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GRENZEN VERLEGEN
// Textil-Route Enschede-Gronau: Radfahren entlang des roten Priesters und der weißen Dame
ALTE SPUREN UND NEUE ENERGIE
IN EINER ALTEN TURBINENHALLE KÖNNEN SIE HEUTZUTAGE EINE TOUR DURCH DIE GESCHICHTE DER POPMUSIK MACHEN, UND WO EINST WEBSTÜHLE RATTERTEN, KÖNNEN SIE JETZT MIT EINEM LASERSCHNEIDER ODER EINEM 3D-DRUCKER ARBEITEN. SCHWINGEN SIE SICH AUFS FAHRRAD UND ENTDECKEN SIE, WIE ENSCHEDE UND GRONAU IHRER GEMEINSAMEN TEXTILGESCHICHTE EINE NEUE WENDUNG VERLEIHEN.
Er steht mit dem Rücken zu ihm. Als würde Gerrit Jan van Heek gar nicht merken, dass er Gesellschaft von einem weltberühmten Rebellen bekommen hat. Der Ziegelstein mit dem streng dreinblickenden Textilhersteller erinnert an die Zeit, in der er und seine Familie in der weißen Villa hinter der Grote Kerk lebten. Er und das Porträt des revolutionären Che Guevara dienen als Aushängeschild für das Tapas-Restaurant. Heute können Sie hier Chorizo-Kroketten oder gebratene Spitzpaprika essen. Van Heek und Guevara gemeinsam an der Wand: Das geht. Es ist ein kleines Beispiel dafür, wie Enschede die textile Vergangenheit abgeschüttelt, aber nicht vergessen hat. Sie nicht vergessen kann, weil die Textilindustrie die Stadt und ihre Bewohner so stark geprägt hat.
INDUSTRIELLE AKTIVITÄTEN Der Einfluss erstreckte sich bis über die Grenze: Fabrikanten aus Enschede waren auch an der Entwicklung der Textilindustrie im benachbarten deutschen Gronau beteiligt. Diese gemeinsame Geschichte wird sichtbar, wenn Sie sich auf’s Fahrrad schwingen, um die grenzüberschreitende Textilfahrradroute zu erkunden. Der Bahnhof in Enschede ist ein geeigneter Startpunkt: Der Bau der Eisenbahnlinie über Gronau nach Münster und Dortmund ließ die Aktivitäten ab 1875 beidseits der Grenze explodieren. Von den beiden Textilfabriken direkt neben dem Bahnhof Enschede ist nichts mehr zu sehen. Sie wurden im Zeitgeist der 70er Jahre komplett abgerissen.
Gronau
Umso schöner ist das industrielle Erbe, das mehr als drei Jahrzehnte später im Stadtteil Roombeek wiedererbaut wurde. An der Stelle, an der im Jahr 2000 die Feuerwerkskatastrophe stattfand, entfaltet sich eine spektakuläre Mischung aus Alt und Neu. Inmitten zeitgenössischer Architektur stechen auch viele Fabrikgebäude heraus: als Kunstakademie, Ausstellungsraum, Schule, Medienzentrum oder Apartmentkomplex. Wo einst Baumwolle poliert wurde, können Sie jetzt in der Museumfabrik technische Geräte wie einen 3D-Drucker oder einen Laserschneider entdecken.
SPUREN DER VERGANGENHEIT Ein Stück weiter lockt das Reichsmuseum Twenthe mit einer umfassenden Ausstellung der Künste vom Mittelalter bis heute. Das Museum ist auch ein lebendiges Denkmal für die textile Vergangenheit, denn der Gründer des Museums war Fabrikant und Kunstsammler Jan Bernard van Heek. Das Museum baut auf seinem Erbe auf und fängt die Stimmung der Zeit in spannenden Expositionen ein.
Die Route führt Sie zurück in die Innenstadt, durch das Gebiet, in dem sich einst Van Heeks Fabrikkomplex über anderthalb Kilometer entlang der Bahngleise erstreckte. Bei einigen verbleibenden robusten Fassaden handelt es sich noch um Spuren der
damaligen Zeit, auch wenn die ehemalige Bedeutung des Gebäudes als Spinnerei oder angrenzendes Lagerhaus mittlerweile der reinen Wohnfunktion gewichen ist. Um Schmutz und Schweiß abzuwaschen, konnten die Arbeiter in das große Schwimmbad gehen, das Van Heek für die Enschedeer gebaut hatte. Es stand an der Stelle, wo nun der nach ihm benannte Marktplatz das Herz eines modernen Einkaufszentrums bildet. Die 1892 eröffnete Schwimmeinrichtung hatte einen Innenraum mit gewölbtem Kuppeldach und gusseisernen Säulen. Diese Größe zeigt sich jetzt nur noch auf alten Fotografien. 1972 wurde der Komplex bis auf den letzten Ziegelstein abgerissen.
Es war die Zeit, die Willem Wilmink in seinem Gedicht Textielstad (1976) festzuhalten wusste, welches jetzt die Fassade der Buchhandlung Broekhuis
schmückt. Die Zeit des Niedergangs und des Verfalls nach dem Zusammenbruch der Textilindustrie. Als „die Festungen der Industrie“ zu „hohlen und müden Höhlen“ verkommen waren, in denen der Wind freien Lauf hatte.
AUFERSTANDEN Aber schon 1987 schrieb Wilmink eine Version, in der das düstere Bild angepasst wurde. „Was einst ein trauriges Spektakel war, wurde wie ein Phönix wiederbelebt.“ Denn Enschede hatte sich inzwischen bis zur Unkenntlichkeit verändert. Wie schön, dass nicht das pulsierende Licht, sondern das melancholische Original einen Platz an der Kreuzung von De Graaff erhalten hat. So kann jeder Leser mit eigenen Augen feststellen, welch ein Kontrast zwischen der damaligen und der heutigen Stadt liegt.
Bei Wilmink können Sie sich an dieser Stelle auch fragen, wo all die Frabrikanten geblieben sind. Die Van Heeks, Ter Kuiles, Blijdensteins. Das berühmte Hotel De Graaff verlor sein Existenzrecht als die Fabriken geschlossen wurden und löste sich damit auf. Die schöne Villa Baurichter auf dem gleichen Platz, einst auch Wohnhaus der Van Heek-Familie, ist heute ein mexikanisches Restaurant. Aber: eine Straße weiter stolpern Sie plötzlich doch noch über ihre Anwesenheit, obwohl es ein bescheidenes Schild ist, auf dem der Familienname angezeigt wird: „Van Heek Holding und Beheer“ steht unter den Namen anderer Bürofirmen. Oberhalb der Tür verweist das Familienwappen der Familie Blijdenstein auf den Bankier B.W. Blijdenstein, den hier gefestigten Gründer der De Twentsche Bank als Mittelpunkt des Handels der Textilunternehmer.
Ein paar Schritte von diesem monumentalen Gebäude entfernt liegt Alfons Ariëns in Gedanken versunken. Die Statue ehrt den „roten Priester“ als Vorarbeiter und treibende Kraft der katholischen Arbeiterbewegung. Hinter ihm verweist ein riesiges Banner auf die x-te Verwandlung der Innenstadt von Enschede: Das ehemalige Krankenhaus Stadsmaten wird zum „most funky place to meet, learn and live.“
MÄCHTIGE GRÖSSE In Gronau finden die Entwicklungen langsamer statt, scheint es. In der Umgebung des Bahnhofs warten mehrere Fabrikskomplexe auf ein neues Leben. Hier und da erinnert es unweigerlich an den verblassten Ruhm aus dem Gedicht von Willem Wilmink, gleichzeitig bekommt man gerade dadurch eine gute Vorstellung von der mächtigen Größe und dem Einfluss, den die Industrie einst hatte.
Von der modernen Bogenbrücke aus können Sie Textilfabriken sehen, soweit das Auge reicht. Vom ehemaligen Büro von Mathieu van Delden - heute ein Innovationszentrum - bis zur weißen Dame, dem Spitznamen einer ehemaligen Spinnerei von Gerrit van Delden. Entworfen von Arend Beltman aus Enschede, Heimatarchitekt der Textilhersteller. Die Dame strahlt mit ihrem Wasserturm noch immer Majestätik aus. Aber der Verfall geht weiter, während die privaten Eigentümer weiterhin auf eine Metamorphose hoffen, die in den Augen der Stadtverwaltung Anklang findet.
GRÜNE PYRAMIDE An anderen Orten hat die Metamorphose bereits stattgefunden. Auf dem Gelände der Baumwoll-Spinnerei Gronau BSG befindet sich jetzt ein riesiger Großhandel mit Lebensmitteln und Catering-Produkten. Das umfangreiche Fabrikgelände von Mathieu van Delden ist mittlerweile ein Park, nachdem hier im Jahr 2003 die Landesgartenschau Gronau / Losser statt gefunden hat. Die grüne Pyramide, die über die Wasserspiele und die Spielplätze hervorragt, wurde mit den Trümmern der abgerissenen Fabrik angelegt. Oben haben Sie eine schöne Aussicht. Für diejenigen, die mehr Herausforderung suchen, gibt es den noch erhaltenen Treppenturm des Spinngebäudes, der heute eine Kletterwand besitzt.
ROCK'N'POPMUSEUM Am auffälligsten ist die Verwandlung des ehemaligen Turbinenhauses in das Rock'n' Pop-Museum. Ein logischer Schritt, wenn
man bedenkt, dass Udo Lindenberg in Gronau geboren wurde. Im kürzlich erneuerten Museum erleben Sie eine multimediale Reise durch die Geschichte der Rock- und Popmusik. Aus der Ferne sieht sich der in Bronze gegossene Mathieu van Delden von seinem Podest im Park alles an. Er hat keine Wahl, genau wie Gerrit Jan van Heek in Enschede. Ihre Zeiten sind vorbei, aber ihre Namen leben weiter.