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Wir haben die Schnauze voll
»Wir haben die
Urbane Protesträume kreativ statt gewaltsam aneignen
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Proteste imstädtischenRaumhabenweltweit zugenommen und auf dem afrikanischen Kontinent erstmalig die Anzahl an Bürgerkriegen numerisch überholt. Generell ist in den letzten Jahren sowohl die mediale Berichterstattung als auch die Häufigkeit von gewaltsamen und friedlichen Protestereignissen in Afrika gestiegen.
Die Jugend geht öffentlich aufdie Straße gegen verfassungswidrige Amtszeitverlängerungen von Präsidenten, mobilisiert für staatsbürgerliches Engagement, demonstriert gegen erhöhte Lebensmittelpreise oder leistet Widerstand gegen Landraub und Ressourcenausbeutung.
Dabei nutzt sie diverse Protestformen. Die senegalesische Protestbewegung Y’en a marre („Wir haben die Schnauze voll“) zeigt beispielsweise, wie sich Protesträume, abhängig vom räumlichen Zugang, auch ohne Gewalt strategisch und effektiv nutzen lassen. Gegründet 2011 aufgrund von Stromausfällen in den Vororten Dakars, politisiert die Bewegung massiv die senegalesische Jugend, um gegen soziale Ungleichheiten und fehlende Perspektiven aufzubegehren. In sogenannten pädagogischen Konzerten politisiert sie ihre Zuhörerschaft und ruft zur aktiven Interessensvertretung auf. Aufbauend aufvorherigen Bewegungen in den 1990er und 2000er Jahren, nutzen die Gründer ihre Bekanntheit und den daraus resultierenden ZugangzuMedien, um die Jugend als politische Bürger_innen zu aktivieren.
Auf dem Place de l’Obélisque, einem der zentralen Plätze Dakars, legten die Aktivist_innen von Y’en a marre zu Beginn der Proteste 2011 symbolisch einen tausend Beschwerden umfassenden Briefan die Regierungaus, den sie zuvorbei kleineren Kundgebungen unterschrieben ließen. Aufdem selben Platz veranstalteten sie im Laufe derProteste eine Messe derProbleme, Foire aux problèmes, bei der die sozialen Missstände direkt mit einer Kritik an der Politik und dem alltäglichen Leben der Menschen verbunden wurden (Prause 2013). Um zu illustrieren, wie sich die Nahrungsmittelpreise seit der Amtszeit von Abdoulaye Wade entwickelten, stellten sie Nahrungsmittel mit der jeweiligen Preisentwicklung von 2000 bis 2012 aus. Nach den Aktionen riefdie Bewegung zu gemeinsamen Aufräumarbeiten auf, zum einen, um ein Bild eines verantwortungsbewussten citoyen zu demonstrieren, zum anderen, um sich den öffentlichen als eigenen Raum anzueignen.
Durch die plastische und erfahrbare Darstellung ihrerForderungen, die sie mit dem politischen Fehlverhalten der politischen Elite direkt verknüpfen, können die Aktivist_innen eine breite Bevölkerungsschicht erfolgreich informieren.
Urbane Räume bieten als Dreh- und Angelpunkt von Medien, Wirtschaft und Politik günstige Bedingungen für Protest. Besonders Hauptstädte sind als zentraler Austragungsort von Widerstandsaktionen ideal geeignet. Schließlich sind nationale Medienorgane entweder vor Ort angesiedelt oder unterhalten dort eine Hauptstadtrepräsentanz, weshalb hier Proteste vermehrt Beachtung erfahren. Ebenso sind Vertreter_innen der
Schnauze voll«
Politik hier ansässig, sodass der Widerstand zwar ungehört, aber nicht ungesehen bleiben kann. Im Zuge von Protestwellen werden zentrale Plätze wiederkehrend besetzt und so zum Symbol des Protests. Der TahrirPlatz in Ägypten oder der Taksim-Platz in Istanbul beispielsweise sind Synonyme von Widerstand, aber auch Sinnbild seiner gewaltsamen Unterdrückung. Aufdiese Weise werden die gepflasterten Orte im Stadtkern ikonisch aufgeladen.
Die neu verliehene Symbolträchtigkeit dieser Plätze wird durch staatliche Demonstrationsverbote meist verstärkt als vermindert. Denn nicht nur die Protestierenden, sondern gerade auch die Regierung selbst illustriert aufdiesen Plätzen ihre, in diesem Fall polizeiliche, oder garmilitärische, Stärke. IndiesenRäumenwirdpolitisch ge- und verhandelt, Macht demonstriert, werden Forderungen artikuliert und wird Aufmerksamkeit gesucht. Ein Weg, um Interessen durchzusetzen und Stärke zu zeigen, ist die Anwendungvon Gewalt sowohl aufSeiten der Protestierenden als auch aufSeiten des Staates. Gewalt kann sich hier physisch und strukturell-räumlich, beispielsweise durch Demonstrationsverbote, äußern.
Welche Protestformen von Bewegungen angewandt werden, ob Gewalt oder Gewaltverzicht die Taktiken bestimmen, wird auch durch lokale Vorbedingungen, nationales Recht oder transnationale Gelegenheiten mitbestimmt (della Porta 2014). Werden friedliche Demonstrationen rechtlich verboten, eskalieren Protestaktionen meist. Erfahren nur gewaltsame, bildmächtige Widerstände transnationale Aufmerksamkeit, kann Gewalt strategisch eingesetzt werden.
Trotz rascher Demonstrationsverbote distanzierten sich die Protestanführer im Senegal öffentlich von der Anwendungvon Gewalt. Stattdessen veröffentlichten die aus der Hiphop-Szene stammenden Sprecher den Song Faux! Pas Forcé während des Versammlungsverbotes Ende 2011. Darin riefen sie den Präsidenten Wade auf, seine Amtszeit nicht um eine weitere zu verlängern und prangerten die herrschende Korruption an.
Wie bei allen Protestbewegungen hängt auch die Legitimität und die Unterstützung dieser Bewegung in der Bevölkerung stark von ihrer Glaubwürdigkeit ab. Durch gewalttätige Aktionen lassen sich Protestierende als irrationale Akteure darstellen und die staatlichen Repressionsmaßnahmen so legitimieren. Letztere, in Form von Straßensperren, erzeugen oft Gegengewalt. Um den gewaltsam verengten Protestraum zurückzugewinnen, nutzten die Mitglieder von Y’en a marre die Diffusionstaktik, zeitgleich an verschiedenen Orten auf die Straße zu gehen und sich trotz Kontrollen zum Place de l’Obélisque durchzukämpfen. Klassische, geschlossene Demonstrationsräume wurden durch künstlerische Ausdrucksformen umgangen und ausgeweitet (Niang 2015). Das heißt, dass durch eingeschränkte Versammlungsfreiheit zwar nicht mehr aufder Straße protestiert, dennoch aberdurch andere Aktionen, wie Konzerte oder Informationsveranstaltungen, Forderungen geäußert und mobilisiert werden kann. Solche Taktiken stören
die routinierten institutionellen Politikprozesse und können politischen Wandel auch ohne die Anwendung von Gewalt voranbringen (Nepstad 2011).
Ähnlich fungieren Wahlen und ihre Prozesse, die als Momentum für mediale Aufmerksamkeit verstärkt zur Machtdemonstration genutzt werden und leicht in wahlbezogene Gewalt münden. Auch die Berichterstattung von Medien außerhalb des Protestraumes wirkt so aufdie Austragungs- und Aneignungsformen ein. Transnationale Medienberichterstattungbeeinflusst Taktiken als Staatsgrenzen übergreifender Faktor. Denn gewaltsamer Protest bietet in der Regel mächtige Protestbilder. Diese Bilder von brennenden Autoreifen, mit Tränengas umhüllten Protestierenden oder paramilitärisch aufgerüsteten Polizist_innen erinnern an kriegsähnliche Szenarien und fördern Interesse, Neugierde und Verkaufszahlen. Urbane Gewalt wird als sich verbreitendes und intensivierendes Phänomen so auch von den Medien selbst geschürt. Diesen Bildeffekten zu widerstehen und hier als Medienvertreter_innen Widerstand zu leisten, könnte einen Beitrag zur Präsenz der zahlreichen gewaltfreien Proteste und Revolutionen darstellen. Protestierende wiederum können andere starke Bilder nutzen, indem sie ihr kreatives Potential entfalten und mit Symbolen des Widerstands arbeiten. Hier lohnt sich der Blick nicht nur aufEuropa, sondern auch aufafrikanische Protestbewegungen wie Y’en a marre.
Nach zweijähriger Pause, einer Schonfrist für den seit 2012 amtierenden Präsidenten Macky Sall, erfahren die Gründer der Bewegung zwar eine zunehmende Medienpräsenz, beeinflussen jedoch nur noch marginal das politische Geschehen. Aktuell beschränkt sich die Rolle von Y’en a marre auf die Kommentierung nationaler Politikentwicklungen sowie die Umsetzung lokaler Projekte ihrer Ortsvereine. Ihr Fokus liegt nach den Straßenkämpfen auf der Politisierung von unten –durch Konzerte, Film- und Diskussionsveranstaltungen. So haben sie auch nach den Straßenkämpfen eine Ausdrucksform gefunden, um die demokratische Kultur mitzugestalten.
| Nina-Kathrin Wienkoop
Literatur
della Porta, Donnatella (2014): Mobilizing for Democracy. Comparing 1989 and 2011. Oxford: University Press.
Nepstad, Sharon Erickson (2011): Nonviolent Revolutions. Late 20 th Century. Oxford: University Press. Civil Resistance in the
Niang, Amy(2015): Dialectics ofSubversion: Protest Art and Political Dissidence in West Africa. In: Ugor, Paul/Mawuko-Yevugah [Hgs.]: African Youth Cultures in a Globalized World, Farnham: Ashgate.
Prause, Louisa (2013): Mit Rap zur Revolte: Die Bewegung Y‘en a marre. In: PROKLA, 170, 43: 1, 23-41.