Finn-Ole Heinrich CLIFFHANGER
Das Leben meiner Oma ist ein Farbfernseher, der in ihrem Wohnzimmer steht. Mit schreienden, lachenden, weinenden und wunderschönen Menschen darin. Oma ist eine kleine Frau mit einer kleinen Rente, sie hat kleine Füße, kleine Augen, sie wohnt in einer kleinen Wohnung im Keller eines kleinen Reihenhauses. Und sie hat ein Herz, groß wie ein Küchenschrank. Ich wohne bei ihr, sie hat mir das große Zimmer gegeben, das früher das von Opa gewesen ist. Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann genau sie mich zu sich genommen hat, ich muss klein wie ihre Füße gewesen sein. Oma riecht wie Suppe, wie frisch gekochte Gemüsesuppe, mild und würzig. Sie trägt fleischwurstfarbene Strumpfhosen und blumengemusterte Kleider, die mehr Kittel als Kleid sind. Ihre Wohnungstür ist nie verschlossen, das ist so eine Art Lebenseinstellung. „Deine Mama hat eine gute Seele“, sagt sie, „und sie liebt dich über alles, aber hier bist du besser aufgehoben. Weißt du, deine Mutter kann noch nicht mal für sich selber Frühstück machen, wie soll sie da für dich Frühstück machen, verstehst du, was ich meine?“ Ich verstehe das, absolut. Ich liebe meine Mutter auch über alles, aber ich wohne bei meiner kleinen Oma, daran gibt es nichts zu rütteln. Fünf Mal die Woche muss ich bei den Lippmanns vorbei. Ihr riesiges weißes Haus mit den blauen Dachziegeln, der Doppelgarage, den großen dunklen Fenstern liegt auf jedem Weg von der Oststadt in Richtung Schule. Ihr Garten ist riesig und der Zaun, der ihn umgibt, kommt mir manchmal unendlich lang vor. Zum Glück ist er so hoch, dass die zwei sabbernden, keifenden, knurrenden Bulldoggen nicht drüber springen können. Ich bin mir sicher, dass sie das gerne tun würden, um mich zu zerfleischen, aber sie laufen nur neben mir her, Tag für Tag, stecken ihre triefenden Schnauzen durch die Metallstäbe, zeigen mir ihre Zähne, knurren, kläffen. Dann laufe und laufe und laufe ich neben dem nicht enden wollenden Zaun entlang, das krachende Gebell im Ohr, die Lippmann-Brüder vor mir. Ich sehe sie schon am Ende der Straße auf mich warten, sehe sie grinsen und laufe auf sie zu, geradeaus auf sie zu. Mitten in sie hinein. Ich zähle nur die Schritte.
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Der größere zieht noch einmal an der Zigarette, schnippt sie in den Schnee. Er steht auf, kommt auf mich zu. Der kleinere springt auf die Straße und sammelt Schneematsch aus der Ablaufrille, den er mir zur Begrüßung ins Gesicht drückt. Ich sage nichts, laufe weiter. Sie nehmen mich in ihre Mitte und dann laufen wir zu dritt die Straße entlang, sie begleiten mich bis wir den Schulhof erreichen. Ich kenne das, so ist es seit diesem Sommer, als ich in die Klasse von dem kleinen Lippmann gekommen bin. Ich wollte nicht überspringen, ich wollte lieber in meiner Klasse bleiben, da war es eigentlich okay. Aber meine Lehrer meinten, es sei besser für mich. Die Lippmanns laufen neben mir, der Kleine schlägt mir alle drei, vier Schritte mit seiner kleinen harten Faust von der Seite auf den Brustkorb. Der Große sagt, dass ich Abschaum bin, „dreckiger Abschaum, so viel wert wie die Pisse aufm Klo, wie Kacke, Polacke“. Und dann lachen sie laut. „Kacke-Polacke!“, schreit der Kleine mir ins Gesicht. Ich konzentriere mich auf meine Schritte und sehe zum Ende der Straße, ich versuche wie immer, nichts zu hören, gar nichts. Schalldichte Gardinen vor die Ohren zu ziehen. Darin bin ich gut geworden. Alles andere hat keinen Sinn. Sie sind älter, stärker, zu zweit und in ihrem riesigen Garten haben sie zwei Hunde. Einmal haben sie mich mit ihren Hunden gejagt. Das hat mir gereicht, ich hatte Panik, ich war nur noch Angst, ein Körper voller Angst, sonst
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nichts. Die Hunde hätten mich tot gebissen, sie hätten mich zerfleischt, wenn sie sie von der Leine gelassen hätten. Der Kleine hat immer wieder geschrien: „Lass sie los! Lass sie los!“ Und gelacht. Ich sehe noch ihre riesigen bellenden Hundeschnauzen vor mir, nur Zentimeter vor meinem Gesicht, auf die Hinterläufe gestellt. Der Große hat sie mit einer Leine kurz vor seiner Hüfte gehalten. Er hat sie zum Glück nicht losgelassen. Obwohl, was heißt zum Glück, vielleicht wär’s dann wenigstens vorbei gewesen. „Pisspolacke“, sagt der kleine Lippmann nochmal und rempelt mich an, dass ich gegen das Schulhoftor knalle, dann lachen sie und gehen weiter. Früher bin ich vor ihnen weggelaufen, dann habe ich mich entschieden, stehen zu bleiben. Seit ein paar Wochen versuche ich einfach, mich wegzudenken, solange sie da sind. Ich zähle meine Schritte und stelle mir die Muskeln vor, die diese Schritte tun, wie sie sich zusammenziehen und sich entspannen, damit ich Fuß vor Fuß setzen kann. Ihre Worte gehen durch mich durch, sie tun mir nichts. Ich weiche ihnen nicht aus, ich lasse sie einfach durch mich hindurch gleiten. So wie man eben auch irgendwann entscheiden kann, sich in der Dunkelheit nicht mehr vor Geistern, Monstern und Mördern zu fürchten. Manche Gefühle muss man vielleicht einfach abschalten, solange sie einem nicht helfen. Tagsüber hat Oma zu tun, sie kauft ein, backt, kocht, putzt, schraubt, wischt, wäscht, liest sich selber laut und stockend aus der Zeitung vor und sieht mir bei den Mathe-Hausaufgaben über die Schulter. Oma macht immer, dass alles irgendwie doch funktioniert, dass wir zu essen haben, dass es ordentlich aussieht, dass ich zur Schule komme, irgendwo immer noch ein Notgroschen liegt und ein kleiner Strauß Blumen oder sowas Ähnliches auf dem Küchentisch steht. Aber um Punkt sieben Uhr ist Feierabend, dann tanzen die bunten Bilder über den Bildschirm und Oma sitzt in ihrem Fernsehsessel und sagt: „Was haben wir das gut!“ Vor dem bunten Rauschen der großen alten Röhre kommt sie zur Ruhe, sie atmet ruhig und lächelt sanft. Eine Decke über ihren Knien, ihre warme winzige Hand in meinem Nacken. Ich sitze auf einem Berg Kissen und Decken neben
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ihr auf dem Boden und versuche zu verstehen, warum diese Seifenopern, die wir uns jeden Tag gemeinsam ansehen, mich so fesseln. Ich habe gelesen, dass Seifenopern so heißen, weil sie produziert wurden, um Platz für Werbung zu schaffen, Seifenwerbung für Hausfrauen. Aber nun bin ich es, der jeden Tag vor der alten Röhre sitzt, wenn die anderen Kinder sich draußen auf der Straße treffen. Oma und ich, wir schauen unsere Serie. Liebe, Krankheit, Tod, Aufstieg und Fall, Zuneigung, Neid und Intrige, immer und immer wieder. Es fesselt mich. Es ist, als würd ich durch ein Fenster in das Leben von anderen gucken, in ein besseres Leben, ein schnelleres, bunteres, schöneres Leben. Es ist so ähnlich wie das eigene: immer was los, immer gibt es irgendein Problem. Aber alles ist interessant und für alles gibt es eine Lösung. So oder so, aber es gibt eine Entscheidung. Und die willst du mitkriegen. Vielleicht ist es das. Ich sitze auf dem Teppich, den Kopf an den Oberschenkel meiner Oma gelehnt und spüre mein Herz klopfen, wenn die Titelmelodie aus dem alten Lautsprecher krächzt. Wenn unsere Serie läuft, dann liegt das Leben vor mir, in kleinen, übersichtlichen und kunstvoll angeordneten Portionen. Dann ist alles einfach und klar, ich habe Zeit zu träumen. Und ich stelle mir vor, dass ich mitspiele in unserer Serie. Ich meine: schon klar, dass meine Oma, meine Mutter und ich nicht gerade die ideale Soapfamilie sind, dass unsere Wohnung nicht aussieht wie die WG von Kai, Tom, Ella und der lesbischen Caro, auch dass wir nicht in einem Fabrikloft wohnen oder wie die Fresenbecks auf einem Anwesen, dass meine Mutter kein Luxusrestaurant betreibt und meine Oma nicht in einer Werbeagentur arbeitet, ich bin kein Musiker, kein Arzt oder Architekt, ich besitze keinen angesagten Club. Ich bin nicht muskulös, nicht gut angezogen, ich habe noch nie ein Mädchen geküsst. Aber es gibt ja immer auch die Loser, die Fiesen, die Arroganten. Die, die einfädeln, Spiele spielen, Pläne schmieden, Fallen stellen. Wichtige Figuren. So einer wäre ich. Ich hätte ein Geheimnis. Eine Narbe, etwas Düsteres. Es ist immer auch Platz für einen Jaromir.
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Irgendwann schläft Oma ein, ich sehe ihr noch eine Weile zu, ihrem eingefallenen, trichterartigen Mund, dem Gebiss im Wasserglas neben ihr auf dem Beistelltischchen und dann mache ich ihr Leben aus, also den Farbfernseher, meine ich. Ich decke sie zu, lösche das Licht und gehe ins Bett. Es gibt nur einen einzigen Tag im Jahr, an dem der Fernseher nicht läuft: Weihnachten. Da streut Oma Stroh auf den alten braunen Kasten und legt eine dunkelblaue Decke darüber, dann stellt sie Kerzen auf und zündet sie an. Weihnachten ist heilig. Ich hatte Oma von den Lippmanns erzählt, die sie immer Lullimanns nannte, entweder aus Versehen oder um sie ein bisschen lächerlich zu machen und mir die Angst vor ihnen zu nehmen. Sie hatte gesagt, ich solle einfach nicht hinhören, wenn sie kommen, einfach weitergehen, alles ignorieren. Ich kann manchmal in der Nacht nicht schlafen und am Morgen will ich nicht in die Schule, aber Oma schüttelt darüber nur den Kopf. Ich zwinge mich, mir selbst zu sagen: So läuft das eben. Immer hat der Held einen Gegenspieler, immer versucht der Held, das Problem zu lösen, alles wird immer komplizierter, aussichtsloser. Er muss kämpfen und kriegt auf die Mütze, bis es eskaliert. Und kurz bevor die Werbung kommt, passiert etwas, mit dem man eigentlich nicht rechnen konnte. Nach der Werbung geht’s dann richtig zur Sache. Und Schluss. Das ist der Cliffhanger. Das Wort stammt von einem englischen Schriftsteller, der einen Fortsetzungsroman für eine Zeitung geschrieben hat, vor mehr als hundert Jahren. Und in einer Szene hängt sein Held in den Steilklippen der britischen Westküste, er hält sich nur an einem Grasbüschel. Er schwebt über dem sicheren Tod. Und in genau diesem Augenblick ist die Episode vorbei, Fortsetzung folgt. Jeder der wissen will, wie es weitergeht, muss die nächste Ausgabe der Zeitung kaufen. Genau so funktioniert‘s. Das mit den Lippmanns ist anstrengend. Ich muss oft daran denken und ich träume von den Hunden und wie die Lippmanns mich jagen, aber im Traum kriegen sie mich nicht. Im Traum haben sie Jaromir noch nie gekriegt, er kann ihnen jedes Mal entwischen. Er schlägt Haken, er ist klüger, schneller. Zweimal war es sehr knapp, aber dann bin ich rechtzeitig aufgewacht. /10
„Zockerikone“, sagt meine Mutter und stupft sich mit dem Zeigefinger viel zu lange auf den Brustkorb. Ihre Augen sehen geschwollen aus. „Ich hab die alle gefoppt, ‚n tierischer Bluff, weißt du, Jaromir, Zocken ist fünf Prozent Glück und fünfundneunzig Prozent Züchologie.“ „Du hast die Fritteuse gewonnen?“ Sie nickt und grinst stolz: „Beim Würfeln. In der Bar. Gegen den Wirt. Das ist ne Industriefritteuse!“ „Prima. Dann können wir ja mal Pommes machen.“ „Wir können jetzt alles machen, Jaromeinchen!“ Ich liebe es, wenn sie das sagt: Jaromeinchen. „Wir können alles kochen, von dem wir schon immer geträumt haben. Ein richtiges Weihnachtsessen zum Beispiel. Pommes, Kroketten, Würstchen. Und zum Nachtisch können wir Schokoriegel frittieren“, sagt sie und sieht mich aufgeregt an, dann steckt sie den Kopf aus der Küchentür und ruft: „Mama! Heute koche ich!“ Sie funkelt mich mit ihren großen Augen an und flüstert: „Heute mache ich auch wieder meine Spezialsoßenmischung, ist doch Weihnachten!“ Sie stöpselt die Fritteuse ein, klappt den Deckel auf und ruft: „Hammergeil! Sogar Öl is noch drin!“ Dann holt sie allerlei Fläschchen aus dem Kühlschrank. Sie schwört auf ihr Geheimrezept: Ketchup, Mayo, Senf, Cocktailsoße und, ganz wichtig, ein Spritzer frischer Zitronensaft. Ich gehe in mein Zimmer und wickele die Trillerpfeife und das selbstgetöpferte Etwas in alte Kostenloszeitungen und Tesafilm. Meine Mutter wohnt auch bei meiner Oma, manchmal jedenfalls. Manchmal wohnt sie bei Freunden in der Stadt, bei irgendwelchen Männern, im Sommer bleibt sie werweißwo und manchmal ist sie eben für ein paar Tage oder Wochen bei Oma und lebt von ihrem gefüllten Kühlschrank, so lange sie es aushält. Sie sei ein Vogel, sagt Mama immer, sie könne nicht so lange in einem geschlossenen Raum leben, sie müsse ausfliegen, draußen leben, Natur, das alles. Außerdem streitet sie sich dauernd mit Oma, das heißt sie schreit Oma an, bis Oma weint, Oma sagt eigentlich nichts, nur manchmal flüstert sie: „Malgosia, bitte“ oder „Malgosia, reg dich nicht auf, Kind.“
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Oma kann sich nicht gut streiten. Wenn es laut wird, dann weint Oma und geht ins Bad und wenn sie zurückkommt, lächelt sie und alles ist wie vor dem Streit. Sie erträgt selbst die Streitereien in ihren geliebten Fernsehserien nur schwer und immer wieder murmelt sie vor sich hin: „Nun ist ja gut“, oder: „Nun vertragt euch halt“. Dabei geht es in der Serie um nichts anderes als um Streit. Ich war süchtig danach. Oma sagt nichts, wenn sie morgens ins Wohnzimmer kommt und überraschenderweise Mama nach Wochen plötzlich wieder schnarchend auf dem Fußboden liegt. Sie streichelt ihr nur den Rücken und lächelt mit ihrem kleinen Mund. Mama darf alles, kommen und gehen, essen und trinken, laut sein, weinen, fluchen, die Füße auf den Tisch legen, nur rauchen ist verboten, dazu muss sie vor die Tür. „Es muss Regeln geben“, flüstert Oma mir zu, als wären wir Verbündete. Rauchen und ihre komischen Freunde mitbringen, das ist verboten. Es sind die einzigen beiden Regeln und meine Mutter hasst sie, sie verflucht sie, weil sie findet, dass Regeln Fesseln sind und wir uns von allem frei machen müssen und nur uns selber gehorchen sollen. Und deshalb schimpft sie und versucht immer wieder, sie doch zu brechen. Aber auch wenn sie flucht, weiß meine Mutter in sich drin so gut wie ich, dass es keinen besseren Menschen gibt als Oma. /12
Omas Geschenke liegen unter dem kleinen Plastiktannenbäumchen wie ein glänzender Weihnachtsbraten, ich lege meine daneben wie Krumen. Dann rufe ich: „Bescherung!“, und ich kann hören, wie Mama in der Küche herumpoltert und flucht. Oma verteilt Stroh auf dem Tisch, legt ihre gute weiße Tischdecke darauf, sie geht zum Fenster und sieht in den Himmel, dann zur Uhr, „Gleich ist es so weit“, sagt sie und lächelt. Sie meint den Stern, weil wir erst essen dürfen, wenn man den ersten Stern sehen kann, wegen Maria und Josef ist das so. Deshalb auch das Stroh und das vierte Gedeck, das wir nie brauchen. Ein freier Platz für einen Gast. Es soll uns daran erinnern, dass Maria und Joseph einen Platz brauchten, um zu übernachten, und abgewiesen wurden. Das ist sehr wichtig für Oma. Plötzlich kommt meine Mutter aufgeregt zu uns ins Wohnzimmer gejoggt und steht mitten in unserer Stille, atmet laut, eine Plastikschüssel voller Fritten im Arm. Sie trägt eine dunkelblaue Strumpfhose, eine Schürze und auf dem Kopf eine Wollmütze. Sie hat einen Jutebeutel über der Schulter, den sie grinsend unter die Tanne wirft. „Erstmal Fraatzen“, sagt sie breit und grinst, „zweimal Echtbier für die Tanten und einmal Malzbier für den Dicken“. Sie lacht mit offenem Mund, stellt drei Dosen auf den Tisch und öffnet sie zischend. Ich greife in die heißen Fritten, die nach würzig-altem Öl duften, meine Mutter strahlt und sagt: „Wellenschnitt, das sind die besten! Gesalzen und ein bisschen Paprikagewürz.“ 13 /
„Danke, Mama“, sage ich, „ein echtes Weihnachtsessen“, und schiebe mit dem Löffel Sauce aus dem Saucenbottich auf meinen Suppenteller. Eilig verschlinge ich die krossen Fritten, lobe die Spezialsoßenmischung meiner Mutter, die ich eigentlich nicht besonders mag, sie schmeckt einfach nur wie alle Soßen in unserem Kühlschrank auf einmal, aber das ist nun mal ihr Rezept, ihre Erfindung und sie ist stolz darauf. „Ah“, sagt sie, „davon könnt ich mich ernähren, trinken könnt ich das, den ganzen Tag nur diese Soße. Da is alles drin, Cocktail, Karibik, Amerika, Obst und Frittenbude. Das ganze Leben ist da drin.“ Ich hocke mich vor die blinkende Plastiktanne. „Oma?“, frage ich und Oma nickt. Meine Mutter hockt sich neben mich und fast gleichzeitig reißen wir die rotglänzende Verpackung von den Geschenken. „Boah“, ruft meine Mutter, „todschick!“ Und wir ziehen beide unsere neuen Winterjacken an, schnüren unsere neuen Winterstiefel. Die Jacke ist dick und gut gepolstert. Oma sitzt in ihrem Fernsehsessel und lächelt so selig, als seien wir Helden aus ihrer Serie. Ich stehe auf, küsse sie auf die Stirn. „Aber“, ruft meine Mutter, „der Winter ist doch jetzt fast vorbei. Weihnachten ist doch immer der kälteste Tag des Jahres“, sie sieht aus dem Fenster und überlegt, „Schnee und alles“. „So ein Quatsch“, sage ich, „der richtige Winter geht doch jetzt erst los, Mama.“ „Mir doch egal“, sagt sie, „wenn man draußen ist, kann man gute Schuhe und ne gute Jacke ehwieso immer gut gebrauchen. Hier“, und sie zieht zwei kleine Packungen aus ihrem Jutebeutel, hält sie mir vor das Gesicht, „for you, junger Mann“. Eine Zwölferpackung Kondome und Einwegrasierer. „Mama, was soll ich damit? Ich hab doch gar keinen Bart, nicht mal ein einziges Haar.“ „Eier rasieren! Aber vorsichtig!“, ruft sie, trinkt ihre Dose aus, zerdrückt sie in einer Hand, wirft sie unter den Tisch. „Hab ich gelesen“, sie öffnet die nächste Dose, es zischt, sie sagt: „dass die jungen Dinger da jetzt drauf stehen. Und da muss man mit der Zeit gehen, wenn man Erfolg haben will. Und die Lümmeltüten, du weißt schon. Immer mit Tüte. Du sollst ordentlich zur Schule gehen, dass was aus dir wird. Professor vielleicht, Doktor oder Indschenör, klar?“ /14
„Und für dich, Muddi“, flötet Mama weiter, dreht sich zu Oma um und nestelt in ihrem schmuddeligen Jutebeutel, „zappzarapp!“, und wirft Oma ein buntes Tütchen in den Schoß. „Kressesamen?“, fragt Oma. „Na, weil du doch so gerne Kresse isst, Mama.“ „Achso?“ „Das hast du doch gesagt, oder nicht? Das hast du doch immer gesagt. Kresse, voll dein Ding!“ „Ja, natürlich. Jetzt erinnere ich mich. Kresse! Toll!“ „Also. Siehst du mal.“ „Vielen Dank, mein Schatz.“ „Na, Muddi, ist doch klar, für die beste Muddi der Welt – außer mir jetzt – nur vom Feinsten: Kresse!“ Oma lächelt mich an und ich traue mich nicht, ihr meinen Geschenkkrumen zu geben. Dann sagt sie mit ihrem kleinen Mund: „einsdreivierneun.“ Und ich verstehe nicht, was sie von mir will, ihre Augen leuchten und sie nickt zur Tür. „Geh mal in den Hof“, flüstert sie, „einsdreivierneun.“ In meiner neuen Jacke, mit meinen neuen Schuhen, stiefele ich in den Hof und sehe den roten Klapproller, der mit einem roten Zahlenschloss an den Fahrradständer geschlossen ist. Einsdreivierneun und ich drehe ein paar Runden im matschigen Schnee. Ein Klapproller ist kein Fahrrad, aber ich könnte trotzdem heulen gerade, ich weiß, dass Omas Rente klein ist wie ihre Augen und dass sie werweißwielange gespart haben muss. Ich höre ein Pfeifen von drinnen, schließe den Roller wieder an und renne rein. Meine Mutter steht mitten im Zimmer und bläst was das Zeug hält in die Trillerpfeife, die ich letzte Woche beim Geräteturnen in der Turnhalle gefunden hatte. „Wie geil!“, ruft sie, „Ich wollt schon immer ne Trillerpfeife! Ein geiles Geschenk! Jetzt hab ich auch bald alles zusammen, was man für ein enormes Leben braucht: Ne Industriefritteuse, ne Trillerpfeife, und kalt wird mir auch nicht mehr.“ Sie dreht sich um, nimmt den letzten Krumen unter der Plastiktanne weg und wiegt ihn in der Hand. „Uiuiui“, sagt sie, „schwer! Und schwer ist immer geil! Muddi, halt dich fest!“ Dann gibt sie Oma mein Geschenk. Oma lächelt mich an und zupft mit ihren kleinen Fingern an der Verpackung herum, als wollte sie sie nicht beschädigen, als seien es nicht alte Gratiszeitungen, sondern edles Geschenkpapier. 15 /
Oma muss ein ganzes Jahr gespart haben, sie hat mir einen Klapproller geschenkt und eine Jacke und Schuhe und meiner Mutter auch. Ich habe meiner Oma im Gegenzug einen selbstgetöpferten Aschenbecher geschenkt, den ich im Handarbeitsunterricht gemacht habe und für den ich auch noch eine Vier bekommen habe. Ich hätte ihr gerne etwas anderes geschenkt, aber ich wusste nicht was, ich schätze, ich bin kein guter Schenker. Oma dreht den unförmigen braunen Klumpen liebevoll in ihren Händen hin und her und lächelt. „Darin kann man sehr gut Kresse keimen lassen“, sagt sie mit ihrer kleinen, leisen Stimme und ich nicke. „Danke, Oma“, sage ich. Sie nimmt meine Hand und lächelt: „Wofür? Das war doch der Weihnachtsmann“. Sie beugt sich zu mir und flüstert, als seien wir Verbündete: „Er hat mir gesagt, du bräuchtest einen Roller, damit du vor den Lullimanns wegfahren kannst.“ „Lippmanns“, flüstere ich und nicke. Scheiß ungerechter Weihnachtsmann, finde ich. Warum bringt der Idiot mir einen Roller, Mama eine schicke Jacke und meiner Oma einen hässlichen Aschenbecher und Kressesamen? Mama sitzt da, fröhlich glucksend, neben dem Plastiktannenbäumchen, in Strumpfhose und BH, darüber die neue Jacke und grölt: „Scheiße, ist die warm!“, sie hebt ihre Bierdose in die Höhe und spricht: „Auf meine Mama, auf meinen Sohn, auf scheiß Weihnachten - ich bin die glücklichste Frau der Welt!“ Und dann dreht sie das Radio auf und wir singen jedes Lied mit, das im Radio gespielt wird, ob wir den Text können oder nicht. An Weihnachten wird gesungen, so geht die Tradition. Die erste Woche nach den Weihnachtsferien ist ein Traum. Ich begegne den Lippmanns nicht ein einziges Mal. Wahrscheinlich warten sie jeden Morgen auf mich, aber zu spät, da bin ich längst an ihren keifenden Hunden vorbei und in der Schule. In den Pausen entferne ich mich nie mehr als drei Meter von der Hofaufsicht und nach der Schule verwickele ich irgendeinen Lehrer in ein Gespräch, bis ich sicher sein kann, dass die Lippmanns schon verschwunden sind, dann düse ich mit dem Klapproller nach Hause.
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Auf der Fensterbank im Aschenbecher keimt die Kresse, obwohl Winter ist. Alles scheint sich zum Guten zu wenden. In den Werbepausen zwischen unseren Serien dreht Oma den Ton leise und erzählt meiner Mutter und mir, wie sie sich auf Kressepfannkuchen, Butterbrot mit Kresse und Kressequark freut. Auch meine Mutter ist stolz und überhaupt sehr vergnügt. Sie ist glücklich und verliebt, sie redet sogar davon, dass sie sich einen Job suchen will, wenn sie wieder Zeit dafür hat. Für den Moment noch wolle sie das Glück genießen und die Zeit nutzen, ihren Neuen sehen, so oft es möglich ist. Jeden Abend versucht sie, Oma davon zu überzeugen, dass sie ihn einladen darf, um ihn ihrer Muddi vorzustellen, aber Oma schüttelt stur den Kopf: „Es muss Regeln geben.“ Meine Mutter ist noch jung und nichts ist verloren, das sagt meine Oma immer wieder: „Nichts ist verloren.“ Aber heimlich wissen wir beide, dass meine Mutter schon eine ganze Menge verloren hat. Geld zum Beispiel, das verliert sie ziemlich ambitioniert, immer in der Überzeugung, diesmal müssten die blinkenden Automaten nun endlich zurückzahlen, doppelt und dreifach, was sie ihr bisher so abgenommen haben. Immer wieder verliert sie auch ihre Arbeit, als Zeitungsausträgerin, Kassiererin, Putzfrau, sie hält es selten länger als zwei Wochen irgendwo aus. Ihre Wohnung hat sie schon lange verloren. Meine Oma liebt sie deswegen nicht weniger. Ich übrigens auch nicht. Ich bin nur froh, dass ich Oma habe und bei ihr wohnen kann, dass sie sich um alles kümmert. In der Mitte der zweiten Woche haben die ersten Keimlinge schon Blätter und ich begegne auf dem Schulweg den Lippmanns. Sie haben sich extra für mich früher bereitgestellt und gewartet. Als ich sie sehe, fahre ich auf die Straße und haue mit meinem rechten Bein auf den Asphalt wie ein Schmied auf ein heißes Eisen. Die Lippmanns brüllen mir hinterher, „Wir kriegen dich, Polacke!“, ein Prickeln in den Beinen, ein Beißen in der Brust, ein Grinsen im Gesicht und längst Gardinen vor den Ohren, durch die nur dringt, was ich hören will. Das Bellen ihrer Hunde klingt wie Applaus in meinen Ohren.
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Zuhause tanzt meine Mutter in der Küche vor dem kleinen Radio und frühstückt Salzstangen. Ich setze mich ins Wohnzimmer, mache Hausaufgaben, da kommt sie hereingeschwoft, nimmt mir meine Hefte weg, wirft sie in die Ecke und lacht mich aus. „Kleiner, dicker Streber!“, ruft sie, „komm, ich brauche deinen männlichen Rat! Wir gehen einkaufen.“ „Einkaufen?“, frage ich. „Hast du Geld?“ „Jede Menge“, antwortet sie, „es brechen großartige Zeiten an, Jaromeinchen, ich werde bald wieder arbeiten und wer arbeitet, der soll auch Geld ausgeben.“ „Aber noch arbeitest du doch gar nicht“, sage ich. Ich drehe mich um und sehe Oma an. Sie verzieht den Mund, zuckt mit ihren kleinen Schultern, sieht zu Boden. „Bringt frisches Vollkornbrot und Butter mit, die Kresse ist bald so weit“, flüstert sie. „Papperlapapp“, sagt meine Mutter und zieht mich hinaus auf die Straße. „Was ist denn überhaupt los?“, will ich wissen. „Ich habe vielleicht bald wieder eine Wohnung, Jaromeinchen“, sie strahlt und zerquetscht vor Aufregung beinahe meine Hand. „Hector hat mich gefragt, ob ich bei ihm einziehe. Vielleicht kannst du sogar auch bald einziehen und dann kann er mir einen Job besorgen und vielleicht, weißt du, vielleicht bekommst du sogar noch ein Geschwisterchen.“ „Mama!“, rufe ich. Und sie winkt mit der Hand ab, „Ja, freu dich nicht zu früh, noch ist das Zukunftsmusik. Jetzt brauche ich erstmal ein Geschenk! Ein Geschenk für einen Mann! Und da ist dein Rat gefragt! Was wünscht sich ein Mann?“ „Mama, lass uns Brot und Butter kaufen und dann gehen wir zurück und geben Oma das Geld wieder. Du weißt doch, wie wenig sie hat.“ „Papperlapapp! Wie wärs, wenn ich mir seinen Namen tätowieren lasse? Hector! Hier auf den Bauch? Ist das nicht romantisch? Was sagst du? Oder lieber auf die Schulter?“ „Mama, ich weiß nicht, ich hab Hector noch nie gesehen. Vielleicht wartest du noch ein bisschen, du kennst ihn doch erst zwei Wochen.“
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„Aber ich spür das, dass das jetzt was für immer ist. Er ist ein bisschen wie du. Eigentlich genau wie du. Nur als Mann. Also erwachsen, meine ich.“ „Ach, Mama, komm.“ „Nein, im Ernst. Er ist auch so ein lieber, so wie du, Jaromeinchen. Worüber würdest du dich am meisten freuen?“ „Ich weiß nicht, Mama, ich bin glücklich. Ich würd nur gern, dass Oma keine Probleme bekommt.“ „Bekommt sie nicht. Ich hab bald ne Arbeit und dann zahl ich ihr alles zurück, nicht nur die paar hundert Piepen hier, sondern alles von allen Jahren. Sogar das Taschengeld, das ich als Mädchen bekommen habe, alles: Tausend mal tausend Taler ungefähr. Komm, wir hüpfen“, sagt sie und hüpft los, wie wir das früher manchmal gemacht haben, wenn sie gute Laune hatte, aber da war ich ein Kind gewesen, jetzt will ich nicht mehr hüpfen, Hand in Hand mit meiner betrunkenen Mutter. Ich jogge unentschlossen neben ihr her, weil sie meine Hand nicht los lässt. Ich hoffe, dass niemand uns sieht. Sie kauft eine Flasche Whiskey, eine Krawatte mit aufgedruckten nackten Brüsten und eine aufblasbare Gitarre. „Alles, was ein Mann braucht“, raunt sie, ich nicke und bin nur froh, dass ich sie von dem Tattoo abbringen konnte. Wir kaufen kein Brot, was nicht so schlimm ist, die Kresse braucht noch mindestens eine Woche. Und /20
dann gehen wir in einen riesigen Elektrohandel und gucken uns die neuesten Fernseher an, das haben wir schon früher manchmal gemacht. Fernsehersehen nennt Mama das, manchmal haben wir noch eine Weile an den Konsolen gezockt und dann sind wir wieder gegangen. Aber heute sagt meine Mutter plötzlich „dDn da nehme ich“, zu einem Mann in roter Elektrohandelkleidung. Sie zeigt auf einen riesigen flachen Fernseher. Ich drücke ihre Hand und sage: „Mama.“ Aber sie ist überzeugt, dass es so und nicht anders sein muss. Wir stehen an der Kasse und meine Mutter füllt irgendwelche Zettel aus. Mir ist seltsam schwindelig. „Wann ist Oma nochmal geboren“, fragt sie mich. Ich sehe sie an und sage nur: „Mama, bitte, ich will nicht, dass Oma Probleme bekommt. Lass Oma da raus.“ „Mein lieber Junge“, sagt sie streng zu mir, „jetzt halt aber mal die Luft an. Findest du nicht, dass deine gute, gute Oma sich das verdient hat? Einen ordentlichen Fernseher für die beste Oma der Welt? Nicht diese alte Gammelfunzel!“ Und ich nicke. Der Fernseher wird noch am selben Abend von einem dicken Mann mit Schnurrbart und Sackkarre geliefert. Ein so großes Paket, dass wir es niemals zu zweit hätten tragen können. Als meine Mutter den Karton aufreißt, schnellen Omas Hände vor ihren Mund: „Was habt ihr da gekauft?“, fragt sie. Sie ahnt, was das bedeutet, denke ich. „Na, ein Geschenk“, sagt meine Mutter. „Aber ich brauche keine Geschenke, ihr habt mich doch grad erst beschenkt.“
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„Ffffh, Kresse!“, ruft meine Mutter. „Wie scheiße ist denn Kresse bitte?! Das hast du dir verdient, mal ehrlich! Auf der Kackfunzel macht ihr euch nur die Augen kaputt.“ Sie stellt den neuen Fernseher auf das viel zu kleine Tischchen, der riesige Fernseher steht da wie auf einem Bein, sie prüft mit der Rechten die Standfestigkeit. Als würde sie das täglich tun, zieht sie zwei Kabel aus der großen Pappschachtel und plötzlich läuft der Fernseher. Meine Mutter klatscht in die Hände, Oma und ich müssen uns setzen. Dann sagt Mama zu mir: „Komm, Jaromeinchen, hilf mir, wir hauen die alte Miströhre auf die Straße.“ Wir tragen den braunen Kasten raus und stellen ihn unter die Laterne. „Kann ich den nicht behalten?“, frage ich. „Kommt nicht in die Tüte, denk an deine hübschen Augen“, sie verwuschelt mir die Haare, tritt so fest sie kann gegen den alten Fernseher und verzieht fluchend ihr Gesicht. Dann stützt sie sich auf meine Schulter und hüpft auf einem Bein Richtung Haustür. Nachts wache ich davon auf, wie meine Mutter Oma anschreit, dann höre ich, wie die Badezimmertür geht und kurz danach meine Mutter aus der Wohnung stampft. Das dumpfe Knallen der Wohnungstür, eine polnisch-deutsche Tirade draußen in der Nacht und ein paar Minuten später wieder die Badezimmertür, nur ein leises Schnappen. Wir sind erstmal wieder allein. Ein paar Tage später komme ich aus der Schule und alles ist im Eimer. Der verbogene Klumpen Metall ohne Räder ist mit dem roten Zahlenschloss an den Fahrradständer gekettet, daran erkenne ich ihn wieder. Einsdreivierneun, ich trage den traurigen Rest in den Park und versuche, ob sich irgendetwas zurückbiegen lässt, aber keine Chance. Dann werfe ich den Metallklumpen von der Brücke in den Kanal. Ich werde Oma nicht davon erzählen, ich will nicht, dass sie sehen muss, was die Lippmanns mit ihrem Geschenk gemacht haben. Ich werde weiter so tun, als sei alles gut, als sei Weihnachten eine Werbepause in meinem Leben gewesen und der Roller die unvorhersehbare Wendung. Als sei seitdem alles einfach und leicht und gut, als würde ich gern in die Schule gehen.
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Zu Hause ist das Telefon tot, was nicht so schlimm ist, sagt Oma, wen sollen wir schon anrufen. Ich lächele und zucke mit den Schultern. Ein paar Tage später wird auch der Strom abgestellt, und auch das ist kein Drama, immerhin ist Winter und die Sachen im Kühlschrank können auch in einem Korb auf der Fensterbank gekühlt bleiben. Wir wickeln uns in Decken und Oma sagt, bis zum Sommer sei alles wieder in Ordnung und schließlich sei die Winterzeit sowieso die Zeit der Kerzen und es ist nicht so schlimm, dass wir kein Licht mehr haben. Nur um Punkt sieben Uhr abends haben wir ein Problem. Aber auch das hat Oma bald gelöst. Ich komme aus der Schule und untersuche vor dem Spiegel meinen nackten Körper. Die Lippmann-Brüder haben in den Tagen, in denen ich ihnen mit dem Roller ausgewichen war, offenbar alle Schläge aufgespart und geben mir jetzt jeden Morgen eine Extraportion. Aber auch das ist nicht so schlimm, durch das dicke Polster der neuen Jacke hinterlassen die Hiebe kaum Spuren. Nur ein dumpfes Klopfen, wie von etwas weiter weg, blaue Flecken nur an den Beinen. Oma jedenfalls hat mit den Nachbarn gesprochen und ein Verlängerungskabel durch den Hausflur gelegt. Von sieben bis neun haben wir so Strom, mehr brauchen wir nicht. Eine Decke auf ihren Knien, ihre Hand in meinem Nacken und die Gewissheit, dass es irgendwie weitergeht mit unseren Helden. Solange es Werbung gibt, gibt es die Serie, das ist die Wahrheit. Die Serie ist immer da, jeden Tag. Sie ist unendlich. Eine Lösung ist immer nur eine Lösung für den Moment, und in ihr wohnt schon der nächste Konflikt. Das habe ich verstanden. Harmonie ist nur der Zustand zwischen zwei Katastrophen. An Weihnachten kam der Weihnachtsmann. Und drei Wochen später kommt der Gerichtsvollzieher.
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Meine Mutter ist zurück und sitzt angeknackst auf dem Sofa im Wohnzimmer. Ihr leerer Blick geht aus dem Fenster, raus auf die graue Wand gegenüber. Hector hat sich von ihr getrennt, sie vor die Tür gesetzt und in der Rauferei danach hat sie sich das Bein gebrochen oder Bänder gerissen oder irgendwas, meine Mutter geht nie zum Arzt. Sie hat viel zu große Angst, was der noch alles bei ihr finden könnte. So hat sie sich ihr linkes Bein selbst geschient, mit einem Pantoffelknecht, einem Geschirrhandtuch und Paketband, die Schmerzen im Fußgelenk und ihrer Brust betäubt sie mit EierlikörFanta. Sie sitzt einfach da, während die zwei grauen Männer durch Omas Wohnung laufen. Einer der beiden füllt einen Zettel aus und in dem Moment, als er ihn auf den neuen Flachbildschirm kleben will, springt meine Mutter auf. Sie wankt nicht im Geringsten. Sie steht wie ein Bulle vor einem mickrigen Torero und schnaubt. „Ihr Arschmadenschweinepriestersackratten! Ihr wollt meiner Mutter, meiner armen, kranken, alten Mutter wirklich ihren Fernseher abnehmen? Das wollt ihr wirklich machen? Ihr tickt doch nicht ganz sauber! Wisst ihr, was ich von so Leuten wie euch halte? Genau, gar nichts! Einer alten Frau das letzte Bisschen rauben, das letzte kleine Glück! Wie fühlt sich das an, na?! Mh? Bestimmt prima, ihr blutsaugenden Hängebauchschweine!“ „Malgosia“, sagt meine Oma ruhig, „Malgosia, lass gut sein, Kind. Das ist ihr Beruf.“ Die beiden Arschmaden nicken eifrig. „Achso! Das ist ihr Beruf?! Na, dann! Es tut mir leid, falls ich ausfallend geworden bin. Dann ist das ja alles kein Problem. Wenn man als Dreckssau geboren ist, was soll man dann wohl machen als ein Dreckssaujob anzunehmen und arme, alte Frauen zu bestehlen? Natürlich! Dann habe ich vollstes Verständnis, dass Sie meiner liebsten Muddi ihr letztes kleines Stück Glück wegnehmen wollen. Es ist schließlich Ihr Beruf, sie tun nur Ihre Pflicht!“ „Ganz Recht, Frau Pieckowna“, sagt die Arschmade, die offensichtlich die Chefarschmade der beiden Arschmaden ist und nickt eifrig, „Sie können Ihre Rechnungen nicht bezahlen und dieses Gerät wurde unter Eigentumsvorbehalt erworben und geht jetzt an den rechtmäßigen Besitzer zurück, da nicht davon auszugehen ist, dass sie den Zahlungen auf absehbare Zeit nachzukommen in der Lage sind.“ /24
„Eigentumsvorbehalt?“, ruft meine Mutter und greift nach dem Kresseaschenbecher. „Bittesehr, zwei so freundlichen Arschmaden will ich doch gern behilflich sein beim Diebstahl!“, und sie pfeffert den Aschenbecher mit erstaunlicher Zielgenauigkeit mitten hinein in den riesigen flachen Bildschirm. Der zerspringt nicht, bekommt nur tausend Risse, wie ein Spinnennetz mit einer fetten Spinne in der Mitte. Die Kresse verteilt sich im halben Wohnzimmer. Oma schlägt die Hände über dem Kopf zusammen und flüstert irgendetwas, das im Toben meiner Mutter untergeht. „Bittesehr“, schreit meine Mutter, humpelt mit ihrer Haushaltsprothese zum Fernseher und kippt ihn mit dem kleinen Tischchen, auf dem er steht, einfach um. Er donnert auf den Teppich und beim Aufprall knackt und kracht es. Es ist ein Mordslärm, mein Herz tanzt, ich sehe das Entsetzen in den Gesichtern der Arschmaden, die da stehen in ihren grauen Anzügen, wie Kinder, die man beim Kekseklauen erwischt hat. Mit aller Kraft versucht meine Mutter, den Fernseher wieder in die Höhe zu hieven, aber es gelingt ihr nicht. Sie ächzt leise und in diesem Moment begreife ich, was meine Mutter hier tut. Sie ist eine Heldin, sie kämpft. Auf ihre Art. Was interessieren sie Konsequenzen, was interessiert sie Harmonie. Meine Mutter hat getan, was sie eben für richtig hält, sie hat Oma einen besseren Fernseher besorgt, weil Oma diesen Fernseher verdient. Oma verdient alles, darin waren wir uns einig. Und jetzt tobt sie, wirft einen Aschenbecher in die Ungerechtigkeit der Welt, schlägt, so fest sie kann, mitten hinein in die Regeln der anderen, die ihr erzählen wollen, dass Oma nicht bekommen wird, was ihr aber zusteht, ein verdammter überdimensionaler Fernseher nämlich. Es fährt durch mich hindurch, vom Nacken bis in meine Knie, ich springe auf und neben sie, und gemeinsam heben wir das Fernsehungetüm hoch und gehen damit auf die Arschmaden los, Malgosia und Jaromir. Fast synchron brüllen wir immer wieder: „Bittesehr! Bittesehr!“ Und die beiden Arschmaden weichen zurück, als hätten wir keinen zersprungenen Fernseher in der Hand, sondern Mistforken oder Schwerter. Wir drängen sie aus dem Wohnzimmer, in den Flur, zur Haustür, und als sie im Treppenhaus sind, schwingen wir den Fernseher hin und her und schreien „Bittesehr!“, und werfen ihnen das nutzlose flache Spinnenmonster hinterher, so dass es kra-
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chend die Treppe hinunterpoltert. Dann knallen wir lachend die Tür zu. Meine Mutter schüttelt den Kopf, „Idioten!“, ruft sie, „Diebe! Arschmaden! Eigentumsvorbehalt!“, und legt ihre Hand auf meine Schulter. Wir lachen lange und laut und sogar Oma musst grinsen, obwohl sie dabei den Kopf schüttelt und sagt: „Kinder, Kinder, was habt ihr da nur gemacht?“ Dann verschwindet sie ins Treppenhaus und räumt auf. Der Aschenbecher hat kaum etwas abbekommen, Oma stellt ihn zurück auf die Fensterbank, meine Mutter bröselt später ein paar Scherben hinein und legt obenauf einige der langsam erschlaffenden Kressekeimlinge. „Eine Installation des Widerstands aus Scherben und Kresse“, sagt meine Mutter. Der Aschenbecher steht da wie ein kleiner Pokal in Omas Wohnzimmer. Der neue Fernseher ist kaputt, der alte längst verschwunden. Irgendjemand musste ihn sich sofort geschnappt haben. Sicher steht er irgendwo in einem alten Keller oder in einem Kinderzimmer und irgendjemand kann dort jetzt in Seelenruhe unsere Serie sehen. Wir haben nichts mehr, nicht mal mehr die Aussicht auf Kresse. Wir sitzen zu dritt im Wohnzimmer und wissen nicht, wohin mit unseren Blicken. Das Tischchen steht wieder, darauf ist nichts. Ein Loch im Wohnzimmer. Ich überlege, wie es weitergeht. Tom hat sich von Ella getrennt, sie ist erschüttert, als Tom ihr sagt, er liebe sie zu sehr, es sei zu ihrem Besten. Sie glaubt ihm nicht, auch Ella ist empört und stellt ihn zur Rede, sie will ihn begreifen, Tom bricht fast zusammen. Herr Fresenbeck liegt nach seinem Herzinfarkt noch im Krankenhaus. Ich kann mir denken, dass es schwer wird für ihn, sein Leben neu zu ordnen. Er ist überarbeitet, aber wird er es schaffen, einen Ausweg zu finden? Ich glaube kaum. Er wird versuchen, den Starken zu markieren, um seine Familie nicht zu besorgen. Da liegt die nächste Katastrophe schon begraben. Oma sagt: „Alles wird gut!“, und legt ihre warme Hand in meinen Nacken und ich denke: Das wird es nicht. Nichts wird jemals gut. Solange es Werbung gibt, wird gar nichts gut, weil eine Serie eben so funktioniert, dass es Probleme gibt. Probleme, die einen interessieren und die Platz machen für Werbung.
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In meinem Ohr verwandelt sich das Keifen, Knurren und Bellen in etwas vollkommen Unbedrohliches, wie das Poppen von Popcorn oder das Krachen eines Bonbons, das man zerbeißt, das Klatschen, wenn man in einen ruhigen See springt. Ich stelle mir die Worte der Lippmann-Brüder vor und wie sie durch meine Ohrmuschel in den Kopf gelangen, ich stelle mir das Ohr von innen vor, als eine Art Trichter, an dessen Ende ein kleiner Nippel hin- und herwackelt und in mein Gehirn schreibt: Blablabla, hör mal: Popcorn! Bonbon! Sommersee! Ich stelle mir mein Herz vor, wie es hinter meinen Rippen schlägt und Blut durch meinen Körper pumpt. Ich höre kaum, was die Lippmanns sagen, ich denke an meine Mutter und wie wir gestern mit den zwei Arschmaden fertig geworden sind und wie meine Lungen aus der ganzen Luft immer nur das Brauchbare rausfiltern, damit ich laufen und denken und die beiden Brüder ignorieren kann. Sie treten mir in die Beine und ich stelle mir mein Skelett vor und das Zusammenspiel aller Muskeln und Sehnen, damit ich nicht hinfalle. Ein Wunderwerk der Natur, denke ich, und: Gleich ist es geschafft, noch zweihundert Meter bis zum Schulhoftor. „Polackhurensohn“, sagt er kleine Lippmann und da sehe ich ihn an. Er grinst und fasst mir ins Gesicht. Ich laufe weiter, konzentriere mich auf meine Füße, nur auf meine Füße, stelle mir vor, dass wir vor ein paar zigtausend Jahren noch auf allen Vieren gelaufen sind und denke, wie wir wohl auf die Idee gekommen sind, uns auf die Hinterbeine zu stellen. „Was ist mit deiner Hurenmutter? Ich hab gehört, sie ist asozial, ne Alki-Nutte? Bist du eigentlich ein Fickunfall? Du siehst nämlich so aus, Polacke!“ Da bleibe ich stehen. Ich drehe mich langsam um. Die Lippmanns bleiben auch stehen, damit haben sie nicht gerechnet. Ich sehe sie an und lächle ganz leicht, wie meine Oma am Abend ab Punkt sieben Uhr. Sanft und milde. Manchmal muss der Held aktiv werden. Etwas wagen. Ich sage: „Ihr habt so ein schönes Haus. Ihr habt so gesunde Hunde. Ihr habt so ein schönes Leben. Große Autos, einen schönen Garten.“ Zwei weiße Fahnen aus Lippmannatem stehen vor mir in der beißend kalten Morgenluft. Ich sehe in den Himmel, dann in die Gesichter der beiden. Das nervöse Augenzucken des Kleinen, die raue Hand des Großen, darin die beiden Lederleinen, mit denen er
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die angriffsbereiten Hunde vor seinen Knien hält. Meine Stimme ist ruhig und fest. „Habt ihr nicht eigentlich manchmal Angst, dass das alles kaputt gehen könnte?“ Ich schnipse mit dem Finger. „Einfach so? Stellt euch das mal vor: dass jemand eure Hunde vergiftet! Sowas passiert. Lest ihr keine Zeitung? Irgendwer wirft vergiftetes Fleisch über den Zaun, und zack. Oder nachts, wenn ihr alle schlaft, zündelt irgendwo jemand rum und euer schönes, großes, weißes Haus brennt ab. Euch würde sicher nichts passieren, ihr habt ja Feuermelder und würdet bestimmt schnell im Schlafanzug im Garten stehen. Aber es wäre doch schade um euer Haus, die Möbel, die Autos in der Garage, die Bilder an den Wänden. Oder? Ihr habt so viel zu verlieren. Ihr seid wie dafür gemacht. Ich meine, schaltet mal den Fernseher ein. Da dreht dauernd einer durch, rächt sich, läuft Amok. Einfach so. Aus Hass auf die Menschheit oder weil ihr so hässliche Gesichter habt. Es gibt so Menschen. Die fressen alles in sich hinein und dann plötzlich: Zack. Explodieren sie. Da sollte man vorsichtig sein.“ Und ich gehe einen Schritt auf die Lippmanns zu und sehe sie an, stehe viel zu nah bei ihnen und ich versuche, dem großen Lippmann direkt in die Augen zu gucken, und dann summe ich eine kleine Melodie, die Titelmelodie meiner Lieblingsserie, ich weiß nicht warum. Die beiden stehen da wie angewurzelt, wie zwei Arschmaden, wenn meine Mutter mit einem Fernseher um sich wirft. Ich drehe meinen Kopf und sehe dem kleinen Lippmann ins Gesicht, meine Nase ist von seiner nur ein paar Zentimeter entfernt, es ist so verflucht still, ich kann seinen Atem hören. Nichts passiert. Und dann belle ich dem Lullimann laut und krachend in sein Gesicht. Ich drehe mich um und gehe. Einfach weiter. Mein funktionierender Körper, ein funktionierendes Lächeln im Gesicht, ich stelle mir die Muskeln in meinen Lippen vor.
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CLIFFHANGER Finn-Ole Heinrich www.finnoleheinrich.de Gestaltung: Dirk Uhlenbrock, www.ersteliga.de © für diese Ausgabe 2011 Edition Schmitz www.schmitzbuch.de