrnehmungen hat. 7 Der Autor Feuerbach glaubt, dass Kaspar aus seinem Kerker nach Nürnberg gebracht wird, weil A ■ seine Familie sehr arm ist und ihn nicht mehr versorgen konnte. B ■ er wächst und kräftiger wird und es immer schwieriger wird, ihn versteckt zu halten. C ■ er dort eine Stelle als Soldat bekommen hat. 8 Am Ende der Erzählung wird Kaspar beschrieben als A ■ ein glücklicher Mensch. B ■ einsam und abhängig von der Hilfe anderer Personen. C ■ ein Mensch mit vielen Plänen für die Zukunft.

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SYLLABUS Europäischer Referenzrahmen – Niveaustufe A2 Themen Herkunft Lernen, Entwicklung Fähigkeiten, Charaktereigenschaften Gefühle Schicksal Psychologie Kriminalität Sprechen sich vorstellen, Fragen formulieren, auf Fragen antworten, über Gefühle sprechen, über Farben sprechen. Grammatik Verben (Präsens, Perfekt und Präteritum), Präpositionen, Adjektive, Pronomen, Komposita, Satzverbindungen (wenn, dass, weil, trotzdem, deshalb, aber)

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ERWACHSENE

LEKTÜREN

NIVEAU 1

Emanuel Schikaneder, Die Zauberflöte

NIVEAU 2

Joseph Roth, Die Kapuzinergruft Joseph von Eichendorff, Aus dem Leben eines Taugenichts Theodor Fontane, Effi Briest Anselm von Feuerbach, Kaspar Hauser

NIVEAU 3

J. W. von Goethe, Die Leiden des jungen Werther Franz Kafka, Die Verwandlung Georg Büchner, Woyzeck


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