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Das Wohlbefinden wirkt auf den Lernerfolg» Int erview mit Stefanie Gysin von Michael Hunziker

«Das Wohlbefinden wirkt auf den Lernerfolg»

Was braucht es, damit Kinder und Jugendliche gerne zur Schule gehen? Ein Interview mit Erziehungswissenschaftlerin Stefanie Gysin über Schulentfremdung, Motivation und Wohlbefinden.

Von Michael Hunziker (Text), Barbara Keller (Foto)

Am Anfang freuen sich Kinder, zur Schule gehen zu dürfen. Studien belegen, dass diese Freude aber nicht lange anhält. Warum misslingt es der Schule, Kindern ein Wohlbefinden zu vermitteln?

Die Gründe sind natürlich vielfältig. Grundsätzlich aber könnte man sagen, es ist eine Frage der Passung, die offenbar abnimmt oder nicht mehr zustande kommt. Das heisst, die individuellen Bedürfnisse und Erwartungen der Kinder decken sich nicht mit den Anforderungen und Zielsetzungen der Schule. In diesem Spannungsfeld gibt es verschiedene Faktoren, die zu diesem Auseinanderdriften beitragen. Mit zunehmenden Schuljahren werden auch die Leistungsanforderungen stärker und mit Ende der Schulzeit stehen berufliche Entscheidungen an, die Frage, was aus mir wird – das erhöht den Druck zusätzlich. Zudem verändert sich auch die Beziehung zur Lehrperson, wie Untersuchungen zeigen. Das Verhältnis wird distanzierter, je länger die Schule geht. Das empathische Verhalten der Lehrperson geht zurück, was auch ein Grund sein kann, weshalb die Passung abnimmt.

Was sind denn die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler?

Als wir die Schüler*innen in unserer Untersuchung befragten, sprachen sie unterschiedliche Ebenen an. Auf Unterrichtsebene etwa wünschen sie sich klare Strukturen und eine Methodenvielfalt der Lehrperson: Wie kann sie mir etwas erklären und vermitteln. Auch werden für sie Unterrichtsinhalte bedeutsam. Die Jugendlichen fragen sich: Bringt mir das etwas, was ich hier lerne? Wenn sie dann keine Relevanz sehen, führt das zu negativen Einstellungen. Auf der Beziehungsebene ist es ihnen wichtig, dass sie sich wahr- und ernst genommen fühlen und nicht bloss als zu beurteilende Objekte. Gerechtigkeit war ebenfalls ein Anliegen von ihnen. Jedoch schauen sie sehr subjektiv darauf und reagieren sensibel, was in diesem Punkt schnell eine negative Spirale erzeugen kann. Das sind ja alles Domänen, die im Selbstverständnis der Schule selbst auch zentral sind …

Ja, und doch scheint es oft nicht zu passen. Mich hat in meinen Befragungen überrascht, welche Ernsthaftigkeit von den Schüler*innen ausgeht. Sie wollen, dass Schule ein Ort zum Lernen ist, und kritisieren, wenn etwa Lernzeit nicht gewährleistet wird, der Unterricht zu spät anfängt oder wenn sie nach den Pausen warten müssen. Punkto Klassenführung können sie sehr differenziert Optimierungen adressieren und schätzen es, wenn es funktioniert.

Das tönt nach dem Wunsch, sich konzentriert in etwas vertiefen zu können, einen Flowzustand zu erreichen …

Ja, sie wollen die Lernzeit einfach bestmöglich nutzen. Es liegt in der Verantwortung der Lehrperson, ihnen dies zu gewährleisten. Und wenn das Lernen nicht optimal funktioniert, nochmals eine Aufgabe zu erklären. Meine Untersuchungen haben gezeigt, dass nach Meinung der Lernenden deren Lehrpersonen teilweise gar nicht oder zu wenig auf ihre individuellen Lösungen eingehen. Das wäre aber für die Entwicklung des Selbstwertgefühls wichtig.

Welche Probleme resultieren aus dieser misslungenen Passung?

Wenn die Schule den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen nicht Rechnung trägt, kann gewissermassen eine Schulentfremdung eintreten. Dies hat zur Konsequenz, dass sie sich emotional distanzieren und eine negative Haltung zur Schule entwickeln können, was sich schliesslich dann auch auf das eigene Lernen und die Motivation auswirkt.

Könnte man jetzt psychoanalytisch folgern, dass diese Schulentfremdung zu Aggression führt?

Ich bin keine Gewaltforscherin, aber es gibt Studien zu schulischem Wohlbefinden, die aufzeigen, dass negative Einstellungen mit körperlichen Beschwerden und sozialen Problemen korrespondieren können. Ich würde den Zusammenhang aber nicht streng kausal sehen. Für Aggression gibt es viele Faktoren, für die die Schule keine Verantwortung trägt.

Muss Schule denn überhaupt Spass machen? Die Vorstellung, Lehrpersonen mit Komikern zu ersetzen, fände ich etwas skurril.

Da gebe ich Ihnen recht, Schule ist keine Comedy-Veranstaltung. Es kann nicht per se um Bespassung gehen. Schule und Unterricht drehen sich ums Lernen und Fördern, das sind seriöse Angelegenheiten, die mühevoll und auch anstrengend sind. Trotzdem sollten Lehrpersonen Lernfreude bei ihren Schüler*innen erzeugen. Studien belegen die Wirksamkeit von Humor und zeigen, dass Lockerheit die soziale Interaktion fördert. Man muss sich einfach bewusst sein, dass Emotionen beim Lernen eine Rolle spielen. Damit Lehrpersonen diese Freude fördern können, ist einerseits ein gewisses methodisches Repertoire nötig, anderseits aber auch, dass sie selbst emotional involviert sind, dass sie eine positive Haltung vermitteln. Dann können sie authentisch schüler*innenorientiert agieren.

Warum ist das Wohlbefinden zentral, wenn es um den Lernerfolg geht?

Bildung und Schule haben ja nicht nur zum Ziel, dass kognitive Ziele in Form von guten Noten erreicht werden. Die Schule muss auch andere Faktoren berücksichtigen, die ebenso bildungsrelevant sind. Sie muss die Grundvoraussetzung pflegen, damit Lernen überhaupt erst gelingt. Es geht darum, dass Kinder positive Emotionen fürs Lernen entwickeln können, das darf bei den vielen kognitiven Zielen nicht aus dem Blickfeld geraten. Die Kinder sollen positive Einstellungen zum Lernen und den schulischen Zielen entwickeln und sich mit diesen identifizieren können. Wenn diese Identifikation abnimmt, bricht eine wichtige Komponente fürs Lernen weg. Das Wohlbefinden wirkt also indirekt auf den Lernerfolg.

Was sind denn die zentralen Faktoren, die zum Wohlbefinden beitragen?

Kurz gesagt sind es die Unterrichts- und Beziehungsqualität, sich wahrgenommen fühlen, Lernfreude, schulische Erfolge, die die Schüler*innen auf sich selbst zurückführen – und die Peers.

Und wie sieht es mit der Familie aus?

Meine Untersuchung zeigt, dass die elterliche Unterstützung für die Einstellung gegenüber der Schule ebenso zentral zu sein scheint. Aber es gibt auch eine kontraproduktive Seite. Nehmen die Lernenden die Ansprüche ihrer Eltern als zu hoch wahr, setzt sie das nach ihrer eigenen Aussage unter Stress, den sie mit in die Schule nehmen.

Lernerfolg und Wohlbefinden bedingen sich wechselseitig. Welche Rolle spielt das Gefühl der Selbstwirksamkeit?

Das ist natürlich zentral, sowohl für den Lernerfolg wie auch für die Motivation. Haben die Schüler*innen Vertrauen in ihre Fähigkeiten und Kompetenzen, haben sie Gelegenheiten, diese anwenden zu können, entwickeln sie ein positives Selbstbewusstsein und erfahren sich als autonom, quasi als Motor der eigenen Entwicklung. Das ist eng mit Motivation verknüpft. Umgekehrt können die Schüler*innen bei Fächern, die sie negativ konnotieren, etwa wegen Prüfungsangst, einen ungünstigen Selbstwert entwickeln, der eine Negativspirale befördert. Die Tendenz zum Scheitern steigt. Es ist also wichtig, dass sie realisieren, dass sie ein Stück weit Selbstverursacher*innen ihres Erfolgs sind.

Aber machen sie das nicht ohnehin?

Nein, nicht zwingend. Der eigene schulische Erfolg wie auch Misserfolg kann durchaus unterschiedlich erklärt und ausgelegt werden, etwa, wenn Schüler*innen es als glückliche Fügung ansehen, wenn sie eine Aufgabe lösen konnten. Oder auch, wenn sie etwas nicht konnten und sagen, Pech gehabt. In solchen Fällen nehmen sie das eigene Ich aus dem Spiel. Lehrpersonen können also beim Feedbackgeben bei der Frage anknüpfen, wie sich die Kinder ihren Erfolg erklären, und ihnen erklären, dass dieser auf die eigene Anstrengung zurückzuführen ist, also auf Komponenten und Strategien, die sie steuern können.

Was können Lehrpersonen machen, wenn sie völlig verschlossene und unmotivierte Schülerinnen oder Schüler in der Klasse haben?

Bei solchen Fällen könnte man sich fragen: Hatten sie viele Misserfolge, liegt es an meinem Unterricht oder am sozialen Gefüge? Gerade bei zunehmendem Alter sind die Gleichaltrigen ein grosser Faktor, ob jemand gerne zur Schule geht. Neben der Lehrperson-Schüler*innen-Beziehung ist die Beziehung zu den eigenen Mitschüler*innen genauso relevant. Soziale Konflikte oder die Angst vor Ausgrenzung haben negative Konsequenzen auf das schulische Wohlbefinden. Das ist eine Herausforderung für die Lehrperson, da hinzuschauen, die Dynamiken anzusprechen und offenzulegen.

Umgekehrt kann die Gruppe ja auch beflügeln …

Genau, das ist sehr bedeutsam. Unterricht kann positive Gruppendynamiken aufgreifen, indem er etwa soziale Formen des Lernens ermöglicht und nicht alles über die Lehrperson im Sinne von Frontalunterricht läuft. Die Freunde können stark motivierend sein, damit man gerne

«Es geht darum, dass Kinder und Jugendliche positive Emotionen fürs Lernen entwickeln können, das darf bei den vielen kognitiven Zielen nicht aus dem Blickfeld geraten.»

STEFANIE GYSIN

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zur Schule geht. Diese verbündete Gemeinschaft ist auch nicht zu unterschätzen, wenn es um das Verarbeiten von Frustrationen und Misserfolgen geht. Die Peergroup hilft, dass sich Kinder und Jugendliche nicht alleine fühlen, und wirkt stabilisierend. Wie gesagt, das soziale Gefüge ist enorm wichtig.

Spricht man heute überhaupt noch von intrinsischer und extrinsischer Motivation? Wenn man diese sozialen Aspekte bedenkt, wird diese Differenzierung ja schwierig. Motivation ist ja eher etwas Ansteckendes, Mimetisches …

Diese Unterscheidung ist schon noch haltbar. Intrinsische Motivation kommt durch ein eigenes Interesse, durch einen inneren Antrieb zustande, der mir erlaubt, mich in etwas zu vertiefen. Flowzustände, das Aufgehen in einer Tätigkeit, bei der die Zeit vergessen wird, sind etwa Hinweise auf eine solche Motivation. Bei der extrinsischen Motivation wird Leistung durch äussere Faktoren, wie Noten, Belohnung oder Sanktionen, ausgelöst. Die beiden Phänomene schliessen sich aber nicht gegenseitig aus. Es kann ja auch sein, dass erst durch die Didaktisierung respektive durch einen äusseren Anstoss ein Interesse für die Sache und damit eine intrinsische Motivation entsteht.

Gibt es so etwas wie klassische Motivationskiller?

Langeweile, Unterforderung, aber auch Überforderung sind sicherlich die prominentesten Killer. Die Ursachen sind wiederum sehr unterschiedlich. Das können Themen sein, die nicht mit der Lebenswelt der Kinder zu tun haben, oder die Art der Didaktisierung der Lehrperson. Es kann helfen, jeweils das frontale Unterrichtssetting aufzubrechen und den Schüler*innen Gelegenheit zum Experimentieren zu geben und sie kooperativ Inhalte erarbeiten zu lassen. Zudem ist es sicherlich ratsam, die Unterrichtsziele transparent zu machen, genau erklären, was zu machen ist, Arbeitsanweisungen geben, zeigen, wo die Fragen andocken.

Sind negative Emotionen im schulischen Kontext per se schlecht? Oder anders gefragt: Ist das Gefühl der Überforderung teilweise nicht auch nötig, um mit einer Sache vertraut zu werden?

Vom Wohlbefinden auszugehen, heisst nicht, dass negative Emotionen nicht auftreten dürfen. Ich kann mich wohlfühlen und trotzdem negative Emotionen haben. Sie dürfen einfach nicht überwiegen. Es gilt, diese auszubalancieren und in ein Verhältnis zu setzen. Ängste, Enttäuschungen, Verständnisschwierigkeiten und Misserfolge gehören zum Lernen dazu. Es ist eine zentrale Entwicklungsaufgabe, sich diesen Emotionen zu stellen und zu lernen, dass sich Emotionen regulieren lassen. Das kann damit beginnen, dass Schüler*innen

diese Emotionen wahrnehmen und benennen und dann Strategien kennen lernen, wie sie ihre kognitiven und sozialen Ressourcen aktivieren können. Kritisch wird es, wenn Kinder ihre Emotionen nicht mehr regulieren können, wenn sie anfangen zu generalisieren und somit ihr Selbstwertgefühl in Mitleidenschaft ziehen. Lehrpersonen können mit ihren Klassen thematisieren, welche emotionale Palette mit Lernen zusammenhängt, und die Kinder anregen, selbst herauszufinden, was einem hilft.

Sie haben sich mit dem Wohlbefinden in der Schule intensiv auseinandergesetzt. Sind Sie persönlich gerne zur Schule gegangen?

Zum Grossteil schon. Ich hatte immer Freude am Lernen, wobei es natürlich auch Misserfolge gab. Es verlief bei mir auch nicht immer alles linear. So hatte ich beispielsweise erst zwei Semester Biochemie studiert, bis ich merkte, dass mich etwas ganz anderes interessierte. Dann schrieb ich mich um auf Erziehungswissenschaften, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte.

Wie sind Sie auf das Forschungsthema gekommen?

Das ergab sich aus einem früheren Forschungsprojekt zu geschlechterspezifischen Bildungsungleichheiten. Wir fragten, warum Mädchen und Jungs in der Schule unterschiedlich abschneiden. Das Wohlbefinden war da ein Nebenthema, das ich wichtig fand und weiter vertiefen wollte.

Haben Sie so etwas wie ein ideales Bild von der Schule?

Utopien gegenüber bin ich immer etwas ambivalent. Ich setze lieber bei der Realität an. In der öffentlichen Schule läuft ja bei Weitem nicht alles schlecht. Es gibt viele tolle und engagierte Lehrpersonen. Mir ist die Sensibilisierung wichtig, dass Lernen nicht nur etwas rein Kognitives, von Emotionen Losgelöstes ist. Diesem Zusammenspiel müssen wir noch mehr Gewicht geben. Emotionen und Leistungsvermögen sind miteinander verknüpft. Es kommt viel zurück, wenn man die Emotionen der Kinder ernst nimmt.

STEFANIE GYSIN ist Dozentin für Bildungstheorien an der Pädagogischen Hochschule FHNW. Sie promovierte zum Thema subjektives Wohlbefinden von Schülerinnen und Schülern.

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