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Rloveution

Rloveution Eine andere Welt ist möglich.

Liebe Sophie,

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ich wollte dir schon lange wieder schreiben. Du kennst das, der Alltag ist wie immer viel zu voll für ausführliche Gedanken und Gespräche. Erst gestern bin ich wieder mit dem Fernbus in Wien angekommen –26 Stunden Fahrt, da hat man viel Zeit nachzudenken. Ich habe während der Fahrt ein altes „ZEIT Geschichte“ Magazin über die Anfänge der 68er in Deutschland gelesen. Dabei musste ich wieder an die Diskussion denken, die wir schon öfter hatten: Was können wir tun?

Der Blick der ZEIT auf die 68er war zwar eher nüchtern und distanziert, allerdings gut recherchiert, mit vielen verschiedenen Kommentaren, mit historischen ZEITungsartikeln, Interviews und vielen Hintergrundinformationen –von Berkeley bis zum Ende derKommune 1. Es warziemlichentmystifizierenddas zu lesen, abertrotzdemspannendundgarnichthoffnungslos –und ich werde dir auch sagen warum.

68 ist kein unerreichbarer Mythos. Wenn man sich anguckt wie 68 abgelaufen ist, erscheint das alles erstaunlich normal. Das Brisante war die politische und gesellschaftliche Lage. Es war einfach Pulver in der Luft –genau wie heute, woran man sich von vielen der Zeitdokumente erinnert fühlt. Es bedurfte jeweils nur einer Hand voll Leute, um kurzfristig eine extrem breite Bewegung hervorzurufen, die sich dann schnell aufspaltete und wieder verlief, nachdem die wenigen Hauptbeteiligten ihre Energien verbrannt hatten. Ein paar Monate, ein Jahr, länger hat es oft nicht gedauert –aber wir reden heute noch davon.

Ich denke da beispielsweise an die Sache mit der Anti-Schah Demo vor der Deutschen Oper, bei der Benno Ohnesorgvon einem Polizisten in Zivil erschossen wurde und die gewissermaßen der Auftakt der 68er in Deutschland war. Das alles ist unglaublich schnell passiert. Ulrike Meinhof liest einen Artikel über den Schah im Iran und dessen gewalttätige Herrschaft; in wenigen Wochen ist der Schah zum Staatsbesuch in der BRD geladen. Sie organisiert zusammen mit der Kommune 1 eine Veranstaltung an der FU Berlin, zu der Hunderte kommen. Ein Schriftsteller aus dem Iran spricht, der Iranische Botschafter versucht vergeblich zu beschwichtigen. Am nächsten Tag basteln die acht Bewohner_innen der Kommune 1 Papiermasken und rufen zur Demo gegen den Staatsbesuch des Schahs auf. Wenige Tage später stirbt auf dieser Demo Benno OhnesorgunddieganzeRepublikfängtanaufzubegehren.

Ich meine, wir reden hier von Tagen, in denen sich diese gravierenden Ereignisse entwickelt haben –nichts davon wargeplant. Es gab eine Ausgangsstimmung, einen AnlassunddannfehltenurnocheinwinzigerFunke. Und heute? Denk nur mal an die Nachrichten von gestern. Gründe für Widerstand gibt es doch mehr denn je. Also ja, ich glaube wir können und sollten was machen. Wenn wir ein Ziel vor Augen haben und Überzeugungen und beides verbreiten, gibt es die Chance, dass sich viele andere anschließen. Dass das nicht unrealistisch ist, zeigt 68. Jetzt wirst du vielleicht sagen: „Das ist mir auch klar, aber was können wir machen?“ Und auch dazu habe ich mir ein paar Gedanken gemacht.

Die wesentliche Erkenntnis aus 68 für mich ist, dass die Hippiebewegung die Gesellschaft mehr verändert hat als die (teilweise gewaltsame) Student_innenbewegung, die radikalen neuen Parteien oder die intellektuellen Gruppen. Viele tradierte Konventionen sind durch die Hippiebewegung grundlegend verändert worden und mit ihnen Herrschaftsverhältnisse: zum Beispiel in der Ehe, im Sexleben, in der Kleidung oder im Verhalten im öffentlichen Raum generell. Die meisten dieser emanzipatorischen Errungenschaften sind heute so normal, dass sie uns gar nicht auffallen. Und gerade das ist ja der Clou einer erfolgreichen Revolution!

Alle anderen Strömungen der „68er“ –die ihren Anfang ja weit in den 50ern hatten, mit Bewegungen gegen die Wiederbewaffnung der Bundeswehr, gegen Atomwaffen uvm. –wie die Student_innenbewegungen, die politisch radikalen K-Gruppen, die Zeitungen, alle sind ein Phänomen von wenigen Jahren geblieben und haben kaum Spuren in die heutige Zeit hinterlassen. Sie haben sicherlich die Beteiligten selbst verändert, aber nicht die gesellschaftlichen (Herrschafts-)Verhältnisse. Und das finde ich schon eine ganz zentrale Feststellung für die Frage nach „Was können wir tun?“.

Ich glaube immer mehr, dass wir davon eine Menge lernenkönnenfürdenWegineineökologischnachhaltige und sozial gerechte Gesellschaft. Der Widerstand muss von innen kommen, aus dem Alltag –weder durch alte und neue Parteien, noch durch gewaltvolle revolutionäre Umstürze, noch durch den intellektuellen Masterplan oder gesetzliche Reglementierungen.

„Das Private ist politisch“ war eine der wichtigsten Losungen dieser Zeit. Und: Das Politische ist öffentlich. Es reicht nicht, im Privaten radikal anders zu leben, der Alltag muss öffentlich politisiert werden. Das geht zum Beispiel über widerständige Interventionen in den Alltag. Diese Interventionen können künstlerisch sein, Verwirrung stiften und müssen kein klar festgelegtes Ziel haben.

In diesem Sinne wäre guerillagardeningwichtigerals privater Veganismus, wäre politische Musik wichtiger als Demonstrationen und wäre gemeinschaftliche Nutzung von Eigentum wichtiger als Öko-Konsum oder eine

„grüne“ Partei. Wir müssen Formen des Widerstands finden, die nicht gewaltvoll sind und trotzdem konfrontativ, die den Alltag politisieren und verändern. Ich denke da beispielsweise an Gandhis Salzmarsch.

Dabei geht es nicht in erster Linie um eine direkte Konfrontation mit den Herrschaftsverhältnissen, sondern um ein subversives Unterlaufen ihrer Macht. Gleichzeitig geht es darum, nicht den belehrenden Finger zu heben und Menschen ein anderes Leben vorzuschreiben, sondern es vorzuleben! Nur wenn die Alternativen zur jetzigen Gesellschaft öffentlich gelebt werden, können sie eine positive Strahlkraft entwickeln, zum Mitmachen anregen, zum Nachdenken auffordern und widerständige Praxen verallgemeinern. Das ist eine friedliche Revolution.

Alles, was wir dafür brauchen, haben wir bereits. Wir brauchen kein akademisch formalisiertes Wissen, keine ökonomische oder politische Macht. Wir brauchen nur Mut und Lust voranzugehen und dadurch die Gesellschaft, die wir wollen, schon mal für alle sichtbar vorzuleben. Das kann einhergehen mit vielen kleinen politischen Aktionen, darf sich aber nicht darauf beschränken. Und es muss einhergehen mit einem individuellen Lebensstilwandel, darf sich jedoch auch darin nicht erschöpfen. Das Private ist politisch und das Politische gehört öffentlich.

Und gerade weil dieser Widerstand anders ist, ist er einfach. Weil wir weder Geld noch Macht brauchen, weil wir nicht die ganze Gesellschaft auf einmal verändern müssen, weil wir keine Gewalt ausüben müssen, weil wir Menschen Mut und Hoffnung geben. Und weißt du was, gerade weil das Leben vieler Menschen gegenwärtig so paradox ist, weil sie arbeiten um leben zu dürfen, ihr Leben aber füllen mit nutzlosem Besitz und inhaltsleerer Unterhaltung, gerade deshalb kann diese Form von Widerstand funktionieren und sich verallgemeinern.

Wann ist dir denn das letzte Mal jemand begegnet, der mit sich und seinem Leben zufrieden war? Da musst du nachdenken. Und das ist doch krass, oder? Aber das ist genau das, was unser Widerstand anzubieten hat: ein schönes Leben. Und ich glaube dieses Ziel hat so viel positive Kraft, dass es Menschen dazu bringen kann, freiwillig ihren Besitz zu teilen, aufBesitz zu verzichten und ihre Lebensstile grundlegend zu ändern. Das passiert ohne dass es ihnen irgendwer vorschreiben muss und mit gleich zwei positiven Effekten: einer sozial gerechteren Gesellschaft und einer ökologisch nachhaltigeren Gesellschaft. Und das ist es doch was wir wollen! Her mit dem schönen Leben!

Ich glaube die Zeit ist heute mehr als reif für Veränderungen. Aber was ist der Unterschied zwischen damals, als die Stimmung in der Luft lag, die Geschichte verändern zu können, und heute? Mit meinen Mitbewohner_innen –übrigens auch ein Erbe der Hippiebewegung –habe ich oft darüber gesprochen und alle sind etwas resigniert, dass wir ja doch nichts machen können; sie fühlen sich ohnmächtig. Ich habe versucht sie davon zu überzeugen, dass genau diese Resignation das eigentliche Problem ist, dass wir uns nicht ins spießbürgerliche Privatleben zurückziehen dürfen, sondern unsere gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen müssen.

Aus den Erfahrungen der 68er ziehe ich den Schluss, dass Gewalt eine Gesellschaft nur sehr wenig verändert, dass Widerstand deshalb den Alltag zum Gegenstand haben muss und dass Veränderung immer möglich ist. Wenn wir nichts tun, müssen wir unseren Frieden schließen mit dem Bestehenden oder daraufhoffen, dass andere für uns handeln. Aber wer? Und im Rückblick würden wir uns ärgern, dass wir es nicht wenigstens versucht haben, dass wir uns mitschuldig gemacht haben an den Verbrechen unserer Zeit, weil wir zu bequem waren das Zuschauen zu beenden. Ich würde mir das nie verzeihen können, ich würde mir vorwerfen im Leben versagt zu haben. Und du?

Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.

Liebe Grüße, Johannes

| Daniel Buschmann

gesprochen von Anna Kramer

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