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anthropophage engagée Die Diskussion über kulturelle Identität ist

engaged anthropologist

1975 beschreibt der US-amerikanische Konzeptkünstler Joseph Kosuth ein/e Künstler_in als „engaged anthropologist“ 1 . Demnach bemühen sich Künstler_innen, genauso wie Anthropolog_innen, den Überblick über gesellschaftliche und menschliche Zusammenhänge zu erlangen. Aber, anders als Anthropolog_innen, beo

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bachten Künstler_innen nicht nur: Sie verändern, was sie untersuchen. Wenn uns heute zwar die Überlegung konstruktivistischerundkybernetischer Theorie, dass ein_e Beobachtende_r stets beeinflusst, was sie/er beobachtet und darüber hinaus Teil des zu beobachtenden Systems ist, geläufig ist –so meint Kosuths „engaged anthropologist“ doch mehr als diese Unvermeidlichkeit. Laut Kosuth können Künstler_innen nicht nur nicht neutral sein, sie sind vielmehr bewusst am Eingriff interessiert. Künstlerische Praxis beobachtet wie Menschen sich selbst konstituieren und will gleichzeitig an dieser Konstitution aktiv teilnehmen. Das ist mit Sicherheit eine diskutable Ansicht, dennoch will ich diesem Gedankengang hierfolgen: DerWertvon Kunstliegtin ihrer doppelten Rolle, sowohl Reflexion als auch Partizipation zu verlangen.

Anthropophagie und Barbarismus

1973 entwickelt die brasilianische Künstlerin Lygia Clarkdie Performance Baba antropofágica (anthropophagisches

1 Kosuth, Joseph (1975): Artist as Anthropologist. In: http:// www.vizkult.org/propositions/alineinnature/pdfs/KosuthArtistAsAnthropologist-excerpts.pdf, Zugriff: 30.7.2016. Sabbern). Sie fordertvonKunst, organische Erfahrungzugenerieren. Dies sollte durch Experimente mit sogenannten ‚Propositionen‘ erreicht werden, undaus der Konsequenz dieser Idee entwickelt Clark Performances, in denen Betrachtende durch die Ausführung der vorgeschlagenen Abläufe zu Partizipierenden werden. So auch in der Performance Baba antropofágica: Eine Person liegt auf dem Boden, während die anderen um sie kniend Fäden von Spulen aus ihrem Mund ziehen. Dieser stetige Akt, die mit Spucke behaftete Schnur auf den mittigen Körper herabfallen zu lassen, gibt, so Clark, den Partizipierenden nach und nach das subjektiv höchst intensive und zugleich kollektive Gefühl, sich die Eingeweide auf den Bauch zu ziehen.

Die Performance ist ein fragmentierender Prozess: die Zerteilung in Stücke; sie ist Assemblage: das Sammeln der Stücke; und sie ist Rekonfiguration: die Verdichtung zu einem neuen Körperstück aus den einzelnen Stücken. Die Partizipierenden fragmentieren ihre Körper zu Spucke, Organen und Imaginationen und fügen die Fragmente zu einem kollektiven Körper zusammen. Dazu gehören auch die Gesprächsrunden nach den Performances, in denen sprachlich erfasst werden soll, was geschehen und imaginiert worden war.

Der Effekt sei die „suspension of psychophysical habits, the expansion of sensorial capacities, and the stimulation of perception as relation“ 2 . Clark glaubt, dass Fantasien unsere Kräfte einschränken und dass kollektive

2 Fabiao, Eleonora (2014): The Making of a Body: Lygia Clark’s Anthropophagic Slobber. In: Lygia Clark. The Abandonment ofArt, 1948-1988. New York: The Museum of Modern Art, p.297.

Praktiken, wie solche in Baba antropofágica diese Kräfte freisetzen können. Folgen wir ihrer Idee, dann sind Fantasien zwar sehr individuell, wurden aber als externe Macht inkorporiert. Clark will die Emanzipation des Körpers von solchen Fremdbestimmungen: Sie können, werden sie von den Partizipierenden aktiv als etwas Externes und zugleich Eigenes dargestellt, in Sabber aufgeweicht werden.

1928 verfasst der brasilianische Künstler Oswald de Andrade das Manifesto Antropófago, aufdas Clark in ihrer Umwertung des Begriffes Kannibalismus als produktive Anthropophagie Bezug nimmt. Umwertung von woher wohin? Reisebücher aus Kolonialzeiten schildern Szenen kannibalistischer Rituale. In ihrer Brutalität zeigen diese Beschreibungen fremde Völker als barbarische, deren Gebaren jenseits menschlicher Moral liegt –und welche deshalb getrost zivilisiert, sprich dominiert und ausgebeutet werden sollen. Der BegriffKannibalismus ist somit eng verknüpft mit der eurozentristischen Legitimation von Macht. Das Bodenrecht, ebenfalls eine eurozentristische Idee, des erstdagewesenen Ur-Stammes wird durch dessen Unmenschlichkeit unwirksam. Etymologisch enthält das Wort Kannibalismus diese Argumentation: Es entstand durch die falsche Aussprache spanischer Kolonialisten des Wortes „Karibs“, das die Ureinwohner der Karibik meinte. Andrades Manifest greift die kulturpolitische Dimension des Kannibalismus aufund schlägt die Assimilation an die Stigmatisierung als Kannibalen vor: Warum nicht davon profitieren und die sich als kulturell und zivilisatorisch überlegen Fühlenden einfach auffressen? Die dominante Kultur wird nicht tabuisiert, sondern wie ein Totemtier verschlungen, wodurch sich deren Kraft auf die Verschlingenden transferiert. Das Manifest geht als Collage aus Motiven sowohl brasilianischer als auch europäischer Kultur aber einen Schritt weiter: Es schlägt eine engagierte, kreative Strategie vor, kulturelle Differenzen zu inkorporieren, zu verdauen, neu zusammenzusetzen. „Cannibalism alone unites us. Socially. Economically. Philosophically. […] We wantthe Carib Revolution. Greaterthan the French Revolution.The unification ofall productive revolts for the progress ofhumanity. Without us, Europe wouldn’t even have its meager declaration ofthe rights ofman.” 3 De Andrades Anthropophagie lehnt die europäische Kultur nicht ab, proklamiert aber auch keine Unterwerfung unter die koloniale Idee, Brasilien zu einer Kopie der Heimat Europa zu machen. Übertrieben affirmativ und ins Ironische gewendet, hinterfragt das Manifest die Möglichkeit einer integren kulturellen Identität.

2015 jedoch hat es mit solchen künstlerischen Umwertungen wohl kaum etwas zu tun, wenn die terroristischen Anschläge in Europa und dem Mittleren Osten als barbarisch verurteilt werden. Zum Beispiel von Matteo Renzi, Ministerpräsident Italiens: „Italien weint um die Opfer von Paris und ist vereint im Schmerzmit den französischen Brüdern. Das ins Herzgetroffene Europa wird aufdiese Barbarei zu reagieren wissen.“ 4 Die Verwendung des Begriffes Barbar durch Journalismus und Politik ist ein sprachlich gewalttätiger Akt, der offenbart, wie sehr der islamistische Terrorismus nicht nur menschliche Würde, son

3 De Andrade, Oswald(1928): Manifesto Antropófago. Übersetzt von Leslie Bary, in: http:// www.corner-college.com/udb/cproK3mKYQAndrade_Cannibalistic_Manifesto.pdf, Zugriff: 30.07.2016.

4http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/637689/636972/634545/640031/4866310/ Reaktionen-auf-Terror_Anschlaege-auf-die-gesamte-Menschheit?gal=4866310&index=10& direct=&_vl_backlink=&popup=, Zugriff: 30.07.2016. dern auch eurozentristische Ideen vom Wert der eigenen Zivilisation angreift. Das drückt auch AfD Politiker Alexander Gauland aus, wenn er auf einer Parteidemo verkündet: „Und nicht zu Unrecht werden in diesen Tagen die Bilder vom Untergang des Weströmischen Reiches aufgerufen, als die Barbarenstämme den Limes überrannten.“ 5 Ähnlich wie der Kannibale ist der Barbar eine Fremdbezeichnung. Die Anrufung des Anderen als Barbaren macht dessen Unberechenbarkeit deutlich, die daraus resultiert, dass er nicht nur einer anderen Kultur angehört, sondern einer minder zivilisatorisch erfolgreichen. Auch hier zeigt die etymologische Herkunft des Wortes Barbar, dass es diese Funktion zivilisatorische Differenzierung schon in sich trägt: Im antiken Griechenlandwurden solche als Barbaren bezeichnet, die die griechische Sprache nicht sprechen und nur „bar bar“ sagen konnten.

anthropophage engagée

Damit 2016 und in den folgenden Jahren die Angst vor dem unbekannten Barbaren nicht zu nationalistisch und fundamentalistischer Abschottung in das eigene wohlige Wertsystem –das nach wie vor kolonialistisch gedacht wird und vermeintlich das der gesamten Welt sein soll –führt, ist der Blick aufsolche performativen und literarischen Praktiken der sogenannten Moderne Brasiliens fruchtbar. Ich rufe so aber keineswegs dazu auf, unmittelbare Körperlichkeit und kollektive Praxis als Garantie für eine authentische Identität zu verstehen, die irgendwo unter kolonialistischen Codes liegen könnte. Die Forderung nach Authentizität lässt, gerade in Verbindung mit dem Glauben an einen vermeintlich unbefleckten Körperausdruck, außen vor, wie Biomacht bis in die physischen, produzierenden und reproduzierenden Dimensionen unseres Alltags eindringt. Baba antropofágica und auch das Manifesto Antropófago tappen jedoch nicht in diese Falle. Vielmehr praktizieren sie die Vielschichtigkeit dessen, was Identität und Emanzipation von unterdrückenden Definitionen über Identität ausmachen: Sie zeigen, dass die Diskussion über kulturelle Identität keine rein intellektuell zuentscheidende Frage ist, sondern auchein körperlicher Prozess, eine performative Praxis. Brutal in seiner Materialität, unnachgiebig in seiner gegenseitigen Abhängigkeit und in seiner Verachtung für die enge Sichtweise aufden authentischen Ursprung von Kultur. Wie Kosuths „engaged anthropologist“ übernehmen die Performance und das Manifest die Doppelrolle von interessierter Beobachtung und veränderndem Eingriff, stoßen einen zyklischen Prozess an. Und das unter anderem durch eine begriffliche Umwertung: Kannibalismus als Anthropophagie, als sabbernde, nach Worten ringende, fragmentierende Praxis, die Austausch ermöglicht. Auch heute sind Auffressen, Verdauen undZusammensetzen kulturellerMotive geradezueine Notwendigkeit. SubjektivundKollektiv. Reflexivundsomatisch, sabbernd. Eigenbezeichnend eher als fremdbezeichnend. Von Künstler_innen, Anthropolog_innen, von Menschen ist dieses Engagement verlangt: im Sinne eines anthropophage engagée.

5 Van Laak, Claudia (7.11.2015): Als die Barbarenstämme den Limes überrannten. In: http:// www.deutschlandfunk.de/afd-demo-in-berlin-als-die-barbarenstaemme-den-limes.1783. de.html?dram:article_id=336236, Zugriff: 30.07.2016.

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