ZfdPh Zeitschrift für deutsche Philologie Leseprobe Heft 4.15

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D EUTSCHE PHILOLOGIE ZEITSCHR IFT FÜR

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Herausgegeben von NORBERT OTTO EKE, UDO FRIEDRICH, EVA GEULEN, MONIKA SCHAUSTEN und HANS-JOACHIM SOLMS

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Band 134 Heft 4/2015


ZEITSCHRIFT FÜR DEUTSCHE PHILOLOGIE (ZfdPh) Herausgegeben von Norbert Otto Eke, Udo Friedrich, Eva Geulen, Monika Schausten und Hans-Joachim Solms

134. Band 2015 · Viertes Heft GEISTERWISSENSCHAFTEN Der gelehrte Diskurs über Erscheinungen und Gespenster um 1800 von Erika Tho ma l la, Berlin Abstract: Gegen Ende des 18. Jahrhunderts setzt, parallel zur Popularisierung der Schauerund Geheimbundliteratur, auch eine wissenschaftliche Debatte über die Existenz von Gespenstern und die Möglichkeit von Geistererscheinungen ein. Der Beitrag geht der Frage nach, woher diese merkwürdige Faszination der Gelehrten für das Okkulte rührt und zeigt, inwiefern über das Sujet der Gespenster u.a. zentrale Probleme der Psychologie und Erkenntnistheorie, aber auch die Bedingungen und Funktionsweisen des zeitgenössischen Mediensystems verhandelt werden. At the end of the 18th century, a scholarly debate on the existence of ghosts and the possibility of ghostly apparitions emerges, parallel to the popularisation of the Gothic novel. The article considers the reasons for this remarkable fascination with the occult on the part of scholars and shows to what extent the discussion on ghosts negotiates, among other things, problems of psychology and epistemology as well as the conditions and functions of the contemporaneous media system.

I. Erscheinungen als Tatsachen. Die Empirie der Geisterwissenschaften Im Jahr 1833 erscheint in Göttingen eine Schrift mit dem Titel „Neueste Blicke in das abentheuerliche Reich der Gespenster und bösen Geister“, die es zu ihrem Ziel erklärt, dem Gespensterglauben ein weiteres Mal im Namen der Aufklärung ein Ende zu bereiten. Der Autor Sigmund Philipp Paulus folgt dabei einer Publikationsstrategie, die für gespensterkritische Schriften um 1800 charakteristisch ist: Neben einer theoretischen Abhandlung, in der die Nichtexistenz von Gespenstern postuliert wird, werden zeitgenössische Schauergeschichten wiedergegeben und auf ihre Wahrscheinlichkeit hin befragt. So erzählt Paulus u.a. die Geschichte von einem Offizier, der in einem Schloss nahe seines Heimatortes, das angeblich von einem Geist heimgesucht werde, auf mysteriöse Weise zu Tode gekommen sei. Während die Dorfbewohner berich481


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ten, dass der Offizier „nach stundenlangem Kampfe mit dem eingekerkerten Geiste endlich erlegen“ sei, vermutet Paulus, dass der Geisterjäger aus bloßer Erschöpfung gestorben sei, weil er über mehrere Stunden mit einem Gegner gekämpft habe, der in Wirklichkeit gar nicht existierte: Er sticht, er hauet wie wuethend auf ihn los, er will ihn treffen, den verwünschten Geist, trifft aber bald den Ofen, bald die Wand, bald einen morschen Tisch, oder Stuhl, der zusammenstürzt; er fällt, rafft sich wieder auf, er stößt sich und glaubt sich von einem feindlichen Schlage getroffen. Er hauet und sticht wie ein Verzweifelnder, athmet hierbei die verpestete Luft in die geaengstigte, athemlose Brust und alterirt, eschoffirt und erschoepft sich hierbei so uebermaeßig, daß er selbst nach wenigen Tagen ein Opfer seines heldenmuethigen Unternehmens ward.1

Paulus reinterpretiert die Spukgeschichte vom gestorbenen Offizier, indem er ihr ein alternatives Ende verleiht, das allerdings ebenso wenig wie die Geistergeschichte der Dorfbewohner belegt werden kann, sondern auf wenig plausiblen Mutmaßungen beruht. Dadurch werden die Spekulationen um die Ursache des rätselhaften Ereignisses um eine weitere ergänzt, die Geschichte kommt zu keinem Ende, sondern wird fortgesetzt. Dieses Vorgehen ist für die zeitgenössische Gespensterdebatte insgesamt symptomatisch: In hohem Maße werden von gespensterkritischen Autoren eben jene Geschichten immer wieder reproduziert und mystifiziert, die als Gegenstand des Aberglaubens eigentlich eliminiert werden sollen. Im Vorwort seiner Abhandlung thematisiert Paulus den Widerspruch zwischen der Zielsetzung seiner Publikation, den Aberglauben zu beseitigen, und ihren Inhalten. Es sei seine Absicht, so Paulus, einestheils meinen verehrten Lesern eine kleine Unterhaltung aus einem Capitel zu liefern, von welchem man doch noch zuweilen einmal gern etwas hört oder spricht, so wenig man auch daran glaubt, – anderntheils aber auch zu Nutz und Frommen der noch Schwachgläubigen, die Unvernunft solcher widersinnigen Albernheiten und Träumereien so abgeschmackt und entehrend zu machen [...] daß man auch bald nicht einmal noch etwas davon wird hören oder sprechen mögen.2

Das paradoxe Kalkül von Paulus scheint darin zu bestehen, die Zirkulation traditioneller Gespenstergeschichten ausgerechnet durch deren erneute Verbreitung zu boykottieren. Dass die horazische Formel prodesse et delectare dabei ad absurdum geführt wird, weil das Nützliche sich als das exakte Gegenteil des Unterhaltsamen erweist, wird als Widerspruch von ihm nicht weiter problematisiert. Neben dieser bemerkenswerten Kombination von dogmatischen Erörterungen und Geschichtensammlungen kann auch die quantitative Intensität verwundern, mit der um 1800 die Auseinandersetzung mit dem Übersinnlichen betrieben wird. Eine von der Forschungsliteratur regelmäßig repetierte These zu der er1 Siegmund Philipp Paulus: Neueste Blicke in das abentheuerliche Reich der Gespenster und bösen Geister, Göttingen 1833, S. 82. 2 Ebd., S. VI (Hervorhebung E. T.).

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klärungsbedürftigen Faszination des ausgehenden Aufklärungszeitalters für das Okkulte beruht auf der Annahme, dass mit der Verdrängung des Irrationalen aus dem lebensweltlichen Umfeld eine Sehnsucht nach eben diesem Verdrängten entstanden sei, die sich besonders in populären Lesestoffen, d.h. in der Schauer-, Geheimbund- und Liebesliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts, niedergeschlagen habe. Wenn allerdings, wie etwa Richard Alewyn meint, die ästhetische Aneignung des Gespenstischen in der Literatur allererst dadurch möglich geworden sein soll, dass es durch die Rationalisierungsprozesse der Aufklärung aus allen anderen Lebensbereichen „abgeschafft“3 worden sei, dann steht dem schon die Tatsache entgegen, dass Gespenster bei weitem nicht nur in der Literatur vorkommen, sondern auch und gerade im gelehrten Umfeld mit großer Intensität und Ernsthaftigkeit diskutiert werden. Es handelt sich bei Geistererscheinungen offenbar um einen Gegenstand, der einer genaueren Untersuchung und Differenzierung bedarf und dessen Vorhandensein überraschenderweise nicht einfach kategorisch verneint werden kann. Dieser Umstand kann weder durch die Annahme einer Verdrängung irrationaler und okkulter Kräfte im Zeitalter von Aufklärung und Wissenschaft, noch durch die These von einem atavistischen Weiterleben oder einer Wiederkehr dieses Verdrängten in der Literatur4 adäquat erklärt werden. Die Diagnose, dass in der Aufklärungszeit „theoretisch, wie alle Geheimnisse und Wunder, auch die Gespenster aus dem Leben vertrieben“5 worden seien, lässt sich in Anbetracht der seit Mitte des 18. Jahrhunderts jährlich steigenden Zahl an Publikationen, in denen die Möglichkeit von Geistererscheinungen als ernstzunehmende Frage verhandelt wird, nicht halten.6 Die hohe Popularität des Gespensterthemas in Wissenschaft und Publizistik sowie die Tatsache, dass der rationale Diskurs bei der Auseinandersetzung mit diesem Thema vielfach auf literarische Erzählformen zurückgreift, gibt Anlass dazu, die Entgegensetzung zwischen Aufklärung und Aberglaube, Rationalität und Okkultismus und zwischen Wissenschaften und Literatur zu hinterfragen. 3 Richard Alewyn: Die literarische Angst, in: Aspekte der Angst. Starnberger Gespräche 1964, hg. v. Hoimar v. Ditfurth, Stuttgart 1965, S. 24–37, hier: S. 30. 4 Peter Nusser sieht in der Entstehung der Schauer- und Geheimbundliteratur „eine Reaktion auf die Übermacht rationaler Lebensführung“. Ähnlich äußert sich auch Christina Gallo in ihrer Dissertation zum Gespensterbuch von Friedrich Laun und August Apel. Sie vermutet, dass das Gespenstersujet Ausdruck der Sehnsucht nach einem verdrängten Irrationalen sei. Vgl. Peter Nusser: Trivialliteratur, Stuttgart 1991, S. 65; Christina Gallo: „Gerade wenn es mit den Gespenstern aus ist, geht das rechte Zeitalter für ihre Geschichte an“. Untersuchungen zum Gespensterbuch (1810–1812) von Friedrich Laun und August Apel, Taunusstein 2009, S. 43. 5 Alewyn [Anm. 3], S. 35. 6 Vgl. dazu die ausführliche Bibliographie im zweiten Band von Samuel Christoph Wageners Anthologie „Neue Gespenster“ mit mehr als 700 Titeln, von denen der Großteil in die letzten drei Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts fällt. Samuel Christoph Wagener: Neue Gespenster. Kurze Erzählungen aus dem Reiche der Wahrheit, Bd. 2, Berlin 1801, S. XI–LXVII.

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Yvonne Wübben hat im Hinblick auf die Verschränkung von Gelehrten- und Gespensterdiskurs in der Mitte des 18. Jahrhunderts die Beobachtung gemacht, dass die Gespenster – gerade aufgrund ihres uneindeutigen Status zwischen Wissenschaft, Volksglauben und Literatur – ein interdiskursives Phänomen darstellen, das sich in besonderer Weise dazu eignet, Fachdiskurse auf populäre Art und Weise an ein breiteres Publikum zu vermitteln. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Sujet rühre demnach nicht primär daher, dass Spuk und Aberglaube noch immer nicht gänzlich aus den Köpfen des Publikums vertrieben seien, sondern umgekehrt eigne sich die Wissenschaft den Stoff gezielt an, um sowohl neues und zweifelhaftes Wissen aus dem Bereich der Medizin, der Psychologie, der Physik oder der Erkenntnistheorie zu verhandeln, als auch „bereits anerkanntes, etabliertes Wissen gebündelt zu präsentieren.“7 Diese These muss im Hinblick auf die Gespensterdebatte im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert erweitert und modifiziert werden. Denn die wissenschaftliche Partizipation am Gespensterdiskurs kann nicht nur als souveräner Akt der Aneignung verstanden werden, bei dem das populäre Sujet strategisch genutzt wird, um fachspezifische Thesen und Theoreme einem ungelehrten Publikum zu vermitteln. Vielmehr scheinen mit dem Thema der Gespenster auch Fragen verbunden zu sein, die an das Grundverständnis der aufklärerischen Wissenschaften selbst rühren und deshalb eine Auseinandersetzung in gewisser Weise erzwingen. Die Aufklärung, so die These, sieht sich im okkultistischen Diskurs in mehrfacher Hinsicht mit ihren selbstproduzierten Gespenstern konfrontiert und ist gerade deshalb nicht in der Lage, das Thema abschließend zu klären oder es einfach zu verabschieden, sondern trägt umgekehrt entscheidend zu dessen diskursiver Hervorbringung und Verbreitung bei. Ein erster Punkt, der das Verhältnis der Gelehrtenwelt zum Okkulten charakterisiert, betrifft die Erschließung einer neuen Welt des Unsichtbaren. Im Zuge der Erforschung von Kräften wie Magnetismus oder Elektrizität, die zwar menschliche Wahrnehmungsschwellen unterschreiten, aber dennoch wahrnehmbare Effekte verzeichnen, sowie der Entwicklung von Visibilisierungstechniken wie der Laterna Magica, dem Mikroskop oder dem Teleskop, die sowohl kommerziell wie auch für Forschungszwecke genutzt werden, erhält die Frage nach dem Gespenstischen eine wissenschaftliche und auch medientechnische Aktualität. Denn das Vorhandensein dieser unsichtbaren Phänomene zwingt dazu, ein scheinbar gesichertes Wissen, dessen Grenzen durch das Verhältnis der Unterscheidungen sichtbar/unsichtbar und existent/nicht existent bestimmt waren, neu zu hinterfragen. Auf diesen Umstand weist der Würzburger Philosoph und Theologe Joseph Kast in einem Gespenstertraktat aus dem Jahr 1818 hin, wenn er konstatiert: „Die Unsichtbarkeit der Geister beweiset ja 7 Yvonne Wübben: Gespenster und Gelehrte. Die ästhetische Lehrprosa G. F. Meiers (1718–1777), Tübingen 2007, S. 13.

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nichts gegen ihre mögliche Existenz; [...] schließlich gibt es ja Milliarden Geschöpfe auf der Erde, die wir kaum mit dem Mikroskope bemerken.“8 Aus der Sicht des Skeptikers formuliert Christoph Martin Wieland das Problem. In einem 1796 erschienenen Beitrag mit dem Titel „Ueber den Hang der Menschen, an Magie und Geistererscheinungen zu glauben“9 stellt Wieland fest, dass die naturwissenschaftliche Forschung das Wunderbare nicht eliminiert hat, sondern umgekehrt gerade durch die Erweiterung ihrer Erkenntnisse kein Mysterium in der Natur mehr prinzipiell ausschließen kann: Die Natur [...] erscheint immer wunderreicher, geheimnisvoller, unerforschlicher, je mehr sie gekannt, erforscht, berechnet, gemessen und gewogen wird. [...] Seitdem die unersättliche Wißbegierde mit geschärften Sinnen in alle Elemente eingedrungen ist; seitdem uns die Vergrößerungsgläser einen Abgrund von physischen Wundern, wovon Niemand zuvor die mindeste Vorstellung hatte, aufgeschlossen haben; seitdem uns die Entdeckung neuer von keinem Demokrit oder Aristoteles nur geahneter Eigenschaften der Materie die Natur von ganz neuen Seiten gezeigt, und der unermüdliche Fleiß der Forscher fast täglich in dem Falle ist, auf Entdeckungen zu stoßen, welche die Hälfte dessen, was man vorher für wahr gehalten, wieder umstoßen oder zweifelhaft machen: seitdem haben auch unsere Begriffe vom Wunderbaren und Natürlichen, Möglichen und Unmöglichen eine merkliche Veränderung erleiden müssen.10

Es scheint diese Verunsicherung hinsichtlich der möglichen Existenz eines neuen, erst in Teilen entdeckten Unsichtbaren zu sein, die den „Gespenstern“ auch eine wissenschaftliche Relevanz verleiht. Im Maße, wie das menschliche Auge zu einem Medium unter Anderen wird und im Vergleich zu Medientechniken wie Mikroskop oder Fernrohr defizitär erscheint, weitet sich der Möglichkeitsraum dessen, was der Sichtbarkeit entzogen ist, aber potenziell zur Erscheinung kommen könnte, aus.11 Ein Großteil der Auseinandersetzungen in der Ge8 Joseph Kast: Ernster Blick in das kuenftige Leben oder das Reich der Geister, Würzburg 1818, S. 2. 9 Der Aufsatz ist die leicht modifizierte Version eines Beitrages, der bereits 1781 im „Teutschen Merkur“ unter dem Titel „Betrachtungen über den Standpunct, worinn wir uns in der Absicht auf Erzählungen und Nachrichten von Geistererscheinungen befinden“ erschienen ist. 10 Christoph Martin Wieland: Ueber den Hang der Menschen, an Magie und Geistererscheinungen zu glauben, in: Ders.: Sämmtliche Werke, Dreißigster Band, Leipzig 1857, S. 89–103, hier: S. 95ff. 11 Wie Hania Siebenpfeiffer gezeigt hat, ist die Relativierung der menschlichen Wahrnehmung durch die neuen Medien eine Entwicklung, die bereits seit dem 17. Jahrhundert zu beobachten ist. Während zunächst vor allem die Fehlbarkeit des Auges im Gegensatz zu den neuen Medien betont wurde, wird im Laufe des 18. Jahrhunderts die Evidenz des Sichtbaren generell infrage gestellt. Beide Problematiken sind in der Gespensterdebatte präsent. Vgl. Hania Siebenpfeiffer: Perspektiv und Perspektive(n). Sichtbarkeit im 17. und 18. Jahrhundert, in: Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005 „Germanistik im Konflikt der Kulturen“, hg. v. Jean-Marie Valentin, Frankfurt/Main, Bern, New York u.a. 2005, S. 213–218.

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spensterdebatte kreist daher um das Verhältnis von Sichtbarem und Unsichtbarem sowie um Möglichkeiten und Techniken der Visibilisierung. Bezeichnend ist dabei, dass die Argumentationsmuster der beiden Lager keineswegs bloß einen dualistischen Gegensatz bilden, sondern – im Gegenteil – trotz ihrer konträren Zielsetzungen überwiegend von denselben Prämissen ausgehen. Sowohl die Gegner als auch die Anhänger des Gespensterglaubens verweisen auf die Evidenz des empirisch Wahrgenommenen sowie auf die Leistungen einer produktiv tätigen Einbildungskraft und bedienen sich medientechnischer Argumente, um die Entstehung gespenstischer Erscheinungen zu beschreiben. Die Auffassung, dass sich zwischen dem Geist der aufgeklärten Vernunft und den Geistern des Okkulten eine eindeutige Trennlinie ausmachen lasse und dass sich in der Gespensterdebatte zwei Parteien mit unvereinbaren epistemologischen Prämissen gegenüberstehen, darf somit stark bezweifelt werden. Wenn Ulrich Stadler in einem Aufsatz zum Gespensterdiskurs im 18. Jahrhundert schreibt, dass sich die Gegner des Gespensterglaubens „mit Vorliebe (wenn auch nicht ausschließlich) auf die Vernunft“ beriefen, die Anhänger dagegen „mit Vorliebe (wenn auch nicht ausschließlich) auf die Erfahrung“12, dann mag das für die erste Hälfte des Jahrhunderts durchaus zutreffend sein. Doch die akribische Art und Weise, in der ein Großteil der Publikationen, die seit Mitte des Jahrhunderts zu dem Thema erscheinen, jede einzelne Gespenstergeschichte auf ihre natürliche Ursache zurückzuführen versuchten, relativiert die behauptete Stabilität dieses Gegensatzes. Die sonderbare Verbindung von theoretischer Erörterung und Geschichtensammlung, die diese Publikationen kennzeichnet13, deutet vielmehr darauf hin, dass die Kategorie der Erfahrung für beide Parteien eine Schlüsselrolle in der Auseinandersetzung einnimmt. Offenbar ist es auch den Gespensterkritikern nicht möglich, die Existenz übernatürlicher Erscheinungen durch reine Vernunftschlüsse zu widerlegen, sondern sie sehen sich gezwungen, immer wieder neu und für jeden Einzelfall gesondert nachzuweisen, welche natürliche Ursache für den Bericht einer übernatürlichen Erscheinung verantwortlich gewesen sein könnte. Den Grund für die Notwendigkeit dieser Form einer empirischen und am Einzelfall orientierten Beweisführung, die auf jede Form der Abstraktion und auf endgültige Schlussfolgerungen verzichten muss, benennt der Münchner Hofrat Karl von Eckartshausen, der innerhalb seiner zahlreichen theosophischen Schriften auch eine Theorie der Geister vorgelegt hat, folgendermaßen: Tausend Betrügereyen vertilgen nicht eine einzige wahre, beurkundete, nach allen Regeln der Glaubwürdigkeit bewiesene, oder beweisbare Geschichte. 12 Ulrich Stadler: Gespenst und Gespenster-Diskurs im 18. Jahrhundert, in: Gespenster. Erscheinungen – Medien – Theorien, hg. v. Moritz Baßler, Bettina Gruber u. Martina Wagner-Egelhaaf, Würzburg 2005, S. 127–139, hier: S. 129. 13 Stadler weist auf die Besonderheit dieser Publikationsform sogar selbst hin, ohne dies aber zu deuten; vgl. ebd.

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Wenn schon tausend Betrügereyen gespielt worden sind, so ist es noch nicht ausgemacht, daß in diesem Fache keine Wahrheit liegen soll. Tausend falsche Louis d’or vernichten keinen wahren.14

Wenn eine einzige unwiderlegbare Ausnahme reicht, um das Vorhandensein einer Geisterwelt nachzuweisen, dann kann umgekehrt nur dann eine gültige Aussage über deren Nichtexistenz getroffen werden, wenn jede singuläre Erscheinung als Sinnestäuschung oder Betrug nachgewiesen worden ist. Dies aber ist eine unabschließbare Aufgabe, denn mit dem Aufkommen neuer Erscheinungsgeschichten wird die endgültige Klärung des Problems immer wieder in die Zukunft verlagert. Die mehrbändigen Erzählbände von Aufklärungsschriftstellern wie Samuel Christoph Wagener oder Gottlob Heinrich Heinse geben über den Umstand, dass die Widerlegung des Gespensterglaubens ein kaum zu vollendendes Projekt ist, anschaulich Aufschluss.15 Neben dem Versuch, in unermüdlicher Kleinarbeit jede einzelne der zirkulierenden Gespenstererzählungen mit einer natürlichen Erklärung auszustatten, hat die Gespensterkritik noch eine zweite Strategie entwickelt, um den Geisterwissenschaften die Argumentationsgrundlage zu entziehen: Wo das unabschließbare Wechselspiel von empirischen Beweisen und Gegenbeweisen nicht zum Erfolg führt und eine philosophische Erklärung nicht in Sicht ist, wird den Geistersehern kurzerhand ein pathologischer Seelenzustand attestiert. Dies lässt sich anhand von Immanuel Kants Abhandlung „Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik“ (1766) zeigen, die auch für den weiteren Verlauf der Debatte aufschlussreich ist. Den Anlass für die zunächst anonym veröffentlichte Schrift bildete Kants Auseinandersetzung mit dem im 18. Jahrhundert als Geisterseher berüchtigten Emanuel von Swedenborg, dessen Berichte über Erscheinungen und Visionen in der literarischen Öffentlichkeit kontrovers diskutiert wurden. Bereits der Titel legt nahe, dass die „Hirngespenster“16, die Swedenborg Kant zufolge in 14 Karl von Eckartshausen: Sammlung der merkwürdigsten Visionen, Erscheinungen, Geister- und Gespenstergeschichten. Nebst einer Anweisung, dergleichen Vorfälle vernünftig zu untersuchen, und zu beurtheilen, München 1793, S. 2. 15 Auf Wageners vierbändige Geschichtensammlung „Die Gespenster“, die ab 1797 publiziert wurde, folgt ab 1801 die Reihe „Neue Gespenster“. Heinses in zwei Bänden veröffentlichte und mehrere hunderte Erzählungen umfassende Sammlung ist 1810 als eine Reaktion auf Heinrich Jung-Stillings Theorie der Geister-Kunde entstanden und beruht ebenfalls auf der Idee, bekannte Gespenstergeschichten „einer besonnene[n] und vernünftige[n] Prüfung“ auszusetzten, um sie als „natürliche Ereignisse“ zu enttarnen. Vgl. Samuel Christoph Wagener: Die Gespenster. Kurze Erzählungen aus dem Reiche der Wahrheit, Berlin 1797ff.; Ders.: Neue Gespenster, Berlin 1801f.; Gottlob Heinrich Heinse: Geister und Gespenster in einer Reihe von Erzählungen dargestellt. Ein nothwendiger Beitrag zu des Hofraths Jung genannt Stilling Theorie der Geisterkunde, Basel 1810, hier: S. VI. 16 Immanuel Kant: Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, in: Ders.: Werke in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 2, Frankfurt/Main 1977.

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seinen „Arcana Cœlestia“ verfasst hat, für die theoretische Philosophie vor allem deswegen von Interesse sein dürften, weil sie den Spekulationen und Phantasmen der eigenen Disziplin mitunter gar nicht so unähnlich sind. Die Provokation der kantischen Abhandlung, die Moses Mendelssohn zu der Aussage verleitet hat, dass für den Leser bisweilen nicht erkennbar sei, „ob Hr. Kant die Metaphysik hat lächerlich oder die Geisterseherei glaubhaft machen wollen“17, liegt in der impliziten Unterstellung, dass zwischen beiden Bereichen eine strukturelle Parallele bestehe. Indem Kant bewusst das „institutionelle Gefälle zwischen dem popkulturellen Genre der Spuk- und Gespenstergeschichten, die in der Philosophie nichts zu suchen haben, und dem elaborierten Diskurs der spekulativen Universitätsmetaphysik“18 unterläuft, degradiert er die Vertreter der letzteren – und dazu zählt auch und vor allem die Schulphilosophie Christian Wolffs – zu „Phantasten“ und „Träumern“.19 Allerdings ist es nicht Kants Absicht, die Metaphysik insgesamt als Wissenschaft zu diskreditieren, indem er ihr eine geistige Verwandtschaft zu den „Blendwerken“ Swedenborgs unterstellt. Er habe „das Schicksal“, betont Kant im zweiten Teil seiner Abhandlung, in die Metaphysik „verliebt zu sein“20, und schließt an dieses Bekenntnis sogleich eine Definition an, die den zeitgenössischen Begriff der Metaphysik auf den Kopf stellt. Die Metaphysik, so formuliert es Kant, sei eine Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft, und, da ein kleines Land jederzeit viel Grenze hat, überhaupt auch mehr daran liegt, seine Besitzungen wohl zu kennen und zu behaupten, als blindlings auf Eroberungen auszugehen, so ist dieser Nutze der erwähnten Wissenschaft der unbekannteste und zugleich der wichtigste [...].21

Nicht um ein Eindringen in unbekannte Räume oder unendliche Weiten, sondern um eine Auslotung der Grenzen von Vernunft und Erfahrung geht es also, wenn die Geister Swedenborgs und diejenigen der Metaphysik Gegenstand ein und derselben Untersuchung sind.22 Allerdings beruhen Swedenborgs Erscheinungsgeschichten, von denen die Zeitgenossen so fasziniert waren, gerade nicht auf Spekulationen, sondern 17

Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften, Vierter Band, Zweite Abtheilung, Leipzig 1844, S. 529. 18 Friedrich Balke: Wahnsinn der Anschauung. Kants Träume eines Geistersehers und ihr diskursives Apriori, in: Baßler, Gruber, Wagner-Egelhaaf [Anm. 12], S. 297–313, hier: S. 298. 19 Kant [Anm. 16], A 84. 20 Ebd., A 115. 21 Ebd., A 116. 22 Stephan Andriopoulos hat deshalb zurecht darauf hingewiesen, dass die „Träume eines Geistersehers“ für die Entwicklung der Transzendentalphilosophie nicht so irrelevant sind, wie das die ältere Kantforschung behauptet hat. Andriopoulos macht u.a. auf den zweideutigen Gebrauch der Begriffe „Geist“ und „Erscheinung“ in Kants Geisterseher-Aufsatz aufmerksam. Vgl. Stephan Andriopoulos: Die Laterna Magica der Philosophie. Gespenster bei Kant, Hegel und Schopenhauer, in: DVjs 80, 2006, H. 2, S. 171–211, bes. S. 176ff.

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vorgeblich auf eigenen Erfahrungen, die durch das Beisein von Augenzeugen noch zusätzlich gestützt werden. Oft handelt es sich bei den Protagonisten der Erzählungen um Figuren, die zunächst als Skeptiker und Ungläubige vorgestellt werden, sich dann aber doch von der eigenen Begegnung mit der Geisterwelt überzeugen lassen. Die wiederholte Berufung auf die kritische Instanz des eigenen Urteils, auf die Evidenz der Anschauung und das Beisein von Zeugen ist der Grund dafür, dass Geisterseher wie Swedenborg für die kantische Philosophie und für die Gespensterkritik insgesamt eine Herausforderung darstellen. Die Geschichten, die Kant als Beispiele für die angeblichen seherischen Fähigkeiten Swedenborgs anführt, machen diese Problematik deutlich: In der ersten Erzählung übermittelt Swedenborg einer Fürstin, „deren großer Verstand und Einsicht es beinahe unmöglich machen sollte, in dergleichen Fällen hintergangen zu werden“, Nachrichten aus der Geisterwelt, die er „von keinem lebendigen Menschen“23 in Erfahrung hätte bringen können; in der zweiten Geschichte hilft Swedenborg einer Witwe, die verloren geglaubten Quittungen ihres verstorbenen Mannes wiederzufinden, indem er mithilfe der Geister ein verborgenes Fach ausfindig macht; in der dritten Erzählung teilt er einer Gesellschaft in Göteborg mit, dass in Stockholm zur gleichen Zeit ein Feuer entbrannt sei – und wird zwei Tage später durch offizielle Meldungen bestätigt. Eine skeptische Fürstin, ein materielles Beweisstück, von dem niemand als der Tote selbst wissen konnte, und eine durch mehrere Augenzeugen bestätigte Vision: Solche „empirisch“ verbürgten Geschichten von denen Kant selbst schreibt, dass sie „bei den meisten einigen Glauben finden“, können von einer metaphysikkritischen Philosophie offenbar nicht einfach bestritten werden, ohne dass sie ihrerseits Gefahr läuft, das Terrain der Erfahrung zu verlassen. Kant räumt zwar ein, dass es sich bei Swedenborgs Erscheinungen nicht um „spekulative Hirngespinste einer verkehrtgrübelnden Vernunft“, sondern um reale Wahrnehmungen handeln müsse, urteilt aber, dass sie vermutlich durch ein „fanatisches Anschauen“24 verursacht seien. Aufgrund der subjektiven Realität und der Evidenz dieser Bilder könne jedoch der Glaube an solche „Blendwerke durch kein Vernünffteln beh[oben]“25 werden. Da eine philosophische Erklärung für das Phänomen der Geisterseherei in den „Träumen eines Geistersehers“ nicht gefunden wird, münden sie überraschenderweise in einer medizinischen Erklärung. Kant identifiziert die Geisterseherei als eine krankhafte Abweichung der Phantasie und bezeichnet ihre Protagonisten als „Kandidaten des Hospitals“.26 Diese argumentative Notlösung wird mit einer medientechnischen Theorie der Wahrnehmung verbunden, die sich in der 23

Kant [Anm. 16], A 85ff. Ebd., A 99. 25 Ebd., A 71. 26 Ebd., A 97. Vgl. zur Pathologisierung der Geisterseherei bei Kant auch Balke [Anm. 18], bes. S. 307. 24

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Gespensterdebatte häufiger findet: Der Geisterseher verwechsle nach dem Muster eines Hohlspiegels oder einer Laterna Magica innere Bilder mit äußeren Gegenständen. Eine übersteigerte Einbildungskraft projiziere wahnhafte Vorstellungen in die Außenwelt, so dass diese vom Geisterseher für die Realität gehalten werden.27 Der überraschende Paradigmenwechsel, der in der Abhandlung vollzogen wird, kann allerdings bloß als eine Scheinlösung angesehen werden, die umso deutlicher macht, dass das eigentliche erkenntnistheoretische Problem bestehen bleibt.

II. Das Gespenst der Psyche. Das Übersinnliche und die Angst vor der Angst Die Schwäche des kantischen Versuchs, die Geisterseherei als Effekt einer krankhaften Devianz zu enttarnen und sie damit vom Bereich des Übernatürlichen in den des natürlich Erklärbaren zurückzuholen, zeigt sich auch daran, dass eben dieses Argument von den Anhängern des Gespensterglaubens problemlos angeeignet und für die eigenen Überlegungen fruchtbar gemacht wird. Durch eine positive Umdeutung der pathologischen Begründung28 entwerfen die Gespenstertheoretiker ein elitäres und exklusives Konzept der Begegnung mit dem Übersinnlichen, in dem die Einbildungskraft als erkenntnistheoretische Kategorie zum Tragen kommt. Die Möglichkeitsbedingung für diese Reinterpretation ist nicht zuletzt der Philosophie des Idealismus selbst zuzuschreiben – so zumindest die Meinung mancher Zeitgenossen.29 Im Maße wie die 27 Vgl. Kant [Anm. 16], A 64. Siehe zum medientechnischen Argument auch Andriopoulos [Anm. 22], S. 181. Vgl. zu dem Zusammenhang von idealistischer Philosophie, Schauerroman und optischen Medien auch die 2013 erschienene Aufsatzsammlung von Stephan Andriopoulos: Ghostly Apparitions. German Idealism, the Gothic Novel, and Optical Media, New York 2013. 28 Ähnlich wie Kant argumentiert beispielsweise auch Samuel Hibbert, der die Frage nach der Möglichkeit von Geistererscheinungen mit einer Theorie über die „Pathologie des menschlichen Geistes“ beantwortet. Hibbert weist nachhaltig auf die Gefahren hin, die sich für die menschliche Gesundheit ergeben, wenn die Einbildungskraft gegenüber den übrigen Vermögen, besonders gegenüber Verstand und Wahrnehmung, an Dominanz gewinnt. Vgl. Samuel Hibbert: Andeutungen zur Philosophie der Geistererscheinungen oder: Versuch, die hierbei statthabenden Täuschungen auf ihre natürlichen Ursachen zurückzuführen, Weimar 1825, bes. S. 17ff. 29 Auf diesen Zusammenhang verweist Friedrich Nicolai, der zu Beginn der 1790er Jahre „beinahe zwei Monate lang fast beständig, und zwar unwillkührlich“ übernatürliche Gestalten und geisterhafte Stimmen wahrgenommen hat und seine dokumentierten Erfahrungen für eine Untersuchung durch die Berliner Akademie der Wissenschaften zur Verfügung stellte. Der Erfahrungsbericht mündet in einer vehementen Kritik an „Kants transcendentale[m] Idealismus, welcher endlich in den plumpen schwärmerischen Idealismus ausartete, der sich in Fichtens neueren Schriften findet“. Fichtes Ansicht, dass „alle Dinge außer uns […] unsere eigene Produkte“ sind, sei nicht haltbar, weil die äußeren Erscheinungen „Gesetzen folgen, die nicht von den Vorstellungen in unserm Gemüthe ab hangen“. Fichtes Philosophie hat Nicolai zufolge eine Mitschuld an dem Schwärmertum

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produktiven Fähigkeiten der Einbildungskraft gegenüber ihren bloß synthetisierenden Leistungen aufgewertet werden und die Erkennbarkeit (Kant) bzw. die Existenz (Fichte) des ‚Dings an sich‘ aufgegeben wird, erhält die Frage nach der Möglichkeit von Geistererscheinungen eine erkenntnistheoretische Aktualität. Bestritten wird jetzt nicht mehr, dass die von den Geistersehern wahrgenommenen Bilder und Stimmen eine subjektive Realität haben, diskutiert wird vielmehr, wie sich Maßstäbe zur Unterscheidung von subjektiver und objektiver Wirklichkeit überhaupt noch finden lassen und inwiefern ein scheinbar unkontrollierbares, selbsttätiges Vermögen dennoch einer Steuerungsinstanz unterworfen werden kann. Die letzte Frage wird von den Gespensterkritikern beantwortet, indem sie die von der zeitgenössischen Philosophie entwickelte Theorie der Einbildungskraft mit einer Diätetik der Affekte verbinden. Die Beherrschung der Phantasie wird hier gleichgesetzt mit der Kontrolle der Angst vor dem Übersinnlichen und deren physischen Folgen, die bis zum Tod des Geistersehers reichen können.30 Die lebensgefährlichen Auswirkungen einer zügellosen Phantasie werden von gespensterkritischen Schriftstellern des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts aber nicht nur theoretisch geschildert, sondern vor allem literarisch in Szene gesetzt. Exemplarisch lässt sich dies in den Geschichtensammlungen des Aufklärungsschriftstellers Samuel Christoph Wagener zeigen. Wageners Anthologien zielen darauf ab, konsequent und ausnahmslos die ‚wahren Ursachen‘ hinter vermeintlichen Geistererscheinungen und anderen spukhaften Erlebnissen aufzuzeigen. Dabei werden allerdings die Figuren wie auch die Leser, anders als im zeitgenössischen Schauerroman, am Ende keineswegs von der mit dem Übersinnlichen verbundenen obskuren Angst befreit.31 Vielmehr erweist sich die Imagination des Gespenstischen mit dem aus ihr resultierenden Schrecken als ein selbstverstärkender Effekt: In der überwiegenden Anzahl der Geschichten lässt Wagener seine verängstigten, gespenstergläubigen Figuren einen qualvollen Tod sterben.

und der Geisterseherei, weil sie keinen Maßstab zur Unterscheidung von Phantasmen und realen Dingen mehr biete. Friedrich Nicolai: Beispiel einer Erscheinung mehrerer Phantasmen nebst einigen erläuternden Anmerkungen, vorgelesen in der K. Akademie der Wissenschaften zu Berlin, den 28. Hornung 1799, S. 8 u. S. 33ff. 30 Darauf hat bereits Georg Friedrich Meier hingewiesen. Die Auswirkungen einer durch die Überhitzung der Phantasie verursachten Gespensterfurcht, so heißt es in den „Gedancken von Gespenstern“ (1747), reichen bis zum plötzlich herbeigeführten Tod: „Alles Uebel entsteht in diesem Falle von uns selbst, folglich ist man sein eigener Hencker.“ Meiers Rat lautet daher, „niemals irgend eine Furcht gar zu starck werden“ zu lassen, sondern „ein Herr über die Leidenschaft der Furcht zu werden“. Georg Friedrich Meier: Gedancken von Gespenstern, Zweyte Auflage, Halle 1749, S. 44f. 31 Zur Struktur und Poetik vgl. den Sammelband Der Schauer(roman). Diskurszusammenhänge, Funktionen, Formen, hg. v. Mario Grizelj, Würzburg 2010.

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Dies ist auch in der 32. Erzählung des ersten Bandes der Reihe „Neue Gespenster“ der Fall, die von einer Scheintod-Geschichte handelt.32 Die frisch verstorbene Frau eines Senators erwacht in ihrem Totenbett und macht sich in den unteren Stockwerken des Hauses auf die Suche nach ihrem Ehemann. Als dieser seine totgeglaubte Frau erblickt, wird er vor Schreck ohnmächtig: Plötzlich ging die Stubenthür auf. Ein schwankender Geist trat zu ihm herein. Er erkannte in ihm sogleich die verstorbene Hausfrau, leibhaftig und ihn bloßem Hemde. Vor Entsetzen fast außer sich, war er einer Ohnmacht nahe; [...] Der vermeinte Geist, seine vom Scheintode erwachte Frau, war selbst im hohen Grade hülfsbedürftig und ganz außer Stande, dem sinnlos hinstürzenden Gatten, zur Hülfe beizuspringen. Froh, daß sie selbst vor Mattigkeit und Frost nicht in die Knie sank, schwankte sie in höchster Anstrengung ihrer wiedergekehrten Kräfte, dem nahen Ofen zu, um in dessen erwärmendem Dunstkreise ihre noch halb erstarrten, vor Frost zitternden Glieder zu erquicken. [...] Endlich kam einer von den Seinigen nach Hause. Gott! wie erstaunte dieser, als er, bei dem Eintritt in’s Zimmer, die verstorbene Hausfrau lebendig – den völlig gesund verlassenen Hausvater tod vorfand! – Eiligst ward Hülfe für beide herbeigerufen. Beide wurden nach Vorschrift des Arztes zweckmäßig behandelt. Der ohnmächtige Senator bekam zwar nach einiger Zeit das Bewußtseyn wieder, redete aber verwirrt, ward zusehends kränker, und starb nach einigen Tagen, ohne wieder zu erwachen. Die von einem vier und zwanzigstündigen Scheintode erwachte Hausfrau erholte sich nach und nach und erlangte ihre völlige Gesundheit wieder. In dem für sie selbst bestellten Sarge ließ sie den Gatten beerdigen, den sie fünfzehn Jahre überlebte.33

Dass die Totgeglaubten oder Kranken am Ende der Geschichten gänzlich kuriert und umgekehrt die vormals vollständig Gesunden durch ihre Gespensterfurcht ins Grab befördert werden, ist in den Geschichten Wageners eine beliebte Pointe. Indem sie diese dramaturgische Wendung vollziehen, legen die Erzählungen die Deutung nahe, dass nichts so gefährlich und so sehr zu fürchten sei wie die unkontrollierbaren Operationen der eigenen Psyche. In vielen Fällen tritt der Schreckenstod selbst dann ein, wenn die Figuren noch erfahren, dass sie in ihrem Geisterglauben einer Täuschung unterlagen. Dass als eigentlicher Gegenstand der Angst nicht die vermeintlichen Gespenster, sondern die Angst selbst gelten müsse, wird nicht nur an den Geschichten über plötzliche Schreckenstode deutlich, sondern auch daran, dass Wagener ein weiteres mit der Scheintoddebatte verbundenes Schreckgespenst aufruft: den 32

Der Scheintod stellt in den Gespenstergeschichten um 1800 ein beliebtes Sujet dar. Ein Grund dafür könnte darin bestehen, dass in den Diskussionen um das Phänomen des Scheintods die traditionelle Vorstellung vom Tod als Moment der Trennung von Seele und Körper – der plötzlichen „Geistwerdung“ – abgelöst wird zugunsten der Beobachtung organischer Vorgänge und eines prozesshaften, allmählichen Sterbens, das potenziell reversibel ist. Vgl. Gerlind Rüve: Scheintod. Zur kulturellen Bedeutung der Schwelle zwischen Leben und Tod um 1800, Bielefeld 2008, bes. S. 51ff. 33 Wagener [Anm. 6], Bd. 1, S. 179f.

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Mord aus Unwissenheit. Die beunruhigende Idee, dass man sich durch fehlende Partizipation an aktuellem Wissen und durch die mangelnde Kontrolle der eigenen Affekte in einer unvermuteten Weise strafbar machen könne, wird in den „Neuen Gespenstern“ immer wieder ausgespielt und in schauderhafte Erzählungen umgesetzt. In der 34. Erzählung des ersten Bandes wird ein Totengräber beim Passieren einer Gruft Zeuge eines gespenstischen Rumorens und Klopfens. Vor Entsetzen und im Glauben, es handele sich um einen Poltergeist, flieht der Totengräber. Erst als er wenig später einem mutigeren Kollegen von seinem Erlebnis berichtet, gehen die beiden dem Spuk auf den Grund und öffnen das verdächtige Grab. Es stellt sich heraus, dass ein kürzlich beerdigtes, nur scheintotes Mädchen durch das Klopfen auf sich aufmerksam machen und sich aus dem Grab befreien wollte. Allerdings kommt diese Erkenntnis der Männer für das Mädchen bereits zu spät: „das unglückliche Mädchen lag auf der Brust, hatte die Finger blutig gekratzt, das Gesicht zerfleischt, den Mund voll Blut, und war nunmehr, nach tausend Höllenqualen, wirklich verschieden.“34 Ähnliche Schauergeschichten finden sich auch in den Anthologien von Gottlob Heinrich Heinse oder in Heinrich Ludwig Fischers 1791 veröffentlichtem „Buch vom Aberglauben“.35 Indem sie sowohl die qualvollen Angsttode der Gespenstergläubigen als auch das Martyrium der letztlich an unterlassener Hilfe sterbenden Scheintoten inszenieren, führen die Erzählungen vor, dass Aberglaube nicht nur kriminell, sondern auch selbstgefährdend ist. Die „Aufklärung“, die Wagener dabei betreibt, zielt nur der Theorie nach auf die Unterdrückung von Affekten ab; in der erzählerischen Praxis wird dagegen die Notwendigkeit, die eigene Phantasie und die aus ihr resultierende Angst zu beherrschen, ausgerechnet durch die Produktion einer neuen Form der Angst plausibilisiert. Wageners Erzählungen, so könnte man zugespitzt sagen, entwickeln eine neue Subgattung der Schauerliteratur, in der ängstliche Gemüter vom Erzähler durch die Inszenierung leidvoller literarischer Angsttode bestraft werden. Insofern bestätigt sich Christian Begemanns Befund, dass das bürgerliche Ideal der Furchtlosigkeit im 18. Jahrhundert paradoxerweise „ohne die Mithilfe von Furcht und Angst nicht zu unumschränkter Geltung gelangen kann“.36 Die Bedrohung, das wird in den Geschichten stets betont, geht dabei immer von den Fehlleistungen der Phantasie bzw. der Imagination aus. Erst dadurch, dass die Einbildungskraft etwas real Existierendes nach ihren eigenen Gesetzen modifiziert oder sogar etwas erzeugt, das gar nicht vorhanden ist, kann jene un34

Wagener [Anm. 6], Bd. 1, S. 185. Der Angsttod wie auch der Scheintod sind sowohl bei Heinse als auch bei Fischer ein gängiges Motiv. Vgl. Heinse [Anm. 15], z.B. S. 123; sowie Heinrich Ludwig Fischer: Das Buch vom Aberglauben, Leipzig 1791, v. a. S. 33ff. 36 Christian Begemann: Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung. Zu Literatur und Bewusstseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts, Frankfurt/Main 1987, S. 22. 35

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bestimmte panische Angst entstehen, die für den Betroffenen selbstzerstörerische Folgen hat. Die Art und Weise, wie es zu solchen Verfälschungen der Wahrnehmung kommen kann, wird nicht nur in Kants „Träumen eines Geistersehers“, sondern auch in anderen Beiträgen zur Debatte durch den Vergleich mit Spiegeln oder Hohlspiegeln beschrieben. Johann Konrad Ihling, Konrektor am Meininger Gymnasium, erläutert 1807 in seinem gespensterkritischen Lesebuch „Die Kunst, die Geister zu verstehen“: Die Seele gleicht einem Spiegel, worin sich die tausendfachen Erscheinungen und Gestalten des Lebens darstellen; aber leicht kann dieser Spiegel, wie durch einen Hauch, getrübt werden, und dann stellen sich diese Erscheinungen nur dunkel oder in einem unlautern Gewande dar.37

Die Imagination von Gespenstern wird hier als Resultat eines undeutlichen, verschwommenen Sehens beschrieben. Der Geschichtenerzähler Wagener gibt seinen Lesern wiederum den Rat, die Gesetze der Optik zu studieren und sich mit der Funktionsweise von Medien wie dem Hohlspiegel zu befassen, um das „Gaukelspiel der Natur“ zu durchschauen und nicht zu „Opfer[n] ihrer angestrengten Phantasie“38 zu werden. Der Rückgriff auf die Technik des Hohlspiegels bei der Explikation von Wahrnehmungstäuschungen bietet sich schon deshalb an, weil bei den Lesern der Gespensterliteratur dessen Fähigkeit, illusionistische Effekte zu erzeugen, wegen seiner vielfachen kommerziellen Verwendung als bekannt vorausgesetzt werden darf. Als populäres Medium, das die Sinne trügt, ist er daher prädestiniert, um eine optisch bedingte Sinnestäuschung auch für Laien nachvollziehbar zu erklären. Eben diese Schnittstelle zwischen einer Pathologie der Einbildungskraft und einer illusionären Medientechnik nimmt auch die Partei der Gespenstergläubigen zum Ansatzpunkt, um ein Modell der Realitätsgenerierung zu propagieren, in dem die Täuschung allerdings nicht eine Ausnahme von der Regel, sondern der Normallfall ist. Der Geisterseher wird in diesem Modell vom Wahnsinnigen zum privilegierten Botschafter. In Karl von Eckartshausens 1788 und 1890 in zwei Bänden erschienener Schrift „Aufschlüsse zur Magie aus geprüften Erfahrungen“ wird dieses Modell der übersinnlichen Kommunikations- und Wahrnehmungsweise ausbuchstabiert. Eckartshausen beginnt seine „Aufschlüsse“ mit der Feststellung, dass das, was gemeinhin für die Gänze der „Wirklichkeit“ gehalten wird, nur einen winzigen Teil der eigentlichen Realität bildet. Grund dafür sei, dass die Vorstellung der äußeren Welt an die subjektiven Dispositionen der menschlichen Wahrnehmung gebunden ist:

37 Johann Konrad Ihling: Die Kunst, die Geister zu verstehen. Ein belehrendes und unterhaltendes Lesebuch für den Bürger und Landmann, Hildburghausen 1807, S. 62f. 38 Wagener [Anm. 6], Bd. 1, S. 277.

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Wir sehen die Welt als das an, was sie uns durch die Sinne scheint, und die Welt ist doch dieses nicht, was sie scheint; das, was wir Wirklichkeit nennen, ist nur relative unseren Sinnen wirklich, nicht absolute: so ist der Ton, der Wohlgeruch, der Geschmack, das Gefühl von Wohlluft und Schmerzen; der Geschmack von Bitterm und Süssen; der Ton vom Angenehmen und Widerwärtigen nicht in den Dingen, sondern in den Eindrücken der Dinge, und ihren Wirkungen auf unsere Organisation. [...] Wenn sich die Sinne verändern, verändern sich unsere vermeyntliche Wirklichkeiten.39

Zunächst hört sich diese Passage nach wenig mehr als nach einer popularphilosophischen Ausbuchstabierung von Kants kopernikanischer Wende der Denkungsart an: Demnach sind die Dinge ‚an sich‘ in ihrer Objektivität nicht erkennbar, weil deren Erscheinung immer schon den Bedingungen des menschlichen Erkenntnisvermögens unterliegt.40 Allerdings verleiht Eckartshausen dem Diktum, dass die Vernunft nur das einsehen könne, „was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt“41, eine eigene Wendung, wenn er von verschiedenen Stufen der Erkenntnis ausgeht und die Erkenntnis der sichtbaren Welt als defizitäre und unterste Stufe bestimmt. Wer nur das, was er als Sichtbares wahrnimmt, für real hält, unterliegt deshalb in der Eckartshausen’schen Erkenntnistheorie einem Trugbild. Es gebe allerdings, so Eckartshausen weiter, einige Privilegierte, die dieses beschränkte Wahrnehmungsstadium überschreiten können. Durch eine Verfeinerung der Sinne gelinge es „manche[m], [...] durch eine Spalte im Reiche der Unsterblichkeit Dinge [zu] sehen, die der gemeine Mensch nicht sieht.“42 Bezeichnenderweise ist ausgerechnet die Einbildungskraft das Verbindungsglied, das einen Zugang zu dieser Welt des Unsichtbaren und einen Kontakt zu deren Bewohnern eröffnet: „Wäre es vielleicht nicht möglich“, fragt Eckartshausen, „daß diese Wesen auf eine uns verborgene Weise mittelst der Einbildungskraft auf uns wirken, und daß die Einbildungskraft das Organ ihrer Thätigkeit wäre?“43 Die Einbildungskraft ist gleichbedeutend mit dem, was Eckartshausen den „inneren Sinn“ oder „Seelendolmetsch“ nennt.44 Durch die Ausbildung und Verfeinerung dieses Sinnes können äußere, unsichtbare Dinge, die dem Auge ent39 Karl von Eckartshausen: Aufschlüsse zur Magie aus geprüften Erfahrungen über verborgene philosophische Wissenschaften und verdeckte Geheimnisse der Natur, München 1923, S. 25. 40 Immanuel Kant: Die Kritik der reinen Vernunft, nach der 1. und 2. Originalausgabe hg. v. Jens Zimmermann, Hamburg 1998, B 28. Auf diese „Parallele“ zwischen Kant und Eckartshausen hat auch Stefan Andriopoulos hingewiesen. Vgl. Andiopoulos [Anm. 22]. 41 Ebd. 42 Eckartshausen [Anm. 14], S. 2. 43 Ebd., S. 5. 44 Ders. [Anm. 39], S. 31.

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gehen, ins Innere getragen, dann aber auch wieder als Sichtbares nach Außen projiziert werden. Eckartshausen beschreibt diese Funktionen einer „inneren“ Wahrnehmung mithilfe der Metaphern des Spiegels und des Hohlspiegels – also über jene Medien, mit denen die Gespensterkritiker umgekehrt gerade das Zustandekommen von Wahrnehmungstäuschungen erläutert haben: So kann der innere Sinn Gegenstände sehen, die das Auge durchläßt, und die sich nur im Auge der Seele reflektiren. So durchströmt der Sonnenstrahl unmerksam das Glas und wird nur sichtbar im Spiegel, der zur Reflexion, zum Abdruck organisirt ist. [...] Die Gegenstände, die die innern Sinne berühren, ohne den äussern fühlbar zu werden, können durch die Wirkungen des inneren Sinnes auf die äusseren den äussern auch sichtbar werden, denn durch die Verbindung, die der innere Sinn mit dem äussern hat, entsteht ein Bestreben der Mitteilung, welches Bestreben Imaginationskraft ist. Wie lebhafter dieses ist, desto wirkender ist sie, und sie schaffet Bilder ausser sich, die den äussern Sinnen sichtbar werden, aber doch immer Bilder der feinsten Organisation sind. [...] Es verhält sich wie mit einem Hohlspiegel; dieser konzentrirt den simplen Abdruck des Bildes durch seine Cavität, und formirt daher einen Körper ausser sich, der unserer Organisation sichtbar wird.45

Dem Gegensatz von den äußeren, defizitären Sinnen und einem „inneren“ Sinn, der Dinge unterhalb der Wahrnehmungsschwelle sichtbar macht, entspricht ganz allgemein der Dualismus von Außen- und Innenwelt bzw. äußerem und innerem Menschen. Dieser Dualismus ist deshalb von Bedeutung, weil beide Bereiche in einem ungleichen Verhältnis stehen müssen, damit die Kommunikation mit der Geisterwelt gelingen kann: Der physische Krankheitszustand wird zur Voraussetzung für die Entfaltung des inneren, geistigen Wesens, das auch den Namen „Natur“ trägt. Nur in dieser Abwendung von der sinnlichen Welt, die auch die Negation des eigenen Körpers einschließt, ist eine Begegnung mit den Wesen der Geisterwelt möglich: Je weniger sinnliche Aufmerksamkeit, desto mehr Blick und Klarheit des Auges für das Geistige; und überhaupt für höhere Wesen. Je mehr der äußere Mensch abstirbt, desto lebendiger wird der innere, und darinn [sic] liegt der Weg, der zur Anschauung geistiger Wesen führt.46

Der Höhepunkt des körperlichen Verfalls ist für Eckartshausen gleichbedeutend mit einem Zustand der absoluten Clairvoyance. Damit formuliert er als Theorie, was in der romantisch-spiritistischen Aneignung des Mesmerismus

45 46

Ebd., S. 42f. Eckartshausen [Anm. 14], S. 7.

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ausbuchstabiert und für die Narration somnambuler Krankheitsgeschichten zentral werden wird.47 Zu dieser Form der Wahrnehmungserweiterung im Modus der imaginativen Schau gehört nicht nur die Aufhebung der Schwelle zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem. Auch die zeitlichen Grenzen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft tendieren zur Auflösung, wenn Eckartshausen in seiner 1799 erschienenen Schrift „Blicke in die Zukunft oder Prognostation des 19. Jahrhunderts“ konstatiert: Es geht ebenso natürlich zu, die Zukunft einer großen Epoche zu bestimmen, als wenn auf einem Sehturm der Wächter durch sein Fernrohr die Annäherung eines Schiffes verkündigt, das noch viele Meilen weit von ihm entfernt ist.48

Damit ist ein weiteres Thema angesprochen, das in den Gespenstergeschichten notorisch verhandelt wird: die Möglichkeit, eine noch unbekannte Zukunft in Ahnungen und Visionen vorherzusagen. Der angenommenen Offenheit und Unberechenbarkeit der Zukunft wird in den okkultistischen und aufklärerischen Spukgeschichten dabei durch je unterschiedliche narrative Strategien gespenstischer Kontingenzbewältigung begegnet.

47 Vgl. dazu exepmlarisch Justinius Kerners Geschichte „Die Seherin von Prevorst“ (1829), die sich, wie Bettina Gruber bemerkt hat, in der Schwebe zwischen Krankheitsgeschichte und Erbauungsliteratur befindet. Kerner buchstabiert genau die von Eckartshausen pointierte Antithese von physischem Verfall und geistiger Schau aus, indem er das Leben seiner Patientin Friederike Hauffe in der Parallelität von körperlicher Leidensgeschichte und spiritueller Heilsgeschichte erzählt. Der Gegensatz von äußerer und innerer Natur wird von Kerner in der Vorrede als einer von Kognition und Empfindung bzw. Materialität und Spiritualität entworfen: „Wie jeder Mensch, der entfernt vom Treiben des äußern Lebens nur etwas in seinem Innern einkehrt, wirst auch du, lieber Leser, fühlen, daß in diesem ein ganz anderes, den Aeußeren meist widersprechendes Leben ist. Was das äußere Leben für geziemend findet, tadelt oft das innere [...]. Noch weiter fühlst du, daß vermöge dieses innern Lebens der Mensch in einer alten ewigen Verbindung mit der Natur steht, von der ihn die einseitige Ausbildung des Gehirnlebens nur scheinbar freistellen kann. [...]. Aber diese innere geheime Naturverbindung wirst du zugleich als dasjenige fühlen, was den Geist des Menschen noch an andere Welten fesselt und auch diesen einst zuführt.“ Justinus Kerner: Die Seherin von Prevorst. Eröffnungen über das innere Leben des Menschen und über das Hereinragen einer Geisterwelt in die unsere, Fünfte vermehrte und verbesserte Auflage, Stuttgart 1877, S. 3. Vgl. auch Bettina Gruber: Die Seherin von Prevorst. Romantischer Okkultismus als Religion, Wissenschaft und Literatur, Paderborn 2000, hier: S. 15f. 48 Karl von Eckartshausen: Blicke in die Zukunft oder Prognostation des 19. Jahrhunderts nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit berechnet, vermöge welcher man künftige Ereignisse voraussagen kann, mit einem Vorwort von Antoine Faivre, Müllheim/Baden 1997, S. 42.

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III. Schauderhafte Zukunft. Geisterhafte Prognostik und die Poetik des Zufalls In Heinrich Jung-Stillings „Theorie der Geisterkunde“ aus dem Jahr 1808 werden im dritten Hauptstück unter dem Titel „Von Ahnungen, Vorhersagungen, Zaubereyn und Prophezeyungen“ Fälle geschildert, in denen plötzliche, scheinbar gänzlich unvorhersehbare Ereignisse vor ihrem Eintreten geahnt oder vorhergesagt werden. Im 129. Paragraphen wird eine Geschichte erzählt, die Jung-Stilling dem „Museum des Wundervollen“ entnommen hat und die von der Vorausahnung eines Schiffsbruches handelt. Der Vater der Erzählerin, für deren Aufrichtigkeit Jung-Stilling sich verbürgt, plant während eines Aufenthaltes in Rouen eine Fahrt auf der Seine. Als er gerade im Begriff ist, das Schiff zu besteigen, wird er durch seine taubstumme Tante daran gehindert: Sie „stieß [...] eine Art von Geheul aus, stellte sich an die Thür, versperrte sie mit ihren Armen, schlug die Hände zusammen, und gab durch Zeichen zu verstehen, daß sie ihn beschwöre, er möchte zu Hauß bleiben.“49 Der unbeeindruckte Vater lässt sich erst nach wiederholten Bitten dazu bewegen, seine Ausflugsfahrt zu verschieben. Die Warnung der Tante erweist sich für ihn indessen als lebensrettend. Denn bereits kurz nachdem das Schiff den Hafen verlassen hat, führt ein plötzlich aufziehendes Gewitter zum Untergang der gesamten Besatzung: „Ihr Schiff rieß [sic] von einander, viele kamen dabey ums Leben, und diejenigen, die sich durch Schwimmen retteten, wurden von dem Schrecken, der sie dabey überfallen hatte, in die äusserste Lebensgefahr gestürzt.“50 Dass das Unglück hier ausgerechnet von einer taubstummen Frau vorausgesehen wird, ist insofern von Bedeutung, als in den Geschichten Jung-Stillings – ähnlich, wie in Eckartshausens spiritistischem Kommunikationsmodell – die Fähigkeit der Kontaktaufnahme mit den unsichtbaren Wesen häufig an die Einschränkung des sinnlichen bzw. physischen Vermögens gebunden ist. Weit interessanter als die Konstitution der „Seherin“ ist aber für diesen Zusammenhang der Gegenstand ihrer Vision, der für die Ahnungsgeschichten JungStillings charakteristisch ist: Vorausgesagt werden überwiegend katastrophische Ereignisse wie Schiffbrüche, plötzliche Gewitter, Blitzeinschläge oder Todesfälle. Aus dieser Serie desaströser Visionen fällt nur eine Episode heraus, die Jung-Stilling Karl Philipp Moritz’ „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“ entnommen hat und in der der Erzähler einen Lotteriegewinn vorhersieht. All diesen Formen zukünftigen Wissens ist der Umstand gemein, dass sie um 1800 längst nicht mehr nur Gegenstand einer zweifelhaften Prophetie sind, sondern 49 Heinrich Jung-Stilling: Theorie der Geister-Kunde, in einer Natur-, Vernunft- und Bibelmäßigen Beantwortung der Frage: Was von den Ahnungen, Gesichten und Geistererscheinungen geglaubt und nicht geglaubt werden mußte, Nürnberg 1808, S. 109. 50 Ebd.

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vor allem den Wissensfeldern der wissenschaftlichen Prognostik angehören. Das betrifft die Berechnung und Vorhersage der Wetterentwicklung, mit der sich die Meteorologie befasst51, genauso wie die Kalkulation der Lebenserwartung, die eine Angelegenheit der Policeywissenschaften ist.52 Und das Glücksspiel ist bereits seit Bernoulli der exemplarische Gegenstand der mathematischen Wahrscheinlichkeitsrechnung, die seit dem 18. Jahrhundert überdies in Programmen der Risikokalkulation zur Anwendung kommt.53 Aussagen über die Wahrscheinlichkeit von Unwettern, das Eintreten von Todesfällen oder die Erfolgschancen beim Glücksspiel zu treffen, ist also im Grunde nichts, was im Jahr 1808 notwendig für Zauberei gehalten werden muss. Dem Mediziner und Kameralwissenschaftler Jung-Stilling dürfte das bei der Auswahl seiner Beispiele sehr bewusst gewesen sein. Was sie dennoch als Teil jener „wunderbaren“ Ahnungsgeschichten erscheinen lässt, die in der Gespensterdebatte prominent diskutiert werden, ist die Art und Weise, in der sie die Grenzen des logisch Erklärbaren jeweils nur leicht überschreiten: Der plötzliche Todesfall ereilt den völlig Gesunden; an einem sonnigen, wolkenlosen Tag zieht plötzlich ein Gewitter auf; ein stabiles Gebälk stürzt entgegen allen Erwartungen zusammen. Und die Propheten dieser Unglücksfälle verfügen über keinerlei Expertenwissen, das ihnen ermöglichen würde, den Eintritt des Ereignisses zu kalkulieren. Stilling weist auf diese übernatürlichen Momente in den Deutungen, die er den Geschichten beifügt, eigens hin. Die Erzählung aus dem 130. Paragraphen, in der eine Haushälterin den Einschlag eines Blitzes in eine Gartenlaube prophezeit und dadurch eine ganze Festgesellschaft rettet, kommentiert er beispielsweise mit den Worten: Wenn auch diese Haushälterin, ein drückend Vorgefühl von einem bevorstehenden Gewitter, und dem Einschlagen desselben hatte, so konnte doch dies Vorgefühl unmöglich den Ort bestimmen, wo es einschlagen würde. [...] Man sieht dieser ganzen Geschichte an, daß die Männer die in der Laube beysammen waren, schwerlich ein Organ hatten, Engels Stimmen zu vernehmen, der warnende Bote fand also leichter bey der Haushälterin Eingang, und bediente sich dieses Organs zu seinem menschenliebenden Geschäfte.54 51 Vgl. zur Geschichte der Wettermessung Hans-Günther Körber: Vom Wetterglauben zur Wetterforschung, Leipzig 1987, bes. S. 104–136. 52 Maßgeblich war hierfür in Deutschland Johann Peter Süßmilch, der bereits 1741 mithilfe von statistischem Datenmaterial Prognosen zur demografischen Entwicklung, v. a. zur durchschnittlichen Lebenserwartung, Geburten- und Sterberate angestellt hat. Vgl. Johann Peter Süßmilch: Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts aus der Geburt, dem Tode und der Fortpflanzung desselben, Zweyte und ganz umgearbeitete Ausgabe, Berlin 1761. 53 Vgl. Walter Hauser: Die Wurzeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Die Verbindung von Glücksspieltheorie und staatlicher Praxis vor Laplace, Stuttgart 1997, bes. S. 74ff. 54 Jung-Stilling [Anm. 49], S. 111f.

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Der Hinweis, dass auch andere Anwesende die warnende Botschaft aus der unsichtbaren Welt hätte erreichen können, wenn sie das entsprechende Organ dafür besitzen würden, zeigt, dass auch Stilling der Kommunikation mit der Geisterwelt eine Verfeinerung der Sinne nach dem Vorbild des technischen Signalempfangs zur Voraussetzung macht. Das Reich des Unsichtbaren erscheint als ein Ort der permanenten Zirkulation von Nachrichten, die von den Menschen nur deshalb nicht wahrgenommen werden können, weil deren Sinnesorgane für die Feinheiten der geistigen Botschaften im Normalfall nicht empfänglich sind. Eckartshausen formuliert diesen Zusammenhang wiederum sehr explizit, wenn er die Vorhersage von Zukünftigem mit der Funktionsweise wissenschaftlicher Messgeräte vergleicht: Nicht jeder Körper [...] ist im Stande, vorhergehende Gefühle zu empfinden; denn vorhergehende Gefühle setzen eine feinere Empfänglichkeit voraus. Das Steigen und Fallen des Quecksilbers im Barometer ist Ahndung künftiger Witterung. Das Anziehen der Korkkügelchen ist Ahndung einer annähernden elektrischen Wolke. Es gehört daher eine bestimmte Organisation zu den Ahndungen, die in Rücksicht der Empfänglichkeit der feinern Wirkung des Eindrucks fähig ist. Menschen von feinerer Organisation sind nur der Ahndungen fähig.55

Diese Passage, die auch als Metakommentar zu Jung-Stillings Kapitel über die „Vorhersagungen“ gelesen werden könnte, macht deutlich, worin die persuasive Strategie von Ahnungsgeschichten besteht, die gezielt die Trennung von Prognostik und Prophetie unterlaufen. Sie verbinden den traditionellen Bereich des Wunderbaren, zu dem auch die Geschichten von Geistern und Visionen gehören, mit einem neuen, mathematischen Begriff des Wahrscheinlichen, der sich seit der sogenannten ‚probabilistischen Revolution‘ nicht nur auf die Entwicklung der prognostischen Wissenschaften, sondern auch auf die Literatur ausgewirkt hat.56 Das Wunderbare ist in Jung-Stillings Geschichten wahrscheinlich geworden als Bestandteil eines Realen, das zwar in seiner Gänze undurchschaubar, aber potentiell kalkulierbar ist. Phantastisch erscheint es nur deshalb, weil die Kausalitäten, auf denen es beruht, von den meisten Menschen nicht erkannt werden können. Die Ahnungsgeschichten Jung-Stillings schließen an die Techniken prognostischen Wissens genauso an, wie sie dessen Möglichkeiten wieder transzendieren. Sie sind somit zugleich wahrscheinlich und möglich, aber auch phantastisch und rätselhaft und gewinnen gerade aus dieser Verbindung ihre Überzeugungskraft. Allerdings lässt sich in den Ahnungsgeschichten Jung-Stillings noch eine andere Verbindung von visionärer Zukunftsschau und kalkulierenden Wissenschaften 55

Eckartshausen [Anm. 39], S. 44. Vgl. dazu Rüdiger Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist, Göttingen 2002, S. 8ff. 56

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feststellen, die darauf hindeutet, dass die Aussagetypen von Prophetie und Prognostik um 1800 möglicherweise gar nicht durchgängig entgegengesetzt sind, sondern strukturelle Parallelen aufweisen. Unter die Geschichten prophezeiter Todesfälle fällt nämlich auch eine, in der der französische Schriftsteller Jacques Cazotte kurz vor dem Ausbruch der Französischen Revolution in einer geselligen Runde den Tod sämtlicher Anwesender sowie die Hinrichtung des französischen Königs voraussagt: Er nahm nun das Wort, und sagte mit dem ernsthaftesten Ton: [...] Wissen sie, was aus dieser Revolution [...] entstehen wird – was sie für alle, so viele ihrer hier sind, seyn wird – was ihre unmittelbare unläugbare und anerkannte Würkung seyn wird? [...] Sie Herr Condorcet [...], Sie werden ausgestreckt auf dem Boden eines unterirdischen Gefängnisses, den Geist aufgeben, sie werden von Gift sterben, das sie verschluckt haben, um den Henkern zu entgehen [...]. Im Namen der Philosophie, im Namen der Menschheit, der Freyheit, unter der Vernunft, wird es geschehen, daß Sie ein solches Ende nehmen. [...] Sie, Herr Nicolai! Sie werden auf dem Schaffot sterben. Sie, Herr Bailly! Auf dem Schaffot. Sie, Herr von Malherbes, auf dem Schaffot!57

Die Schilderung der Prophezeiung Cazottes dient dem Revolutionskritiker Jung-Stilling nicht nur dazu, mit der Kurzsichtigkeit revolutionsbegeisterter Zeitgenossen abzurechnen.58 Sie macht vor allem eine Verwandtschaft von politischer Prognose und Prophezeiung sichtbar, die das Zeitalter der Revolution hervorbringt. Wie Reinhart Koselleck gezeigt hat, zeichnete es das Geschichtsverständnis der frühen Neuzeit aus, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als ein geschlossener Erfahrungsraum konzipiert waren. Die Vorstellung, dass die Geschichte sich wiederhole und dass man daher von vergangenen Ereignissen auf zukünftige schließen könne, kommt in der Formel von der Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens – „Historia Magistra Vitae“ – zum Ausdruck. Für den Unterschied von prophetischen Vorhersagen und rationalen Prognosen heißt das, dass „die Prophetie den Horizont der kalkulierbaren Erfahrung überschreitet“, wohingegen die Prognose sich „eingebunden [weiß] in die politische Situation.“59 Im Zeitalter der französischen Revolution verändert sich dieses Verhältnis parallel zur Herausbildung eines neuen Geschichts- und Zukunftsverständnisses: Der Horizont möglicher Prognostizierbarkeit wurde zunächst ausgeweitet, schließlich durchstoßen. Während bis zum 18. Jahrhundert die Vorbildlichkeit der Alten oder die Figuren der biblischen Typologie die Zukunft besetzt hiel57

Jung-Stilling [Anm. 49], S. 161ff. Vgl. zu Jung-Stillings Revolutionskritik auch Thomas Weitin: Nachwort, in: Lesebuch Heinrich Jung-Stilling, zusammengestellt und mit einem Nachwort von Thomas Weitin, Köln 2011, S. 146–168, bes. S. 151f. 59 Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/Main 1989, S. 29. 58

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ten, war dies seit den Stürmen der Revolution nicht mehr möglich. Das Jahrzehnt von 1789 bis 1799 wurde von den Handelnden als Aufbruch in eine nie dagewesene Zukunft erfahren. [...] [Damit] scheint jede Schlußfolgerung von der Vergangenheit auf die Zukunft nicht nur unangebracht, sondern auch unmöglich.60

Die neue Zukunft, die als dynamisch, offen und vor allem als kontingent wahrgenommen wird, überschreitet „den überkommenen prognostizierbaren, naturalen Zeit- und Erfahrungsraum [...] und [provoziert] dadurch – im Zug seiner Dynamik – neue, transnaturale und langfristige Prognosen“.61 Zu einer Annäherung von Prognose und Prophetie führt das Bewusstsein von der Einmaligkeit geschichtlicher Abläufe deshalb, weil Vergangenes und Zukünftiges nicht mehr in ein unmittelbar kausales Verhältnis gesetzt werden können, sondern Aussagetypen nötig werden, die von einer prinzipiellen Neuheit und Andersheit des Zukünftigen ausgehen müssen. Prognosen haben diesem neuen Bedarf Rechnung zu tragen, stehen aber gleichzeitig unter dem Zwang, die Kontingenz der Geschichte durch die Generierung verlässlicher Aussagen zu bannen. Es ist dieser Versuch, etwas eigentlich Unberechenbares kalkulierbar zu machen, der der Prognose ein prophetisches Moment verleiht. Jung-Stillings Ahnungsgeschichten spielen mit diesem Ähnlichkeitsverhältnis von Prognostik und Prophetie. Es dürfte zugleich der Grund dafür sein, dass das Thema der Prophezeiungen in der Gespensterdebatte so prominent und ausgiebig diskutiert wird.62 Die Gespenstergeschichten der Aufklärungsschriftsteller wiederum wählen gegenüber Jung-Stillings Modell einer providenziellen Prognostik ganz eigene Erzählstrategien im Umgang mit Zufall und Wahrscheinlichkeit. Der scheinbaren Evidenz des Gespenstischen wird in der narrativen Logik eine Realität entgegengesetzt, die in hohem Maße auf Unwahrscheinlichkeiten und Zufälligem beruht. Zunächst fällt an den Geschichten auf, dass der Glaube an Geistererscheinungen durchgängig nicht als abwegig und singulär, sondern als überaus naheliegend und universell dargestellt wird. Es handelt sich offenbar um ein psychisches Phänomen, das nicht nur Kinder, Frauen oder das unaufgeklärte Volk betrifft, sondern im Gegenteil häufig gerade die mutigsten und rationals60

Ebd., S. 88f. Ebd., S. 34. 62 Bezeichnenderweise sind selbst die Aufklärungsschriftsteller bisweilen unentschieden in der Beurteilung von Prophezeiungen. In Friedrich Samuel Mursinnas Sammlung „Geistererscheinungen ohne Geister“ (1794) bleibt von allen geschilderten Geschichten nur eine unaufgelöst, die von der Prophezeiung eines Blitzeinschlages handelt. Die Erzählerfigur, die Zeuge des Einschlages wird, kann, obwohl sie skeptisch bleibt und den Vorfall untersucht, keinen Betrugsfall feststellen: „Ich wußte nicht, was ich von dieser sonderbaren Erscheinung halten sollte. Niemand konnte mir sie aus natürlichen Ursachen erklären, und die meisten, wenn ich sie erzählte, hielten die ganze Sache für ein Mährchen.“ Friedrich Samuel Mursinna: Geistererscheinungen ohne Geister, Leipzig 1794, S. 60. 61

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ten Figuren erfasst. So erzählt etwa Georg Adam Keyser im dritten Band seiner Sammlung „Uhuhu oder Hexen- Gespenster- Schatzgräber- und ErscheinungsGeschichten“ (1786) von einem Oberst, der beschließt, den Spukgeschichten über ein verlassenes Schloss durch einen Selbstversuch ein Ende zu bereiten. Indem er eine Nacht an dem verrufenen Ort verbringt, hofft er beweisen zu können, dass die Reden vom Gespensterschloss nichts weiter als das Produkt abergläubischer Vorstellungen sind. Doch bereits ein erstes unheimliches Geräusch – ein nächtliches Poltern auf der Treppe – versetzt ihn in helle Panik: „Man müßte Lust haben zu lästern, wenn man den Obersten einer Feigheit beschuldigen wollte; doch entsetzte sich darüber die Natur, die Haare fiengen sich allmählich an in die Höhe zu richten, und die Knie zu zittern.“ 63 Die körperlichen Symptome der Angst sind in den Geschichten Keysers „natürliche“ Reaktionen auf bestimmte äußerliche Schlüsselreize wie Dunkelheit, uneindeutige Geräusche oder verschwommene Gestalten und stellen sich unter der Einwirkung dieser Reize gewissermaßen automatisch ein. Ähnlich beschreibt auch Wagener in einer Erzählung aus den „Neuen Gespenstern“ den körperlichen Zustand seines Protagonisten, der auf seinem Heimweg eine unheimliche Kutsche wahrnimmt, die immer wieder seinen Weg kreuzt: Ich dachte eben nicht an eine Wirkung böser Geister; noch weniger fürchtete ich die Erscheinung dieser Ursachen, und dennoch war es mir in diesem Augenblicke, als ob die Haare unter meiner Nachtmütze diese ein wenig lüfteten. Aber ganz unbeschreiblich war das kalte Grausen, besonders der Kopfhaut, welches dieses unwillkürliche Emporstrecken der Haare begleitete.64

Es passt zu dieser Passage, wenn Wagener in seiner Vorrede konstatiert, dass die Tendenz, „Geister zu wittern, wo keine sind, und jede uns verborgene Kraft einem Geiste zuzuschreiben [...] tief in der menschlichen Seele“65 verankert sei. Die Geisterseherei und ihre Angstsymptome werden dadurch naturalisiert und als anthropologische Konstanten gesetzt. Indem sie das Phänomen derart universalisieren, führen die Erzählungen einmal mehr vor, dass die Notwendigkeit, die eigene Psyche zu beherrschen, sich als zwingende Folge aus deren gespenstischer Unberechenbarkeit ergibt. Allerdings hat die hohe Evidenz des Geisterglaubens für die Erzählungen noch eine weitere, narratologische Funktion. Denn sie steht in eklatantem Gegensatz zu jenen zufälligen und höchst unwahrscheinlichen Ereignissen, die sich meist am Ende der Geschichten als die eigentlichen, natürlichen Ursachen der Erscheinungen herausstellen. Ein Meister in der Narration solcher Zufallsgeschichten ist Gottlob Heinrich Heinse. In der 65. Erzählung aus dem ersten Band seiner Gespenstergeschichten erblickt eine Schneiderin, deren Heimweg 63 Georg Adam Keyser: Uhuhu oder Hexen- Gespenster- Schatzgräber- und Erscheinungs-Geschichten. Drittes Pakt, Erfurt 1786, S. 81f. 64 Wagener [Anm. 6], Bd. 1, S. 104f. 65 Ebd., S. IV.

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über einen Friedhof führt, auf einem frisch gemachten Grab eine Gestalt, die sich langsam aufrichtet und sie anstarrt. Im Glauben, ein Gespenst vor sich zu haben, läuft die Frau davon. Am nächsten Tag begegnet sie dem Schmied, der sich als das vermeintliche Gespenst zu erkennen gibt und folgende Erklärung für sein Verhalten liefert: Ich hatte, erzählte er, seit einigen Tagen so wüthenden Zahnschmerz, daß ich von meinen Sinnen nichts wußte. [...] Endlich sagte mir Jemand, wenn man sich mit dem leidenden Theile des Gesichtes auf ein frisch gemachtes Grab lege, verliere sich der Zahnschmerz und die Leiche unter dem Grabhügel bekomme ihn. [...] Ich befolgte also den Rath, richtete mich, da die Jungfer kam, ein wenig auf, und bedauerte nur herzlich, sie erschrecken zu müssen, weil ich nicht reden durfte, denn Sie wissen wohl, daß alle sympathetische Curen stillschweigend gebraucht werden müssen.66

Es ist eine unübersehbare Pointe der Geschichte, dass dem Aberglauben hier eine Art Fortpflanzungsmechanismus attestiert werden kann, indem ausgerechnet die „sympathetische Cur“ des Schmiedes dazu führt, dass die Schneiderin glaubt, ein Gespenst vor sich zu haben. Darüber hinaus fällt aber auch auf, dass die hinter der vermeintlichen Geistererscheinung stehende Erklärung alles andere als besonders naheliegend oder einleuchtend ist. Sie scheint ihre Plausibilität indessen gerade daraus zu ziehen, dass sie nicht auf einer Logik der visuellen oder akustischen Evidenz beruht, die den Geistergeschichten eigen ist, sondern ein Wirklichkeitskonzept vertritt, das den Eintritt unwahrscheinlicher und kontingenter Ereignisse zur Regel erhebt. Wagener macht dieses poetologische Programm in seiner Anthologie ganz explizit und erteilt zugleich geisterhaften Prognosen nach dem Modell JungStillings eine Absage, wenn er schreibt: Im menschlichen Leben stoßen uns jezuweilen Ereignisse auf, die selbst der größte Scharfsinn nicht zu berechnen, und die höchste Klugheit nicht vorherzusehen vermag; Ereignisse, welche den Muth, die Besonnenheit und die Entschlossenheit [eines] selbst durch kein Vorurtheil der Jugend und der Erziehung irre geleiteten Mannes, auf eine harte Probe stellen; Ereignisse, die, wenn nicht etwa ein glückliches Ungefähr ihren Zauber und ihr Wunderbares wohlthätig beleuchtet, den Glauben an die Wirklichkeit der Geistererscheinungen oft unerschütterlich gründen.67

Nimmt man Wagener beim Wort, sind die Unlogik und Unberechenbarkeit realer Ereignisse der Grund dafür, dass der Glaube an Gespenster so hartnäckig ist – ganz einfach, weil er es ermöglicht, auch unerklärliche Ereignisse in ein geschlossenes, in sich kohärentes System zu integrieren. Demgegenüber vermitteln die Aufklärungsschriftsteller ein Realitätsmodell, das den Zufall so sehr zur 66 67

Heinse [Anm. 15], S. 230. Wagener [Anm. 6], Bd. 1, S. 65.

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Regel macht, dass er sich letztlich als das einzige erweist, womit noch sicher gerechnet werden kann. In der zehnten Erzählung aus den „Neuen Gespenstern“ wird das besonders deutlich. Hier nimmt ein „vorurteilsloser“ Hauslehrer nachts im Haus eine bleiche, weiße Gestalt wahr, die auch bei mehrmaliger Ansprache stumm bleibt und sich nur jeweils höflich verbeugt. Die Aussage der Köchin, dass den ganzen Abend niemand das Haus betreten habe, verunsichert den Mann derart, dass er einen Angriff auf den vermeintlichen Geist wagt. Nach einem kurzen Gefecht stellt sich allerdings heraus, dass das Gespenst niemand anders war als der Perückenstock. Dessen merkwürdig menschliches Verhalten und geisterhaftes Aussehen wird in einer Figurenrede des Lehrers wie folgt begründet: Ich war kurz vor dem Abendessen nicht in meinem Zimmer gewesen; indessen hatte der älteste Junker den Perückenstock aus dem Winkel, wo er gewöhnlich zu stehen pflegte, hervorgeholt, und sich, mit seinem Bruder, an einer alten Perücke im Haarkräuseln geübt. [...] Das Handtuch – ein sehr langes, wie man es auf dem Lande zu haben pflegt – war von den flüchtigen Kindern aus Versehen sehr naß gemacht worden; sie hatten es daher, bevor sie zum Essen geeilet waren, über den Perückenstock zum Trocknen ausgebreitet. Der Zufall, dessen Spiele oft so auffallend, als mannichfaltig sind, wollte, daß der Perückenstock mit seinem Kreuzfuße gerade auf die Fuge von zwei Dielen war gestellt worden, deren eine sich geworfen hatte, und überhaupt auf ihrer Unterlage nicht mehr fest lag. Wenn man auf diese Diele trat, so kippte der Perückenstock; daher die Verbeugung.68

Wagener weist in dieser ausführlichen Erläuterung eigens darauf hin, dass nur der Zufall als ein ‚spielender‘ Akteur für das höchst unwahrscheinliche Ereignis eines grüßenden Perückenstockes verantwortlich sein kann. An dieser Personifikation des Zufalls zeigt sich zugleich das Problem, das einer Weltkonzeption inhärent ist, die ohne transzendente Akteure auskommen muss: Es erweist sich offenbar als besondere Schwierigkeit, Geschichten zu erzählen, die zwar einem Realitätsprinzip, d.h. einer immanenten Logik, unterliegen sollen – und sei es die Logik des Zufalls –, die dieses logische Prinzip selbst aber auf keinen handelnden Verursacher mehr zurückführen können. Dass Prinzipien oder Systeme tatsächlich Handlungen ausführen, scheint eine so unvorstellbare Annahme zu sein, dass dem Verlust einer solchen letzten personalen Instanz nur noch mit der Generierung neuer entpersonalisierter, aber dennoch personifizierter Instanzen entgegengewirkt werden kann. Das zeigt nicht nur das Beispiel Wageners, sondern es kann modellhaft an der Geschichtsphilosophie des 18. und 19. Jahrhunderts abgelesen werden – auch wenn hier selbstverständlich nicht der ‚spielende Zufall‘ am Werk ist, sondern die ‚planende Natur‘ (Herder) oder die ‚listige Vernunft‘ (Hegel). Die offenbare Schwierigkeit moderner Geschichtskonzepte, auf solche providenziellen Rudimente zu verzichten, zeigt indessen, dass die Ge68

Ebd., S. 63f.

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spensterdebatte in ihrer ausgiebigen Auseinandersetzung mit dem Zukünftigen weniger abergläubische Banalitäten als die Paradigmen moderner Realitätsbeschreibungen selbst verhandelt.69

IV. Gespenster zwischen Gut und Böse. Der Himmlische Verwaltungs- und Medienapparat Gespenster sind Einzelgänger – das gilt allerdings nur (zumindest weitgehend) für ihre Auftritte in der irdischen Welt. Im Reich des Unsichtbaren sind sie Mitglieder staatlicher und administrativer Organisationen, deren oberster Vorsteher um 1800 gemeinhin immer noch der transzendente Gott ist. Als „Bürger“70 solcher Reiche sind die Gespenster keineswegs gleichberechtigt, sondern meist einer strengen hierarchischen Ordnung unterworfen. Johann Konrad Ihling beschreibt das himmlische Machtgefüge, in das die Seelen der Verstorbenen nach ihrem Tod eintreten, in seiner 1807 erschienenen Schrift „Die Kunst, die Geister zu verstehen“ folgendermaßen: Es ist ein Geisterreich und [...] es giebt verschiedne Arten oder Klassen von Geistern, niedere und höhere, mehr oder weniger vollkommne, Geister von Menschen und Geister von andern Wesen und Creaturen.71

Die Hierarchie der Geister, die Ihling zufolge deren Grad an sittlicher Vollkommenheit in der irdischen Welt widerspiegelt, drückt sich vor allem in der Nähe zu Gott sowie in der Ranghöhe der administrativen Aufgaben aus. Derartige Imaginationen jenseitiger Herrschaftsgefüge sind in den Theorien über Geistererscheinungen keine Ausnahme. Kaum einer der Autoren lässt es sich entgehen, den Entwurf eines unsichtbaren Reiches oder einer „himmlischen Monarchie“72 zu entwerfen. Diese Entwürfe stellen allerdings für sich genommen noch keine Innovation dar, sondern stehen in einer langen Traditi69 Solche providenziellen Figuren finden sich nicht nur in der Geschichtsphilosophie: Es wurde in der Forschung bereits verschiedentlich darauf hingewiesen, dass die Metapher der „Unsichtbaren Hand“, die in der Nationalökonomie die Eigenlogik und Selbstregulierung des Marktes symbolisiert, ursprünglich der zeitgenössischen Schauer- und Geheimbundliteratur entlehnt ist. Als gespenstische Personifikation systemischer Eigenlogik ist die unsichtbare Hand daher ein weiteres Beispiel dafür, wie Prozesse, die unsichtbar und überindividuell gedacht werden, im Rückgriff auf die Idee einer magischen Lenkung plausibilisiert werden können. Vgl. dazu Harun Maye: Die unsichtbare Hand – zur Geschichte einer populären Metapher, in: Unsichtbare Hände. Automatismen in Medien-, Technik- und Diskursgeschichte, hg. v. Irina Kaldrack, Theo Röhle, Hannelore Bublitz u.a., München 2011, S. 21–40; Stefan Andriopoulos: The invisible Hand. Supernatural Agency in Political Economy and the Gothic Novel, in: English Literary History 66, 1999, H. 3, S. 739–758. 70 Ihling [Anm. 37], S. 219. 71 Ebd., S. 174. 72 So die Formulierung bei Johann Christoph Jonas Schwarze: Die ungegründete Leugnung der Gespenster betrachtet in einem Sendschreiben an den Herrn Hofrath Hennings zu Jena, Jena 1779, S. 44.

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on, die vor allem anhand der Angelologie, der Lehre von den Engeln, verfolgt werden kann. Auffällig ist dagegen, dass um 1800 anscheinend ein verstärkter Bedarf gesehen wird, den überirdischen Hofstaat in seiner traditionellen Fassung zu erweitern und ihm neue Subalterne zur Verfügung zu stellen, deren Zuständigkeiten diejenigen der Engel weitreichend transformieren oder überschreiten. In der theologischen Tradition werden gewöhnlich zwei wesentliche Aspekte oder Funktionen der Engel unterschieden: eine gouvernementale bzw. administrative und eine assistierende bzw. lobpreisende Funktion.73 Während die assistierenden Engel dafür zuständig sind, Gott mit ihren Lobgesängen repräsentativ zur Seite zu stehen, obliegt den administrativen Engeln die Verwaltung der Welt. In diesen Bereich fällt auch und vor allem die Überbringung von Botschaften. Wie Michel Serres bemerkt hat, gehen die Engel als Boten vollständig in ihrer medialen Übertragungsfunktion auf. Sie müssen im Moment der Übermittlung „zurücktreten und verschwinden, damit der Empfänger die Mitteilung des Absenders hört und nicht den Gesandten. Erlangt der Bote zu große Bedeutung, belegt er den Übertragungskanal für sich mit Beschlag.“74 Dass die Engel im Augenblick ihrer Verkündigung verschwinden und eins werden mit ihrer Botschaft, hat maßgeblich damit zu tun, dass sie nicht in eigenem Namen handeln, sondern als heteronome Agenten einer höchsten Instanz. Ganz ähnlich beschreibt Sybille Krämer im Anschluss an Serres den medialen Status von Engeln: Das Sein der Engel ist ihr Botesein; der Engel ist von Gott gesandt, ihr Geschick ist die Verschickung göttlicher Nachrichten. Engel sind unselbstständig. Sie handeln nicht aus eigenem Impuls. [...] Ihre Existenz realisiert sich im Sprechen in einem fremden Namen. [...] [D]en Menschen präsent sind sie nur im Augenblick ihrer Verkündigung; ihr Auftritt als Bote Gottes steht immer im Zeichen ihres Verschwindens und ihres Entzugs.75

Wenn die Engel als scheinbar neutrale Botschafter, als Vermittler zwischen Immanenz und Transzendenz, fortwährend im Zeichen des Entzugs stehen, dann ist ihr Ort weder im Himmel noch auf der Erde, sondern in einem Zwischenreich, das sie nur um den Preis ihres eigenen Falls verlassen können. Das Exempel Luzifers steht paradigmatisch dafür, was mit Engeln passiert, die nicht mehr bloß als leere, vom Allmächtigen je nach Belieben beschreibbare Signifikanten durch den Äther zirkulieren möchten, sondern ihre Kompetenzen eigenmächtig überschreiten.76 73 Vgl. Giorgio Agamben: Die Beamten des Himmels. Über Engel, Frankfurt/Main, Leipzig 2007, S. 13. 74 Michel Serres: Die Legende der Engel, aus d. Franz. v. Michael Bischoff, Frankfurt/ Main 1995, S. 99. 75 Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Eine kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt/Main 2008, S. 126ff. 76 Vgl. ebd., S. 131 sowie Serres [Anm. 74], S. 99ff.

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Das Auftreten der Gespenster innerhalb dieses – vom diabolischen Ausnahmefall Luzifers einmal abgesehen – einigermaßen stabilen Systems ergibt sich zunächst aus der Vermutung, dass gerade die jeweils nur momenthafte Präsenz der Engel nicht mehr ausreichen könnte, um eine adäquate Regierung der Welt zu gewährleisten. Besonders pointiert hat dieses Argument 1779 der Jenaer Superintendent Johann Christoph Jonas Schwarze formuliert, der den Engeln nicht mehr zumuten möchte, sich im ständigen Pendelverkehr zwischen Himmel und Erde zu bewegen, gleichzeitig jedoch auf der Notwendigkeit einer Dauerpräsenz überirdischer Beobachter auf der Erde besteht. Die Gespenster, so Schwarze, seien dienstbare „Mittel-Geister“, die dazu eingesetzt seien, „theils denen Menschen nützliche Dienste zu leisten, theils ihnen Furcht und Schrecken [...] einzujagen“.77 Für solche niederen Aufgaben könnten die Engel nicht zur Verfügung stehen: Sie [die Engel] stehen vor Gottes Throne, als seine erhabene Minister und Diener, sie werden Fürsten, Thronen Herrschaften genennet. [...] Nehme ich aber gewisse Mittelgeister an, die Gott dazu bestimmet hat, theils den Menschen durch sie gutes zu erweisen, theils auch nachdem es seine Absicht erfordert, Schrecken, Furcht und Schaden zuzufügen; so dürfen wir die heiligen und erhabenen Engel, in Rücksicht der erstern Absicht Gottes [...] nicht alle Tage, Stunden und Augenblicke von der Höhe des Himmels herabfahren lassen.78

Die Einführung einer administrativen Zwischeninstanz steht bei Schwarze einerseits im Zeichen der Effizienz und der optimalen Haushaltung mit personalen Ressourcen; sie ergibt sich zweitens aber auch aus einer Fürsorgepflicht gegenüber den Erdbewohnern, die nicht mehr nur punktuell und bei konkretem Bedarf, sondern permanent ausgeübt werden muss. Das wird besonders dann deutlich, wenn Schwarze auf die präventiven Effekte hinweist, die eine gespenstische Dauerpräsenz mit sich bringt. Denn indem sie das Bewusstsein einer fortwährenden Beobachtung erzeugen, seien die Gespenster in der Lage, „das schlafende Gewissen [der Menschen] aufzuwecken, oder zu erschüttern“ bzw. sie dazu zu bringen, „über [ihre] bösen Handlungen ernsthaft nachzudenken“.79 Von einer ähnlichen Logik geht auch der Theologe Gustav Ernst Wilhelm Dedekind in seinem Traktat „Ueber Geisternähe und Geisterwirkung“80 aus – mit einem entscheidenden Unterschied: Die bei Schwarze noch unverzichtbare Funktion der Gespenster, Strafen zu vollziehen und Schrecken zu verbreiten, 77

Schwarze [Anm. 72], S. 9f. Ebd., S. 43ff. 79 Ebd., S. 51. 80 Die Abhandlung erschien erstmals 1793 und hatte insgesamt drei jeweils überarbeitete Auflagen. Die hier verwendete dritte Auflage stimmt in den Grundideen zwar mit den ersten beiden überein, weist aber gegenüber diesen den größten Anteil an juristischem Vokabular auf (wenn die Geister z.B. als allgegenwärtige Zeugen und Richter bezeichnet werden). 78

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entfällt bei Dedekind vollständig zugunsten einer aus der geisterhaften Allgegenwart resultierenden Internalisierung sittlicher Selbststeuerung. Die Problemstellung, von der Dedekind ausgeht, betrifft die Überführung einer bloßen Kenntnis moralischer Pflichten in konkrete Handlungen. Zwar bestimmt das Sittengesetz idealtypisch „bloß durch sich selbst den Willen als Willen, indem es sein Gebot ganz unbedingt zu ihm gelangen läßt“81, aber in der Empirie gestaltet sich die Transformation einer allgemeinen Regel in subjektives Wollen höchst schwierig, wie Dedekind weiß: Nehmen wir den Menschen nämlich, wie ihn uns die Erfahrung giebt [...], so ist es immer, wenn auch nicht schon zuviel gefordert, doch wenigstens zu viel erwartet, daß er, unbekümmert, ob er bemerket oder nicht bemerket werde, bloß aus dem Grunde, daß es gut sey, und schön und recht und edel sey, auch immer gut und recht und schön und edel handeln sollte.82

Die bloße Kenntnis des Guten ist also keineswegs der Garant für entsprechend gute Handlungen. Nur unter der fortwährenden Anwesenheit von Zeugen und im Bewusstsein, deren kritischer Beobachtung ausgesetzt zu sein, ist nach Dedekind gewährleistet, dass die Maximen des Sittengesetzes nicht nur gewusst, sondern auch gewollt und umgesetzt werden. In der sichtbaren Welt ist allerdings eine solche Form der permanenten Zeugenschaft weder realisierbar, noch könnte die Unbestechlichkeit ihres Urteils garantiert werden. Aus dieser Einsicht postuliert Dedekind die Annahme der Existenz einer Geisterwelt, die genau diese Funktion einer unsichtbaren Überwachung und Kontrolle des menschlichen Gewissens übernimmt: Eben deswegen aber, weil sie [die Menschen] den sichtbaren Zeugen gerade da so leicht vermissen, entfernen und bestechen können, eben deswegen muß es ja wohl so vorzüglich wohlthätig auf sie wirken, [...] von solchen Zeugen sich umgeben [zu] wissen, deren Gegenwart sie sich durch keine Einsamkeit entziehen können, die sie ganz kennen, wie sie sind, ihre dunkelsten Gefühle deuten, ihre Absichten in des Herzens Tiefe selbst erforschen, und dem Reifen eines jeglichen Entschlusses zusehen – und zwar nicht als gleichgültige, oder müssige Beobachter, sondern mit dem Mitfühlen eines Busenfreundes, und mit dem Ernste eines Richters zusehen [...].

Man sieht, wie sich die Anforderungen an die Agenten der unsichtbaren Weltregierung verschoben haben: Während die Einsätze der Engel, sei es als Überbringer von Nachrichten oder als Vollstrecker des göttlichen Willens, immer einen konkreten Anlass haben mussten, besteht die Funktion der Geister um 1800 in einer tendenziell tätigkeitslosen, allein in der Beobachtung aufgehenden Dauerpräsenz auf der Erde. 81 Gustav Ernst Wilhelm Dedekind: Ueber Geisternähe und Geisterwirkung oder Ueber die Wahrscheinlichkeit, daß die Geister der Verstorbenen den Lebenden sowohl nahe seyn, als auch auf sie wirken können, 3. Aufl., Hannover 1825, S. 4. 82 Ebd., S. 36.

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Stellt man in Rechnung, dass die fiktiven Konstruktionen transzendenter Reiche immer schon in einem wechselseitigen Bezug zu irdischen Herrschaftsformen standen, ja dass Engel und Bürokraten in der Geschichte der menschlichen und himmlischen Regierungen mithin dazu neigen, „ununterscheidbar zu werden“83, dann darf das Modell eines geisterhaften Sittenregimes vom Typ Dedekinds nicht verwundern. Denn im Zuge des Umbaus gesellschaftlicher Machtstrukturen im 18. Jahrhundert und der Herausbildung der sogenannten ‚Disziplinargesellschaft‘ wird die unsichtbare Beobachtung zum institutionellen Paradigma schlechthin.84 Institutionen wie Schulen, Gefängnisse oder militärische Einrichtungen werden allesamt daraufhin ausgerichtet, vermittels einer permanenten Observanz Subjekte zu erzeugen und zu erziehen, die das Prinzip der Selbststeuerung immer schon verinnerlicht haben. Vor diesem Hintergrund muten die Entwürfe Dedekinds und Schwarzes nicht mehr wie spekulative Fiktionen an, sondern weisen eine auffallende Ähnlichkeit mit den Wunschkonstellationen zeitgenössischer Pädagogen, Mediziner oder Strafrechtler auf. Gespenstisches Potential haben diese Phantasmen einer unsichtbaren „Steuerung der Selbststeuerung“85 deshalb, weil bei ihnen die von außen wirkende Instanz zugleich abwesend und doch als latente Präsenz wahrnehmbar ist. Die Häufigkeit, mit der das Thema einer unsichtbaren Fremdsteuerung in der Gespensterliteratur behandelt wird, ist auffällig.86 Allerdings stehen dabei keineswegs wie bei Schwarze und Dedekind immer nur die positiven Effekte im Vordergrund. Dieser Aspekt überwiegt nur dann, wenn die Gespenster sich jenseits ihrer präsentischen Beobachterposition in Schweigen hüllen. Sobald sie zu sprechen beginnen, werden sie zu zweifelhaften Quellen, für deren Validität kein Theoretiker und Erzähler von Geistergeschichten mehr einstehen möchte. Auch hierin unterscheiden sich die Geister von ihren vornehmeren Kollegen, den Engeln. Während die Engel als Versinnbildlichung einer idealen Kommunikationssituation, einer störungsfreien Nachrichtenübertragung einstehen, dominiert bei den Botschaften der Gespenster immer der Verdacht, dass sie nicht als das Sprachrohr Gottes fungieren, sondern bloß im Dienst ihrer eigenen Interessen agieren. Luzifers Ausnahme ist damit bei den Gespenstern zum potenziellen Regelfall geworden. 83

Agamben [Anm. 73], S. 12. Vgl. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt/ Main 1981, S. 132ff.; sowie Ders.: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/Main 1994, bes. S. 173ff. 85 Heinrich Bosse: Der geschärfte Befehl zum Selbstdenken, in: Diskursanalyse 2: Institution Universität, hg. v. Friedrich A. Kittler, Manfred Schneider u. Samuel Weber, Opladen 1990, S. 31–62, hier: S. 48. 86 Vgl. dazu z.B. die Geistertheorie Joseph Kasts, der vom sittlichen Bewusstsein als einer „Geisterblüthe“ spricht, die durch die Einwirkung der unsichtbaren Welt erst „befruchtet“ werden müsse, vgl. Kast [Anm. 8], S. 81. 84

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Eckartshausen etwa unterscheidet bei den Geistern, die als „untergeordnete Agenten“ der himmlischen Weltverwaltung ausgesandt werden, zwischen guten und bösen und weist trotz aller Euphorie gegenüber den geheimen und prophetischen Nachrichten aus dem Geisterreich auf die Gefahr hin, dass bestimmte Menschen zum „Spielwerk verworfener Geister“ 87 werden könnten. In seiner Erzählsammlung bleibt deshalb oftmals unklar, ob den Geistern überhaupt getraut werden könne und welche Ziele sie verfolgen, wenn sie mit ihren Forderungen an die Menschen herantreten und ihnen geheime Informationen anvertrauen.88 Am nachhaltigsten aber weist Jung-Stilling in seiner „Theorie der GeisterKunde“ immer wieder auf den zweifelhaften Wahrheitsgehalt gespenstischer Botschaften hin. Es gebe unter den Einwohnern der Geisterwelt „Gute und Böse, Halbgute und Halbböse“, so Jung-Stilling, und während die Guten zumindest der Intention nach die Wahrheit verbreiten möchten, machen es sich die Bösen „zum Vergnügen, Menschen zu betrügen.“89 Im dritten Hauptteil der Abhandlung legt Jung-Stilling daher seinen Lesern einen kritischen Umgang mit den entsprechenden Quellen ans Herz. Es sei nötig, daß man jede Erscheinung aus dem Geisterreich ehrlich, und unpartheyisch, aufs schärfste und genaueste prüfen und untersuchen müße, um das Wahre vom Falschen, Betrug und Täuschung von Wirklichkeit [...] mit Gewisheit unterscheiden zu können.90

Auf den Wahrheitsgehalt von Nachrichten, die vorgeblich im Namen einer höchsten Autorität übermittelt werden, kann man sich Jung-Stilling zufolge nicht mehr verlassen. Er berichtet deshalb auch mehrfach von den fatalen Folgen, die aus einer zu großen Vertrauensseligkeit gegenüber unsichtbaren Informanten resultieren. In einer Geschichte aus dem zweiten Hauptstück der „Theorie der GeisterKunde“ wird ein junges Mädchen, das somnambule Fähigkeiten besitzt, von den Geistern überredet, die Frau ihres Geliebten zu verleumden. Bezeichnend ist an dieser Episode vor allem, dass nicht nur die Somnambule selbst sich von

87

Eckartshausen [Anm. 14], S. 31 u. S. 11. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Geister mitunter erheblichen Druck ausüben oder manipulativ auf die Menschen einzuwirken versuchen, wenn ihnen nicht direkt geglaubt wird. So wendet sich etwa in einer Erzählung aus Eckartshausens „Sammlung der merkwürdigsten Visionen“ ein Geist an einen Bauern mit dem Auftrag, einen Mordfall anzuzeigen. Der Bauer, der gegenüber der Erscheinung skeptisch ist, weigert sich zunächst, woraufhin der Geist „verlangte, [...] der Müller solle die Sache offenbaren, widrigenfalls würde er wieder erscheinen, und ihn mit [seiner] Gegenwart beängstigen.“ Eckartshausen [Anm. 14], S. 105. 89 Jung-Stilling [Anm. 49], S. 150. 90 Ebd., S. 186. 88

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der Autorität der Informanten blenden lässt, sondern dass regelrechte kollektive Ansteckungseffekte stattfinden, an denen die zu Unrecht Geächtete schließlich zugrunde geht: Allmählig erhielt sie [das somnambule Mädchen, E. T.] in ihren Entzückungen die Nachricht – daß die noch lebende Frau ihres Geliebten ein Scheusal vor Gott und seinen Engeln sey – Dies wurde nach und nach so satanisch klug und scheinheilig insinuirt, daß es die ganze Gesellschaft, die aus mehreren hundert Personen bestand, heilig glaubte. Die arme Frau wurde also, auf Befehl aus der Geisterwelt, an einem entfernten Ort eingesperrt, sie verlohr den Verstand, starb in der Raserey, und der Wittewer heyrathete nun, auch auf Befehl der Geisterwelt, die junge Frauensperson.91

Jung-Stilling gibt sich einige Mühe, die Glaubwürdigkeit und Expertise der Gespenster zu relativieren. Und das betrifft bei weitem nicht nur die sogenannten bösen Geister. Zusätzlich verkompliziert wird der Prozess der kritischen Urteilsbildung, wenn Jung-Stilling das unsichtbare Nachrichtensystem insgesamt als eines charakterisiert, in dem Informationen dem Hörensagen nach weitergegeben werden und Popularitätswerte mehr zählen als die gewissenhafte Berichterstattung: [A]uch die guten Geister wissen noch nicht Alles, besonders so lange sie noch im Hades sind, und das was sie wissen, blos von Andern erfahren haben; oft mischen sich auch falsche eitle Geister dazu, die den Seher zu täuschen oder irre zu führen suchen: diese studiren die Neigungen und Wünsche desselben, und lenken dann die Eingebungen, Bilder, und Vorstellungen so, daß sie seinen Lieblings-Meinungen entsprechen.92

Der Geschmack des irdischen Publikums ist also auch für Geister-Autoren oft wichtiger als die Frage nach der Wahrheit. Deshalb müssen die Rezipienten der Geisternachrichten Medienkompetenz besitzen, um wahre von falschen Aussagen unterscheiden zu können. Die Zuspitzung auf das Problem der Validität und der kritischen Rezeption von Quellen scheint deshalb essentiell, weil eben diese Fragen das bürgerliche Publikum und die nach ihm benannte Öffentlichkeit nachhaltig beschäftigen. Die kleine Medienkunde innerhalb von Jung-Stillings Geisterkunde kann aus dieser Perspektive kaum ein Zufall sein. Schon der Botendienst der Engel hat, wie Bernhard Siegert gezeigt hat, eine Vorlage oder ein Pendant im irdischen Nachrichtensystem. Das betrifft bereits die Etymologie der Engel (griechich angeloi), die auf die Bediensteten des persischen angareion – des vermutlich ersten Relaispostsystems der Geschichte – verweist, aber auch die Form der himmlischen Nachrichtenübertragung selbst, die im mittelalterlichen Repräsentationssystem den Aufgaben der päpstlichen

91 92

Ebd., S. 71. Ebd., S. 73.

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Legaten oder der fürstlichen Botschafter entspricht.93 Insofern also die Engel „bloß strategische Umschreibungen empirischer Medientechniken“ sind, folgert Siegert: Der Kanal, die Post, geht dem Gott voraus. Die Engel [...] sind buchstäblich nichts als Postreiter. Gott ist also kein Großer Anderer, der am Anfang aller Zeiten DAS WORT gewesen wäre. Am Anfang war die POST, und die Post ist der Ursprung Gottes.94

Gott, so könnte man das Argument auch formulieren, benötigt immer schon ein ausgefeiltes Mediensystem, um seine Wahrheit durch frohe Botschafter verkünden lassen zu können. Dass dieses Mediensystem und seine Akteure um 1800 im Zeichen einer eingeschriebenen Dysfunktionalität stehen, ist insofern ein bezeichnender Umstand. Er legt aber nicht nur das Scheitern der transzendenten Nachrichtenvermittlung im Zeichen der Säkularisierung nahe, sondern auch und vor allem den Gedanken, dass diese Dysfunktionalität möglicherweise auch im Mediensystem der Aufklärung eine Entsprechung hat. Denn gerade die Aufklärung, die die Beförderung der Wahrheit (wenn auch nicht unbedingt der göttlichen) zu ihrem zentralen Projekt erklärt hat, stößt bei der Bewältigung dieser Aufgabe auf eine Reihe selbstgeschaffener Schwierigkeiten. Eine kleine Episode, die sich im Kontext des Streits um den als Wunderheiler und Scharlatan berüchtigten Grafen Cagliostro zugetragen hat, kann dies verdeutlichen. In der „Berlinischen Monatsschrift“ ergeht im Jahr 1787 ein Aufruf an Goethes Schwager, den Rastatter Hofrat Johann Georg Schlosser, sich zu neuen Berichten über die umstrittenen Wundertaten Cagliostros zu äußern. Schlosser hatte sich ein Jahr zuvor im „Deutschen Museum“ als Verteidiger Cagliostros gegeben und galt seitdem als Sympathisant des Okkultismus.95 Von den Herausgebern der Berlinischen Monatsschrift wurde er dafür scharf kritisiert. In seinem Antwortschreiben, das wiederum im „Deutschen Museum“ erscheint, geht Schlosser allerdings weniger auf seine eigene Position zu Cagliostro ein, die er selbst als unentschieden bezeichnet, sondern er rechnet 93 Im mittelalterlichen Zeichensystem bedeutet Repräsentation nicht, etwas Abwesendes zu vertreten, sondern es physisch anwesend zu machen. Für die Legaten des Papstes heißt das etwa, dass, indem sie die päpstlichen Attribute tragen und dadurch quasi zum Papst geworden sind, sie nur außerhalb Roms operieren konnten. Darüber hinaus wurde darauf geachtet, dass sich nie zwei Legaten außerhalb Roms begegnen konnten. Denn wie im Fall der Engel spricht durch die Legaten im Moment der Botschaftsübertragung ein Anderer, als dessen Sprachrohr sie gleichsam fungieren. Vgl. dazu Bernhard Siegert: Vögel, Engel und Gesandte. Alteuropas Übertragungsmedien, in: Gespräche – Boten – Briefe: Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter, hg. v. Horst Wenzel, Berlin 1997, S. 45–62, hier: v. a. S. 49 u. S. 58. 94 Ebd., S. 55. 95 Schlosser hatte in dem Beitrag bestritten, dass Frau S. durch Cagliostros zweifelhafte Wunderkuren zugrunde gerichtet worden sei. Vgl. Johann Georg Schlosser: Schreiben an Herrn N. – Ueber eine in dem grauen Ungeheuer No. 20, S. 157 enthaltene Stelle vom Grafen Cagliostro, in: Deutsches Museum 1787, Bd. 1, S. 387–392.

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vor allem mit dem Medium der Monatsschrift selbst ab. Denn entgegen den Beteuerungen der Herausgeber, den Aberglauben bekämpfen und die Wahrheit befördern zu wollen96, attestiert Schlosser der Zeitschrift, weniger an ihren proklamierten Zielen als an der Steigerung der eigenen Verkaufszahlen interessiert zu sein. Im Willen, das eigene Projekt am Leben zu halten, so der Vorwurf, dehnten die Herausgeber skandalträchtige Debatten über Wundertäter oder Geisterseher unnötig aus und druckten vorschnelle, unqualifizierte Urteile ab, nur um diese im nächsten Moment wieder widerlegen zu können: „die Berliner Monathsschrift [...] kan sich selbst dieser Widerlegung freuen: denn sie giebt Stof für neue Hefte, durch alle zwölf Zeichen des Thierkreises.“97 Schlosser zufolge trifft die Schuld für die anhaltende Verbreitung von Irrtümern und Aberglauben also nicht Figuren wie Cagliostro oder Swedenborg, sondern die sogenannte „Journalistokratie“ selbst, indem sie „jedes Gewäsch“98 abdruckt und den Prozess der Wahrheitsfindung dadurch künstlich hinauszögert oder diesem sogar entgegenwirkt. Die wahren Gespenster seien deshalb nicht diejenigen Swedenborgs, sondern die Journalisten, die Schlosser zufolge „an den Köpfen [des Publikums] saugen“.99 Mit dieser Kritik spricht Schlosser eine Problematik an, die an den Kern des publizistischen Selbstverständnisses der periodischen Aufklärungsorgane rührt. Das dialogische Prinzip der Zeitschriften, das Nebeneinander entgegengesetzter Meinungen sowie die polemische und subjektive Form der Debattenführung bedeutete für das Publikum nämlich nicht nur einen erhöhten Unterhaltungswert, sondern auch eine enorme Zumutung, erforderte sie doch einige Versiertheit im Umgang mit solchen Publikationsformen. Fern davon, in Fragen wie der nach der Möglichkeit von Gespenstererscheinungen eine stringente Haltung zu vermitteln, waren die Zeitschriften ebenso „Ort kritisch moralischen Raisonnements wie okkulter Schauplatz“.100 96 Vgl. dazu die programmatische Vorrede zur ersten Ausgabe der Berlinischen Monatsschrift, in der als Motivation der Herausgeber „Eifer für die Wahrheit [sowie] Liebe zur Verbreitung nützlicher Aufklärung und zur Verbannung verderblicher Irrthümer“ genannt werden. Vgl. Johann Erich Biester, Friedrich Gedike: Vorrede, in: Berlinische Monatschrift, Erster Band, Berlin 1783, o. P. 97 Johann Georg Schlosser: Des geheimen Hofr. Schlossers Erklärung über die Aufforderung der Berliner Monatsschrift Nov. 1787, S. 449, *), den Grafen Cagliostro betreffend, in: Deutsches Museum I, 1788, H. 1, S. 51–60, hier: S. 55f. 98 Schlosser [Anm. 97], S. 57. In einem weiteren Beitrag im Deutschen Museum kritisiert Schlosser auch die Anonymität vieler Beiträge in der Monatsschrift, die eine polemische Debattenführung begünstige. Vgl. Johann Georg Schlosser: Schreiben an Herrn ***, worinn einige Ursachen enthalten sind, warum die Berliner Monatsschrift bisher in Bekämpfung der Zauberer und des Aberglaubens noch nicht so glücklich gewesen ist, als man zu hoffen Ursache hatte, in: Deutsches Museum I, 1788, H. 1, S. 518–542, hier: S. 536ff. 99 Schlosser [Anm. 97], S. 60. 100 Klaus H. Kiefer: „Die famose Hexen-Epoche“. Sichtbares und Unsichtbares in der Aufklärung, München 2004, S. 64f.

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Die prozessuale, offene Diskussionskultur, die den periodischen Formaten eigen ist, erfordert genauso wie die parallele Publikation konkurrierender Beiträge medienkompetente Leser, die sich trotz oder gerade wegen des vielfältigen Angebots an Meinungen ein kritisches Urteil bilden können. Dass dies allerdings gerade bei umstrittenen Themen wie der Okkultismusdebatte nicht immer geglückt ist, hat bereits Klaus H. Kiefer betont. Es sei zu vermuten, so Kiefer, dass Presseberichten von okkulten Erscheinungen prinzipiell mehr Wahrheitswert beigemessen wurde, als dies heute im Zeitalter der Massenmedien der Fall sein mag [...]. Der kommunikative Status – Subjektivität – war bei Pro und Contra derselbe [...]. Meinung stand sozusagen gegen Meinung, was nicht selten erst recht zur Verunsicherung [...] beigetragen haben mochte.101

Die „Pluralisierung der Mündigkeit“ und der „infinite Regreß der Wahrheitsfindung“, so Kiefers Folgerung, führen im späten 18. Jahrhundert zu einer Überforderung des Lesepublikums.102 Figuren wie Cagliostro oder Swedenborg sind für ihn deshalb in erster Linie als Medienphänomene anzusehen. Vor diesem Hintergrund weist Jung-Stillings Entwurf einer geisterhaften Medienwelt, in der keiner Aussage vorbehaltlos geglaubt werden kann, in der Geisterautoren ihre Mitteilungen auf den Geschmack der irdischen Rezipienten abstimmen und Gerüchte mehr Gewicht haben als göttliche Wahrheiten, auffällige Parallelen mit der Medienrealität der Jahrhundertwende auf. Von Jung-Stilling vermutlich nicht intendiert, werden damit zugleich die Möglichkeitsbedingungen des eigenen Diskurses thematisiert. Denn die Gespensterdebatte ist auch und vor allem ein Diskursphänomen und wird durch die spezifische Publikationskultur der Aufklärungsmedien allererst ermöglicht und produziert. Die Gespensterdebatte, so lässt sich abschließend feststellen, ist kein Phänomen, das der aufgeklärten Welt um 1800 entgegengesetzt ist oder das nur Rudimente eines überkommenen Aberglaubens widerspiegelt, der im Zuge einer restlosen Volksaufklärung noch zu beseitigen wäre. Es handelt sich vielmehr um einen Diskurs, der in vielerlei Hinsicht Fragen reflektiert, an denen sich die zeitgenössische Publizistik und die Wissenschaften abarbeiten. Er wird deshalb mindestens in gleichem Maße von dem Diskurs der Aufklärungsschriftsteller wie von der Partei der Okkultisten hervorgebracht. Ohnehin kann den Texten der Gespenstergläubigen nur schwer attestiert werden, dass sie sich schlichtweg außerhalb oder jenseits der aufgeklärten Vernunft bewegen, wenn man bedenkt, wie modern die Themen und wie technisch die Argumente sind, die in den Gespenstertheorien und -erzählungen zum Tragen kommen. Die Komplexität der Debatte und die Anziehungskraft des Themas scheinen vielmehr genau in dieser 101 Ebd., S. 147 und S. 66. Kiefer bezieht sich dabei nicht nur auf die Zeitschriften der Aufklärung, sondern auch auf Medien wie Brief und Tagebuch, die gerade in der Debatte um Cagliostro eine große Rolle spielen. 102 Ebd.

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hybriden Konstellation – in der Verschmelzung providenzieller Motive mit aktuellen wissenschaftlichen Debatten, die sich in den Texten beider Parteien gleichermaßen findet – ihren Grund zu haben. Mit Blick auf Kants Beitrag zur Geisterseher-Debatte hat sich gezeigt, dass das Thema des Gespenstischen, insofern die Erscheinungserlebnisse sich als angeblich verbürgte Erfahrungen ausgeben, erkenntnistheoretische Problemstellungen berührt, aber auch in Diskussionen um die Pathologie bzw. um die produktive Eigenleistung der Psyche hineinreicht. Insofern sowohl die Gespenstergläubigen als auch deren Gegner die Kategorie der Einbildungskraft in ihrer Argumentation zentral einsetzen, gehen beide Parteien von einer komplexen Struktur psychischer Operationen aus, die lediglich unterschiedlich gedeutet wird: einmal als möglicher Zugang zu einer unsichtbaren Welt, einmal als bedrohliche und selbstgefährdende Instanz. Hinsichtlich ihres Umgangs mit der Zukunft und der Bewältigung des Zufalls hat sich in der Gespensterdebatte das Verhältnis von Prognostik und Prophetie als zentral erwiesen. Während den Geschichten Jung-Stillings oder Eckartshausens noch das Modell einer wohlgeordneten (und deshalb zwar weitgehend undurchschaubaren, aber potenziell berechenbaren) Welt zugrunde lag, ist das poetologische Prinzip, das die Erzählungen Heinses oder Wageners bestimmt, ein „spielender“ Zufall, der sich jeder Form der Evidenz qua Anschauung widersetzt. Schließlich hat die Untersuchung imaginärer Geisterreiche in Texten von Autoren wie Schwarze und Dedekind gezeigt, dass der Diskurs um die Gespenster auch Debatten über die Möglichkeit einer Gesellschaft reflektiert, die sich selbst reguliert und deren Mitglieder sich über Techniken der wechselseitigen Beobachtung kontrollieren. Geister und Gespenster sind nicht nur ein Diskursphänomen, das erst durch ein wirksames Medienverbundsystem und seine spezifische Debattenkultur sichtbar werden konnte, sondern diese mediale Situation spiegelt sich ihrerseits in den fiktiven Geisterwelten wider.

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