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Selbstgesteuert durch die Lernlandschaft von Michael Hunziker

Selbstgesteuert durch die Lernlandschaft

Der Unterricht an der Bezirksschule Wohlen findet für mehrere Klassen seit fünf Jahren in sogenannten Lernlandschaften statt. Wie die Schülerinnen und Schüler Verantwortung für ihr eigenes Lernen übernehmen können und welche Folgen dies für die Motivation und die Lehrperson-Schüler*innen-Beziehung hat, zeigt ein Besuch im «Grossraumbüro».

Von Michael Hunziker (Text), Daniel Desborough (Fotos)

Eine Delegation von Lehrpersonen aus Belgien ist an einem kalten Wintertag nach Wohlen gereist und steht nun vor einem jener Industriebauten, die für das Aargauer KMU-Mittelland typisch sind. Es geht ihnen bei ihrem Besuch aber nicht darum, Einblicke in das duale Bildungssystem zu erhalten, sondern sie wollen etwas zu neuen Unterrichtsformen erfahren – im Gebäude hat sich neben Gewerbebetrieben die Bezirksschule Wohlen eingemietet und führt hier in den grossen loftähnlichen Räumen drei Lernlandschaften.

«Was ist guter Unterricht?» Paul Bitschnau, Wohlener Schulleiter, erklärt den Gästen: «Wir haben uns schon seit etlichen Jahren mit der Frage ‹Was ist guter Unterricht?› beschäftigt. Daraus ergaben sich intensive Diskussionen um eine zukunftsfähige Schule.» Konkret: Mit welcher Unterrichtsform kann man der Heterogenität der Schülerinnen und Schüler begegnen und den Herausforderungen der Gesellschaft, den Erkenntnissen der Neuro-Hirnforschung und den veränderten Lernformen gerecht werden? Bitschnau zeigt auf den Industriekomplex: «Das ist nun unsere Dépendance, ohne die wir die Lernlandschaften nicht hätten machen können.» Dass das Konzept «Lernlandschaft» Potenzial zur Expansion hat, beweist auch das Interesse der belgischen Delegation. Das Kollegium aus dem ostbelgischen Eupen holt sich in Wohlen weitere Inspirationen. Die mitgereisten Lehrpersonen fotografieren Stundenpläne und fragen detailliert bei Paul Bitschnau nach: «Wie lange sind die Jugendlichen in der Lernlandschaft?» «Ein Viertel ihrer Zeit, die anderen drei Viertel machen Inputlektionen in Schulzimmern aus.» «Wie lange ist die Lernlandschaft geöffnet?» «Von 7.30 bis 17 Uhr.» «Sind die Jugendlichen freiwillig in diesem Modell?» «Ja, klar.»

«In der Lernlandschaft verstehe ich mich als Lernprozessbegleiter und in den Inputlektionen als Unterrichtsorganisator.»

Matthias Hehlen, Lehrer

Die Rolle der Lehrperson ändert sich Étienne Gengler, Präfekt des Königlichen Athenäums (also ebenfalls Schulleiter), hatte Lernlandschaften bereits vor zwei Jahren durch Michele Eschelmüller und Norbert Landwehr von der Pädagogischen Hochschule FHNW kennengelernt, als er auf der Suche nach anderen Unterrichtsformaten war: «Ich wollte unsere Schule erneuern und auf den aktuellen Stand der Lernforschung bringen. Vor sechs Jahren bin ich Schulleiter geworden und hatte eine andere Vorstellung von zeitgemässem Unterricht. Bei uns wird nun Motivation grossgeschrieben.» Seine Schule hat vor ein paar Wochen einen Pilot gestartet, bei dem zwei Klassen in Lernlandschaften «unterrichtet werden». Dass diese Passivformulierung im Zusammenhang mit Lernlandschaften inhaltlich nicht mehr ganz richtig ist, wird klar, wenn man sich das Konzept genauer anschaut: Das Setting ist konsequent auf selbstorganisiertes Lernen fokussiert, das heisst, die Schülerinnen und Schüler entscheiden innerhalb der Zeit in der Lernlandschaft selbst, wann sie für welche Fächer arbeiten. Zudem wird das kooperative Lernen unter den Jugendlichen gefördert. Auch die Rolle der Lehrperson ändert sich: Neben «herkömmlichem» Unterricht in den Inputlektionen wird sie zu einem Lerncoach, der individuell auf die Schülerinnen und Schüler eingehen kann. «Wir geben unseren Schülerinnen und Schülern die Verantwortung für das eigene Lernen», sagt Paul Bitschlau, «dadurch steigert sich in der Regel auch ihre Motivation.» Die Jugendlichen dürfen bei Eintritt in die Bezirksschule Wohlen selbst entscheiden, ob sie lieber traditionellen Unterricht besuchen oder in Lernlandschaften arbeiten möchten.

Lernlandschaft ist kein Selbstläufer Dass die neuen Freiheiten, die das Konzept mit sich bringt, gerade für neue Schülerinnen und Schüler anfänglich ungewohnt sind, gibt Fabienne Blunschi

zu bedenken, die in ihrer Masterarbeit die Motivation bei selbstgesteuertem Lernen bei einer Kohorte aus dem ersten Bezirksschuljahr untersucht hat: «Generell ist die Motivation in den Lernlandschaften hoch. Aber es gibt phasenweise Durchhänger. Mich interessierte, welche Aspekte die Motivation unterstützten und welche sie beeinträchtigten», erzählt die Absolventin der PH, die an der Schule Wohlen derzeit Sport unterrichtet. «Die ruhige Arbeitsatmosphäre und die persönlichen Arbeitsplätze werden von allen sehr geschätzt, was das individualisierte Lernen unterstützt», sagt sie. Es gefalle den Schülerinnen und Schülern, im eigenen Tempo und zeitlich flexibel etwas zu erarbeiten, und auch dass sie jederzeit auf sie abgestimmte, persönliche Unterstützung einholen können, trage ebenfalls viel zu ihrer Zufriedenheit bei. Entsprechend sind auch die negativen Faktoren jene, die ihnen wenig Auswahl und Kreativität ermöglichen. «Die Schüler brauchen interessant gestaltete Aufgaben, in die sie sich vertiefen können. Sie wollen kognitiv gefordert werden und ihre Energien nicht in reine Fleissaufgaben investieren», stellte Blunschi fest. «Sie wünschen sich, in einen Lernflow zu kommen.»

Freiheit und enge Begleitung schliessen sich nicht aus Kommt das wirklich gut, wenn man die Jugendlichen einfach machen lässt? Matthias Hehlen, Lehrer für Geschichte und Deutsch, ist seit Beginn in der Lernlandschaft dabei und erklärt, dass die gewährte Autonomie eine enge Begleitung nicht ausschliesst. «Wir geben den Schülerinnen und Schülern auf Vorschuss viel Vertrauen. Trotzdem müssen wir wissen, wer wo steht.» Hehlen vergibt seine Aufgaben mit der App «lernwelt» – die Schüler*innen können jederzeit auf ihrem Handy oder Computer sehen, was zu tun ist, und Hehlen kann den idealen Zeitpunkt im Lernprozess erkennen, um individuelles formatives Feedback zu geben.

Michael Plaukovits (r.) und Matthias Hehlen unterrichten beide in der Lernlandschaft.

Als Lehrer, der auch traditionell unterrichtet hatte, beschreibt er, was der Wechsel zur Lernlandschaft für ihn bedeutet: «In der Lernlandschaft verstehe ich mich als Lernprozessbegleiter und in den Inputlektionen als Unterrichtsorganisator.» Dass dieses Rollenverständnis auch die Beziehungsqualität zu den Schüler*innen verändert, bestätigt Michael Plaukovits, der ebenfalls seit Anbeginn in der Lernlandschaft unterrichtet: «Ich weiss besser Bescheid über ihre Sorgen und kann jederzeit individuell auf sie zugehen. Dadurch habe ich den grösseren Zusammenhang im Blick, wenn es jemandem nicht so gut läuft, etwa wegen Problemen im Elternhaus.» Plaukovits ist wie die anderen Lehrpersonen jeden Tag mit seinen Schülerinnen und Schülern durch die Arbeit in der Lernlandschaft in Kontakt, auch wenn sein Fach nicht auf dem Stundenplan steht. Er ist überzeugt, dass dieses Setting sowohl den leistungsschwächeren wie auch den leistungsstärkeren Schülerinnen und Schülern entgegenkommt: «Die Zeit, die ich den Einzelnen widme, verteilt sich gerecht. Jeder hat ja in einem anderen Bereich Schwächen und Stärken. Den einen kann ich mit weiterführenden Materialien helfen, die anderen mit individueller Förderung begleiten.»

In «terrain inconnu» investieren Die belgischen Lehrpersonen gehen interessiert durch die Lernlandschaft, die ein bisschen einem Grossraumbüro gleicht – die Arbeitsplätze sind individuell gestaltet, Fussballidole, Pferde- und Mountainbikefotos hängen an den Seitenwänden. Sie fragen die Schülerinnen und Schüler nach ihren Erfahrungen und alle antworten ihnen dasselbe: Die Jugendlichen können sich Schule gar nicht mehr anders vorstellen. Auf Fragen, ob sie die Lernzeit nicht einfach für irgendetwas anderes ausnutzen, wie etwa Fussballresultate im Internet checken oder heimlich gamen, reagieren sie etwas verständnislos. Wer die Verantwortung für sein Lernen selbst trägt, trickst sich nicht selber aus, könnte man schliessen. Neben der Inspiration stellt sich bei der belgischen Delegation auch Zuversicht ein. Étienne Gengler ist überzeugt: «Es lohnt sich auf jeden Fall, in dieses «terrain inconnu» zu investieren. Zudem motiviert uns diese Selbstverständlichkeit von Wohlen. Sie wird sich auch bei uns einstellen.»

«Gemeinsam Lernerfolg organisieren»

Ein Interview mit Michele Eschelmüller über die Vor- und Nachteile von Lernlandschaften und ihre Vereinbarkeit mit pädagogischen Grundprinzipien.

Wie haben sich die Lernlandschaften geschichtlich in der Schweiz entwickelt?

Um die Jahrtausendwende haben verschiedene Schulen in der Ostschweiz innovative Unterrichtskonzepte entwickelt und aufgrund ihrer strukturellen Herausforderungen überlegt, wie sie die knappen Ressourcen und Pensen besser organisieren können.

Welches pädagogische Verständnis liegt den Lernlandschaften zugrunde?

In Lernlandschaften arbeiten meist zwei bis drei Klassen in einem grossen Schulzimmer. Entsprechend sind mehrere Lehrpersonen anwesend, die verschiedene Aufgaben unter sich aufteilen können. Das ermöglicht es, besser zwischen verschiedenen Leistungsniveaus innerhalb einer Klasse zu differenzieren. Lernlandschaften liefern damit auch Antworten auf diese Fragen: Was mache ich mit Schüler*innen, die mehr Erklärungszeit brauchen, oder mit solchen, die den Stoff ziemlich schnell verstehen? Wie organisiere ich die Erklärphase, die Übungsphase? In der Lernlandschaft arbeiten alle an ihrem individuellen Arbeitsplatz in ihrem spezifischen Tempo nach ihren Fähigkeiten, während mehrere Lehrpersonen punktuell unterstützen können. Die Kernthemen sind also Individualisierung, Differenzierung und Selbststeuerung. Die Schüler*innen sollen lernen, vermehrt selbstständig zu denken und zu arbeiten, wobei die Lehrperson unterschiedliche Ausgangslagen schaffen muss, damit sie das lernen.

Wann ist es für eine Schule sinnvoll, eine Lernlandschaft zu gestalten?

Es geht primär um das genannte Grundprinzip. Es lohnt sich für jede Schule, sich damit auseinanderzusetzen. Wie können wir Selbststeuerung erhöhen und die Schüler*innen für ihr Lernen mitverantwortlich machen? Das ist erst einmal nicht eine Frage des Raumes.

Lernlandschaften sind also nicht per se die Lösung für pädagogische Probleme? Nein, wichtig ist das Lehr-/Lernverständnis, das sich eine Schule erarbeitet. Lernlandschaften bieten diesbezüglich zwar viele Vorteile, aber man muss sich bewusst sein, dass es auch Nachteile gibt. Sie sind wie ein Grossraumbüro mit allen Schwierigkeiten, die dazu gehören. So herrscht in den meisten Schulen in der Lernlandschaft eine sogenannte Flüsteratmosphäre, damit es nicht zu laut wird, wenn Schüler*innen zusammenarbeiten. Trotzdem muss man in bestimmten Unterrichtssituationen auch laut reden können. Da haben Lernlandschaften ein paar Nachteile, die durch Ausweichräume kompensiert werden müssen.

Ihr untersucht die Tiefenstrukturen des Lernens. Was ist darunter zu verstehen?

Einfach ausgedrückt, sind Tiefenstrukturen so etwas wie die verborgene Qualität hinter der Oberflächenstruktur (organisationale Bedingungen, auch Ermöglichungsstruktur genannt). Ein Beispiel: Wir wissen, dass Schüler*innen mit kognitiv herausfordernden Lernaufgaben besser lernen. Sogenannte Fermi-Aufgaben beispielsweise (nach dem Physiker Enrico Fermi) sind ergebnisoffen, haben verschiedene offene Variablen und lassen die Schüler*innen kreativ arbeiten. Zu einer funktionierenden Tiefenstruktur gehört aber auch eine Kultur des gegenseitigen Wertschätzens – eine Umgebung, in der die Schüler*innen merken, die Lehrperson will vor allem meine Fortschritte dokumentieren und mit mir gemeinsam Lernerfolg organisieren. Gelang es uns in den 90er-Jahren mit den erweiterten Lernformen, Schüler*innen zu aktivieren, selbstständig zu arbeiten, fokussieren wir heute noch mehr auf die Verstehenstiefe. Schüler*innen sollen lernen, selbstständiger zu arbeiten und dabei viel zu verstehen. Interview: Michael Hunziker

MICHELE ESCHELMÜLLER ist Leiter der Beratungsstelle für Unterrichtsentwicklung und Lernbegleitung an der Pädagogischen Hochschule FHNW.

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