FD – Fremdsprache Deutsch, Leseprobe Sonderheft 2016

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www.FremdspracheDeutschdigital.de

Sonderheft 2016

Verkaufspreis: € (D) 14,95

FREMDSPRACHE

DEUTSCH

Zeitschrift für die Praxis des Deutschunterrichts

Deutschunterricht für Lernende mit Migrationshintergrund

9 783503 166497


© iStock/Zurijeta

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Tel.: +49 (0)89 9602-9603 Fax: +49 (0)89 9602-286 E-Mail: kundenservice@hueber.de www.hueber.de


Inhalt Sonderheft  4

EINFÜHRUNG

HINTERGRUND

10

Sandra Drumm / Ute Henning Bildungs- und Fachsprache als Herausforderung und Ziel der sprachlichen Bildung von Fluchtmigrantinnen und -migranten

15

Claudia Popov-Jenninger Ausgangsbedingungen und Anspruch des schulischen DaZ-Unterrichts in der Sekundarstufe

Ellen Schulte-Bunert Umsetzung des Mehrstufenmodells. Die Notwendigkeit langfristiger sprachlicher Eingliederung

KONZEPTE

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21

Ulrich Dronske Zum Einsatz des deutschen Sprachdiploms in Vorbereitungsklassen

25

Christian Gill / Bettina Rick Heterogenität und Differenzierungsmaßnahmen in Bremer Vorkursen der Primarstufe

30

Karin Aguado Deutsch lernen mit Chunks

34

Stefan Brömel Herausforderung Differenzierung im DaZ-Unterricht

Polichronia Thomoglou Kompetenzorientierter DaZ-Unterricht in Intensivmaßnahmen – ist das möglich? Ein Praxisbeispiel

40

Isabel Fuchs / Theresa Birnbaum / Britta Hövelbrinks »Das sind schon so Sachen, die sie halt wissen müssen« Neu zugewanderten Schülerinnen und Schülern schulische Routinen vermitteln

Katja Baginski »Magnet. Ich verstehe. Ich hatte im Irak.« Erfahrungen und Kompetenzen aus den Herkunftsschulen erkennen und nutzen

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PR A XIS

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Ulrich Dronske / Christian Fandrych / Britta Hufeisen / Imke Mohr / Ingo Thonhauser / Rainer E. Wicke Es gibt viel zu tun ... Deutschunterricht für Lernende mit Migrationshintergrund

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Theresa Kuss / Rainer E. Wicke Lebensweltliche Kunst als Auslöser sprachlicher Prozesse im DaF/DaZ-Unterricht

Gesa Heinrich / Elfriede Kato / Imke Mohr Heterogenität als Gewinn und Herausforderung. Zwei Unterrichtsbeispiele


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52

Sigrid Unterstab Theaterarbeit in Willkommensklassen

57

Sabine Bühler-Otten Ein Zeitungsprojekt in einer internationalen Vorbereitungsklasse am Gymnasium Hamm

Siegfried Steinmann Ein Modell zur Weiterbildung in Deutsch als Zweitsprache für Lehrende aller Schulformen: »Fremde Praxis«

61

Christoph Merkelbach / Sandra Sulzer Zwei Modelle zur Unterstützung ehrenamtlicher Spracharbeit mit Geflüchteten

66

Diana Feick Methodenvielfalt in der Alphabetisierungsarbeit mit Migrantinnen und Migranten

72

Alexis Feldmeier / Stefan Markov Konzepte und Lernmaterialien in der DaZ-Alphabetisierung

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FORT- / W EITERBILDUNG

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ALPHABETISIERUNG

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Alexis Feldmeier / Stefan Markov Sprachlerncoaching zur Förderung der Lernerautonomie im DaZ-Unterricht

W EITERE INITIATIVEN

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78

Caterina Mempel Dialogisches Lesen. Frühe Spracharbeit mit Bilderbüchern

Bora Bushati / Lisa Niederdorfer / Daniela Rotter Ehrenamtlicher Deutschunterricht mit Geflüchteten. Spracherwerbstheoretische und didaktische Überlegungen für die Praxis

83

Tanja Fohr Raus in den Alltag: Deutsch lernen außerhalb des Klassenraums

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■■ 88

Linda Alphei / Astrid Lange / Vimansani Pathirana / Kelly Clara de O liveira Eine Stimme, die jeder versteht… Kulturelle Orte in Kassel aus der Perspektive von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten

91

Rebecca Zabel Deutschkurse für Geflüchtete: Bausteine der Unterrichtsplanung

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Rubriken  3

Editorial / Impressum

95

Unsere Autorinnen und Autoren


Editorial Liebe Leserinnen und Leser, kaum eine Frage beschäftigt uns alle im Moment so sehr wie die, wie wir geflüchtete Menschen in ihrem neuen Leben und Alltag in Deutschland unterstützen können. Deutsch­ lernen ist der Schlüssel zu ihrer gesellschaftlichen Partizipa­ tion, jedoch sind viele Schulen, Kindergärten, Volkshoch­ schulen, Universitäten und Hochschulen, außerschulische Initiativen und Institute – und vor allem viele Lehrkräfte, Lernbegleiterinnen und Lernbegleiter – auf die Aufgabe, Geflüchtete in ihrem Spracherwerb zu fördern, nicht ausrei­ chend vorbereitet. Angesichts dieser besonderen Situation haben der Erich Schmidt Verlag sowie die Herausgeberinnen und Herausgeber von Fremdsprache Deutsch beschlossen, mit dem vorliegenden Sonderheft Orientierungshilfe und prak­ tische Hilfestellungen zu geben, um diese wichtige Arbeit zu unterstützen. Dies übrigens zum zweiten Mal in der Geschichte der Zeitschrift: 1991 gab es schon einmal ein Sonderheft in einer gesellschaftspolitisch bewegten Zeit mit dem Titel „Deutsch für Aussiedler“.

Impressum Zeitschrift für die Praxis des Deutschunterrichts, herausgegeben vom Vorstand des Goethe-Instituts und Christian Fandrych, Britta Hufeisen, Imke Mohr, Ingo Thonhauser, Rainer E. Wicke und Ulrich Dronske als korrespondierendes Mitglied der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen Schriftleitung und Vertretung des Goethe-Instituts: Imke Mohr (kommissarisch) Internet: www.fremdsprachedeutschdigital.de Verlag: Erich Schmidt Verlag GmbH & Co. KG, Genthiner Str. 30 G, D-10785 Berlin, Tel.: +49 (0)30250085-223, Fax: +49 (0)30-250085-275 E-Mail: Abo-Vertrieb@ESVmedien.de Internet: www.ESV.info Redaktion: Lena Posingies Gestaltung und Realisation: Erich Schmidt Verlag Anzeigenleitung: Erich Schmidt Verlag & Co. KG Titelbild: © dpa, Britta Pedersen Themen der nächsten Hefte: • INNOCLILiG • Phonetik • Großgruppendidaktik Bezugsgebühren im Abonnement: Jahresabonne­ ment Printausgabe u (D) 18,–, Einzelbezug Print­ausgabe je Heft u (D) 10,50, jeweils einschließlich 7 % Mehrwertsteuer und zuzüglich Versandkosten. Sonderheft: u (D) 14,95, Abopreis u (D) 12,95.

Diese Ausgabe von Fremdsprache Deutsch umfasst 18 Bei­ träge, die eng mit weiteren sieben Beiträgen verschränkt sind, die der Verlag Ihnen frei zugänglich auf seiner Website anbietet. Damit liegt Ihnen die umfassendste Ausgabe der Zeitschrift vor, die es jemals gegeben hat. Das Heft setzt wie immer einen Schwerpunkt auf die sprachliche Förderung von Schülerinnen und Schülern in der Sekundarstufe 1 und 2; Sie finden jedoch auch Hinweise auf die Spracharbeit mit ganz jungen Geflüchteten, mit solchen in Erstaufnahmeun­ terkünften und mit (z. T. auch nichtalphabetisierten) Erwach­ senen. Das gesamte Heft und einzelne im Heft erschienene Beiträge als Download ()  sowie Suchfunktionen finden Sie wie immer unter www.fremdsprachedeutschdigital.de. Mit den besten Grüßen Imke Mohr Goethe-Institut

Fremdsprache Deutsch Bezugsgebühren im Abonnement: Jahresabonnementpreis eJournal u (D) 16,44 bzw. Monatsnettopreis u (D) 1,15, Einzelbezug eJournal je Heft u (D) 10,–, jeweils einschließlich 19 % Mehrwertsteuer. Die Bezugsgebühr wird jährlich im Voraus erho­ ben. Abbestellungen sind mit einer Frist von 2 Monaten zum 1.1. j. J. möglich. Keine Ersatz- oder Rückzahlungsansprüche bei Störung oder Ausbleiben durch höhere Gewalt oder Streik. Rechtliche Hinweise: Die Zeitschrift sowie alle in ihr enthaltenen einzelnen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme. – Die Veröffentlichungen in dieser Zeitschrift geben ausschließlich die Meinung der Verfasser wider. – Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in dieser Zeitschrift berechtigt auch ohne Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Markenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Die als Kopiervorlage bezeichneten Unterrichtsmittel dürfen bis zur Klassen- bzw. Kursstärke vervielfältigt werden. Auch unverlangt eingesandte Manuskripte

werden sorgfältig geprüft. Unverlangt eingesandte Bücher werden nicht zurückgeschickt. Adresse der Schriftleitung: Dr. Imke Mohr, Goethe Institut e. V., Referentin Fortbildung, Goethestraße 20, 80336 München, Tel.: +49 (0)8915921-344, E-Mail: imke.mohr@goethe.de Bezugsadresse: Erich Schmidt Verlag GmbH & Co. KG, Genthiner Str. 30 G, D-10785 Berlin, Tel.: +49 (0)30-250085223, Fax: +49 (0)30-250085-275, E-Mail: Abo-Vertrieb@ESVmedien.de, Internet: www.ESV.info Konto: Berliner Bank AG, Kto.-Nr. 512 203 101, BLZ 100 708 48, IBAN: DE31 1007 0848 0512 2031 01 BIC(SWIFT): DEUTDEDB110 Kontakt Verlagsredaktion: Lena Posingies, Tel.: +49 (0)30-250085-622 Fax: +49 (0)30-250085-92622 E-Mail: L.Posingies@ESVmedien.de ISBN 978-3-503-16649-7, ISSN 0937-3160 Nutzung von Rezensionstexten: Es gelten die Regeln des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels e. V. zur Verwendung von Buchrezensionen. http://agb.ESV.info/ Druck: Merkur Print & Service Group, Detmold Sonderheft 2016


PR A XIS

© Fotolia/animaflora

»DAS SIND SCHON SO SACHEN, DIE SIE HALT WISSEN MÜSSEN« Neu zugewanderten Schülerinnen und Schülern schulische Routinen vermitteln Die Zielgruppe der neu zugewanderten Kinder und Jugendlichen ohne oder mit geringen Deutschkenntnissen soll möglichst schnell ins deutsche Schulsystem integriert werden. Dabei ist die Vermittlung von Deutsch als Schul- und Bildungssprache Voraussetzung für ihre Teilnahme am regulären Unterricht. Viele Bundesländer haben für diesen Zweck Sprachlern- oder Vorbereitungsklassen eingerichtet. Beobachtungen in diesen Klassen und Gespräche mit den hier tätigen Lehrkräften zeigen, dass für eine erfolgreiche Integration der sogenannten Seiteneinsteigerinnen und -einsteiger ins Schulsystem auch die Vermittlung sprachlicher und sozialer schulischer Routinen eine tragende Rolle spielt. VON ISABEL FUCHS, THERESA BIRNBAUM UND BRITTA HÖVELBRINKS

ANKOMMEN IM DEUTSCHEN SCHULSYSTEM – NEUE SPRACHE, NEUE SCHULE, NEUE ROUTINEN An deutschen Schulen scheint das Schreiben mit der Hand genau geregelt zu sein. Anfänglich dürfen die Schülerinnen und Schüler noch mit dem Bleistift üben. Sobald sie allerdings den ›Füllerführerschein‹ erworben haben, ist der Einsatz des Bleistifts v. a. bei Leistungskontrollen genauso untersagt wie das Schreiben mit roter Tinte. Dass diese Regel für

neu zugewanderte Kinder und Jugendliche, die als Seiteneinsteiger ins deutsche Schulsystem kommen, nicht bekannt ist, zeigen Erfahrungsberichte von Lehrkräften, die in Vorbereitungsklassen in Thüringen unterrichten. So berichtet Christina Richter, Lehrerin in einer solchen Klasse: »Also die meisten kennen das eben, dass man mit dem Bleistift schreibt, dürfen sie ja hier nicht, sie müssen ja mit dem Füller schreiben und dann wissen sie eben


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nicht, wie sie Fehler korrigieren sollen, weil sie sie ja nicht wegradieren können, wenn sie mit dem Füller schreiben«. Jede Schule hat ihre eigenen Regeln und Normen, die entweder Teil einer historisch, politisch und soziokulturell gewachsenen deutschen Schulkultur sind oder die die Einzelschule als eigenes System hervorgebracht hat. Diese sollen hier als schulische Routinen gefasst werden (teilweise werden diese auch mit anderen Begriffen wie Rituale, Ordnung, Schulpraxis, Schulkultur usw. bezeichnet). Sie gelten für alle Akteurinnen und Akteure im Handlungsraum Schule (also Lehrende, Schülerinnen und Schüler, Schulleitungen, Eltern usw.), um den effektiven Ablauf des Schulalltags sicherzustellen (vgl. Fees 2009). Einige von ihnen werden explizit vermittelt, etwa durch Hausordnungen (Abb. 1). Häufig handelt es sich aber auch um kulturell geprägte und implizit vorausgesetzte Regeln und Normen. Alle Schülerinnen und Schüler, die neu an eine Schule kommen, stehen vor der Aufgabe, sich auf neue Räume, Abläufe, Regeln und Zeiten einstellen zu müssen. Für neu zugewanderte Kinder und Jugendliche kann diese Aufgabe eine größere Hürde darstellen, wenn sie wenig Schulerfahrung mitbringen oder sich die bisher kennengelernten Routinen deutlich von den neuen unterscheiden. Hinzu kommt der Umstand, dass diese Schülerinnen und Schüler in der Regel mit keinen oder nur geringen Deutschkenntnissen an den Schulen aufgenommen werden und neben der neuen Sprache nun auch die kulturellen und schuleigenen institutionellen Regeln verstehen und lernen müssen. Dazu gehören z. B. Verhaltensregeln wie Begrüßungsrituale, die Bedeutung von Hausaufgaben, die Funktion von Entschuldigungsschreiben oder die angemessene Vorbereitung auf den Wandertag. Diese Regeln und Verhaltensweisen zu verstehen und adäquat in schulisches Handeln umzusetzen ist eine Lernaufgabe, die im direkten Zusammenhang mit dem zu bewältigenden Spracherwerb dieser Schülerinnen und Schüler steht.

ders Lehrkräfte, die in diesen Klassen unterrichten, stehen hier vor der Herausforderung, nicht nur die deutsche Sprache als Lernwerkzeug für fachliche Inhalte auszubilden, sondern auch sprachliche und soziale schulische Routinen zu erklären und zu vermitteln. In der aktuellen Forschung um den schulbezogenen Erwerb des Deutschen als Zweitsprache wird derzeit v. a. der erste Bereich fokussiert – der Erwerb bildungs- und fachsprachlicher Kompetenzen als Voraussetzung zum Lernen in allen Fächern (z. B. Berendes et al. 2013 oder Röhner / Hövelbrinks 2013). Ansätze, die Schulsprache untersuchen, beziehen sich stärker auf die Institution Schule und schultypische Arbeitsformen (z. B. eine Erörterung im Schüleraufsatz »zu didaktischen Zwecken«, vgl. Feilke 2012, 5). Gemeinsam ist den Konzepten Bildungssprache, Schulsprache, Fachsprache u. a., dass sie gewissermaßen eine Sprache für die Erarbeitung fachlicher Lerninhalte meinen. Das Erlernen schulischer Routinen hingegen kann als Sprache für die Organisation von Unterricht und Schulleben charakterisiert werden. Dieser Bereich schulischer Rahmen- und Arbeitsbedingungen wird deutlich seltener berücksichtigt, so z. B. von Eike Thürmann in seinem erweiterten Konzept von Schulsprache: Es geht dabei darum, dass Schüler u. a. in der Lage sind, schriftlich wie mündlich übermittelte schulrechtliche und schulorganisatorische Vorgaben (z. B. Schulordnung, Versetzungsordnung), Informationen zur Organisation des Schullebens und des Unterrichtsbetriebs (z. B. Stundentafeln, Mitteilungen der Schulleitung) zu verstehen und unter Wahrnehmung der eigenen Interessen angemessen darauf zu reagieren (z. B. beim Abfassen von Entschuldigungen, beim Einlegen von Widersprüchen, bei der Partizipation in Gremien der Schülervertretung). (Thürmann 2013, 137) An anderer Stelle wird von der sogenannten classroom language gesprochen, »die das Basisvokabular zur praktischen Organisation von Unterricht betrifft« (Feilke 2012, 7). Bisher scheint nicht geklärt zu sein, was genau dieses »Basisvokabular« ausmacht und wie es vermittelt und erworben wird. Deutlich

SCHULISCHE ROUTINEN ALS TEIL DES SPRACHERWERBS IN DER SCHULE Bei der schulischen Integration von Seiteneinsteigerinnen und -einsteigern haben die Bundesländer unterschiedliche Konzepte und Lösungen gefunden. Häufig lernen die Schülerinnen und Schüler zunächst einige Monate in sogenannten Vorbereitungsklassen intensiv die deutsche Sprache, bevor sie in den Regelunterricht integriert werden. Beson-

Abb. 1: Ins Arabische übersetzte Hausordnung der Lobdeburg-Gemeinschaftsschule Jena (Auszug)


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wird, dass dieser Lernbereich eng mit sprachlichen Lernprozessen zusammenhängt. Ein Teil von ihnen ist bereits sprachlich (z. B. organisatorische Aufforderungen der Lehrkraft im Plenum, Gesprächsregeln in der Klasse); wiederum andere Verhaltensroutinen sind zwar nur bedingt oder nicht (mehr) sprachlich, können jedoch trotzdem sprachlich vermittelt werden (z. B. Erläuterung von Pausenregeln, schriftliche Regelung von Tafeldienst). Diese sozialen und sprachlichen Schulroutinen, die für die erfolgreiche Teilnahme am Unterricht von zentraler Bedeutung sind, wollen wir im Folgenden näher beleuchten. Durch den Zugang zu Vorbereitungsklassen als neuem Forschungsfeld1 konnten wir beobachten, wie schulische Routinen an neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler vermittelt werden. Diese ersten Beobachtungen in Vorbereitungsklassen sowie Gespräche mit Lehrenden deuten darauf hin, dass schulische Routinen von den Lehrkräften unterschiedlich umgesetzt und vermittelt werden. Dabei stellt sich die Frage, welchen Stellenwert die Lehrkräfte der Vermittlung schulischer Routinen zuschreiben und welche Bedeutung sie dem Vorkurs, als geschütztem Raum für die Neuankömmlinge, beimessen. Erste Antworten auf diese Fragen gibt das Interview mit einer Lehrkraft für Deutsch als Zweitsprache (DaZ) aus Jena, die uns Einblick in ihre Strategien zur Vermittlung schulischer Routinen gibt.

PRAXISBEISPIEL: BERICHT EINER DAZLEHRKRAFT – SCHULROUTINEN IN VORBEREITUNGSKLASSEN Christina Richter, Deutsch als Zweitsprache-Lehrerin an der Lobdeburg-Gemeinschaftsschule Jena, unterrichtet mit ihrem Kollegenteam neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler der 1. bis 11. Jahrgangsstufe in der Zweitsprache Deutsch. Auf die Frage nach relevanten Regeln in ihrer Schule sowie ihrem Unterricht benennt sie zunächst schulspezifische Verhaltensregeln (z. B. das Verbot zur Benutzung von Handys im Unterricht), die für alle Schülerinnen und Schüler unübersehbar im schuleigenen Hausaufgabenheft nachzulesen sind. Für die vielen arabischsprachigen Lernenden und Eltern sind sie auch in übersetzter Form vorhanden (vgl. Abb. 1). Andere – implizite – Regeln werden als den Schülerinnen und Schülern bekannt vorausgesetzt. Hinzu kommen klassenspezifische Regeln, die von den jeweiligen Lehrenden festgelegt werden. Die Fülle an teilweise ungeschriebenen Verhaltensregeln stellt für ihre Lernenden am Anfang immer eine Herausforderung dar, erzählt Richter. Obwohl ihre Schülerinnen und Schüler von Anfang an stundenweise den Regelunterricht besuchen und

sich dort am Verhalten der Mitschülerinnen und Mitschüler orientieren, gebe es noch viele Stolpersteine: »Dass sie diese zehn Minuten eher da sein sollen, damit sie sich unterrichtsfertig machen können, dass sie ihre Federmappe rauslegen und ihren Block und ihr Schreibzeug. Das ist auf jeden Fall am Anfang was, was man sehr lange lernen muss, weil das nicht automatisiert ist, noch nicht«. Oder: »Dass sie sich melden müssen, aber dabei auch ruhig sein sollen, das hat ganz lange gedauert«. Ihren Sprachunterricht hat Richter zunächst mit den Routinen gestaltet, die wichtig sind, um die Unterrichtsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler aufrecht zu erhalten. Nach und nach integriert sie dann schulische Routinen wie Tafeldienst, Hausaufgaben und Notengebung. Viele dieser Regeln vermittelt sie nach dem »Schallplattenprinzip«, thematisiert sie immer wieder. Dabei lobt sie positive Verhaltensweisen und bezieht Schülerinnen und Schüler, die schon länger im Kurs sind, ein, um Neuankömmlingen Regeln und Aufgaben zu erklären. Des Weiteren macht sie ihre Lernenden mit dem Sozialraum Schule vertraut, indem sie mit ihnen einen Schulrundgang macht und z. B. die Aufgaben des Sekretariates erklärt. Die Vermittlung von Schulroutinen ist gleichzeitig eine Sprachlernaufgabe und stellt als solche auch sprachdidaktische Anforderungen an die Lehrkraft. Richter hat verschiedene Strategien entwickelt, um schulsprachliche Routinen zu vermitteln. Als Sprachlehrerin achtet sie darauf, handlungsbegleitend zu sprechen: Sie unterstreicht ihre Aufforderungen mimisch und gestisch, z. B. durch das Öffnen des Lehrbuchs. Dabei achtet sie auf einheitliche Formulierungen. Wie wichtig Sprachsensibilität für die Unterrichtskommunikation sein kann, zeigt folgendes Beispiel. Einmal habe Richter statt der üblichen Aufforderung »Nehmt euch das Buch. Öffnet das Buch.«, den Schülerinnen und Schülern die Anweisung gegeben: »Schlagt das Buch auf.« Die Reaktion schildert Richter wie folgt: »Da saßen die Schüler da und haben so auf die Bücher eingeschlagen. Da hab ich gefragt: ›Was macht ihr denn jetzt?‹ und die Schüler antworteten: ›Sie haben doch gesagt: Schlagt das Buch.‹«. Um solche Missverständnisse zu vermeiden, führt die Lehrerin für die Unterrichtskommunikation relevante Handlungsverben transparent und schrittweise ein. Inzwischen sind ihre Lernenden bereits selbst sensibel für sprachliche Schulroutinen und fordern von der Lehrkraft auch Routineausdrücke ein, um ihre kommunikativen Bedürfnisse zu erfüllen. Deshalb haben sie mit Richters Hilfe Sätze, die sie im Unterricht immer wieder brauchen, auf Deutsch,


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Englisch und Arabisch erarbeitet, jeweils durch ein Bild illustriert und gut sichtbar im Klassenraum aufgehängt (vgl. Abb. 2). Auch Aufgabenformate für Hausaufgaben oder in Tests müssen gesondert erklärt werden. Besonders Schülerinnen und Schüler ohne Schulerfahrungen tun sich nach Richters Erfahrung schwer, Aufgabenmuster zu erfassen und fortzusetzen. Weil sie weiß, dass auch die Form der Antwort im Regelunterricht zählt, bereitet sie ihre Lernenden auf Aufgabenformate vor, macht z. B. an der Tafel vor, wie sich Ankreuzen und Einkreisen voneinander unterscheiden. Christina Richter hält den Vorbereitungskurs für einen geeigneten Raum für diese Erklärungen. In einer geschützten Gruppe, in der das Vermittelte für alle relevant ist, seien Korrekturen und Erläuterungen sensibler möglich und auch zeitlich besser einzubetten als für eine Fachlehrkraft, die ihren Unterricht extra unterbrechen müsste, um einem Schüler zu sagen, dass er etwas nicht mit Bleistift schreiben darf. Vielmehr sei ihr der Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen wichtig. Sie findet es verständlich, dass Klassenlehrerinnen und -lehrer nicht jede Regel, die in ihrer Klasse oder der Schule herrsche, neuen Lernenden erklären. Sie gibt dem Kollegium auch Tipps zur sprachsensiblen Kommunikation mit den Eltern. So empfiehlt sie unter anderem Elternbriefe mit Fotos zu illustrieren, wenn zum Beispiel ein Wandertag ansteht. Ein Begriff wie »festes Schuhwerk« sei beispielsweise für neu zugewanderte Zweitsprachenlernende ein unbekanntes Konzept: »Da weiß doch kein Elternteil, das gerade erst im A1-Kurs sitzt, was soll denn ›festes Schuhwerk‹ sein?«. Richter selbst lerne allerdings auch selbst immer etwas über die Regeln der Schule dazu. Viele davon seien auch nicht niedergeschrieben, sondern würden einfach gelebt. Dass sie als Deutsch als Zweitsprache-Lehrerin die Aufgabe hat, Seiteneinsteigerinnen und -einsteigern schulische Regeln zu vermitteln, sei ihr am Anfang noch nicht bewusst gewesen und es sei teilweise auch keine leichte Aufgabe, wenn man als Lehrkraft selbst neu an einer Schule ist.

FAZIT: VERMITTLUNG SCHULISCHER ROUTINEN ALS AUFGABE FÜR SPRACHLEHRKRÄFTE UND FORSCHUNG Wenn Vorbereitungsklassen das Ziel verfolgen, Schülerinnen und Schüler auf die Teilnahme am Regelunterricht deutscher Schulen vorzubereiten, dann ist neben der Vermittlung sprachlicher und fachlicher Grundlagen auch die Unterstützung von

Abb. 2: Von Lernenden erstellte mehrsprachige Gedächtnisstützen zu schulischen Routinen

sprachlichem und sozialem Verhalten, das im aktuellen und zukünftigen Schulalltag von ihnen erwartet wird, notwendig. Lehrkräfte in Vorbereitungsklassen müssen daher sensibel für diese impliziten und expliziten Regeln des Schulalltags sein und benötigen didaktische Strategien, um diese gezielt vermitteln zu können. Lehrkräfte, die als berufliche Quereinsteiger (z. B. Absolventen eines Deutsch als Fremd- und Zweitsprache-Studiums) an die Schulen kommen, können teilweise nur noch aufgrund ihrer eigenen Schulerfahrungen auf diese Kenntnisse zurückgreifen. Lehrkräften, die selbst in anderen Ländern zur Schule gegangen sind, fehlt diese Erfahrung mit der deutschen Schule möglicherweise. Dafür können sie von dem Blick des Außenstehenden profitieren, wenn sie Regeln des schulischen Ablaufs betrachten und somit Stolpersteine für zugewanderte Schülerinnen und Schüler erkennen. Bei der Vermittlung von Schulroutinen sind die Einarbeitung der Vorbereitungsklassen-Lehrkräfte und der Austausch im Kollegium wichtig, um beispielsweise durch vergleichbare Unterrichtsorgani-


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Abb. 3: Schulische Routinen vermitteln – Redemittel einführen

Abb. 4: Tipps für die Vermittlung schulischer Routinen an neu zugewanderte Lernende

sation und gemeinsames Formulieren von Regeln in beiden Klassenformen Lernenden einen leichteren Übergang in den Regelunterricht zu ermöglichen. Die Lehrkräfte in Vorbereitungs- und Regelklassen und die Schulleitung jeder Schule stehen dabei vor der Aufgabe, sich auch implizite Regeln ihres Schulalltags (wieder) bewusst zu machen und als Lernaufgabe für neu zugewanderte Lernende anzuerkennen. Die Vorbereitungsklasse bietet den Rahmen und den geschützten Raum, in dem Regeln für Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern transparent gemacht, sprachlich verständlich vermittelt und durch Wiederholung eingeübt werden können. Der exemplarische Blick in die Praxis zeigt Möglichkeiten, wie Lehrkräfte die sprachliche Vermittlung von schulischen Routinen für neu zugewanderte Lernende sinnvoll unterstützen können (vgl. Abb. 3 zu sprachlichen Routinen und Abb. 4 zu Vermittlungsstrategien). Nicht zuletzt hat die aktuelle Debatte um die erfolgreiche Integration der Geflüchteten ins gesell-


»DAS SIND SCHON SO SACHEN, DIE SIE HALT WISSEN MÜSSEN« | 45

schaftliche System dazu geführt, dass die Wissenschaft sich gezielt der Zielgruppe der Seiteneinsteigerinnen und -einsteiger zuwendet. In Bezug auf die Beschreibung von Schulroutinen sowie deren sprachlicher Vermittlung sollte folgenden Forschungsfragen nachgegangen werden: Wie können schulische Routinen als Teil eines erweiterten Konzepts von Schulsprache beschrieben und untersucht werden? Welche Routinen können schulübergreifend beschrieben werden und welche Rolle spielen sie für den Lernerfolg von Seiteneinsteigerinnen und -einsteigern? Welche Kompetenzanforderungen lassen sich daraus für Lehrkräfte formulieren? Welche didaktischen Empfehlungen für die sprachliche Vermittlung schulischer Routinen lassen sich ableiten? Aktuelle Forschungsprojekte, wie das Projekt »Formative Prozessevaluation in der Sekundarstufe. Seiteneinsteiger und Sprache im Fach«, die sich neben Fragen der sprachlichen Integration auch mit Fragen sozialer und kultureller Integration ins deutsche Schulsystem beschäftigen, können dazu einen Beitrag leisten.

ANMERKUNG 1

Das Forschungsfeld der schulischen Integration von Seiteneinsteigerinnen und -einsteigern ins deutsche Schulsystem wird unter anderem im Projekt »Formative Prozessevaluation in der Sekundarstufe. Seiteneinsteiger und Sprache im Fach« von der Friedrich-Schiller-Universität Jena (Prof. Dr. Bernt Ahrenholz), der Universität Bielefeld (Prof. Dr. Udo Ohm) und der Europa-Universität Flensburg (Prof. Dr. Julia Ricart Brede) untersucht.

LITERATUR Berendes, Karin / Dragon, Nina / Weinert, Sabine / Heppt, Birgit / Stanat, Petra: Hürde Bildungssprache? Eine Annäherung an das Konzept »Bildungssprache« unter Einbezug aktueller empirischer Forschungsergebnisse. In: Angelika Redder und Sabine Weinert (Hrsg.): Sprachförderung und Sprachdiagnostik. Interdisziplinäre Perspektiven. Münster 2013: Waxmann, 17–41 Fees, Konrad: Schule als Institution. In: Arnold, KarlHeinz / Sandfuchs, Uwe / Wiechmann, Jürgen (Hrsg.): Handbuch Unterricht. Stuttgart 2009: Julius Klinkhardt, 63–66 Feilke, Helmuth: Bildungssprachliche Kompetenzen – fördern und entwickeln. In: Praxis Deutsch 39. Seelze 2012: Friedrich Verlag, 4–13 Heppt, Birgit / Dragon, Nina / Berendes, Karin: Beherrschung von Bildungssprache bei Kindern im Grundschulalter. In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung 7. Leverkusen 2012: Budrich Verlag, 349–356 Röhner, Charlotte / Hövelbrinks, Britta (Hrsg.): Fachbezogene Sprachförderung in Deutsch als Zweitsprache. Theoretische Konzepte und empirische Befunde zum Erwerb bildungssprachlicher Kompetenzen. Weinheim 2013: Juventa Thürmann, Eike: Deutsch in allen Fächern. Überlegungen zur Förderung bildungssprachlicher Kompetenzen. In: Beutel, Silvia-Iris / Bos, Wilfried / Porsch, Raphaela (Hrsg.): Lernen in Vielfalt. Chance und Herausforderung für Schul- und Unterrichtsentwicklung. Münster 2013: Waxmann, 133–156


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