5 minute read

Sätze über übersetzte Gerechtigkeit

engagiert spielen.

Dramatisierte Fassung des Fluchthilfeprozesses. Die Zitate basieren zu einem Gutteil aufpersönlichen Erinnerungen und Gerichtsprotokollen von Blogeinträgen. Im Gerichtssaal Wr. Neustadt findet kurz vor Mitternacht nach stundenlangem Warten die Schuldsprechung statt. Anwesend sind die Richterin, Staatsanwältin, Verteidigung, die Angeklagten, Polizei, Medien und zusehende Personen.

Advertisement

Dramatisierte Fassung von Franz Kafkas „In der Strafkolonie“. Um den Exekutionsapparat stehen bei sengender Hitze der Offizier, der Reisende, der Soldat und der Angeklagte. Der Offizier ist bemüht, seiner Begeisterung angesichts der ausgefeilten Maschine Ausdruck zu verleihen; der Reisende versucht zu verstehen.

Die Richterin tritt ein, es kommt zur Urteilsverkündung. Nur wenige stehen auf. Der Reisende sieht flüchtig auf den Angeklagten hin; dieser hält den Kopf Die Richterin: Vernehmen Sie das Urteil, im Namen der Republik. Der

gesenkt und spannt alle Kraft seines Gehörs an, um etwas zu erfahren. Die Bewegungen Erst-, der Zweit-, der Dritt-, der Fünft-, der Sechst-, der Siebt- sowie der Achtangeklagte sind schuldig. seiner wulstig aneinandergedrückten Lippen zeigen, dass er Die Verteidigung wirft ein: Aber Euer Ehren, die Angeklagten verstehen Eure Urteilsverkündigung nicht. nichts verstehen kann. Der Reisende will mehrmals eine Frage formulieren. Sie sprechen eine andere Sprache. Der Reisende: Kennt er sein Urteil? Die Richterin ignoriert den Einwurf und fährt fort: Sie haben in Traiskirchen und Der Offizier: Nein. Er will in seinen Erklärungen fortfahren, wird aber vom Reisenden unterbrochen. Wien die rechtswidrige Ein- und Durchreise in und durch Mitgliedsstaaten der EU, Der Reisende: Er kennt sein eigenes Urteil nicht? insbesondere von Ungarn, nach insbesondere Deutschland und Italien gefördert, um sich und Dritte zu bereichern. Der Offizier: Nein. Die Angeklagten sehen sie mit erwartungsvollen Blicken an; einige von ihnen lächeln von Zuversicht gequält. Er stockt einen Augenblick, als verlange er eine nähere Begründung vom Die Richterin: Dabei ist die Anzahl der Personen in den meisten Reisenden, antwortet dann aber: Es wäre nutzlos, Fällen nicht mehr feststellbar, zumindest aber in zwei Fällen und das Zielland es ihm zu verkünden. Er erfährt es ja aufseinem Leib. nicht selten ein unbekanntes Land der Europäischen Union. Der Reisende wollte schon verstummen, als er vom fragenden Blick des Verurteilten getroffen wird.

Beim Wort „Europäische Union“ heben die Angeklagten ihre Köpfe und blicken abwechselnd zur Der Reisende: Aber dass er überhaupt verurteilt wurde, das weiß er doch?

Richterin und zur Verteidigung, die zwar zu Einwürfen anheben will, Der Offizier: Auch nicht. Er lächelt den Reisenden an, als erwarte doch aufgrund der unbeirrten Rede der Richterin davon abgehalten wird. Anerkennendes Nicken der Staatsanwältin. von ihm noch einige sonderbare Eröffnungen.

Die Richterin: Die Erst-, Fünft- und Siebtangeklagten haben die Tat gewerbsmäßig, Der Reisende streicht sich über die Stirn: Nein? Dann weiß also der Mann auch die Erst-, Zweit-, Dritt-, Fünft-, Sechst- und Siebtangeklagten diese hinsichtlich einer jetzt noch nicht, wie seine Verteidigung aufgenommen wurde? größeren Anzahl von Personen und die Erst-, Zweit-, Dritt-, Fünft-, Sechst- und Siebtangeklagten Der Offizier spricht ins Abseits, als rede er zu sich selbst und wolle die Tat als Mitglieder einer kriminellen Vereinigung begangen… den Reisenden durch Erzählung dieser ihm selbstverständlichen Dinge nicht beschämen: Die Verteidigung unterbricht: … eine kriminelle Vereinigung, die an ihrem Geschäft verliert, Euer Ehren. Er hat keine Gelegenheit gehabt, sich zu verteidigen. Die Richterin scheint die Verteidigung nicht gehört zu haben und fährt fort: Der Reisende: Er muss doch Gelegenheit …beim Achtangeklagten liegt nur der Grundtatbestand, ohne weitere Qualifikationen vor. gehabt haben, sich zu verteidigen. Dem Zweitangeklagten wird zusätzlich zu §114 FPG noch die Sachbeschädigung einer Krawatte vorgeworfen. Der Reisende steht von seinem Sessel auf. Eine dem Prozess beiwohnende Zuseherin von den Rängen ruft: Übersetzen Sie doch!

Die Richterin fährt unbeeindruckt weiter, daraufhin erhebt sich die

Reisende.

Der Offizier scheint angesichts des Aufstandes der Reisenden etwas irritiert zu sein, kratzt sich am Hinterkopf und murmelt in seine Krawatte: Es ist immer bedenklich, in fremde Verhältnisse entscheidend einzugreifen.

Sie sind weder Bürgerin der Strafkolonie, noch Bürger des Staates, dem sie angehört. Auch wenn Ihnen die Ungerechtigkeit des Verfahrens und die Unmenschlichkeit der Exekution zweifellos erscheint, sind sie doch eine Fremde und haben still zu sein.

Die Zuseherin schüttelt ungläubig den Kopf und zeigt auf den Exekutionsapparat: Sie betreiben ein unlauteres Verfahren. Die Angeklagten können nicht schuldig gesprochen werden, sie haben sich bereits entschuldigt. Jeder einzeln.

Der Offizier fasst sich, geht im Gerichtsaal ein paar Mal auf und ab, hält inne und sagt: Der Grundsatz nach dem ich entscheide, ist: Die Schuld ist immer zweifellos. Sie wollen diesen Fall erklärt haben? Es ist ein ganz einfacher Fall.

Die Richterin, weiterhin unberührt von den Zwischenfällen: Die Angeklagten werden schuldig gesprochen, Menschen begleitet, verpflegt, beherbergt und ihnen Übernachtungsmöglichkeiten verschafft zu haben.

Es kommt zu Tumulten; Menschen verlassen den Gerichtssaal, Türen knallen, von außerhalb des Gerichtssaals drängen Rufe nach innen.

Der Zweit-, Viert-, Fünft-, Sechst-, Siebt-, und Achtangeklagte bleiben still. Der Erst- und Drittangeklagte protestieren lautstark: Wir akzeptieren dieses Urteil nicht.

Daraufhin werden die Angeklagten vom Offizier auf den Exekutionsapparat gezerrt und mit den Riemen befestigt. Die Nadeln der Maschine beginnen auf ihre Rücken das Urteil zu schreiben. Daraufhin starren die zusehenden Personen sprachlos auf den Apparat. Die Richterin fühlt sich das erste Mal in ihrer Rolle bedrängt und sieht sich in Erklärungsnot. Etwas zögernd sucht sie Kontakt zu den anwesenden Personen und deutet auf die Maschine.

Die Richterin (stammelnd): Ihr alle wisst, hier geschieht Gerechtigkeit.

| Jakob Frühmann, Cristina Yurena

gesprochen von Claudia Kottal

Schlepperprozess

Im August 2013 wurden acht Personen auf Grundlage des sogenannten „Schlepperei“- Paragraphen (§114 FPG) in Wien festgenommen. Nach einer monatelangen U-Haft begann im März 2014 das Verfahren. Im Dezember des gleichen Jahres wurde dieses mit einem Schuldspruch für sieben der Angeklagten beendet. Der Prozess wird von vielen Seiten als Repression und Delegitimation der RefugeeProteste gesehen, da einige der Angeklagten an diesen beteiligt waren.

www.solidarityagainstrepression.noblogs.org

§ 114 FPG*

(1) Wer die rechtswidrige Einreise oder Durchreise eines Fremden in oder durch einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder Nachbarstaat Österreichs mit dem Vorsatz fördert, sich oder einen Dritten durch ein dafür geleistetes Entgelt unrechtmäßig zu bereichern, ist vom Gericht mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren zu bestrafen.

* Fremdenpolizeigesetz

EU-Grenzpolitik

Unser Meer hat sich gewandelt. Bis Oktober 2014 nahm die italienische Regierung auf eigene Initiative im Rahmen der Operation Mare Nostrum das Mittelmeer und die darüber flüchtenden Menschen als in ihrem Verantwortungsbereich liegend wahr. Es ist unser Meer, in dem es gilt, Hilfe zu leisten, es ist unser Meer, das nicht zum Friedhofwerden darf. Die EU stellte in Folge Fördergelder lediglich für das Nachfolgeprogramm Triton als Teil der EU-Grenzagentur Frontex zu Verfügung. Der Fokus von Seenotrettung verschob sich aufdie Sicherung der Außengrenzen vor illegaler Einwanderung. Die Festung Europa beansprucht das Meer für sich. Aus unserem Meer, für das Verantwortung getragen wurde, wurde unser Meer, das uns gehört und in das wir bestimmte Menschen nicht lassen.

Watch the Med - Notruf

Seit dem 10. Oktober 2014 nimmt ein von Freiwilligen organisierter 24-Stunden-Telefondienst Notrufe von in Seenot geratenen Flüchtlingen entgegen und alarmiert die zuständige Küstenwache.

www.watchthemed.net

This article is from: