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Vom Recht auf Stadt zur radikalen Demokratie

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Seit den späten 1990er Jahren findet der Ruf nach einem Recht auf Stadtin vielen Städten der Welt erneut Widerhall. 1 Formuliert wird ein breites Unbehagen an gegenwärtigen städtischen Lebensrealitäten. Thematisiert werden das Schwinden nicht-kommerzieller Freiräume; rassistische, sexistische und homophobe Ausgrenzung; die Minderung der demokratischen Teilhabe; der ausbleibende ökologische Umbau; sowie steigende Mietpreise und Verdrängung. Die globalen urbanen Revolten des Jahres 2011 von Kairo über Madrid, Athen, Tel Aviv bis nach New York markierten in diesem Sinne einen emanzipatorischen Aufbruch in rebellischen Städten (Harvey 2012), die die Verfasstheit von Gesellschaft insgesamt in Frage stellten und demokratische wie soziale Teilhabe radikal einforderten. Die Parole Recht auf Stadt, die in all diesen Kämpfen immer wieder auftauchte, formulierte Henri Lefebvre 1968. Erverstand daruntereinen Schrei danach, nicht aus dem städtischen Leben exkludiert und vertrieben zu werden und verband damit den Anspruch auf einen selbstbestimmten, nicht von kapitalistischen Interessen und staatlicher Kontrolle beherrsch//Daniel Mullis

1 Bei dem Text handelt es sich um eine überarbeitete und ergänzte Fassung eines Essays, den ich 2015 für CityLeaks –Urban Art Festival in Köln geschrieben habe. ten Alltag (Lefebvre 1968: 158). Unweigerlich, quasi als andere Seite der Medaille, ging für ihn damit die Forderung nach radikal demokratischer Selbstverwaltung –der Autogestion –einher (Lefebvre 1966). Recht auf Stadt ist noch heute „mehr als nur ein guter Slogan“ (Holm 2010) und bietet Anknüpfungspunkte zu den aktuell intensiv diskutierten postfundamentalistischen (vgl. Marchart 2010, 2013) Überlegungen zur radikalen Demokratie etwa im Anschluss an Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (2006 [1985]). Ziel des Textes ist es, Lefebvres Recht auf Stadt sowie Autogestion genauer zu beleuchten und die Potentiale ihrer Verknüpfung mit der radikalen Demokratie zu benennen.

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Das Recht auf Stadt

Der französische Marxist, Stadtforscher und Philosoph Henri Lefebvre (*1901- †1991) verfasste seine Texte zurStadtzwischen1968 und1974. Seine Reflexionensind eingebettet in eine zeitgenössische Analyse der 1968erUnruhen in Frankreich, deren Ursprung er in der sozial gespaltenen urbanen Gesellschaft und der Politisierung dieser Spaltung erkannte. Gleichsam von Bedeutung war

für ihn die Thematisierungder Stadt in den Marx’schen Texten sowie seine eigenen Überlegungen zum Alltag und zur Dialektik. Eine seiner übergeordneten Arbeitshypothesen, die sich auch im Recht auf Stadt niederschlägt, formulierte er bereits 1939: „In jedem Konkreten gilt es die Negation, den inneren Widerspruch, die immanente Bewegung, das Positive und das Negative aufzuspüren.“ (Lefebvre 1969 [1939]: 31) Lefebvres Arbeiten zur Stadt waren in den späten 1960ern nicht zuletzt auch von der Situationistischen Internationale beeinflusst; mit der Betonung der Spontanität und dem Erkennen des Alltäglichen als Ort der Kämpfe vertrat er eine sehr eigenwillige Marx-Interpretation. Gerade sein Verständnis von Produktion ist aufschlussreich:

„Die Produktion reduziert sich nicht auf die Herstellung von Produkten. Der Begriff bezeichnet einerseits die Erschaffung von Werken (einschließlich der sozialen Zeiten und Räume), kurzum die ‚geistige‘ Produktion, und andererseits die materielle Produktion, die Herstellung der Dinge. Er bezeichnet auch die Produktion des ‚menschlichen Seins‘, durch es selbst, im Laufe seiner historischen Entwicklung. Das impliziert die Produktion der gesellschaftlichen Beziehungen. Schließlich umfasst der Ausdruck, im weitesten Sinne [auch] die Reproduktion.“ (Lefebvre 1972 [1968]: 48f.)

Die Stadt ist für Lefebvre ein Produkt gesellschaftlicher Praxis und konkreter Auseinandersetzungen (Schmid 2005: 27). Dabei nimmt Stadt, in späteren Arbeiten Raum (Lefebvre 1991 [1974]), die Rolle als Vermittelndes zwischen Prozessen ein, die einerseits auf der Ebene des ‚Globalen‘ zu verorten seien, wo abstrakte Beziehungen wie der Kapitalmarkt oder die Raumpolitik zum Tragen kämen, und andererseits aufder Ebene des ‚Privaten‘, die die alltäglichen Aushandlungen und Lebensrealitäten umfasse (Lefebvre 2014 [1970]: 85-112). Gleichzeitig stelle die Stadt auch das Terrain für den Kampf gegen die Vereinnahmung des Besonderen durch das Allgemeine dar, womit gemeint ist, dass sich aufder Ebene des Städtischen die Alltäglichkeiten der verallgemeinernden Wirkung der ‚globalen‘ Prozesse entziehen und –bisweilen –widersetzen (vgl. Mullis 2017: 90-105).

Historisch betrachtet waren Städte, Lefebvre folgend, lange Zeit eher Orte des sozialen und politischen Lebens sowie der kollektiven Produktion und weniger reine Macht- oder Handelszentren. Im Zuge der Industrialisierung und der damit einhergehenden Urbanisierung hätten aber tiefgreifende Verschiebungen stattgefunden. Analytisch fasst Lefebvre diesen Prozess als Implosion-Explosion. Damit versucht er den uneinheitlichen Prozess zu benennen, wonach in Städten einerseits eine massive Konzentration von Menschen, Tätigkeiten, Reichtümern und Gegenständen zu konstatieren ist –Implosion –und andererseits die städtische Wirklichkeit auseinanderberste bzw. ihren Bezugsrahmen verliert –Explosion. Wie Lefebvre (1968: 70f.) unter Rückgriff auf die Marx’schen Konzepte von Gebrauchsund Tauschwert darlegt, wurden Städte im Zuge der Ausbreitung des kompetitiven und industriellen Kapitalismus immer mehr zu Orten des Tauschwertes.

Die sozialen Beziehungen, die mit Stadt als Tauschwert verbunden gewesen seien, würden nicht mehrgelebt, undStadt als soziales und materielles Gefüge daher nicht mehr verstanden. Was fürLefebvre daraus folgt, ist die weitreichende Pointe, dass Stadt als soziale ‚Realität‘ verschwindet (ebd.: 148). Unter den Bedingungen kapitalistischer Vergesellschaftung behalte die Stadt aber in der Funktion der Zentralität eine unmittelbare Realität: „Der Begriff Stadt entspricht keinem gesellschaftlichen Objekt mehr. […] Dennoch besitzt die Stadt eine historische Existenz, die nicht ignoriert werden kann.“ (Lefebvre 2014 [1970]: 65). Die Stadt nehme jedoch diese ZentrumsFunktion nicht aufGrund einer Eigenlogik ein, sondern weil die kapitalistische Gesellschaft Städte als Zentren hervorbringe. Theoretisch, so Lefebvre, kann jeder Punkt zentral werden und jeder Inhalt die Zentralität füllen. Bestimmend ist die soziale Praxis, was bedeutet: Zentralität (und das, was Stadt ist) ist stets umkämpft und politisch.

In „The Production ofSpace“ (Lefebvre 1991 [1974]), seinem letzten Werk zum Urbanen, in dem er sich analytisch mit Fragen der Raumproduktion auseinandersetzte, hebt Lefebvre hervor, dass Raum nicht nur als konstitutives Element für Gesellschaft zu verstehen ist, sondern dass dieser ein historisch notwendiges Produkt von sozialen Prozessen, Strategien und Projekten darstelle. Raum wird Lefebvres Verständnis nach innerhalb des gesellschaftlichen Erkenntnishorizontes und der bestehenden Normen mit Bedeutung aufgeladen und produziert. Er ist somit einerseits gesellschaftlich strukturiert, prägt andererseits aber durch seine Materialisierung eben auch die Bedingungen der gesellschaftlichen Strukturierungen. Kurzum: Raum ist erstens ein soziales Produkt, in dem zweitens abstrakte soziale Prozesse und Strukturen in einer spezifischen Weise konkret und wirkmächtig werden und drittens ist jede Raumproduktion stets umkämpft (vgl. Mullis 2017: 77-90). In letzter Konsequenz bedeutet dies nach Anne Vogelpohl (2011: 234, Herv. i. O.), dass Gesellschaft nicht im Raum, sondern über den Raum produziert wird und Raum in einer dialektischen Weise Voraussetzung und Produkt einer jeden Gesellschaft ist; dass Emanzipation also nur gelingen kann, wenn auch eine emanzipatorische Raumproduktion initiiert wird.

Lefebvre bleibt an diesem analytischen Punkt nicht stehen und begibt sich aufdie Suche nach Alternativen. Das Ziel ist, eine gesellschaftliche Utopie zu entwickeln. Dafür bestimmt er den Begriffder urbanen Gesellschaft bzw. kurz des Urbanen. Das Urbane steht für eine neue soziale Realität, die durch die veränderten Beziehungen hergestellt wird und die überkommenen

sozialen Gefüge der Stadt emanzipatorisch aufhebt (Lefebvre 1968: 103). Lefebvre folgend ist dieses Potential im Prozess der Urbanisierung als Möglichkeit bereits angelegt. Damit es sich aber realisiere, bedürfe es einer tiefgreifenden sozialen Revolution –der urbanen Revolution (Lefebvre 2014 [1970]) –, deren Träger_innen die Klasse der Ausgeschlossenen und Verdrängten sein werde. Das revolutionäre Subjekt entsteht für Lefebvre, ähnlich wie in operaistischen Konzeptionen, in der städtischen Alltäglichkeit (und nicht in den Fabriken), zumal in ihnen die kapitalistische Vergesellschaftung in ihrer vollen Wirkmächtigkeit erfahren wird (Lefebvre 1968: 178). Das mit seinen Arbeiten zum Urbanen verfolgte Ziel war nicht, ein kohärentes Modell der Verstädterung, verstanden als einfache Ansammlung von Bauten und Menschen, zu entwickeln oder diese lediglich einer Kritikzu unterziehen. Vielmehr sollten auf der Basis der historischen Untersuchung und der Analyse der Gegenwart Möglichkeiten –ein Begriff, der anschließend eine genauere Spezifikation erfährt –formuliert werden.

Das Mögliche bildet den Zugang, um zu verstehen, wie Lefebvre gesellschaftliche Veränderung denkt bzw. wie er diese auch unterfüttern, anregen und herbeiführen will. Möglichkeit hat für Lefebvre daher eine doppelte Bedeutung: Einerseits beinhaltet sie einen Fokus aufdas Machbare; dass Veränderung möglich ist, auch wenn das Ziel noch eine Utopie sein mag. Andererseits wird betont, dass Praxis nur auf der Basis der ‚Realität‘ entstehen kann, also auf den materiellen und ideellen Verhältnissen im Hier und Jetzt aufbauen muss (Brenner & Elden 2009: 39). Daraus ist zu lesen, dass Lefebvre zwar fest davon ausging, dass durch (alltägliche) Praxis die gesamte ‚Realität‘ verändert werden kann, jedoch die Möglichkeiten dieser Veränderung nicht beliebig sind. Denn die bereits vorhandenen gesellschaftlichen Verhältnisse regulieren das Feld des Umsetzbaren. Um Perspektiven zu öffnen, versuchte Lefebvre mittels seiner Arbeiten stets das Gegebene zu untersuchen, um dann einen potentiellen Schritt nach vorne zu gehen und mögliche Utopien zu entwickeln. Und genau hier kommt das Recht auf Stadtals eine mögliche Strategie ins Spiel.

Das Recht auf Stadt verstand Lefebvre als ein übergeordnetes Recht, ähnlich den „Menschen- und Bürgerrechten“ (Lefebvre 1990), als Recht auf Freiheit, als Recht zur Individualisierung in der Sozialisation, das Recht auf Wohnen, das Recht aufPartizipation und Aneignung (Lefebvre 1968: 174). Dazu gehört auch das Recht auf eine andere Zentralität, auf Orte des Zusammenkommens und des Austauschs, das Recht auf eigene Lebensrhythmen und Zeitverwaltung sowie das Recht darauf, die Räume und die Momente in ihrer Gänze zu nutzen (ebd.: 179). Es beinhaltet das Recht, sich die aus dem kreativen und schöpferischen Potential des Urbanen entstehenden Überschüsse gesellschaftlich anzueignen, sie damit den Profitinteressen zu entziehen und der Allgemeinheit zuzuführen (Gebhardt & Holm 2011: 8). In der „positivsten“ Begrifflichkeit bedeute es, so Lefebvre (1973: 194f.), das Recht der Stadtbewohner_innen, aufallen Ebenen von Netzwerken und der Zirkulation von Kommunikation, Informationen und Austausch mitzuwirken. Um es umzusetzen, so Lefebvre (1968: 179f.), muss der Gebrauchswert den Tauschwert als leitendes Konzept ersetzen, wobei es darauf ankomme, sich die Betriebe, Märkte und Produkte gesellschaftlich anzueignen. Lefebvres Forderungen sind nicht isoliert zu betrachten, sondern aufs Engste verbunden mit einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive der Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft sowie der staatlichen Unterdrückung. Dafür bedürfe es der Etablierung von egalitäreren und direktdemokratischeren Strukturen –bei ihm unter dem Begriffder Autogestion [ins Deutsche am ehesten als autonome Selbstverwaltungzuübersetzten] behandelt(Ronneberger2011).

Autogestion und radikale Demokratie

Autogestion als Konzept stammt nicht von Lefebvre selbst, wenn auch er im Frankreich der 1960er Jahre ein Protagonist der Debatte um diese war (vgl. Brenner 2008; Ronneberger 2009, 2011). Für Lefebvre (1966: 150) umfasst Autogestion eine ganzheitliche Perspektive der radikal-demokratischen politischen Organisation. Sie erlaubt, sich über kollektive und lokalisierte Organisation ‚von unten‘ der totalisierenden und homogenisierenden Wirkung von Staatlichkeit und kapitalistischer Verwertung entgegenzustellen. Lefebvre verstand Autogestion dabei eher als Methode, denn als Modell: „The concept of autogestion does not provide a model, does not trace a line. It points to a way, and thus to a strategy. This strategy must exclude maneuvers and manipulations that render practice illusory; this strategy must therefore prevent the monopolization of the word and the concept by institutions that transform them into fiction. In addition, the strategy must concretize autogestion and extend it to all levels and sectors. This perpetual struggle for autogestion is the class struggle.“ (Lefebvre 2001 [1979]: 780)

Um Autogestion zu erkämpfen, müssten die Möglichkeiten und Momente des Eingreifens spontan und kreativ genutzt werden, wenn sie sich ergeben. Lefebvre dachte das Potential der Autogestion pluralistisch und multipel, als einen fragmentierten Prozess des sukzessiven eruptiven Vordringens. Jedoch dürfe eine solche Praxis nicht darauf hinauslaufen, sich auf die „schwachen“ Punkte bzw. die Nischen der Gesellschaft zu reduzieren. Um die demokratische Praxis zu verallgemeinern, müssten auch die „starken“ und gut geschützten Bereiche von aktueller Gesellschaft –wie Staat und Kapital –angegriffen werden. Lefebvre gibt sich keinen Illusionen hin und verweist darauf, dass auch Autogestion keine idyllische oder gar herrschaftsfreie Gesellschaft etablieren werde. Vielmehr werde eine andere Ordnung eingerichtet, die egalitärer, demokratischer und gerechter, aber nicht herrschaftsfrei, sein werde (Lefebvre 1966: 147). Es geht ihm nicht darum, politische Konflikte in einer Utopie der Harmonie zu glätten, sondern darum, einen Modus zu finden, der Konflikte offen aushandeln lässt (Brenner & Elden 2009: 16). Autogestion ist für Lefebvre ein permanenter Prozess, „eine ständige Bewusstseinsbildung über die Beziehungen zwischen der sich selbst verwaltenden Einheit,

ihren funktionellen und strukturellen Grenzen und der Gesamtgesellschaft“ (Lefebvre 1969: 80).

Lefebvres Überlegungen zur Autogestion liegen Konzepten der radikalen Demokratie, wie sie aus postfundamentalistischer Perspektive (vgl. Marchart 2010, 2013) etwa von Laclau und Mouffe (2006 [1985]) formuliertwurden(vgl. Mullis2014), sehr nahe. Die Grundlagen ihres Argumentes sind, ähnlich wie bei Lefebvre, erstens ein starkes Plädoyer für die historische Gewordenheit von Gesellschaft in und durch Praxis sowie die strukturierende Relevanz ihrer materiellen Verdichtungen. Letztere werden dabei gleichzeitig als Ausgangspunkt, Bestandteil sowie Gegenstand von sozialen Kämpfen interpretiert. Daraus resultiert zweitens, dass Gesellschaft stets als von Macht- und Herrschaftsstrukturen durchzogen erkannt wird. Politische Kämpfe werden folglich drittens weder als neues Phänomen noch als unliebsame Störung einer bestehenden Ordnung charakterisiert, sondern als integraler Bestandteil von Gesellschaft verstanden. Politische Kämpfe formen Gesellschaft in ihrer jeweiligen historischen Verdichtung (Mullis 2017: 37-44).

Herrschaft wird über die Fähigkeit, politische Kämpfe bzw. die Produktion von Antagonismen auszuschalten, produziert. Zudem kommt sie in der Fähigkeit zum Ausdruck, eine bestimmte politische Formation als objektiv bzw. alternativlos zu erklären und dies auch immer wieder auf Dauer zu stellen. Für Laclau und Mouffe (2006 [1985]) markiert das Politische einerseits das nicht zu bändigende –bzw. ontologische –Potential, die als alternativlos markierten Ordnungen in und durch Politik aufzubrechen, andererseits kann das Politische nur im je konkret formierten Antagonismus, also in konkreter Politik, erfahren werden. Antagonismus ist keine objektive Relation, sondern ein Verhältnis, in dem die unmögliche Letztgründung erfahren, die „Grenzen derObjektivitätgezeigt“ undoffengelegt werden, „was nicht gesagt, so doch gezeigt werden kann“ (Laclau & Mouffe 2006 [1985]: 165, Herv. i. O.). Politik ist der Begrifffür die konkrete Praxis der Formierung des Antagonismus in einem spezifischen Feld.

Von Bedeutung ist, dass ein so umrissener Begriffvon Polit ik nicht normativ oder idealistisch ist. Radikale Demokratie formulieren Laclau und Mouffe (2006 [1985]: 218-38) –und insbesondere Mouffe (1989; 2007; 2009) –gewissermaßen als normativen Zusatz zu ihrem Denken der Politik. Radikale Demokratie ist eine gesellschaftliche Formation, die es in besonderer Weise erlaubt, dem Politischen gerecht zu werden, zumal sie versucht, Schließungsmechanismen zu minimieren und Politik einen offenen Artikulationsraum zu verschaffen (Laclau 2010 [1996]: 145). Robin Celikates (2010: 300) fasst es so zusammen: „Demokratie [ist] keine Staatsform und kein gesellschaftlicher Zustand [..], sondern ein konflikthafter Prozess.“ Insgesamt wird über die radikale Demokratie, wie auch schon überden Politikbegriffklargestellt, so Martin Saar (2013: 99f.), dass es „keinen Sinn mehr [hat], den Ort des Demokratischen exklusiv im Innern des politischen Systems oder bei den eindeutig verfassten politischen Akteuren zu suchen“, was Politik von außerparlamentarischen Bewegungen und alltäglichen Kleinformen erheblich aufwertet.

Perspektiven der Verknüpfung

Werden die beiden skizzierten Überlegungen zum Recht auf Stadt und der radikalen Demokratie gegenübergestellt, wird deutlich, dass Lefebvre insgesamt noch starkvon Marxgeprägt ist. Mit seiner wohlwollend-kritischen Lektüre des Marx’schen Werkes, seinerInterpretation derDialektikundden Überlegungen zurProduktionsowiederZentralstellungderPraxisleistetLefebvreinnovative Arbeit, die als Muster auch in vielen postfundamentalistischen Philosophien auftaucht. Jedoch kommen in seinen Arbeiten, und gerade in jenen zur Stadt, Argumentationsmuster vor, in denen er hinter seinen eigenen Anspruch als auch hinter die postfundamentalistischen Prämissen zurückfällt und teleologische Muster, ökonomische Determinismen sowie eine lineare Geschichtsauffassung durchschimmern. Dies gilt etwa, wenn er eine sehr direkte Linie zwischen Verstädterung und urbaner Revolution zieht, oder wenn er essentialistische Eigenheiten als Ausgangspunkt von SubjektivierungundDifferenzbestimmt(Mullis 2014: 127-31).

In der Historisierung der Stadt und allgemeiner in Lefebvres stets aufMarx und Engels referenzierenden Einteilung von Geschichte und der daraus resultierenden Fokussierung auf das Proletariat als transformatorisches Subjekt ist ein latenter Ökonomismus auszumachen. Auch wenn er die Konstitution der Klassen im Alltäglichen verortet, fasst er die Hervorbringung der revolutionären Arbeiterklasse (Lefebvre 1968: 154), die den gesellschaftlichen Wandel anführen soll, wesentlich in ökonomischen Begriffen: Die zur Transformation fähigen Klassen werden bei Lefebvre über deren ökonomischen Status bestimmt, wenn er auch die Stadt bzw. später den Raum als vermittelndes Element dazwischen schaltet. Es ist die Segregation, die Projektion der Ungleichheit aufdas Terrain, die Ausschluss erfahrbar macht und so die proletarische Subjektivierung leitet (ebd.: 179). Für Laclau und Mouffe (2006 [1985]: 122) hingegen ist zentral, dass das transformatorische Subjekt in den Kämpfen selbst entsteht und keine Faktoren bestimmt werden können, von denen aus Klassen vorformiert würden.

Es sind aber die vielfältigen Konvergenzlinien, die ein Zusammendenken sinnvoll machen. Diese finden sich etwa in der normativen Positionierung der Ansätze. Des Weiteren ist

es gerade das gemeinsame Zentralstellen von Praxis bzw. Politik sowie das Betonen der historischen Gewordenheit von Materialität und Machtverhältnissen, die ein Zusammendenken anregen. Gemeinsam ist den Ansätzen das Ziel, starre Gewissheiten, historische Determinierung sowie Essenzialismen aufzulösen und die Theoretisierung von Gesellschaft auf ein offenes und konflikthaftes Werden hin zu öffnen. In gewisser Weise verallgemeinern Laclau und Mouffe mit ihrem Begriff der Politik Lefebvres Produktionsbegriffhorizontal. Politik ist eine generelle Perspektive auf Produktion und verweist radikal aufdie gesellschaftliche Gemachtheit einer jeden Ordnung sowie aufdie Notwendigkeit von Fixierung, um Gesellschaft, Subjekte und Objekte überhaupt als Entitäten fassen zu können. Das Argument spannt sich horizontal über sämtliche gesellschaftliche Relationen. Demgegenüber erlaubt Lefebvre, konkrete gesellschaftliche Kämpfe klarer zu fassen, zumal er den Fokus je spezifisch aufherrschaftliche Verdichtungen sowie deren Anfechtung legt (Mullis 2017: 296-304).

Für eine aktualisierte Perspektive auf Lefebvre heißt dies (Mullis 2014: 105-55), dass Recht auf Stadt als Parole dienen kann, um vielfältige politische Auseinandersetzungen, die erst einmal nichts miteinander zu tun haben müssen, unter einem Nenner zu bündeln. Gleichzeitig verweisen gerade Lefebvres Überlegungen klar aufdie Notwendigkeit einer antikapitalistischen und staatskritischen Perspektive. Die Zusammenführung der Perspektiven regt eine intensive Diskussion darüber an, wie einegalitäreres Miteinanderheute aussehensollte undunterwelchen Bedingungen städtischer Produktionsweisen dies erstritten werden könnte. Sie regt an, über ökonomische Fragen hinauszugehen und gesellschaftliche Kämpfe um Platzzuweisungen über class, race, gendermiteinzubeziehen. InalltäglichenKämpfenum ein Recht aufStadt können abstrakte Prozesse und Herrschaftszusammenhänge verdeutlicht werden, die Kämpfe gleichzeitig aber auf einer Ebene artikulieren, auf der Interventionsmacht gegeben ist. Die verknüpfende Perspektive bietet darüber hinaus die Möglichkeit, über die reine Negation bestehender Verhältnisse hinauszugehen, Utopien zu entwickeln und diese auch offensiv einzufordern. Und es ist eine explizite Aufforderung, darüber nachzudenken, welche räumlichen Ausschlüsse in den jeweiligen Auseinandersetzungen durch politische Bewegungen und sozialer Praxis selbst hergestellt werden und diese aufihren Gehalt bzw. ihre Notwendigkeit hin zu befragen.

Literatur

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