Märchen der Gebrüder Grimm - Wissenswertes

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Die M채rchen der Gebr체der Grimm eine Entdeckungsreise von den Urspr체ngen der Sammlung und Wissenswertes zu M채rchen im Allgemeinen


Die M채rchen der Gebr체der Grimm

Wiedererkennen und Neuentdecken


Vorwort Ob man sie nun in der Kindheit vorgelesen bekam oder aus einer der zahlreichen DisneyVerfilmungen kennt, die Märchen der Gebrüder Grimm sind den meisten Deutschen, aus ganz unterschiedlichen Generationen und sozialen Schichten, bekannt. Trotz dieses tiefen Einflusses auf die Gesellschaft, werden Märchen nur allzu oft einer reinen Kinderliteratur zugeordnet. Das missachtet aber das ursprüngliche Ziel der Märchensammlung, die Gebrüder Grimm betonten nämlich schon damals, dass die Märchen nicht für Kinder erdacht und „geschrieben“ worden seien, auch wenn später viele Zugeständnisse an das kindliche Publikum gemacht wurden. Dass die frühen Fassungen der Märchen aber nur für Erwachsene gedacht waren, ist sicher ebenso falsch. Allerdings gewinnen heute Erwachsene wieder mehr Freude an Märchen, was sicher mit dem Abstand zu tun hat, mit dem man die Märchen aus der Kindheit betrachtet und deshalb auch mit der Lust am Wiedererkennen und am Vergleich zwischen dem Erinnerten und dem, was da tatsächlich steht. Nicht zuletzt liegt es aber auch daran, dass man, wenn man die Märchen, nach einigen Jahren, nun mit Erwachsenenaugen betrachtet, ins Staunen kommt über Tiefsinniges und Lustiges, was man dort entdecken kann und was einem früher verborgen blieb.

Aber nicht nur der eigene Blickwinkel darauf, auch die Märchen selber haben sich im Laufe der Zeit verändert. Märchen sind nichts statisches, keine homogenen Erzählungen, das kommt schon daher, dass sie Allgemeingut sind, sie kennen nicht bloß den einen Autor, sie sind vielerlei Formungen unterworfen, Motive fallen weg oder werden aus anderen Erzählungen ergänzt. Dieses Verweben von den unterschiedlichsten Einflüssen macht die Märchen natürlich auch für ein breites Forschungsfeld interessant und dementsprechend vielfältig gestalten sich auch die einzelnen Märchenanalysen. Im Folgenden werden insbesondere die Infografiken einen tieferen Einblick in die Welt der Märchen erlauben, indem sie Hintergrundinformationen bereit stellen und den historischen, soziologischen, psychoanalytischen und mythologischen Bezug zu den Märchen verdeutlichen sowie den Aufbau und die Struktur der Märchen veranschaulichen. Diese Sammlung von Märchenanalysen soll dem Leser Spaß machen beim Wiedererkennen von Bekanntem, anregen beim Entdecken von Neuem und die Vielschichtigkeit der Märchen vor Augen führen, die nicht bloß nette Kindergeschichten sind.

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Die „Mähre“ ist im eigentlichen Sinn eine Nachricht, die berühmt zu werden verdient, so dass sie sich herumspricht.

Der Erzähler

Ursprung des Wortes ‚Märchen‘

Beweggründe für die Märchensammlung

Das Wort „Märchen“ ist eine Diminutivbildung zum Substantiv maere, was seinerseits „Nach­ richt von einer geschehenen Sache“, „Botschaft“ bedeutete. Die „Mähre“ ist im eigentlichen Sinn also eine Nachricht oder Botschaft von einer Sache, einem Geschehnis, einer Wahrheit, die berühmt ist oder berühmt zu werden verdient, so dass sie sich herumspricht. [2]

Jacob Grimm sah in den Märchen „den Niederschlag uralter, wenn auch umgestalteter und zerbröckelter Mythen“ (1854, Vorrede zu Karadschitschs „Volksmärchen der Serben“); Wilhelm Grimm sagt 1815 in der Vorrede zum zweiten Band der KHM: „In diesen Volksmärchen liegt lauter urdeutscher Mythus, den man für verloren gehalten“, und 1856 in den Anmerkungen: „Gemeinsam allen Märchen sind die Überreste eines in die älteste Zeit hinauf reich­ enden Glaubens, der sich in bildlicher Auf­fassung übersinnlicher Dinge ausspricht. Das Mythische gleicht kleinen Stückchen eines zersprungenen Edelsteins, die auf dem von Gras und Blumen überwachsenem Boden zerstreut liegen und nur von dem schärfer blickenden Auge entdeckt werden. Die Bedeutung davon ist längst verloren, aber sie wird noch empfunden.“ Neben dem volkskundlichen und dem poetisch-literaturhistorischen war es dieses mythologische Interesse, das die Gebrüder Grimm zum Märchen führte. [4] Die Brüder Grimm waren der Meinung, Märchen seien für die vorchristlichen Völker etwas Ähnliches gewesen wie die Heiligenlegenden für das Christentum. „So vertraten sie konsequent die Auffassung, dass sich aus der rezenten Überlieferung auf eine vorzeitliche Glaubenswelt schließen lasse…“ (Enzyklopädie des Märchens, 1979) [6]


Das Vorfeld der Märchensammlung Erster Märchensammler überhaupt ist der Italiener Giovan Francesco Straparola aus Caravaggio. 1550 und 1553 erschienen in zwei Teilen seine 74 Erzählungen unter dem Titel „Le piacevoli notti“. Straparola versammelte neben Übernahmen aus Boccaccio, Morlini und Jacobus a Voragine hier auch eine Reihe aus mündlicher Tradition geschöpfter Texte, die er in ihrer Drastik und Derbheit so gut wie unretuschiert ließ, so dass sein Werk auch deswegen noch im 16. Jahrhundert auf den kirchlichen Index der verbotenen Bücher ge­riet. Zur gleichen Zeit gab es eine Übersetz­ ung ins Deutsche, die indes ebenso verschollen ist wie die Neuübertragung von 1699. Erhalten blieben die Übersetzungen der Geschichten IV.5 und V.2 aus dem Jahr 1687 (in Caspar Lolivettas „Das teutsche Gespenst“; ein Exemplar dieses Romans besaß Clemens Brentano – er schenkte es den Brüdern Grimm) sowie eine Bearbeitung der ersten sechs Stücke, die 1791 in Wien herauskam. Gesamtübersetzungen durch Friedrich Wilhelm Valentin Schmidt und Hans Flörke erschienen 1817 und 1908.

„Lo cunto de li cunti uouero lo trattenemiento de‘ peccerille“(Das Märchen aller Märchen oder Unterhaltung für Kinder) des Giambattista Basile erschien 1634/36 kurz nach dessen Tod in neapolitanischer Sprache und wurde seit der Ausgabe von 1674 auch unter dem Titel Pentamerone bekannt. Die Sammlung wurde 1713 in bolognesische Mundart und 1754 (gekürzt) ins Italienische übertragen.

Der Sammler

Erster Märchensammler überhaupt ist der Italiener Giovan Francesco Straparola aus Caravaggio.


Das Vorfeld der Märchensammlung Vier Stücke waren 1777 an relativ versteckter Stelle in französischer Sprache erschienen (Bibliothèque universelle des romans), so dass die direkte außeritalienische Wirkungsgeschichte erst mit Felix Liebrechts Gesamtübertragung (Breslau 1846; Vorrede Jacob Grimm) einsetzte. Die Brüder Grimm hatten lange ver­geblich gehofft, die Märchensammlung des Giambattista Basile aus dem Besitz Clemens Brentanos zur Ein­sicht zu erhalten, aber dieser weigerte sich hinhaltend, was wohl auch ein Anlass für die spätere Entfremdung zwischen ihm und den Brüdern Grimm war.

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Die Brüder Grimm hatten lange vergeblich ge­ hofft, das ihnen zunächst einzig bekannte italienische Exemplar aus dem Besitz Clemens Brentanos zur Einsicht zu erhalten (dessen hinhaltende Verweigerung war ein Anlass für die spätere Entfremdung zwischen ihm und den Brüdern Grimm); als ihnen dann eine andere Ausgabe zugänglich wurde, erwogen sie sofort, eine deutsche Bearbeitung (allerdings unter Reduzierung der Texte auf die ihnen allein wesentlich erscheinenden Märchenmotive) anzufertigen und ihren KHM als Anhang beizugeben. Jacob Grimm erstellte zunächst 38 dieser Kurzfassungen (eine erschien 1816 in Grotes Taschenbuch für Freunde altdeutscher Art und Kunst: Das Märchen von der Schlange), die Wilhelm Grimm dann redaktionell überarbeitete und, um die 12 noch fehlenden Stücke ergänzt, im 1822 erstmals selbständig erschienenen Anmerkungsband zu den KHM veröffentlichte.


Nach der Gesamtedition durch Liebrecht ver­zichtete er in der Neuauflage der Anmerkungen von 1856 auf diese Wiedergabe. Basile hat offenbar alle 50 Stücke der mündlichen Tradition entnommen. Grimms konnten schon mehr als 30 dieser Geschichten in der deutschen Volksüberlieferung nachweisen und die übrigen konnten inzwischen fast sämtlich nach einer oral tradition aufgezeichnet werden. So bietet Basile, der nur in vier Stücken mit dem älteren Straparola übereinstimmt, für viele der berühmtesten europäischen Volksmärchen den absoluten Erstbeleg. Jüngeren Entstehungsdatums, aber von un­gleich breiterem und tieferem Einfluss auf die deutsche Märchentradition sind die französischen Sammlungen. Charles Perrault hatte 1694 Peau d‘ âne und Les souhaits ridicules als Versgeschichten bearbeitet, ehe er 1697 mit seinen Histoires ou contes du temps passé, avec des moralitéz 8 glänzend erzählte Prosamärchen herausbrachte. Stücke von Perrault: La belle au bois dormant (vgl. Dornröschen); Le petit Chaperon rouge (vgl. Rotkäppchen); Les fées (vgl. Frau Holle); Cendrillon ou la petite pantoufle de verre (vgl. Aschenputtel); Riquet à la houppe und Le petit Poucet (vgl. Hänsel und Gretel)

Besonders zu nennen sind von den französischen Märchendichtern des 18. Jahrhunderts etwa noch Antoine d‘ Hamilton und Madame de Villeneuve, weil ihre Texte 1777 bzw. 1765 ins Deutsche übersetzt wurden. Für alle insgesamt ist auf die 41 Bände des Cabinet des fées zu verweisen, in denen zwischen 1785 und 1789 die meisten dieser Märchen gesammelt herauskamen. Der Weimarer Verleger Friedrich Justus Bertuch stellte daraus seine zwischen 1790 und 1797 in 11 Bänden erschienenen, bearbeiteten deutschen Übertragungen unter dem Titel Blaue Bibliothek aller Nationen zusammen. Von tiefem Einfluss auf die deutsche Märchentradition sind die französischen Sammlungen, besonders die von Charles Perrault.

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Das Vorfeld der Märchensammlung Was ihre Verbreitung im europäischen bzw. deutschen Sprachraum betrifft, muss auch die nach einer arabischen Handschrift des 14. Jahrhunderts erstmals 1704-1712 durch Jean Antoine Galland ins Französische übersetzte Sammlung 1001 Nacht in diesem Zusammenhang genannt werden, zumal nach Erkenntnis der Brüder Grimm nicht weniger als 8 ihrer Märchen Verwandtschaft mit den aus dem Orient übernommenen Texten zeigen. Es ist mit zahlreichen Verlusten gedruckter Texte zu rechnen. Märchenbücher waren und sind ja stets in erster Linie als Ge- und Verbrauchsliteratur behandelt, d.h. zerlesen und weggeworfen worden.

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Nicht aufgeführt haben die Brüder Grimm eine weitere Reihe von Titeln, aus der hier nur F.W. Möllers Volksmärchen aus Thüringen (Kassel 1794) und K.C.E. von Bentzel-Sternaus Titania oder das Reich der Märchen (Regensburg 1807). 1782 bis 1787 veröffentlichte Johann August Musäus seine Volksmärchen der Deutschen; 1789 bis 1792 folgten Neue Volksmärchen der Deutschen von Benedikt Naubert; 1808 erschienen die „Kindermärchen“ des – nicht mit den Brüdern Grimm verwandten – Albert Ludwig Grimm. 1812, wenige Monate vor dem Erscheinen der KHM kam schließlich die damit in vieler Hinsicht konkurrierende Sammlung „Volkssagen, Märchen und Legenden“ des Germanisten Johann Gustav Büsching in Leipzig heraus. Die Brüder Grimm haben bei Musäus verwandte Züge zu ihren Märchen Schneewittchen, Tischchen deck dich, Goldesel und Knüppel aus dem Sack, Der Ranzen, das Hütlein und das Hörnlein, Aschenputtel, Frau Holle und Allerleirauh konstatiert. [2]


Die Entwicklung bis zur Erstauflage

Begünstigende Umstände

Weihnachten 1812 lagen die ersten Exemplare der Auflage von insgesamt 900 Stück vor, und zwar unter dem Titel: „Kinder- und Haus- Märchen. Gesammelt durch die Brüder Grimm. Berlin, in der Realschulbuchhandlung. 1812.“ Außer 86 Märchen-Titeln bietet sie in einem Anhang auch wissenschaftliche Anmerkungen zu Herkunft, Parallelen und Bedeutung. Sowohl an dieser Zwittergestalt, die das Werk zwischen Kinderbuch und wissenschaftlicher Dokumentation ansiedelt, wie auch an der Mehrdeutigkeit des Titels entzündete sich Kritik. Vereinfachend gesagt, wollte Jacob Grimm von Anfang an und auch späterhin den wissenschaftlichen Charakter der Sammlung bewahrt und den entsprechenden Nutzen betont wissen. Vor allem das Lesepublikum forderten indes in erster Linie ein (Vor-)Lesebuch für Kinder, und als sich Wilhelm Grimm diesen Forderungen zunächst vorsichtig, dann deutlich anschloss, sah sich der ältere Bruder aus solchen und anderen Gründen veranlasst, von dieser Arbeit zurückzutreten. [2]

Die im Zuge der industriellen Revolution rasanten Veränderungen der Familienstrukturen sowie der Erwerbs- und Lebensgewohnheiten überhaupt, aber auch die Verbreitung der Lesefähigkeit durch die allgemeine Schulpflicht entziehen der mündlichen Märchentradierung sozusagen den Sitz im Leben. Die Herausbildung der bürgerlichen Kleinfamilie, die Auf­lösung vieler Meisterbetriebe schränken das Feld des Erzählens zeitlich (die generationenübergreifenden Traditionen), räumlich (die Lokalitäten einer gleichsam familiären Gemeinschaftsarbeit und -freizeit) und sachlich (Lesen und Vorlesen prädominieren dem freien Reproduzieren aus dem Gedächtnis) merklich und lebensbedrohend ein.

Die Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm waren von Anfang an zwischen Kinderbuch und wissenschaftlicher Dokumentation angesiedelt, was immer schon für Reibungspunkte mit Kritikern sorgte.

Industrielle Revolution

Veränderungen der

allgemeine Schulpflicht

Familienstrukturen

Erwerbsgewohnheiten

Verbreitung der Lesefähigkeit

Herausbildung der bürgerlichen Kleinfamilie

Auflösung vieler Meisterbetriebe

sachlich (Lesen und Vorlesen statt freien Reproduzieren aus dem Gedächtnis)

räumlich (keine familiäre Gemeinschaftsarbeit und -freizeit mehr)

zeitlich (Generationen haben unterschiedliche Zeitpläne)

Gefährdung der mündlichen Märchentradierung

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Der gewaltige Erfolg der KHM ist nicht nur durch die wissenschaftliche und künstlerische Leistung der Brüder Grimm bestimmt, sondern auch durch die Unterbrechung der mündlichen Traditionskette und besonders durch die mit der Herausbildung der Kleinfamilie gegebene Entdeckung der Kinderstube.

Wegen der starken stilistisch­en und ideologischen Eingriffe in die Märchen, kann man nicht mehr von Volksmärchen reden, sondern allenfalls von einer Gattung Grimm.

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Begünstigende Umstände

Die Gattung Grimm

Andererseits waren es gerade diese Gegeben­ heiten, die sich für die Entstehung und Durchsetzung der Grimmschen Märchensammlung überraschenderweise als förderlich erweisen sollten. Die durch die Gebrüder Grimm zunächst ungewollt herbeigeführte Wandlung des münd­ lich erzählten Märchens zum Buchmärchen entsprach gewissermaßen genau der gewandelten Situation. Der schließlich gewaltige Erfolg der KHM ist also nicht nur durch die überragende wissenschaftliche und künstlerische Leistung der Brüder Grimm bestimmt, sondern eben auch durch die Unterbrechung der mündlichen Traditionskette infolge gesellschaftlicher Veränderungen und besonders durch die mit der Herausbildung der Kleinfamilie gegebene Entdeckung der Kinderstube. Die nun stärker auf die Erziehung ihrer Kinder fixierten Mütter glaubten in der Grimmschen Sammlung ein wertvolles Vorlesebuch ent­deckt zu haben. Diese Tendenz wurde besonders seit der 1825 vornehmlich im Blick auf kindliches Publikum zusammengestellten Märchenauswahl durch Wilhelm Grimm („Kleine Ausgabe“ der KHM) beherrschend und ist ein wesentlicher Faktor für den sich stetig steigernden Verkaufserfolg. [2]

Während des jahrzehntelangen Bearbeitens unter der Hand Wilhelm Grimms entstanden Märchen, deren Handlungsmotivationen sich grundlegend änderten. Die starken stilistisch­ en und ideologischen Eingriffe der Bearbeitungsstufen belegen, dass man nicht mehr von Volksmärchen reden kann, sondern allenfalls von einer Gattung Grimm. Man sieht, wie Wilhelm aus glanzloser Prosa jene Märchenpoesie hervorzaubert, die wir alle kennen. Er beschenkt uns mit dem berühmten Einleitungssatz „In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch ge­holfen hat…“; er reichert die Geschichte mit romantischen Motiven an, mit dem großen dunklen Wald, mit der alten Linde; er greift zur Verniedlichung („Händchen“) und zur metaphorischen Steigerung: Das Königskind war so schön, „dass die Sonne selber, die doch so vieles gesehen hat, sich verwunderte, so oft sie ihr ins Gesicht schien“. Ähnlich ist Wilhelm in vielen Fällen verfahren, und sein Vorbild war jener Typus des idealen Märchens, den er in den Zulieferungen von Philipp Otto Runge erblickte, vor allem im Märchen Von dem Fischer un syner Fru . Es ist aber, wie der Märchenforscher Heinz Rölleke gezeigt hat, ganz unwahrscheinlich, dass Runge die Geschichte genauso weitergegeben hat, wie er sie (vielleicht) erzählt bekam.


Denn auffällig ist die kunstvolle Architektur der Erzählung, in der die Fischersfrau ihre Forderungen an den wundertätigen Butt in immer kürzeren Abständen steigert, bis hin zu dem Wunsch, Kaiser zu sein, Papst und schließlich Gott, woraufhin beide wieder in ihrem »Pisspott« landen; und ganz bestimmt hat der Maler Runge die eindrucksvolle Farbgebung erfunden, die das Meer weiß, gelb, grün, dann violett, schwarz­grau und endlich vollkommen schwarz erschein­en lässt. [1]

Den Erfolg verdankt die Grimmsche Märchensammlung zum größten Teil der stilistischen Leistung Wilhelm Grimms.

Es kann kein Zweifel bestehen, dass der Erfolg der Grimmschen Märchen zum größten Teil auf die stilistische Leistung Wilhelm Grimms zurückzuführen ist und, dass die Eingängigkeit dieses Stils, das gar nicht zu überschätzende déjà-vu beim Lesen oder Hören der Texte aus der so dichten Einstreuung weitgehend allbekannter Sprichwörter zu erklären ist. [2]

„In den alten Zeiten...“

Texte Grimms Märchen

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Philipp Otto Runges Mustertexte Es handelt sich um die als KHM 19 und KHM 47 wiedergegebenen Märchen Von dem Fischer un syner Frau und Von dem Machandelboom. Im Juli 1808 druckte Arnim den Machandelboom in seiner „Zeitung für Einsiedler“ ab, während das Märchen „Von dem Fischer un syner Frau“ nicht mehr in der kurzlebigen romantischen Zeitschrift erscheinen konnte.

weniger Qualitäten wie R

Runge Märchentexte

mehr Qualitäten wie R

selbstständige Veränderungen

Märchensammlung der Gebrüder Grimm

Weglassungen

Hinzufügungen

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Kontamination mit verwandten Elementen

Durch diesen Abdruck aufmerksam geworden, erbaten die Brüder Grimm von Arnim Runges Originaleinsendungen, von denen Wilhelm Grimm 1809 eine genaue Abschrift fertigte. Hier lagen ihnen neben den im wesentlichen durch Brentano vorgestellten Mustern zwei Texte vor, die hinsichtlich ihrer Herkunft, Auf­zeichnung, stilistischen Form, Motivik und vor allem ihres Gehalts alles zu bieten schienen, was man sich von der Gattung „Volksmärchen“ erwartete. Auch die virtuose Einbringung einer ganzen Farbskala (deutlich verwandt mit Runges eigenen Farbkreistheorien) in einer sechsgliedrigen Klimax wird man zumindest in ihrer Ausgestaltung dem Maler Runge zuschreiben müssen. So waren sie nach den Vorgaben Brentanos und dem Vorbild Runges von Anfang an erkennbar darauf aus, Geschichten ähnlichen Formats und künstlerischer Geschlossenheit zu gewinnen.


Texte, denen diese Qualitäten nicht eigneten, die aber aus anderen Gründen interessant und erhaltenswert erschienen, wurden erst vorsichtig, dann energisch diesen Leitbildern angenähert, und zwar hauptsächlich durch Kontamination mit verwandten Fassungen oder Einzelelementen, seltener durch Weglassungen, Zufügungen oder selbstständige Veränderungen. Überblickt man das Resultat der Grimmschen Sammlung im ganzen, so wird man in der Tat viele Stilzüge idealtypisch bei Runge vorweggenommen finden: „Die Vorliebe für aneinandergereihte Hauptsätze, für „und“ und „da“, für Steigerung durch Wortwiederholung oder durch die Wendung „so recht“, für Lautspiele findet sich schon bei ihm, ebenso Anschaulichkeit und Humor“ (Lüthi). Ähnliches gilt für Runges eingangs- und Schlussformel „Dar wöör maal eens“ (es war einmal), „betu p hüüt un düssen Dag“ (…noch heute), die strenge epische Gesetzmäßigkeit, gemäß der in einer Szene höchstens je zwei Figuren agieren, die daraus resultierende szenische Vergegenwärtigung durch vielfache wörtliche Rede, die Neigung zur Groteske (Ilsebill als Papst im ehelichen Bett) und zum Extremen im Allgemeinen (Pisspott-Kaiserpalast) wie im Detail (der Zwerg so winzig wie ein kleiner Finger), für die Typenhaftigkeit der Figuren, die Selbstverständlichkeit, mit der die Wunder hingenommen werden, und viele andere charakteristische Züge.

Die Brüder Grimm bemerkten sofort, dass Gretchens Kerkerlied in Goethes Faust auf den Machandelboom zurückgeht (Goethe kannte eine französische geprägte Version des Märchens aus mündlicher Tradition, aus der er schon um 1775 für seinen Urfaust schöpfte), so ist die Verwandtschaft der Fischersfrau mit Faust selbst unschwer zu entdecken. Ihr schließlich verhängnisvoller Wunsch gründet ja letztlich im Wort des alttestamentlichen Schöpfergottes, er habe den Menschen „ad imaginem et similtudinem nostram“ geschaffen – und in der Verwechslung von Ebenbild und Abbild steht Ilsebill neben niemand geringerem als der Stammmutter Eva oder eben Goethes Faust: Ihr Streben nach Gottgleichheit ist zutiefst im Menschen angelegt, pervertiert aber vor dem Ziel zu schuldhafter Hybris. Das Thema des Fischer-Märchens bot und bietet dergestalt eine immense Fülle von Anknüpfungspunkten: theologisch in der Geschichte des Ursündenfalls, mythologisch etwa im Semele-Mythos, literarisch in zahllosen Parallelen und Ausformungen von der Xenodoxus-Gestalt über Arnims Päpstin Johanna bis hin zu Günter Grass‘ Butt-Roman; im politischen Bereich wurde das Märchen schon 1814 auf den Aufstieg und Fall Napoleons umgeschrieben.

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Die durch Wunder definierten Zaubermärchen machen höchstens ein Drittel der Grimmschen Sammlung aus, repräsentieren aber so gut wie sämtliche der bekanntesten Märchentexte.

Philipp Otto Runges Mustertexte

Gattungsdefinition Zaubermärchen

Da Grimms sich fast ausschließlich an eloquente und gebildete Gewährspersonen wandten, konnten und wollten sie der tatsächlichen oral tradition der Unterschicht kaum je direkt begegnen, nahmen zum anderen nur solche Texte auf, die dem aus Brentanos und Runges Vorbildern sowie ihren eigenen Erkenntnisinteressen zusammengewachsenen Ideal einigermaßen entsprachen. Die Gewährsleute der ersten Stunde sind durch die Namen Mannel, Wild und Hassenpflug gekennzeichnet. Es handelt sich ausnahmslos um überdurchschnitt­lich gebildete Frauen aus gutsituierten Familien. [2]

Formelhaftigkeit, Freude an der Wiederholung, die Einbringung von schlicht gebauten Versen, Vorliebe für bestimmte Zahlen, Farben, Materialien; die Mangellage des Märchenhelden zu Beginn oder im Lauf der Erzählung, die durch Hochzeit oder Erwerb eines Königreichs am Ende behoben wird, seine stereotype Isolation, die Orte des Abenteuers (häufig Wald oder Wasser), die Zeitlosigkeit und damit die Unsterblichkeit des Helden, die Gabe oder sonstige Hilfe des Numinosen, das Happy-End, vor allem aber die Einbringung des Wunderbaren sind die wichtigsten Gattungsmerkmale des Märchens. Allerdings machen die durch Wunder definierten Zaubermärchen höchstens ein Drittel der Grimmschen Sammlung aus, repräsentieren aber so gut wie sämtliche der bekanntesten Märchentexte. [2]

hohes Bildungsniveau

Mannel Wild Hassenpflug

oral tradition

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Märchensammlung der Gebrüder Grimm


Der Umgang mit dem Wunderbaren Die eigentliche Grundlage des Märchens ist dass, das Wunderbare in dieser Form nicht wunderbar ist, sondern selbstverständlich. [1] Die „wirkliche Welt“ dient, ganz ähnlich wie der Übergang zur Ich-Erzählung, durchaus nicht immer der Hebung der Glaubwürdigkeit, sondern will im Gegenteil oft die Unwirklichkeit betonen, die Erzählung zur Lügenerzählung stempeln. So können die Wirklichkeitselemente im Märchen je nach der Art ihrer Verwendung konträre Be­deutung haben, sie nähern das Märchen der Realität oder sie entfernen es von ihr, und ent­ sprechend hebt das Wunderbare das Märchen nicht nur vom profanen Alltag ab, sondern zeugt zugleich von seinem Anspruch, eine mächtigere, wesentlichere Wirklichkeit darzustellen. [4]

Realität

Wunder

Wilhelm Grimm ist die entscheidende Rolle, die das Wunder in der allgemeinen verbreiteten Gattungsvorstellung und als eines der markantesten Gattungsspezifika tatsächlich spielt, deutlich bewusst gewesen: Ab der dritten Auflage der KHM von 1837 eröffnete er den ersten Text ( Der Froschkönig oder der Eiserne Heinrich) programmatisch mit dem selbstformulierten Satzeingang „In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat“. Das Zaubermärchen geht in der Regel mit dem Wunder um als handle es sich um das Selbstverständlichste der Welt; und diese Haltung, die Erzähler und Hörer mit dem Märchenhelden unweigerlich teilen, unterscheidet das Märchen besonders deutlich von anderen literarischen Gattungen, die ansonsten ebenso stark durch Einbringung des Wunderbaren definiert sind: Sage und Legende. Das Wunder ist hier nicht das „ganz andere“, es bildet vielmehr eine bruchlose Einheit mit der realistischen Erzähl­ ebene. Zweifellos ist die Einbringung des Wunders und der spezifische Umgang damit für die Brüder Grimm bei der Suche nach Märchen von Anfang an ein wichtiges Gattungskriterium gewesen. Daneben achteten sie zunächst besonders auf Tiergeschichten und vermutete Spuren germanischer Mythologie. [2]

Das Wunder ist im Märchen nicht das „ganz andere“, sondern es bildet eine bruchlose Einheit mit der realistischen Erzähl­ebene und stellt somit die eigentliche Grundlage des Märchens dar.

Realität des Zaubermärchens

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Eigenschaften der Darstellung Das europäische Märchen ist handlungsfreudig. Es neigt zu raschem Fortschreiten und zu knapper Benennung der Figuren und Requisiten; Beschreibungen und Schilderungen der Umwelt oder Innenwelt seiner Gestalten sind selten. Schon diese entscheidende Ausrichtung auf eine meist einsträngig geführte Handlung gibt dem Märchen Bestimmtheit und Klarheit. Die Bilder des Märchens sind flächig, seine Figuren isoliert: sie sind letzte Spitzen oder Enden einer Reihe (das jüngste Kind…). Hierbei wird schon deutlich, dass das Märchen das Extrem allen Mittel- und Zwischenzuständen vorzieht.

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Alle wichtigen Figuren also sind auf den Helden bezogen als dessen Partner, Schädiger, Helfer oder als Kontrastfiguren zu ihm; Gegner und Helfer gehören häufig der außermenschlichen Welt an. Figuren und Handlung sind ohne Tiefenstaffelung, statt des Ineinander und Miteinander herrscht das Nebeneinander oder Nacheinander, das Märchen lässt also die Figuren einzeln auftreten. [1] Über die Art der Darstellung der Motive sagt Lüthi: „Die profanen Motive erfahren dieselbe Darstellung wie alle anderen. Alles steht in klaren, sauber gezeichneten Bildern vor uns. Aufregende Sensationen werden mit derselben Ruhe berichtet wie die einfachen Bezüge und Funktionen des Alltags. Die neunundneun­ zig abgehauenen und auf Pfähle gesteckten Köpfe wirken rein ornamental; schon die form­starre Pluralisierung schließt jedes einfühlende Mitleid aus.“ (1981) Weiter: „Diese Entleerung aller Motive im Märchen bedeutet Verlust und Gewinn zugleich. Verloren gehen Konkretheit und Realität, Erlebnis- und Beziehungstiefe, Nuancierung und Inhaltsschwere. Gewonnen aber werden Formbestimmtheit und Formhelligkeit.“


Gesetze der Darstellung des Märchens Jede realistische, individualisierende Darstellung zeigt Einzelschicksale und kann keinen Anspruch auf universelle Gültigkeit erheben. Die entmachteten Motive jedoch gewinnen an Transparenz und Leichtigkeit. So verbinden sich Enge und Weite. „Die Ruhe des Märchens liegt in der Bestimmtheit, Klarheit, Findigkeit und Festigkeit seiner Form begründet.“ (1981) Doch „ in weit ausgreifender Bewegung werden die Figuren über die Handlungsfläche dahin getragen. Sie erscheinen trotz ihrer Formstarrheit als lebendig… Dass im Märchen alles Denkmögliche wirklich werden kann, erweckt den Eindruck größter Freiheit.“ (1981) [6]

Dennoch wird die Märchenform durch strenge Gesetzte beherrscht. Die konkrete Vielheit fängt das Märchen als formelhafte Pluralität auf. [6] Die Märchenhandlung neigt dazu, sich in einem Zweier- und Dreierrhytmus auszufalten. Von dieser Tendenz zur Zweiteiligkeit abgesehen, neigt das Märchen zur Darstellung des Geschehens in drei Zügen: drei Brüder ziehen nacheinander aus, um die Aufgabe zu lösen, oder der Held (die Heldin) selber muss nacheinander drei Arbeiten vollbringen, drei Ungetüme überwältigen, drei Zauberdinge holen. [1] Auch die Drei und die Vier stehen im Märchen in deutlicher Spannung zueinander, sind aber auch aufeinander bezogen. Die Drei ist hier das Prinzip, das vorwärtsdrängt, zur Vollendung strebt: drei Aufgaben hat der Held zu bewältigen, oft treten drei Brüder oder Schwestern auf. „Zweizahl, Dreizahl, Siebenzahl, Zwölfzahl, Hundertzahl der Dinge… So bindet die Formel die Vielheit der Einheit. „(Lüthi, 1981) [6]

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Der Held des Märchens ist keine Persönlichkeit, aber auch kein Typus, sondern eine allgemeine Figur.

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Vorlieben in der Ausstattung

Individualität der Märchenfiguren

Andere Züge des Märchenstils sind die Vorliebe für reine Farben und Linien, für alles klar Ausgeprägte überhaupt, für Metalle, Mineralien, Extreme und Kontraste, Formeln der verschied­ensten Arten, für Gaben und Aufgaben, Verbote, Bedingungen und Tests, Lohn und Strafe. An Farben nennt das Märchen gerne rot, weiß und schwarz, daneben golden und silbern. Das letzte ist schon ein Hinweis auf seine Freude am Metallischen. Diese Mineralisierung und Metallisierung bedeutet eine Verfestigung der Dinge, ihre Härte, zum Teil auch ihr Glanz und ihre Kostbarkeit heben sich aus ihrer Umgebung heraus. [1]

Personen und Dinge des Märchens sind im allgemeinen nicht individuell gezeichnet. Schon der beliebte Name Hans, Jean, Iwan, der seit dem Ende des Mittelalters häufigste Personen­ name in Europa, deutet darauf hin, dass der Held des Märchens keine Persönlichkeit, aber auch kein Typus, sondern eine allgemeine Figur ist – mit dem Namen Iwan bezeichnet man den Russen überhaupt, der deutsche „Hans“ ist fast zum Gattungsnamen geworden (Großhans, Schmalhans). Die meisten Personen bleiben überhaupt unbenannt, sie sind einfach Königin, Stiefmutter, Schwester. [1]


Fähigkeiten der Figuren Der Märchenheld bewegt sich in zwei Bereichen. Es beginnt meist im Profanen, durchläuft magisch-mythische Welten, um dann wieder in den Alltag zurückzukehren. Lüthi nennt es die „Eindimensionalität“. Held, Antiheld und auch alle anderen Figuren bewegen sich zwischen dem magischen und dem profanen Bereich so selbstverständlich hin und her, als wäre er dieselbe Sphäre, dieselbe Dimension. Mit der Eindimensionalität verknüpft ist die „Allverbundenheit“ des Märchenhelden. Der Held und auch sein Widerpart, der Antiheld, sind in der Lage, mit allen Wesen, die ihnen begegnen, in Verbindung zu treten, seien es Menschen, Tiere, Pflanzen, Dinge, über- und unterirdische Wesen. Es tritt ihnen allerdings immer nur das entgegen, was für die Handlung gerade von Bedeutung ist. Sie „lernen nichts, sie machen keinen Erfahrungen. Sie achten nicht auf die Ähnlichkeit der Situation, sondern handeln immer wieder neu aus der Isolation heraus“ (Lüthi, 1981) [6]

Das ist für die Figuren der Märchen auch nicht von Bedeutung, sondern das Vertrauen auf eine zum Guten hin angelegte Weltordnung, auf verachtete und verdrängte Fähigkeiten und Talente und eine „Naturklugheit“, die mit jener der Alltagswelt wenig zu tun hat. [5] Sie sind aber in das Gesamtgeschehen und in ein übergeordnetes Ganzes eingebettet, so wie die einzelnen Steinchen eines Mosaiks unverbunden sind und doch ein harmonisches Ganzes ergeben. Der isolierende Stil bestimmt auch die Handlung. Der Held lernt nicht nur nichts vom Missgeschick des Antihelden, er muss anders handeln, weil er anders ist. Etwa im ‚Wasser des Lebens‘ (KHM 97) wird deutlich, dass sowohl die Brüder als auch der Jüngste, der Held, ihre Rolle spielen müssen. Die Brüder handeln immer böse, weil sie Sinnträger des Bösen sind, nicht das Böse selbst, und der Held handelt immer gut, nicht weil er gut ist, sondern das Gute verkörpert. [6]

Weg des Helden profaner Bereich magischer Bereich

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Flächenhaftigkeit der Figuren

Bedeutung der Prinzessin als Ziel des Helden

Es fehlen im Märchen die Zwischentöne, die Schattierungen zwischen Schwarz und Weiß, Gut und Böse, die den Alltag ausmachen. Die Märchenfiguren haben keine Tiefe, ihre inneren Kämpfe, Schwächen, Nöte wie auch körperlichen Reaktionen werden nicht nachgezeichnet. Diese fehlende körperliche und seelische Tiefe nennt Lüthi „Flächenhaftigkeit“ (1981). Genau das aber macht ihren, den märchentypischen, Reiz aus. Die Figuren stellen Eigenschaften dar und keine Menschen mit ihren Widersprüchen. Dennoch wird im Märchen auch das Innere der Menschen sichtbar, also aufgrund der äußeren Erscheinung und Handlung nachvollziehbar. Das Prinzip, Inneres in Äußerem darzustellen, zeigt sich in jedem Märchenrequisit ebenso wie in der fortschreitenden Handlung. Die Handlung ist immer auf ein Ziel gerichtet, doch ist das Ziel nicht das Wesentliche, sondern die Suche nach dem Ziel, der Weg der Entwicklung des Helden. Hat er die „Proben“, die seine Entwicklung begleiten, bestanden, so erreicht er sein Ziel mit nachtwandlerischer Sicherheit. Mit der gleichen Sicherheit geht der Antiheld seinem Untergang entgegen. [6]

Auch im Hinblick auf die soziologischen Umstände war das weibliche Geschlecht mit einer größeren Bedeutung ausgestattet, als uns dies meist zu Bewusstsein kommt. Es geht hier um die Verknüpfung des Erbrechts mit der weib­ lichen Linie. Das Erbe mit der weiblichen statt mit der männlichen Linie zu verbinden ist eine Eigentümlichkeit vieler alter Kulturen. Dieser Erbgang war unter anderem bei den Kelten Westeuropas üblich und dürfte dort von vor­indogermanischen Kulturen übernommen worden sein. Dass die alten Märchen diese Ordnung getreu konserviert haben, ist nicht zu verkennen. Wir müssen nur daran denken, dass fahrende Handwerksburschen, pfiffige Bauernsöhne ohne eigenen Besitz, ja selbst arglose Dummköpfe, die das Fürchten lernen wollen, ohne weiteres ihr Glück machen können. Mit Mut, angeborener Lebensklugheit und übernatürlicher Hilfe gelingt es ihnen, die Hand der Königstochter „und dazu das halbe Königreich, und nach dem Tod des Königs dann das ganze“ zu erringen. Nach ihrer Herkunft oder Ebenbürtigkeit wird, ganz anders als in den in neuerer Zeit geläufigen Erbregeln, nicht gefragt – für den Einstieg in die Herrschaft genügte es offensichtlich, dass der Kandidat der allein erbberechtigten Tochter imponierte; dann wurde er als ausführendes Organ ihrer potentiellen Macht legitimiert. [5]


Die Zeit im Märchen

Der Beziehungswandel zum Tier im Märchen

So wie im Märchen die Zeit keine Rolle spielt – hundert Jahre vergehen wie eine Nacht, Menschen durchwandern unendliche Zeiten und Räume, verschleißen dabei drei Paar eiserne Schuhe und sind danach jung und schön wie zu Beginn –, so kannte der Bauer eigentlich auch keinen Wandel der Zeit, wohl den des einzelnen Jahres und seinen Jahreszeiten oder den des einzelnen Lebens mit Geburt, Heirat und Tod, doch das Leben selbst ging seinen gewohnten Gang über Jahrhunderte hinweg. Das Bauerntum bildete das unwandelbare Fundament der Geschichte. Die „von Stande“ führten Kriege, entwickelten Moden und Ideen, die kamen und gingen. Aber im Leben des Bauern änderte sich lange Zeiten hindurch so gut wie nichts. Natürlich gab es Missernten, Hungersnöte, Kriege und Seuchen. Das waren gottgewollte Schläge, die hingenommen werden mussten wie Gewitter, Hagelschlag und Dürre. Das Leben kehrte danach zu seinem gewohnten Gang zurück, nicht schneller, nicht langsamer. Erst das Industriezeitalter mit Verstädterung und Verwissenschaftlichung auch des bäuerlichen Lebens haben hier vieles ge­ändert. [6]

Wenn schon die Beziehung des Bauern zu seiner Obhut anvertrauten Tieren so symbiotisch war, zu den wilden Tieren war sie oft sogar von Ehrfurcht geprägt. Man fürchtete und bekämpfte sie, ehrte sie aber auch und beneidete sie um ihre Angepasstheit an die Natur, um die der Bauer ständig ringen musste. Wie Röhrich es an vielen Märchenbeispielen zeigt, durchlief die Beziehung des Menschen zu den Tieren drei Stufen: In der frühesten Stufe empfanden sie es als Glück, in Tiergestalt verwandelt zu werden, später wurden Tiere als gleichwertig empfunden, und eine Heirat zwischen beiden erschien möglich. Erst in der dritten, noch späteren Phase wurde es zu einem Fluch, in Tiergestalt leben zu müssen. Der Tierbräutigam entpuppte sich dann in der Hochzeitsnacht regelmäßig als ein verwunschener Prinz. [6]

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Impressum

Bachelorarbeit SS 2010 Hochschule Mannheim Gestaltung: Eva Gompper Illustration: Eva Gompper Texte: ohne Angabe: Eva Gompper andere: siehe Quellenindex betreut durch: Prof. Armin Lindauer Druck: Litho Art Mannheim Buchbinder: Helmut Geiersberger

Eva Gompper mail: eva.gompper@gmx.de mobil: 0177 417 39 15


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