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Fachmagazin des Bachelor Studiengangs Medienmanagement der FH St. Pölten Fachmagazin des Bachelor Studiengangs Medienmanagement der FH St. Pölten
JOURNALISMUS 3.0 Ausgabe 34 - März 2020 -
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» Editorial von Roland Steiner
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» Visuelles Storytelling – (eine) Geschichte des Datenjournalismus von Marlene Lampl
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» Kollaborativer Journalismus: „There is still a lot to explore” von Tobias Kachelmeier
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» Die Erinnerung trügt – Oral History unter die Lupe genommen von Magdalena Bauer
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» Bots in der Medienbranche: Konkurrenz oder Dream Team? von Katja Müller
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» Mobile Journalism: quick and dirty? von Jasmin Klozyk
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» Rüstungsindustrie vs. Medien: Der Kampf um Transparenz von Michael Marsoner
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» Informationsfreiheit: ein Fluch für die Einen, ein Segen für die Anderen von Theresa Burgstaller
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» Kinderfotos im Netz – Moral vs. Gesetz? von Katharina Samsula
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» „Murder ... Victim!“ – Journalismus aus der Vogelperspektive von Ondrej Svatos
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» „FaceApp“ – und ihr Umgang mit Daten von Nina Kern
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» Arbeitswelt 2020 – Zwischen Utopie und harter Realität von MWF-Praxislabor
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» Hackathons – die Zukunft zum Thema von Paul Jelenik
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» Quo vadis, Teletest? Die Zukunft der Fernsehreichweitenmessung von Michael Marsoner
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» Communication is key – Wie der SprachSchatz dem Journalismus hilft von Magdalena Bauer
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» Virtual Reality Journalismus – eine betretbare Nische von Klaus Ofner
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» Creative Commons – Common sense not included von Linda Ploszajska
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» Journalistische Auszeichnungen: Eigen-Marketing und Anerkennung von Annabelle Schleser
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» Datenschutz-Grundverordnung: ein erstes Resümee von Katrin Nussmüller
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» Blogging – der andere Journalismus? von Katharina Samsula
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» Bei Fremden zu Hause: grenzüberschreitende Berichterstattung von Ondrej Svatos
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» Europäische Statistikinstitute unter der Lupe von Kathrin Minich
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» Die Sinnhaftigkeit von E-Voting von Melanie Gruber
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» Whistleblowing: zwischen Heldentum und Verrat von Elena Weissengruber
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» Tiefenrecherche gegen Junk-Food-Journalismus: Das Magazin „DATUM“ von Annabelle Schleser
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Inhalt
Inhalt
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Editorial
Eine interessante Lektüre wünschend und in Vorfreude auf Ihr Feedback,
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FH-Prof. Mag. Ewald Volk
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„Fakten, Fakten, Fakten“, so der Slogan des 1993 gegründeten deutschen Nachrichtenmagazins „FOCUS“ – könnte es 2020 „Daten, Daten, Daten“ lauten? Abgesehen davon, dass Faktum eine Tatsache und Datum etwas Gegebenes bedeutet: Woher rührt im Journalismus der intensive Drang nach Daten? SUMO widmet sich in der 34. Ausgabe dieser und ähnlicher Fragen, Stichwort 3.0: Welcher innovativer Denkweisen, Zugänge, Ausformungen und Werkzeuge bedarf das journalistische System, um für ihre heutigen und künftigen RezipientInnen attraktiv zu sein? Welche medienökonomische Parameter stellen sich in Zeiten des „Jetzt – Alles – Gratis“? Und wozu dient der Journalismus (noch) in gesellschaftspolitischen Belangen? Wir diskutieren diese Fragen dialektisch. SUMO stellt – wie gewohnt auf Basis von Experteninterviews und wissenschaftlicher Studien (unique selling proposition, USP1) – unterschiedlichste Versuche des Journalismus und aus dessen Umfeld dar: technologische wie durch Daten, Roboter, Virtual oder Augmented Reality betriebene; aber auch inhaltliche, etwa via gemeinschaftlicher Recherchen, mündlich erzählter Geschichten von Nicht-Machthabenden oder Creative Commons. Der USP2 ist wie stets bei SUMO: MedienNachwuchsführungskräfte verantworten alle Bereiche in einem Medienunternehmen – von der Text- über
die Bildredaktion, Anzeigenverkauf und Distribution, Print- und Online-Produktion bis zur Unternehmenskommunikation. Neu diesmal: Studierende des Master Studiengangs Wirtschafts- und Finanzkommunikation der FH S. Pölten haben im Praxislabor „Datenjournalismus“ unter Christoph Schlemmers Betreuung (bei der APA für dies zuständig) datenjournalistisch gearbeitet – ihren Beitrag lesen Sie in der Heftmitte. Einzigartig zuletzt: Die Studierenden im Praxislabor Print des Bachelor Studiengangs Medienmanagement haben für Sie das bei weitem umfangreichste SUMO gestemmt. Übrigens: Produktionen aus allen Praxislaboren (Online, Video, Radio, Print) können Sie einsehen unter medienmachen.at.
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Liebe Leserin, lieber Leser!
FH-Prof. Mag. Roland Steiner Praxislaborleiter Print Chefredakteur SUMO
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Visuelles Storytelling – (eine) Geschichte des Datenjournalismus „Was ist eigentlich Datenjournalismus und wann hat er begonnen?“ Zwecks Aufrollens einer Geschichte dieser Form der Informationsaufbereitung sprach SUMO mit Marcel Pauly, dem Leiter des Datenjournalismus-Teams des „SPIEGEL“, und Peter Sim, der bei „DOSSIER“ für Datenjournalismus zuständig ist. bei Statistik Austria, nunmehr bei der gemeinnützigen Redaktion „DOSSIER“ tätig – charakterisiert den Datenjournalismus zusätzlich dadurch, Geschichten zu finden, die vorher so noch nicht erzählt wurden und auch einen öffentlichen Mehrwert liefern – und sie zu schreiben. Im Gegenzug zu „traditionellem“ Journalismus werden beim Datenjournalismus Informationen in einem System gespeichert sowie gefiltert und anschließend über eine Datenbank abrufbar gemacht. Das Ausschlaggebende ist schließlich die Visualisierung dieser Informationen, denn ein Bild, oder in dem Fall eine (interaktive) Grafik sagt mehr als tausend Worte. Von Computer Assisted Reporting über „WikiLeaks“ zur Datenvisualisierung Es ist der 12. Juli 2007, früh morgens. 34 Grad, die Schweißperlen tropfen. Aerodynamischer Lärm erklingt am Himmel und wirbelt die Luft am Boden umher. Zwei Hughes AH-64 Apache, zweimotorig, versteht sich. Hier, im Osten der Stadt, entsteht Aufruhr. Frauen, Männer und Kinder beginnen nach und nach zu tuscheln, zu rätseln, was es da im Himmel auf sich hat. Bis sie plötzlich zu flüchten beginnen. Der Grund: 30-mmBordkanonen. Gleich zweimal. Angriff eins zielt auf eine Gruppe von neun bis elf Männern ab, die sich im Weg befinden – darunter auch zwei für die Nachrichtenagentur „Reuters“ tätige irakische Kriegsberichterstatter. Insgesamt sind es drei Angriffe der US-amerikani© Copyright: adobe stock/xiaoliangge
„Das Berufsbild für im Journalismus Tätige hat sich in den vergangenen Jahren durch die Verfügbarkeit großer digitaler Datenmengen signifikant weiterentwickelt. Die zahllosen Beiträge aus Journalismus und Wissenschaft zu Anwendungen, erkenntnistheoretischen Fragen, Kompetenz, Ökonomie und Ethik im Zusammenhang mit dem Begriff ‚Big Data‘ unterlegen diese Beobachtung. Vor allem die Begriffe Datenjournalismus und Roboter-Journalismus sind zu regelrechten Stellvertretern für den Diskurs stilisiert wurden.“ So beschreibt Andreas Niekler im Leipziger Tagungsband „Die neue Öffentlichkeit“ (2018) die Veränderungen im Metier des Journalismus. Datenjournalismus lasse sich laut Marcel Pauly – der an der Columbia Journalism School (New York City) eine diesbezügliche Weiterbildung absolviert hatte – nicht anhand einer eindeutigen Definition erläutern. Er beschreibt im SUMO-Interview die Begriffe Daten und Datensatz als strukturierte, maschinenlesbare Informationen, die heute in vielen Bereichen mit den richtigen Werkzeugen erschlossen und ausgewertet werden könnten, mit denen man anschließend durch klassisches journalistisches Handwerk Geschichten erzählen vermöge. Der Ausgangspunkt sei stets die Recherche, mittels welcher sich nach und nach ein Berg an Daten anhäufe, weshalb es dafür auch ein Gespür benötige, um herauszufiltern, wann man mit einer grafischen Darstellung auch mehr erzählen kann. Peter Sim – Ökonom und vormals wissenschaftlicher Mitarbeiter
Visuelles Storytelling – (eine) Geschichte des Datenjournalismus
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schen Armee, bei welchen bis zu achtzehn Menschen ums Leben kommen. Ein Kollateralschaden. Oder „Collateral Murder“, so wie „WikiLeaks“ die Videoaufnahmen, die an Bord der Hubschrauber aufgenommen werden, betitelt. „Collateral Murder“ war die erste Veröffentlichung von „WikiLeaks“, bei der das unkommentierte Originalvideomaterial über das Kriegsverbrechen publiziert wurde. „Das Material wirft ein Schlaglicht auf die alltägliche Brutalität und das Elend des Krieges. Es wird die öffentliche Meinung verändern und auch die von Menschen mit politischem und diplomatischem Einfluss“, äußerte sich „WikiLeaks“-Gründer Julian Assange („SPIEGEL ONLINE“, 26.7.2010) zur willkürlichen Ermordung von ZivilistInnen im Irakkrieg in Neu-Baghdad. „WikiLeaks“ ist eine Enthüllungsplattform, auf der Dokumente, die durch Geheimhaltung als Verschlusssache, Vertraulichkeit, Zensur oder auf sonstige Weise in ihrer Zugänglichkeit beschränkt sind, veröffentlicht werden. Kernziel der Plattform ist es, im Sinne des öffentlichen Interesses unethisches Verhalten von und in Regierungen und Unternehmen zu enthüllen. „Journalismus ist das was ‚WikiLeaks‘ macht keiner“, sagt Peter Sim. Erst durch den „Guardian“, die „New York Times“ und den „SPIEGEL“, die Geschichten aus dem Material gefiltert und erzählt hätten, werde es zu Datenjournalismus. „Nur Daten zu veröffentlichen, auch wenn sie noch so spannend
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sind, ist kein Journalismus. Erst durch die Kooperation von ‚WikiLeaks‘ mit etablierten Medien wurden die ‚Afghan war logs‘ zum ersten Beispiel des modernen Datenjournalismus.“ Doch Datenjournalismus gab es auch davor, sagt Sim: „Es gibt wunderbare Beispiele aus dem 19. Jahrhundert, wie das der ‚New York Tribune’ – damals haben sich Journalisten angeschaut, wie viel Kongressabgeordnete an Geld für die Reise nach Washington und wieder zurück erhalten haben. Verglichen mit der Entfernung erzählt das eine tolle Geschichte im öffentlichen Interesse. So hat die Zeitung herausgefunden, dass ein gewisser Abraham Lincoln um einiges mehr pro Kilometer verrechnete als seine Kollegen“, erzählt Sim. Hört man den Begriff „Datenjournalismus“, so verknüpft man diesen wohl schnell mit einer Erfindung des 21. Jahrhunderts. Jedoch ist dem wahrlich nicht so. Bereits 1821 publizierte die britische Tageszeitung „The Guardian“ eine Tabelle, in welcher die Kosten pro Schüler/in an Schulen in Manchester dokumentiert waren. Erste Vorläufer des Datenjournalismus’ in den 1970er- und 1980er-Jahren basierten auf dem Computer Assisted Reporting im angelsächsischen Raum. Computer Assisted Reporting ist ein Prozess, bei dem maschinenlesbare Informationen mit technischer Hilfe verarbeitet, analysiert und daraufhin Schlüsse gezogen werden, um in weiterer Folge
Visuelles Storytelling – (eine) Geschichte des Datenjournalismus
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Rechercheansätze entwickeln zu können. Marcel Pauly meint, dass damals in dieser Form, wie wir sie heute kennen, die Visualisierung der Daten, etwa in Form von Grafiken oder anderen visuellen Darstellungsformen, noch nicht vorhanden war. Visuelles Storytelling als fester Bestandteil heutiger Redaktionen Heute ist Datenjournalismus bereits weitgehend in Redaktionen integriert und etabliert. So hat auch „DER SPIEGEL“ ein eigenes Datenjournalismus-Team, das aus vier Teammitgliedern besteht. Der Leiter dieses Teams, Marcel Pauly, erzählt von einem datenjournalistischen Projekt, welches sein Team im Jahr 2018 umgesetzt hatte. „Wir haben eine Geschichte zu dem Zustand der deutschen Autobahnen gemacht.“ Hintergrund dazu war, dass in Deutschland viele Brücken aus verschiedenen Ecken gesperrt werden mussten, manchmal nur für den Schwerlastverkehr, manchmal auch für den kompletten Verkehr, weil die Sicherheit nicht mehr gewährleistet werden konnte. „Um das ganzheitlicher betrachten zu können, haben wir eine Übersicht über alle Brücken und deren Zustand erstellt und darüber eine Geschichte geschrieben. Dafür reicht es jedoch nicht, ein paar Meldungen aus Lokalzeitungen aus allen Ecken Deutschlands zusammenzutragen, sondern es braucht einen Datensatz, um ein voll-umfasstes Bild von der Situation zu bekommen.“ Solch ein Datensatz liegt dem Verkehrsministerium vor. Dieses verfügt über eine Datenbank, in der die Informationen zusammengetragen werden – für jede Brücke gab es zahlreiche Variablen, die in der Datenbank hinterlegt sind, wie das Baujahr, die Fläche, die Länge, das Material und unter anderem auch Informationen darüber, was das Ergebnis der letzten Bauwerksprüfung war. Denn die Brücken werden regelmäßig gewartet, wobei eine Zustandsnote, so wie eine Schulnote, vergeben wird. „Was für DatenjournalistInnen oft ein Problem darstellt, ist, dass viele Datenbanken nicht öffentlich zugänglich sind. Jedoch gibt es verschiedene Werkzeuge, derer sich ein/e Datenjournalist/in bedienen kann, um doch an die Informationen zu gelangen.“ Das deutsche Informationsfreiheitsgesetz berechtigt schließlich jede/n Bürger/in dazu, Informationen einer (Bundes-)Behörde einzufordern. „Außerdem hatten die Verkehrsbehörden in Deutschland selbst auch Interesse daran, einen Überblick über den Zustand der Brücken zu behalten. Dies war der Ausgangspunkt für eine weitere Recherche, da war eine Geschichte drin. Datenjournalismus bedeutet, dass wir als JournalistInnen Werkzeuge benut-
zen, um an Informationen aus Datensätzen zu kommen, diese abzuklopfen und zu überprüfen, ob in diesen relevante Geschichten stecken, die wir erzählen wollen“, so Pauly. Der Großteil der Daten ist öffentlich. Etwa auf Open Data-Portalen oder bei der Statistik Austria. „Wenn ich eine Geschichtenidee habe und weiß was ich erzählen will, dann schaue ich, ob es Daten dazu gibt und ob ich meine These bestätigen oder falsifizieren kann“, erklärt Peter Sim. Datenjournalismus steht also auch in enger Verbindung mit sozialwissenschaftlichem Arbeiten, indem Thesen durch „erforschte“ Daten verifiziert oder falsifiziert werden. Sim erzählt von einem datenjournalistischen Projekt über Glücksspielautomaten in Wien, welches das Team von „DOSSIER“ 2014 umgesetzt hat. Die These dieses Projekts war, dass sich die Glücksspielautomaten in den Bezirken befinden, in denen tendenziell ärmere Menschen leben. Im Zuge dieser Recherche hat das „DOSSIER“-Team verschiedene Daten, wie das durchschnittliche Einkommen in den Bezirken und die Standorte der Spielautomaten untersucht und mittels einer statistischen Methode geprüft, ob die aufgestellte These stimmt. „In dem Fall war das so und wir haben als Erste den Satz hinschreiben können: Je niedriger das Einkommen in einem Wiener Bezirk, desto mehr Spielautomaten befinden sich dort.“ Wie sieht die Zukunft des Datenjournalismus aus? Der Datenjournalismus ist nicht mehr wegzudenken. Denn feststeht, dass es Daten wie Sand am Meer gibt. Aber wie entwickelt er sich weiter? Marcel Pauly vom „SPIEGEL“ fällt es schwer, dies zu beantworten – auch ob der Häufigkeit der gestellten Frage. „Es gab auf jeden Fall in den letzten zehn Jahren eine enorme Entwicklung und deutliche Professionalisierung, wenn ich mir die datenjournalistische Szene im deutschsprachigen Raum ansehe. Das hat angefangen mit Leuten, von denen einige schon programmieren konnten, andere haben sich mit Excel durch ganze Datensätze gearbeitet. Zu Letzteren habe ich in den ersten Jahren auch dazu gehört, die Programmier-Skills habe ich mir erst nach und nach angelernt.“ Wer aber heute in den Datenjournalismus hineinmöchte, sollte auf jeden Fall keine Angst vor der Auseinandersetzung mit der Programmiersprache haben. Peter Sim beobachtet, dass der Datenjournalismus immer kleiner werde – im positiven Sinn. Das bedeute, dass es nicht mehr riesige Flagship-Projekte brauche, an denen unzählige Journalis-
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tInnen, ProgrammiererInnen und DesignerInnen monatelang zusammenarbeiten, er werde sich immer mehr auch im täglichen und wöchentlichen Journalismus ansiedeln, schneller und dadurch auch weiterverbreitet werden. „Denkbar ist für mich, dass sich der Datenjournalismus auch in benachbarte Bereiche wie den Roboterjournalismus weiterentwickelt, also dort, wo viele Datensätze vorhanden sind und Datenquellen genutzt werden können, um die Berichterstattung automatisieren zu können, wie beispielsweise Börsenberichte, sprich wie sich die Kurven verändern, oder im Fußball Spielberichte einer unteren Liga“, ergänzt Pauly. In den letzten Jahren wurden Algorithmen zunehmend wichtiger. Sie entscheiden, beispielsweise welche Werbung wir auf „Facebook“ sehen, und können dadurch Meinungen sowie Einstellungen massiv beeinflussen. Speziell der Journalismus muss dies im Auge behalten, seine Kontrollfunktion ausüben und
wachsam sein. Um dies als JournalistIn durchführen zu können, benötigt es ein gewisses Grundverständnis für Programmierung und IT, um zu verstehen, wie maschinelles Arbeiten funktioniert. Auch die „New York Times“ hat sich dem Zahn der Zeit angepasst und stellt ihren RedakteurInnen eigene „Data Training Programs“ zur Verfügung, in denen sie die nötigen Tools erlernen, die erforderlich sind, um Daten in ihre tägliche Berichterstattung einbeziehen zu können. Daten sammeln, aufbereiten, in eine Geschichte verpacken und visualisieren – möglicherweise das täglich Brot des künftigen Journalismus.
von Marlene Lampl
Marcel Pauly
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Peter Sim
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Visuelles Storytelling – (eine) Geschichte des Datenjournalismus
Kollaborativer Journalismus: „There is still a lot to explore” SUMO hat mit „SPIEGEL“-Journalistin Nicola Naber und Stefan Candea, Mitgründer der „European Investigative Collaborations“, über Organisation und Problemfelder von kollaborativ-journalistischen Projekten gesprochen.
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„Football Leaks“, „Panama Papers“, „Malta Files” – die ganz großen Schlagzeilen stammen heute nur noch selten aus einer einzelnen Feder. Vielmehr erleben Kooperationen im Journalismus eine Art Renaissance. Möglich macht’s die Digitalisierung mit ihren neuen Kommunikationsformen. Nötig macht’s die Digitalisierung ebenso: Vor allem angesichts großer Datensätze und kleiner werdender Redaktionen. Solch kollaborativ-investigative Projekte bringen dabei große Vorteile mit sich. Organisatorisch sind sie gleichzeitig selbst für die ganz Großen in der Nachrichtenbranche noch ein Lernprozess. Davon weiß etwa Nicola Naber zu berichten. Sie koordiniert seit 2017 für den deutschen „SPIEGEL“ das 2016 begonnene „Football Leaks“-Projekt mit den beteiligten Partnermedien in den „European Investigative Collaborations“ (EIC). Die EIC sind ein europäisches Recherchenetzwerk, in dem unter anderem „DER SPIEGEL“, der belgische „De Standaard“ oder der italienische „L’Espresso“ vertreten sind. Zentrale Figur in der Koordination und Weiterentwicklung des Workflows der EIC: Mitgründer Stefan Candea. SUMO hat mit Naber und Candea über Organisation und Problemfelder kollaborativ-journalistischer Projekte gesprochen. Kooperation im Journalismus: Kein neues Phänomen Man stelle sich vor: Ein/e JournalistIn kopiert den Text eines Konkurrenzblattes und veröffentlicht ihn eins-zu-eins im eigenen Magazin. Was heute (mindestens) aus rechtlicher Perspektive bedenklich wäre, war im 18. Jahrhundert gängige Praxis zwischen Medienhäusern – und eine Urform von kollaborativem Journalismus, wie Lucas Graves und Magda Konieczna in der in den
USA durchgeführten Studie „Journalistic Collaboration as Field Repair“ aus dem Jahr 2015 im „International Journal of Communication“ beschreiben. Kooperation zwischen JournalistInnen ist somit kein neues Phänomen. Im 20. Jahrhundert, so Graves und Konieczna weiter, nahm die kollegiale Zusammenarbeit allerdings den Sitz auf der Rückbank ein. Die Nachrichtenbranche war in ihrer wirtschaftlichen Blüte, dementsprechend niedrig war die Abhängigkeit verschiedener Medienunternehmen voneinander. Vielmehr ging es darum, die Konkurrenz mit der aktuelleren und exklusiveren Berichterstattung auszustechen. Aber selbst das hinderte JournalistInnen damals nicht daran, sich gegenseitig die Notizen zu ergänzen, wenn man bei der allfälligen Pressekonferenz mit dem Schreiben nicht mehr hinterherkam. Exklusiv oder kooperativ? Oben beschriebenes Problem verlangt dank moderner Technik wohl keine unternehmensübergreifenden Kooperationen mehr. Wohl aber Datensätze in der Größe von 1,9 Terrabyte. Ein solcher landete 2016 auf dem (virtuellen) Schreibtisch des „SPIEGEL“-Reporters Rafael Buschmann. Ok, but what next? Der „SPIEGEL“ fällte zunächst die Entscheidung, die „Football Leaks“-Dokumente mit den Mitgliedern der EIC zu teilen. Aber warum eigentlich? Immerhin hätte das Magazin auch exklusiv berichten können und damit die Lorbeeren für die Aufdeckung des größten Fußball-Skandals unserer Zeit alleine einheimsen. SUMO: „Nach welchen Kriterien fällen Sie die Entscheidung, exklusiv zu berichten, oder Informationen zu teilen?“ Naber: „Das kommt auf die Daten an.
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Bei ‚Football Leaks‘ hat es eindeutig Sinn ergeben, diese zu teilen, weil das Fußballgeschäft international organisiert ist. Die Dokumente sind in unterschiedlichen Sprachen verfasst und die Größe des Datensatzes (der inzwischen auf 3,4 Terrabyte angewachsen ist) hat auch eine Rolle gespielt“. Zudem waren die „Football Leaks“-Dokumente zum Teil strafrechtlich relevant. Der „SPIEGEL“ hätte sich bei der Recherche also – Stichwort „international organisierter Fußball“ – mit den rechtlichen Rahmenbedingungen zahlreicher Länder auseinandersetzen müssen. Rechtliches Hintergrundwissen über einzelne Länder könnten die dort ansässigen Medienunternehmen am besten in das Projekt einbringen, so Naber. Auch aus dieser Perspektive macht eine Zusammenarbeit also Sinn. Workflow und Kommunikation: „We fail a lot” Die Mitglieder der EIC treffen sich mehrmals im Jahr persönlich, um sich auszutauschen und mögliche Rechercheprojekte vorzustellen. Die einzelnen Unternehmen können dann frei entscheiden, ob sie an einem neu vorgestellten Projekt mitarbeiten wollen. Sobald die JournalistInnen allerdings wieder in ihren heimischen Redaktionen sitzen, muss mit Hilfe digitaler Technologien kommuniziert und zusammengearbeitet werden. Das ist gar nicht so einfach, wie es klingt. Konventionelle Kommunikationsmittel (zum Beispiel Email) fallen bei investigativen Projekten der Größenordnung „Football Leaks“ flach – zu groß sind die Sicherheitsbedenken hinsichtlich der Gefahr, dass jemand mitliest. Sich einfach der Software eines der Partner zu bedienen, ist aus lizenzrechtlichen Gründen ebenfalls keine Option. Aus diesem Grund haben die Mitglieder
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der EIC ihre eigenen Tools entwickelt, um Kommunikation und Workflow zu koordinieren. Herausgekommen ist bei diesem Entwicklungsprozess ein Projekt, das unter dem Namen „Liquid Investigations“ auch als Open Source zum Download verfügbar ist. Dabei handelt es sich um Software, die Stefan Candea als „bundle of communication tools“ bezeichnet: „With it, we can share documents and make annotations for example“. Ein Mix aus „Office365“ und Social Media für JournalistInnen also – nur eben professioneller und sicherer. Um die Masse der „Football-Leaks“Daten strukturiert zu durchforsten, wurde zudem eine Art Suchmaschine („Hoover“) entwickelt. Trotz all der Technik sind die Arbeitsabläufe der EIC jedoch noch alles andere als perfekt. „We fail all the time“, meint Candea in diesem Zusammenhang sogar. Schon während eines Projekts „haben wir jeden Monat neue Ideen, wie wir die Informationen für die Partner besser aufbereiten können“, erzählt auch Naber. Deswegen würden die Workflows nach jedem Projekt in einer Art „Post-Mortem-Analyse“ (Candea) bewertet und neu weiterentwickelt werden. Kollaborations-Killer Konkurrenz? Kurzer Sprung jenseits technischer Aspekte und Workflow-Optimierung: Auch während Kooperationen stehen die beteiligten Medienunternehmen in einem knallharten ökonomischen Wettbewerb miteinander. Das kann doch nicht zusammengehen – so zumindest die These, die diesem Artikel vorrausgegangen ist. Naber widerspricht jedoch: „Die Mitglieder kommen alle aus verschiedenen Ländern: Ich bin mir nicht sicher, ob wir da überhaupt in Konkurrenz miteinander stehen. Bei ‚Football Leaks‘ haben wir uns sogar eher ergänzt: Wir kon-
Nicola Naber
Stefan Candea
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Kollaborativer Journalismus: „There is stil a lot to explore“
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zentrieren uns auf ‚deutsche‘ Themen, die Partner aus Frankreich auf PSG, die aus den Niederlanden auf AJAX (Anm.: gemeint sind die Fußballclubs)“. Also alles heile Welt? Stefan Candea von der EIC stimmt Naber zwar grundsätzlich zu („If you are a german newspaper, you don’t consider the French a competitor”), räumt aber ein, dass die „friedliche“ Zusammenarbeit auch der vergleichsweise geringen Anzahl der Mitglieder in den EIC geschuldet sei: „As a general rule i think you can say: The bigger the networks are, the more limitations they have. It’s therfore better to have smaller networks – otherwise you might run in to competition issues.” Und spätestens, wenn es um die Frage geht, wer wann publizieren darf, spielen auch bei den EIC Eitelkeiten eine Rolle. Naber berichtet etwa von Diskussionen mit der englischen „Sunday Times“ rund um einen Veröffentlichungstermin. „Viele Partner wollen natürlich gerne exklusiv publizieren“, so die Journalistin. Das Problem: „DER SPIEGEL“ erscheint samstags, die „Sunday Times“ einen Tag später. Einer muss also zurückstecken. „Da kommt es dann durchaus zu Diskussionen“, erzählt Naber und weiter: „Einfluss auf die endgültige Entscheidung haben dann Kriterien wie ‚Wer hat am meisten zur Recherche beigetragen?‘, oder ‚Für welches Land hat der Artikel die größte Relevanz?‘“. Im Zweifel könne der Initiator des Projekts – also im Fall von „Football-Leaks“ der „SPIEGEL“ – auch ein Machtwort sprechen. Kollaborationen: Zukunft des investigativen Journalismus? Aufwendige Koordination, Workflows, die noch nicht so flüssig sind, wie sie klingen und teils unbefriedigende ITLösungen – vieles muss sich bei kollaborativen Projekten im Journalismus 3.0 noch verbessern. Trotz aller Hindernisse schreiben Candea und Naber Kooperationen bei großen, investigativen Recherchen in Zukunft aber eine immer größere Rolle zu. „Allein schon wegen des Kostendrucks, den viele Zeitungen verspüren“, sei es nicht mehr möglich, Projekte wie „Football Leaks“ allein zu stemmen, so etwa die „SPIEGEL“-Journalistin. In diesem Sinne sind sich Naber und Candea bei einer Sache einig: Medienunternehmen müssen bei der Arbeit in Recherchenetzwerken wie der EIC noch viel dazulernen. Oder, in den Worten von Candea: „There is still a lot to explore.”
von Tobias Kachelmeier
Kollaborativer Journalismus: „There is stil a lot to explore“
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Die Erinnerung trügt – Oral History unter die Lupe genommen Check - Double Check - Recheck. Es ist die goldene Regel des Journalismus und zeichnet erfolgreiche Publikationen aus. Doch wie steht es um die Quellenkritik im Bereich der Oral History und was braucht es, um diese Art der mündlichen Geschichtsschreibung durchzuführen? SUMO sprach darüber mit Univ.-Prof. Oliver Rathkolb, Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien, und Ernst Pohn, Sendungsverantwortlicher der „zeit.geschichte“ auf ORF III. mir selber, man erinnert sich nach vielen Jahren an bestimmte Dinge einfach nicht präzise, bildet sich etwas ganz anderes ein, als eigentlich passiert ist. Das liegt in der Natur der Sache der Erinnerung“, meint Oliver Rathkolb und verweist somit auf die oftmals kritisierte Schwachstelle der Oral History. Es sei Subjektivität und die bewusste oder unbewusste Veränderbarkeit eines Gedächtnisses, die den wunden Punkt darstelle. Gleichzeitig sagt er jedoch: „Es wäre auch illusorisch zu glauben, dass Akten nicht subjektiv gefärbt sind, denn auch diese haben einen bestimmten Entstehungskontext.“ Die Kunst der Wissenschaft liege darin, diese Prägung anhand des Kontextes, mittels eines Quellenmix zu decodieren. Die Quellenkritik ist somit ein legitimes wissenschaftliches Verfahren und absolut notwendig. Doch gibt es ethische Grenzen für die Quellenkritik? „Es muss einem/r Historiker/ in unbenommen sein, eine begründete Wertung abgeben zu dürfen, den sonst könnte man genauso einen Roboter hinstellen. Die Oral History-Ergebnisse als Quelle müssen genauso eine Quellenkritik vertragen. Dass es da sozusagen
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Die Erinnerungen von ZeitzeugInnen sind wichtige Faktoren in der Rekonstruktion und Untermauerung von historischen Ereignissen. Sie können ebenso die Lücke zwischen nicht verschriftlichten Erlebnissen oder verloren gegangenen Dokumenten schließen. Interviews geben einen authentischen Blickwinkel auf subjektive Emotionen und Einstellungen. Dadurch kann eine in der Vergangenheit liegende Atmosphäre für RezipientInnen sehr viel lebendiger und realistischer dargestellt und vermittelt werden. Unter dem Begriff Oral History wird diese Herangehensweise zusammengefasst. Es ist ein von der Wissenschaft geprägter Ausdruck für die Ableitung einer Quelle aus einem mündlich geführten Gespräch. Im Vergleich zu schriftlichen Dokumenten sind diese jedoch nicht haptisch festgehalten, sondern nur im Gedächtnis abgespeichert und genau diese Erinnerungen leben mit dem Menschen, welcher in diesem Falle das Trägermedium ist, weiter. Mit der Zeit kann das Gedächtnis neu geordnet oder interpretiert werden. Eine Erinnerung ist somit durch erneutes Abrufen änderbar. „Ich merke das auch bei
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moralische und ethische Grundverhaltensweisen gibt, ist klar“, schlussfolgert Rathkolb, an dessen Institut immer wieder Projekte dieser Art durchgeführt werden. Manipulation kann vielseitig sein Externe Faktoren können ebenfalls Einfluss auf ein Oral History-Interview haben. In erster Linie ist hier der/die Interviewer/in gemeint, denn speziell durch Suggestivfragen können Antworten provoziert werden. Ernst Pohn ist es wichtig, dass InterviewerInnen schon im Vorgespräch sensibel agieren. So etwa sollen möglichst keine politischen Präferenzen im Vorhinein besprochen werden. InterviewerInnen sollten möglichst neutral sein und ihre Position nicht offen darlegen. „Die Leute brauchen ein gewisses Vertrauen zum/r Interviewer/in, es ist schon besser, wenn es in einer Umgebung ist, die die Leute kennen, also vielleicht zu Hause bei ihnen. Das ORF-Studio ist dann schon ein sehr künstliches Setting, das nicht ganz so ideal ist“, meint Pohn und hebt damit die Wichtigkeit der Interviewatmosphäre hervor. Dass sowohl Laien als auch Professionelle manipulieren können, zeigt das Beispiel des renommierten Historikers Michael Carter Ende der Neunziger. Rathkolb erzählt, dass eine Interviewsequenz von ihm sowohl durch die nicht publizierte Suggestivfrage, als auch durch die verkürzte Wiedergabe der Antwort bewusst in der Überlieferung verändert worden sei. Deswegen spiele auch die Kontextualisierung im Zuge eines TV-Beitrages eine wichtige Rolle. „Man muss all diese Faktoren wie die Zeit, den politischen, familiären und geografischen Hintergrund miterzählen und in der Gestaltung bedenken“, sagt Pohn im SUMO-Interview.
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ren werde vermehrt auf offene Gruppengespräche gesetzt, die durch Incentives, wie Schlüsselfotos, unterstützt werden. Der Gegenentwurf dazu sei das leitfadengestützte Einzelinterview, welches bewusst in eine Richtung gelenkt werde. Laut Rathkolb liege das professionelle Gespräch irgendwo zwischen einem Monolog und Detailfragen, die tiefer gehende Ebenen einer Geschichte freilegen.
Die unterschiedlichen Zugänge Oral History spiegelt ein sehr breites Feld wider und unterscheidet diverse Herangehensweisen. In den letzten Jah-
Ein sehr häufig anzutreffender Zugang ist der journalistische, der ein ganz anderes Ziel verfolgt. „Für eine einzelne geplante Sendung würde ich anders interviewen, weil man da sehr viel gezielter fragt. Da weiß ich ganz genau, zu welchem Thema ich was fragen und was ich erfahren will, und wenn die Person dazu nichts zu sagen hat, dann interviewe ich diese auch vielleicht gar nicht. Das ist alles viel gezielter“, so Ernst Pohn. Doch nicht nur die Interviewführung unterscheide sich, sondern auch die Archivierung. Während in der Wissenschaft die Interviews ungeschnitten gespeichert werden, geschehe das beim ORF nicht immer. Dennoch ist Oliver Rathkolb der Meinung, dass auch diese Interviews, sollten sie ungeschnitten vorhanden sein, als Quelle dienen können – jedoch immer unter Berücksichtigung des Entstehungsprozesses. Diese grundsätzlichen Unterschiede drängen eine Frage immer mehr in den Vordergrund: Braucht es getrennte Begrifflichkeiten, um die Transparenz gegenüber den RezipientInnen zu gewährleisten? Oliver Rathkolb fällt diese Antwort sichtlich leicht: „Bei journalistischen eher nicht, ich glaube, da kommt keiner mit ‚Oral History’ daher. Jede journalistische Produktion hat ein klares Ziel und JournalistInnen müssen zu einem konkreten Thema arbeiten. Das kann dann nur zu einem bestimmten Teil eine Oral History-Quelle sein.” Aber auch abseits vom Journalismus und der Wissenschaft können Zeitzeu-
Ernst Pohn
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Die Erinnerung trügt – Oral History unter die Lupe genommen
„Oral History“-Sonderprojekt „Wir haben bei ORF III ab Sommer 2019 einen Zeitzeugenaufruf für den Zweiten Weltkrieg ausgestrahlt. Da haben sich sehr viele Leute gemeldet. Wir haben geglaubt, es melden sich 30-40, aber inzwischen sind es über 200“, erzählt Pohn. Aufgrund der hohen Nachfrage wurde dann eine Zusammenarbeit mit dem Ausbildungsfernsehen „c-tv“ der FH St. Pölten vereinbart. Dadurch bekommen sechs StudentInnen die Möglichkeit im Zuge eines dreimonatigen Praktikums, diese ZeitzeugInnen zu interviewen, um deren Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg festzuhalten. Ziel der Kooperation sei es, dass die StudentInnen nach einer kurzen Einschulungsphase möglichst selbstständig die Interviews durchführen und die Aufnahmen im ORF-Archiv gespeichert werden können. Diese begleitete Anfangsphase sei jedoch stark abhängig von der Vorerfahrung der Studierenden. Pohn rechnet mit ungefähr zwei bis drei Wochen, in denen RedakteurInnen die Studierenden zu Beginn bei den Interviews begleiten. In der Ausschreibung wird von den StudentInnen die Kenntnis im Umgang mit Kamera- und Tontechnik sowie der Bildgestaltung gefordert, eine Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg und Erfahrung im redaktionellen Bereich sei nicht zwingend notwendig, aber gewünscht. Ernst Pohn: „Wir trauen uns durch dieses Projekt schon einiges, ich bin schon gespannt, wie es funktioniert mit den StudentInnen. Ich glaube, dass die technische Komponente die StudentInnen wahrscheinlich ganz gut können, gespannt bin ich jedoch schon, wie sie das Inhaltliche umsetzen.“ Oliver Rathkolb wirft einige Bedenken auf: „Ein wirklich professionelles Oral History-Interview ohne historische Kenntnis, also da bin ich skeptisch. Man muss sich schon vorbereiten, also den
Rahmen muss man kennen, sonst geht das meistens daneben.“ Gleichzeitig betont er auch, dass mit dem inhaltlichen Fokus auf 1945 ein historischer Kontext schneller konstruiert werden kann, um somit den großen Abstand zwischen dem Alter des/der Interviewten und der InterviewerInnen zu minimieren. Der ORF führe dazu auch telefonische Vorgespräche durch, um die Gesprächsthemen schon im Vorhinein etwas besser abschätzen zu können. Jedoch seien solche Crashkurse immer mit Vorsicht zu genießen. SUMO: „Geht Quantität vor Qualität bei dem Faktum der Sterblichkeit der Quelle?“ Ernst Pohn: „In erster Linie geht es schon darum, dass man diese Aufzeichnungen einmal hat, bevor es nicht mehr möglich ist, sie zu machen. Aber wir werden natürlich schon schauen, was das für Leute sind, woher die Leute und aus welchem politischen und familiären Hintergrund sie kommen. Da ist jetzt zum Beispiel einer, das war ein alter Nazi, den wird man nicht einfach so interviewen und ihn frei reden lassen, den muss man dann schon anders behandeln. “ Oliver Rathkolb: „Also ehrlich gesagt, nach wie vor Qualität, aber ein größeres Sample ist schon gut.“ Ein Grundbaustein, um diese Qualität zu gewährleisten ist sich während eines Interviews zurückzunehmen und nicht treibend zu fragen, aber gleichzeitig möglichst viel von der Persönlichkeit des/r Interviewten herauszufinden. Es brauche vor allem eine gute Vorbereitung und viel Kontextwissen. Oliver Rathkolb ist sich sicher: „Ich glaube nach wie vor, dass die guten Oral History-Interviews immer auch einen starken historischen Wissenshintergrund bei dem Interviewer bzw. der Interviewerin haben müssen, sonst ist es eine Quelle, die nicht wirklich viel offenlegt.“ Die zwei unterschiedlichen Sichtweisen der Wissenschaft und des Journalismus haben gezeigt, dass die Oral History nicht nur ein sehr spannendes Feld ist, sondern auch genug Spielraum für kontroverse Diskussionen bietet. Allen voran ist es ein wichtiges und nicht zu unterschätzendes Instrumentarium. © Copyright: adobe stock/De Visu
gengespräche geführt und auf Plattformen veröffentlicht werden. Ernst Pohn steht diesem Zugang jedoch skeptisch gegenüber: „Ich glaube, dass ein professioneller Hintergrund, wie ihn geschulte JournalistInnen des ORF haben, schon wichtig ist, um die Qualität zu gewährleisten. Ich bin da schon etwas skeptisch, aber ich verstehe, dass das Leute machen und das hat natürlich schon auch seine Berechtigung.”
von Magdalena Bauer
Die Erinnerung trügt – Oral History unter die Lupe genommen
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Bots in der Medienbranche: Konkurrenz oder Dream Team?
Braucht es noch Menschen in den Redaktionen von Medienunternehmen? Was können Bots heute – oder: Worin liegt die Überlegenheit der JournalistInnen? SUMO hat dafür mit Dr. Stefan Weber, dem Autor des Buches „Roboterjournalismus, Chatbots & Co.“ gesprochen. Die Tür öffnet sich automatisch, sobald eine Lichtschranke durchbrochen wird. Im ehemaligen Newsroom keine Menschenseele. Stattdessen viele blinkende, leuchtende Lämpchen, aberhunderte von Knöpfen und tausende Schalter. Von einer Redaktion, wie sie früher einmal ausgesehen hat, ist kaum etwas zu erkennen. Es hat eher etwas von einem Flugzeug-Cockpit. Nur ohne PilotInnen. Ein einziges Büro ist durch Glaswände von dem Blinken, Leuchten und dem Piepsen abgeschirmt. Darin sitzt, ganz alleine, der Gatewatcher, er hat ein Auge darauf, was die Bots publizieren. Die Berufsbezeichnung JournalistIn gibt es für Menschen nicht mehr. Die Bots haben ihn für sich beansprucht. Ob das die Zukunft des Journalismus ist, kann heute niemand so genau sagen. Zugegeben, die oben beschriebene Szene klingt wie aus einem Science FictionFilm Marke „Netflix-sucht-eine-Nische“. Was jedoch bereits heute Realität ist, das ist Egon. Der Fußball-Roboter der Austria Presse Agentur (APA), der wie von selbst Tabellen erstellt, Zusammenfassungen schreibt, Vorschauen verfasst, Tweets postet oder Spielberichte formuliert, all das angereichert mit den verschiedensten Visualisierungen. Laut APA erkennt er „Siegesserien, Durststrecken, mehrfache Torschützen, Zuschauerzahlen, Auswärts- bzw. Heimsiege, Führungstreffer, Goldtore, Platzierungen“. Wenn Egon, der Fußballroboter, dann auch noch die Spitznamen der Teams verwendet, ist er kaum noch von einem/r menschlichen JournalistIn zu unterscheiden. Und ja, diesmal befinden wir uns tatsächlich im Jahr 2020, im realen Alltag der APA. © Copyright: adobe stock/phonlamaiphoto
Was Bots können Mit der Frage, inwiefern Künstliche Intelligenz (KI) bereits in den Newsrooms der
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Nachrichtenunternehmen angekommen sind und ob JournalistInnen nun um ihre Jobs zittern müssen beschäftigt sich die Studie „New powers, new resposibilities“ der London School of Economics and Political Science (LSE) in Kooperation mit der Google News Initiative (2019). Mittels Interviews, Workshops und Unterhaltungen bei Journalismus-Konferenzen wurden die Meinungen von 116 JournalistInnen aus den verschiedensten Fachbereichen und Organisationen, wie Zeitungen, Nachrichtenagenturen, Verlagen, Rundfunkveranstaltern oder Magazinen erhoben. Ein Ergebnis der Studie lautet, dass ein Motiv für die Einführung von KI in Medienunternehmen besser produzierte Inhalte sein, effektiver an die RezipientInnen heranzubringen, um in Folge dessen mehr Beteiligung seitens der LeserInnen zu erhalten und ihre Aufmerksamkeit und Zahlungsbereitschaft zu steigern. Laut dieser Studie wird Künstliche Intelligenz heute hauptsächlich in drei Gebieten des Journalismus eingesetzt: um Nachrichten zu sammeln, zu produzieren und zu publizieren. KI ermöglicht es JournalistInnen, Zeit in der Recherche einzusparen, denn mittels Algorithmen können Inhalte von öffentlichen und sozialen Medien bereits automatisiert durchsucht und kategorisiert werden. Weiters können diese automatisierten Prozesse dazu beitragen, JournalistInnen auf Trends aufmerksam zu machen, die sonst übersehen werden würden. Im Bereich der Sammlung von Nachrichten stellt die Automatisierung also eindeutig eine Bereicherung in der Medienarbeitswelt dar, und weniger einen Grund um seinen/ihren Job zu fürchten. Derzeit werden durch Bots Texte in den Bereichen Fußball, Verkehr und Wettervorhersagen automatisiert erstellt, auch Überschriften oder Zu-
Bots in der Medienbranche: Konkurrenz oder Dream Team
sammenfassungen von Presseerklärungen können durch Bots wie Egon bereits formuliert werden. Sogar Social MediaPostings werden bereits von Algorithmen verfasst. Für Echtzeit-Ticker können sie ebenfalls herangezogen werden. Im Bereich der Nachrichten-Erstellungen findet demnach eine Substitution der immer wiederkehrenden Prozesse durch Bots statt. Als Grammatik- und Rechtschreibhilfe können sie die menschlichen JournalistInnen auch in den anderen Bereichen der Text-Produktion unterstützen (sad, but true). Auch auf die Nachrichtendistribution hat Künstliche Intelligenz mit ihren Bots Einfluss: Automatisiert werden die Likes, Shares, Kommentare, Klicks, Verweildauer und vieles mehr analysiert und die Strategie zur Content-Erstellung eines Nachrichtenunternehmens perfekt auf die RezipientInnen und deren Wünsche und Bedürfnisse angepasst. Weiters können Bots heute bereits als Moderatoren in Foren von Medienunternehmen agieren und so die Beteiligung steigern. Außerdem ermöglichen Algorithmen die Ausspielung von personalisierten Nachrichten an bestimmte Zielgruppen. Auch wenn ebenfalls in diesem Gebiet einige journalistische Aufgaben durch Bots übernommen werden können, braucht es derzeit Menschen für die Planung, den Großteil der Ausführung, sowie das Überprüfen von Inhalten. Stefan Weber, habilitierter Kommunikationswissenschaftler, Autor und Publizist, fügt diesen Tätigkeiten noch das typisch österreichische „Gschicht aufreissen“ hinzu und bestätigt diesbezüglich ebenfalls, dass es im Moment Funktionen gebe, die genuin menschlich seien. Auch die durch die LSE befragten JournalistInnen gaben an, dass durch den Einsatz von Bots in Medienunternehmen auf der einen Seite zwar Arbeitsplätze substituiert, auf der anderen Seite jedoch neue geschaffen werden. Jedoch meinen sie, dass sie die Arbeit in Nachrichtenunternehmen generell verändern werden. Stefan Weber dazu: „Ich sehe es zurzeit nicht so im Ersetzungs-, sondern im Ergänzungsparadigma. Und das Ergänzungsparadigma ist ja eigentlich das Positive, das wollen wir ja alle.“ Alles in allem glauben auch die ProbandInnen eher an Veränderung als an Verdrängung. Diese Veränderung ist positiv behaftet, da sie mehr Effektivität und Effizienz im beruflichen Alltag von JournalistInnen ermöglicht. Die Zukunft von Bots in Nachrichtenunternehmen Die Studie „Journalism, Media, und Technology Trends and Preditctions 2019“ von Nic Newman vom Reuters Institu-
Stefan Weber Copyright: Anne Kaiser
te zeigt, dass 85% der Befragten glauben, die zukünftigen Anforderungen im Journalismus mit mehr JournalistInnen bewältigen zu können. 78% wollen in Zukunft auch in Künstliche Intelligenz investieren, um den Herausforderungen gewachsen zu sein. Auf die Frage über den Zeitpunkt des Einsatzes von KI antworteten 44% mit „It’s already happening“, 19% wollen im kommenden Jahr starten KI einzusetzen, 15% erwarten den Einsatz in ihrem Unternehmen innerhalb der nächsten zwei Jahre und 22% wollen die Einführung von Bots in den nächsten drei bis fünf Jahren ansetzen. Die meisten HerausgeberInnen haben vor, im kommenden Jahr mehr in KI und maschinelles Lernen zu investieren. Derzeit verfügen knapp ein Drittel der Nachrichtenunternehmen über eine Strategie bezüglich Künstlicher Intelligenz. In 68% der Fälle wird KI in Medienunternehmen eingesetzt, um die Arbeit von JournalistInnen effizienter zu gestalten. Ein weiterer Beweggrund (45%) für den Einsatz von Bots im Journalismus ist es, RezipientInnen relevantere Inhalte bieten zu können. 20% der Befragten in der LSE-Studie geben an, durch Automatisierung ihre allgemeine Effizienz steigern zu wollen. Allerdings verfügen zahlreiche Unternehmen nicht über genügend Ressourcen, um Teil dieses Abenteuers sein zu können. Für die Zukunft gibt es in Bezug auf Bots in Medienunternehmen drei verschiedene Thesen. Entweder werden heute (1) bereits existierende Produkte verbessert, es werden (2) neue Produkte entwickelt und es gibt eine kleinere Revolution in der Nachrichtenbranche, oder (3) Innovationen und Experimente, die eine Umstrukturierung der gesamten Branche mit sich bringen. Weiters wurden durch die Studie zehn Wege definiert, die MitarbeiterInnen der Medienbranche in Bezug auf die Veränderung von Journalismus durch Künstliche Intelligenz erwarten:
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• Mehr Effizienz, automatisierte Produktion von Inhalten • Dynamische Preise für Werbung und Abonnements • Mehr Geschichten in Daten, mehr Daten in Geschichten • Besser automatisierte ÜbersetzungenInhalte mäßig realisierbar machen • Erkennen von Fake News • Neue Möglichkeiten um aufzudecken • Verbesserung der Bild-/Video-Suche • Bessere Analyse von User Generated Content
Was Bots jedoch (noch) nicht können Es gibt zahlreiche verschiedene Formen, Daten zu speichern. Damit Bots sie auswerten können, müssten diese allerdings gleich aufbereitet sein, und solange es keine standardisierte Aufbereitung von Informationen gibt, macht es den Einsatz von Bots kompliziert. Weiters sind nicht immer alle Informationen die JournalistInnen für einen Text heranziehen online verfügbar, oft nicht einmal digital. Stefan Weber meint im SUMO-Interview: „Eine gute Geschichte ist in der heutigen Zeit meistens eine, die einem schon von einem/r Informanten/ in zugespielt wird“. Ein weiterer Nachteil von Bots, wie es sie heute gibt, ist, dass sie für einen bestimmten Sachverhalt programmiert werden. In Bezug auf Fußballmatches, den Verkehr oder das Wetter sind die automatisierten Kollegen nun eine große Hilfe, für einmalige Vorkommnisse können sie jedoch nur bedingt gebraucht werden. Oftmals zahlt sich der Einsatz von Bots erst ab einer Sichtung von 4.000 Dokumenten aus, denn davor ist es schlicht und ein-
fach nicht rentabel. Zum derzeitigen Zeitpunkt ist es ebenfalls noch unklar, wer für Fehler, die durch Bots passieren haftet. Eine 100%ige Richtigkeit kann auch von Künstlicher Intelligenz nicht erwartet werden. Sollte nun ein Schaden durch die Publikationen von Bots entstehen, muss die Verantwortlichkeit dafür geklärt werden. Sollte jeder Beitrag, der automatisiert entsteht und publiziert wird vor seiner Publikation durch Menschenhand geprüft werden, hat das große Einbußen in der Geschwindigkeit zur Folge. Es stellt sich ebenfalls die Frage, was die Bots als Nachrichten definieren. Gibt man einem Algorithmus vor, was als Nachricht deklariert wird, bringt das eine Art Diskriminierung mit sich. Statt nun den Bots zu sagen, was diese publizieren sollen, kann man ihnen Daten von Artikeln zu Verfügung stellen, die in der Vergangenheit von Menschen publiziert worden waren. Allerdings gibt es derzeit einen Überhang an Berichterstattungen über Verbrechen. Aus diesem Grund glaubt die Bevölkerung, dass die Verbrechensrate steigt, auch wenn eigentlich das Gegenteil der Fall ist. Deshalb sollte durch Bots das ganze Nachrichtenwesen neugedacht werden. Auf die Frage was Menschen Bots überlegen macht, antwortet Stefan Weber: „Fragen Sie mich, ob ich glaube, dass eine Software jemals die Poesie haben wird, ein Buch wie Erich Kästner zu schreiben. Und da sage ich Ihnen: Nein. Wenn es darum geht, eine herausragende Literatur [zu verfassen], wird es eine Software jemals schaffen, wenn ich sie mit biografischen Daten füttere, so ein poetisches, lustiges Buch zu schreiben, wie Erich Kästner, […] da sage ich: nein.“
von Katja Müller
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Andere Studien zeigen, dass Bots dazu beitragen können, es JournalistInnen zu ermöglichen, in Zukunft neue Arten von Texten generieren zu können und in Folge dessen ganz neue Arten von Journalismus entstehen vermögen. Künstliche Intelligenz kann in Zukunft ebenfalls helfen, Muster zu erkennen, soziale Probleme aufzuzeigen, Geschichten hinter Daten zu erzählen und Neuigkeiten aufdecken. „So eine Software könnte zum Beispiel ein Frühwarnsystem sein“, konstatiert der österreichische Kommunikationswissenschaftler Stefan Weber. Bots machen es möglich, Texte zu publizieren, die ohne den Einsatz von derartigen Technologien, durch rein menschliche Ressourcen nicht verfasst und veröffentlicht hätten werden können. Was sich durch die Automatisierung der Medienbranche in Zukunft auf jeden Fall ändern wird, ist die Geschwindigkeit. Bots, wie das Reuters Tracer System erkennen zum Beispiel in 27 von 31 Fällen Breaking News um bis zu einer halben
Stunde schneller als ihre menschlichen Mitspieler. Weber könnte sich sogar vorstellen, „dass Texte, die von Menschen verfasst wurden so eine Art Nische oder Exklusivität am Markt sein werden. Irgendwann.“ Eine weitere Entwicklung in der Medienbranche, abseits von Roboterjournalismus, stellen virtuelle Moderatoren dar. Während in China ein Moderator mittels Computerprogramms nachmodelliert wurde, präsentiert in Japan eine animierte Nachrichtenmoderatorin die Nachrichten des Tages. Eine finnische Nachrichtenagentur hat eine Technologie entwickelt, die ihre Nachrichten automatisch auf Englisch und Schwedisch übersetzt.
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• Bessere personalisierte Distribution von Inhalten
Mobile Journalism: quick and dirty? Mobiler Journalismus, also die Berichterstattung oder Produktion von Inhalten mit Hilfe von Smartphones oder Tablets, hat sich in den letzten Jahren zu einem interessanten Werkzeug entwickelt, mit dem bereits viele Redaktionen arbeiten. Jedoch besteht noch eine gewisse Skepsis. SUMO diskutierte darüber mit Marcus Bösch, deutscher Mobiljournalismus-Trainer und Mitgründer des Game Studios „The Good Evil“, und Ralf Hillebrand, Medienjournalist der „Salzburger Nachrichten“. ten, sondern auch gleich für Online- und Fernsehformate, was dem mobilen Journalismus Multimedialität verleiht und deswegen gut in die heutigen Nutzungsmotive und -arten passt. Vor- und Nachteile des mobilen Journalismus Sein Einsatz hat den Vorteil, dass die Produktion um ein Vielfaches günstiger ist, als die herkömmliche Video-Produktion und diese in vielen Fällen auch schneller geht. Dieser Aspekt ist für Medienunternehmen heutzutage, welche oftmals einem großen Konkurrenzdruck unterstehen und finanziell schwere Zeiten durchmachen, von Vorteil, da Content schnell und billig zur Verfügung steht. Insbesondere wenn dies vor der besagten Konkurrenz geschieht. Zudem ist die Dynamik des mobilen Journalismus, die bei der Produktion von medialen Inhalten entsteht, sehr spannend. Denn durch Apps, neue Soft- und eventuell auch neue Hardware ist man in der Lage, eine Geschichte auf eine völlig neue Art und Weise zu erzählen. Jedoch hält sich noch die Ansicht, dass mobiler Journalismus Arbeitsplätze der JournalistInnen bedroht und diese potentiell überflüssig macht. Zu diesem Aspekt hat SUMO genauer bei Marcus Bösch und Ralf Hillebrand nachgefragt. Ralf Hillebrand: „Mobiler Journalismus bedroht die Arbeitsplätze von RedakteurInnen nicht. Aber artverwandte Berufe könnten leiden, da man auf die Idee kommen könnte, sich einen Fotografen oder Kameramann zu
Marcus Bösch
Ralf Hillebrand
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Weiterentwicklung des klassischen Journalismus Der mobile Journalismus ist die Erweiterung der klassischen Berichterstattung, welche aus Recherche, Textproduktion, Ton-, Bildoder Videogestaltung besteht. Durch das Aufkommen von Smartphone und Apps hat sich diese klassische Berichterstattung verändert und wurde zu einer Art der Nachrichtenproduktion und -wiedergabe, bei der es nicht mehr vonnöten ist, Unmengen an Equipment mitzunehmen und ein großes Wissen von Technik zu haben. Ralf Hillebrand sagt dazu: „Vor einigen Jahren hat es noch einiges an technischem Know-how gebraucht, um mobil arbeiten zu können, da die wenigsten Redaktionssysteme portabel bzw. flexibel ausgelegt waren. Und wenn die Redaktionssysteme so ausgelegt waren, brauchten die RedakteurInnen doch zumindest ein gewisses technisches Gespür, um diese vollends bedienen zu können. Um heutzutage mobil arbeiten zu können, reicht hingegen zumeist ein Smartphone.“ Da die technischen Entwicklungen in den letzten Jahren einen rasanten Sprung nach vorne gemacht haben, ist es mittlerweile möglich Videos und Beiträge von unterwegs aus zu gestalten, Livestreams zu senden und HD-Videos auszustrahlen und das nur mit mobilen Devices wie Smartphones oder Tablets. Da diese, so Marcus Bösch, „multifunktional einsetzbar und super für kleine, schnelle Formate sind.“ Somit sind JournalistInnen in der Lage, nicht nur Beiträge für Print-Produkte zu gestal-
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sparen, da der/die Redakteur/in vor Ort ja selbst schnell ein Foto oder ein Video machen kann. Ich persönlich glaube aber, dass es auch in den kommenden Jahren immer noch Fachleute für die einzelnen journalistischen Aufgabengebiete brauchen wird.“ Marcus Bösch: „Bedroht sehe ich eher die Arbeitsplätze von Kameramännern und Kamerafrauen, von Menschen die sich ergänzend um Ton und den Schnitt gekümmert haben und das ja bei größeren Produktionen auch noch immer tun.“ Medienunternehmen werden gefordert sein, Änderungen zu modellieren sowie neue Rollenbilder zu gestalten, um weiterhin Relevanz am Markt zu besitzen. „Schnelligkeit, Beweglichkeit, Unauffälligkeit“ (Bösch) – „flexibel, nahe bei den Menschen“ (Hillebrand) Diese Änderungen in der Branche gehen Hand in Hand mit den Möglichkeiten, welche mobiler Journalismus bietet. Denn abgesehen von den wirtschaftlichen Faktoren wohnt ihm die Fähigkeit inne, dass er mit Hilfe eines kleinen oder größeren Gerätes gestaltet werden A: Der/die Reporter/in ist schnell und beweglich und kann somit jeden Aspekt, der sich gerade abspielt, leicht aufnehmen. Hinzu kommt noch, dass man Smartphones und Tablets heutzutage vermutlich weniger beachtet als Fernsehkameras und Mikrofone, wodurch man Inhalte auch unauffälliger, gleichwohl seriöse mitschneiden kann. Und: Die Nähe zum Menschen ist ebenfalls von Vorteil bei der Berichterstattung, da man somit immer die aktuellsten Themen generieren kann, da man draußen in sozialen Feldern ist und erfahrene Geschehnisse schnell in mediale Beiträge verpacken kann.
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Eine schnelllebige Welt erfordert zumindest betreffs Aktualität auch eine schnelle Berichterstattung, freilich ohne Fehler in der Recherche. Der mobile Journalismus ermöglicht es, flexibel zu agieren. Änderungen in der Branche sind dabei zu erwarten, etwa auch in puncto Professionalisierung. Doch er ist per se weder ein Durchbruch noch negativ für JournalistInnen, sondern eine Weiterentwicklung.
von Jasmin Klozyk
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Rüstungsindustrie vs. Medien: Der Kampf um Transparenz Österreichische und deutsche Waffenexporte finden Abnehmer in vieler Herren Länder. Egal ob Glock-Pistolen oder Tornado-Kampfjets. Nicht egal ist, in welche Hände diese Waffen gelangen. Oftmals heißt es Tarnung und Täuschung statt Transparenz. Recherchen zweier Medien haben gezeigt, dass das kriegführende Saudi-Arabien zu den größten Abnehmern zählt. Deren Journalisten Andreas Wetz und Philipp Grüll zeigten SUMO die Details. sen, warum sich die Rechercheplattform entschloss, eine multimediale Onlinereportage zu den österreichischen Waffenexporten zu erstellen. Laut Wetz war es das Ziel, so objektiv wie möglich über die österreichischen Waffenexporte zu berichten, ohne von vornherein zu sagen, dass alles schlecht wäre. Die Analyse dieser Reportage und der Vergleich mit einer deutschen Reportage des ARD-Politikmagazins „report München“ soll zeigen, wie es gelingen kann, ein recht eindimensional erscheinendes Thema crossmedial und umfassend aufzubereiten. Im zweiten Teil dieses Berichts wird gezeigt, inwieweit man an konkrete Informationen über österreichische Waffenexporte gelangen kann. Hierfür wurden die offiziellen Kanäle der größten österreichischen Rüstungshersteller und der zuständigen Bundesministerien durchsucht.
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Ist von Bundesheer oder Bundeswehr medial die Rede, geht es oft um Sparzwänge, Pleitewarnungen oder gescheiterte VerteidigungsministerInnen. Geht es um die jeweilige Waffenproduktion, sieht die Lage anders aus. In Deutschland, je nach Quelle viert- oder fünftgrößter Waffenexporteur, gibt es eine Vielzahl an Berichten einer nicht minder großen Zahl an Zeitungen darüber, wohin wie viele Rüstungsgüter gehen. In Österreich sind solche recht selten. Andreas Wetz, Redakteur von „Addendum“, ist der Meinung, dass in Deutschland auf jeden Fall anders über Waffenexporte berichtet werde und es dort mitunter einen objektiveren und wertneutraleren Zugang zum Thema gebe, während Rüstungsberichte in Österreich immer den Geruch eines illegalen Charakters hätten. Dies sei auch ein wesentlicher Beweggrund gewe-
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„Rüstung für die Welt: Wen Österreich beliefert“ ist Teil des „Addendum“-Projekts „Schaffen Waffen Frieden“. Zehn Artikel und eine Fernsehdokumentation beleuchten die österreichische Rüstungsindustrie, das österreichische Bundesheer und das Thema „Kriegsführung“. Statt einer bloßen Aneinanderreihung von Fakten, Zahlen und Statistiken werden die Informationen grafisch aufwendig und ansprechend dargestellt. Eine Weltkarte visualisiert die wichtigsten Importländer österreichischer Rüstungsgüter. Eine Österreichkarte zeigt die Standorte der wichtigsten österreichischen Waffenproduzenten. Weitere Bilder und zwei kurze Videos eines Schützenpanzers und eines aufschlagenden Gewehrprojektils ergänzen den Bericht. Die große Präsenz von Karten und Grafiken erklärt Projektleiter Wetz damit, dass diese die inhaltliche Darstellung für die LeserInnen greifbarer machen, als Texte und Tabellen. Damit könne viel leichter Interesse am Thema geweckt werden. Würde man örtliche Lagen nicht mit Karten beschreiben, wäre das, als wenn man eine Farbe beschreiben würde, anstatt sie abzubilden. Österreichs Rüstungsexporten in Zahlen Zwischen 2004 und 2017 exportierte Österreich – laut Exportbericht für Militärgüter – Rüstungsprodukte im Wert von 4,8 Milliarden Euro. Zurzeit sind 133 Unternehmen als Produzenten von Rüstungsgütern registriert. Die größten Marktteilnehmer sind Glock, Steyer-Mannlicher und Hirtenberger Defence. Nach den USA, Großbritannien, der Schweiz, Kanada und dem Oman folgt auf Platz sechs der Abnehmer Saudi-Arabien. 2016 orderte das sunnitische Königreich 68 Granatwerfer und war damit der Hauptabnehmer der Mörsersysteme von Hirtenberger Defence. Diese Information kam erst durch eine parlamentarische Anfrage an das Innenministerium ans Licht und wurde von „Addendum“ veröffentlicht. Auch Militärfahrzeuge aus Österreich finden deutlich mehr Abnehmer im Nahen Osten als in Europa. Laut „profil. at“ (7.9.2016) lieferten österreichische Hersteller 2015, als der Jemenkrieg bereits ausgebrochen war, Waffen um 30 Millionen Euro nach Saudi-Arabien, 2016 um vier Millionen Euro. Mit Google Earth Waffenexporte aufgedeckt Anfang 2019 entstand das Projekt „#GermanArms“, bestehend aus 15 RedakteurInnen des niederländischen „Lighthouse Reports“, des „Stern“, des Investigativnetzwerks „Bellingcat“,
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Bildern und Zitatboxen präsentiert. Unter anderem wird ein Video eines Tornadowracks der saudischen Luftwaffe gezeigt, das laut Abgleich mit Satellitenbildern und anderen Quellen eindeutig über dem Jemen abgestürzt ist. Das Projekt habe ihm die Augen geöffnet, so Grüll, dass man zu all diesen Erkenntnissen keine geheimen Dokumente braucht, sondern nur einen Internetanschluss. Während die deutsche Bundesregierung trotz Geheimdiensten, zumindest nach eigenen Angaben, bis damals nicht zu diesen Erkenntnissen gelangt war. Der klassische Weg mittels menschlicher Quellen sei zwar nach wie vor wichtig, die Recherche über Internetquellen eröffne aber eine ganz neue Dimension. Angesprochen auf die Problematik möglicher Quellenfälschung mittels Photoshop etc., betont Philipp Grüll die große Wichtigkeit der Verifizierung, da in einem Krieg als erstes immer die Wahrheit sterbe. Ein Foto alleine reiche nicht. Mittels weiterer Quellen wie Agenturmeldungen oder Videos werde aus Puzzlesteinen ein Bild zusammengefügt, das einen verifizierten Beleg ergebe. Wenn die Indizien nicht ausreichten, wurden diese Fälle nicht veröffentlicht. Österreichs Waffenexportrecht Grundsätzlich müsse im österreichischen Waffenexportgesetz berücksichtigt werden, dass Rüstungsgüter den drei Kategorien „Kriegsgüter“, „Militärgüter“ und „Dual-use-Güter“ zugeordnet werden. Zu ersterem zählen Kampfpanzer, Rohrwaffen, Maschinengewehre oder Granaten, wie Andreas Wetz ausführt. Für Exportgenehmigungen für diese Güter ist das Innenministerium zuständig. Unter den Begriff „Militärgüter“ fallen unter anderem Flugsimulatoren, Logistikfahrzeuge oder gepanzerte Fahrzeuge ohne Bewaffnung. Diese Güter erhalten die Exportgenehmigung durch das Wirtschaftsministerium. „Dual-use-Güter“ können sowohl zivil, als auch militärisch genutzt werden. Die Unterscheidung ist wichtig, da es bei den Militärgütern einen wesentlich größeren Spielraum gebe und von diesen wesentlich mehr exportiert werde als von den Kriegsmaterialien, die strengeren Regeln unter-
Rüstungsindustrie vs. Medien: Der Kampf um Transparenz
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der „Deutschen Welle“ und des ARDPolitikmagazins „report München“. Sie untersuchten, welche Rolle deutsche Waffen im Krieg von Saudi-Arabien und dessen Verbündeten gegen den Jemen spielen. Für ihre Recherche nützte das Team nur freizugängliche Quellen. Zu diesen sogenannten Open Source Intelligence (OSINT) zählten Satellitenbilder von Kartendiensten, „YouTube“-Videos und Inhalte von Social Media-Plattformen. Im SUMO-Interview erklärt Philipp Grüll, beteiligter ARD- und „Bayerischer Rundfunk“-Redakteur, die Vorgehensweise der Recherche. Zuerst wurden aus den Bundestagsanfragen über Rüstungsexporte und den Rüstungsexportberichten der vergangenen zehn Jahre die Lieferungen bestimmter Waffentypen in heikle Länder wie Saudi-Arabien oder die Vereinigten Arabischen Emirate zusammengefasst. Der Fokus lag auf leicht erkennbaren Kriegsmaterialien wie Schiffen, Flugzeugen und Panzern. Bei einem zweiwöchigen Bootcamp wurde dann unter anderem mittels arabischer Bezeichnungen für Panzertypen oder die saudische Nationalgarde bei „Google“, „YouTube“ und in sozialen Netzwerken nach Quellen gesucht. Auch auf den privaten „Instagram“-Konten saudischer Soldaten wurde man fündig. Wenn man bereits genau wisse, wonach man suchen muss, werde man mit viel höherer Wahrscheinlichkeit etwas finden, erläutert Grüll. Mit der Downloadversion von „Google Earth“ etwa können auch ältere Aufnahmen angesehen werden, wodurch saudische Stellungen an der Grenze zum Jemen ausfindig gemacht wurden. Die Recherche sei trotz der offen zugänglichen Quellen sehr aufwendig gewesen. Nach stundenlangem Starren auf Satellitenaufnahmen bekam man öfter einen Tunnelblick. Daher sei es wichtig gewesen, dass das Team groß genug war und genug Zeit hatte. Am 26. Februar 2019 wurden die Erkenntnisse dieses Projekts auf der Website des „Bayerischen Rundfunks“ veröffentlicht. Und somit enthüllt, dass deutsche Waffen im Jemen-Krieg zum Einsatz kommen. Die Informationen werden in einem knapp sechsminütigen Fernsehbeitrag für „report München“ in der ARD und als Fließtext samt
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zu können, gelang es dem Datenteam von „Addendum“, die Berichte maschinenlesbar zu machen. Dadurch war es möglich, die offiziell genehmigten und somit legalen Waffenexporte zu identifizieren. Die Auswertung dieser Berichte war die Hauptquelle für die Rechercheergebnisse.
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liegen. Prinzipiell wäre es laut Wetz aber möglich, auch die Gesetze für die Ausfuhr von Militärgütern zu verschärfen. Das Verteidigungsministerium habe nur bedingt Mitspracherecht bei Waffenexporten, wenn Kriegsgüter in ein Land exportiert werden, in dem das Bundesheer im Zuge eines Auslandseinsatzes aktiv ist, und es Bedenken gäbe, dass österreichische Waffen gegen österreichische SoldatInnen eingesetzt werden könnten. Alle Exporte, die Militärgüter betreffen, müssen dokumentiert und als Liste an die EU-Kommission gesandt werden. Dabei können 23 verschiedene Kategorien von der Pistole bis zum Nuklear-U-Boot unterschieden werden, so Wetz. Der österreichische Bericht wird nicht vom zuständigen Innenministerium veröffentlicht, sondern ist nur über die gesammelte Veröffentlichung der Waffenexportberichte aller 28 EU-Mitgliedsstaaten einsehbar. Jedoch in kaum lesbarer Form: Auf den einzelnen Seiten dieser Berichte stünden meist nur Zeilen und Spalten ohne Bezug zu bestimmten Ländern oder Kategorien, merkt Wetz kritisch an. Um diese enorme Datenmenge auswerten
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Tarnung statt Transparenz 2010 wurde ein nationaler Report zu den Rüstungszahlen in Österreich eingestellt. Dies ist ein Grund, warum Österreich laut dem Stockholmer Friedensinstitut eines der intransparentesten Länder Europas im Waffenlieferbereich sei, wie „profil.at“ (7.9.2016) berichtete. Diesem Ergebnis kann Andreas Wetz insofern zu stimmen, wenn es darum geht, wie die Behördentransparenz in Bezug auf diesen Wirtschaftssektor aussieht. Der jährliche Waffenexportbericht des Innenministeriums wird nur über den Umweg der EU veröffentlicht. Auf eine Anfrage an das Außenministerium zu einem Gutachten für ein fragwürdiges Exportland, erstellt für das Innenministerium, wartet „Addendum“ zum SUMO-Interviewzeitpunkt bereits über 450 Tage. Erkenntnisse der Eigenrecherche Statt nur von anderen Ergebnissen zu berichten, hat SUMO den Selbstversuch gestartet und eine eigene Recherche durchgeführt. Die zuständigen Ministerien veröffentlichen keine Exportinformationen auf ihren offiziellen Kanälen. Auch auf den Unternehmenswebsites der Hersteller Glock, Steyr-Arms und Hirtenberger Defence gibt es keine Angaben, in welche Länder P-80, StG77 und Granatwerfer geliefert werden. Auffallend ist, dass es trotz detaillierter Produktinformationen bei Glock und Steyr-Arms keine Preisangaben gibt. Die Hirtenberger Mörser werden ausschließlich durch Bilder repräsentiert, aber die kann man schließlich auch nicht privat erwerben. Bei Steyr-Arms, Österreichs größtem Hersteller von Jagd- und Behördenwaffen mit einem Exportanteil von über 90%, erfährt man, dass es Niederlassungen in Russland, Südafrika, Argentinien und den Vereinigten Arabischen Emiraten gibt. Glock unterhält neben den Standorten in Europa und den USA auch Vertretungen in Panama und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Daraus gewisse Schlüsse zu ziehen, so Andreas Wetz, wäre jedoch voreilig, weil eine Handelsniederlassung in einem Land noch nicht bedeute, dass der jeweilige Staat beliefert werde. In vielen Ländern gebe es auch einen großen Nicht-
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behördenmarkt für zivil erlaubte oder Jagdwaffen. Außerdem führt Wetz aus, sei ein Unternehmen prinzipiell nicht verpflichtet gegenüber der Öffentlichkeit anzugeben, mit wem es Geschäfte mache. Manche Produzenten hätten Referenzkunden, wie Steyr-Arms mit dem Bundesheer. Aber bei Lieferungen an Spezialeinheiten müssten sich die Produzenten zur Verschwiegenheit verpflichten. Laut Philipp Grüll sollte die Öffentlichkeit jedoch grundsätzlich ein Anrecht haben zu erfahren, welche Güter aus Deutschland wohin exportiert werden. Hier seien die Interessen einer Demokratie höher als Unternehmensinteressen zu gewichten. Ein zwiegespaltenes Verhältnis Aus den Erfahrungen des „Addendum“Projekts geht hervor, dass in der Rüstungsbranche eine gewisse Furcht vor Öffentlichkeitsarbeit herrsche, da die Medien diesem Wirtschaftszweig eher kritisch eingestellt seien. Was dazu führe, dass von den Rüstungsunternehmen generell wenige Informationen an die Öffentlichkeit preisgegeben würden. Daher waren für das „Addendum“Team auch zahlreiche Vorgespräche nötig, um Leute aus der Rüstungsbranche zu Interviews zu bewegen. Aber es gebe auch innerhalb der Branche große Unterschiede. Während bei Steyr-Arms sowohl der Eigentümer, als auch der Geschäftsführer für Interviews bereitstanden, wurde eine Gesprächsanfrage an Glock nicht einmal beantwortet. Transparenz sei in gewisser Weise auch eine Unternehmensphilosophie. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob über Rüstungsgüter gleich berichtet werden sollte wie über Autos. Andreas Wetz betont, dass mit gleicher Objektivität berichtet werden müsse, aber Waffen dennoch nicht ein Gut wie jedes andere seien. Trotzdem sollten Rüstungsgüter nicht an sich verurteilt oder als böse abgestempelt werden. Es komme immer darauf an, wer hinter dem Kauf stünde. Ob Waffen Frieden schaffen oder die Welt ohne sie eine bessere wäre, könne laut Wetz letztgültig nicht eindeutig beantwortet werden. Für Philipp Grüll trägt der Journalismus dazu bei, in der Bevölkerung mehr Bewusstsein über das Thema zu schaffen. Derzeit gebe es etwa einen Exportstopp für Rüstungsgüter nach SaudiArabien; die Ergebnisse von „#GermanArms“ und die Berichte vieler anderer Medien hätten dazu beigetragen. Denn die breite Öffentlichkeit in Deutschland wolle nicht, dass Waffen in Kriegsgebiete geliefert werden. Das hätten Umfragen gezeigt. Dennoch wäre es seiner
Rückblickend auf die rund zweieinhalbmonatigen Recherchen kann Andreas Wetz sagen, dass zum Thema Waffenexporte viele Quellen verfügbar, aber nicht alle leicht lesbar seien. Zahlen alleine könnten den Gesamtkomplex der österreichischen Rüstungswirtschaft nicht verdeutlichen. Leute aus der Branche seien das Salz in der Suppe. Philipp Grüll prognostiziert, das aufwendige Datenabgleiche vielleicht in Zukunft mittels Künstlicher Intelligenz automatisch durchgeführt werden könnten. Ein Vorfall im Ausmaß des hiesigen Noricum-Skandals in den 1980er Jahren (Verbotene Waffenlieferungen an den Iran und den Irak während des ersten Golfkriegs) wäre für Andreas Wetz heutzutage nicht mehr möglich, weil es trotz der nicht überbordenden Transparenz ausreichend Kontrollfunktionen von Instanzen wie dem Parlament oder den Medien gebe.
von Michael Marsoner
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Meinung nach keine Lösung die Rüstungsindustrie abzuschaffen, denn es sei legitim Waffen zur Verteidigung einzusetzen. Schlussendlich seien Waffen aber keine normalen Exportgüter wie Spielzeuge oder Autos, da missbräuchliche Verwendung dramatische Konsequenzen haben kann. Deshalb seien hier auch strengere Regeln notwendig, die nicht nur auf dem Papier existieren.
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die Jobbörse für Medienschaffende Rüstungsindustrie vs. Medien: Der Kampf um Transparenz
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Informationsfreiheit: ein Fluch für die Einen, ein Segen für die Anderen
Informationsfreiheit. Für JournalistInnen nicht wegzudenken, um die Kontrollaufgabe gegenüber Politik und Verwaltung auszuüben. Für die staatlichen Behörden bedeutsam und zugleich unwillkommen. Beide Bereiche haben dasselbe Ziel – den Schutz und die Wahrung der Demokratie. SUMO hat dazu Dr.in Daniela Kraus, Generalsekretärin des Presseclubs Concordia, interviewt und mehrere österreichische Behörden um Stellungnahme gebeten. „Ruhe auf den billigen Plätzen“ könnte man von hier oben runterrufen. Die erste Podiumsdiskussion des 21. Journalistinnenkongresses beginnt in wenigen Minuten und die meisten Gäste sind noch in Gesprächen vertieft oder studieren das Programmheft. Auf der erhöhten Zuschauertribüne warten alle schon gespannt den Beginn ab. Nun macht sich eine hellgrüne Weste tragende Daniela Kraus, Leiterin der Podiumsdiskussion „Nix ist fix“, auf den Weg zur Bühne. Mit dem Arbeitsschwerpunkt auf ‚Veränderung des Journalismus’ durch technologische und gesellschaftliche Innovation und als Generalsekretärin des Presseclub Concordia wird sie immer wieder mit der Relevanz und Gewährleistung von unabhängigem Journalismus konfrontiert. Seit Jänner 2019 arbeitet Daniela Kraus in den Büroräumen des Presseclubs Concordia in der Nähe des Wiener Burgtheaters. Der gemeinnützige Verein setzt sich für die Umsetzung von unabhängigem Journalismus in Österreich ein. Informationsfreiheit – was ist das? „Es geht um den Zugang für JournalistInnen aber auch für BürgerInnen zu allen Dokumenten der Verwaltung und der Politik ohne große Hürden“, definiert Daniela Kraus den Begriff Informationsfreiheit beim persönlichen Interview in ihrem Büro im 1. Wiener Gemeindebezirk. „Es geht einfach um Transparenz.“ Doch diese Veröffentlichung von Dokumenten und Informationen ist nicht selbstverständlich. Während in vielen europäischen Ländern Informationsfreiheit gesetzlich vorgegeben ist, herrscht in Österreich das Amtsgeheimnis und infolgedessen ist die Informationsfreiheit nicht garantiert. Behörden ist es gesetzlich erlaubt, die Herausgabe von Informationen und Dokumente unter Berufung auf die dienstliche Schweigepflicht zu verweigern. „Es geht nicht um einzelne BürgerInnen, sondern, dass Staat, Verwaltung und die Politik transparent sind“, betont die Generalsekretärin. Doch für die Behörden wäre ein
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Informationsfreiheitsgesetz mehr Fluch als Segen, immerhin müssten dienstliche Daten und Dokumente der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden – gut, dass dieses also noch nicht im Gesetz verankert ist, könnte man sarkastisch meinen. Trotzdem, so Barbara Tuma von der Pressestelle des Bundesministerium Inneres, habe die Informationsfreiheit für die Dienststellen des Verfassungsschutzes denselben hohen Stellenwert wie für das Bundesministerium für Inneres. Österreich vs. der Rest der Welt Wer in Österreich lebt, dem geht es gut. Es ist ein Gesundheitssystem vorhanden, welches die Bevölkerung unterstützt, statt in Schulden zu stürzen und auch die Bereiche Bildung sowie Forschung werden kontinuierlich verbessert und den hohen Standards angepasst. Die Hauptstadt Wien wurde außerdem wiederholt zur lebenswertesten Stadt der Welt gekürt. Und doch liegt Österreich in einem wichtigen Bereich weit zurück. Laut „The Right to Information Rating“, ein Programm von Access Info Europe (AIE) und Centre for Law and Democracy (CLD), das Stärken und Schwächen von Rechtsrahmen aufzeigt, hat Österreich beinahe die schwächsten gesetzlichen Vorgaben für den Zugang zu staatlicher Information. Von den auf der Website gerankten 128 Ländern nimmt das kleine, in Mitteleuropa liegende Österreich in der internationalen Bewertung der nationalen Rechtslage zum Informationsrecht den vorletzten Platz mit der Nummer 127 ein. Die Einführung eines Grundrechts auf Informationszugang und die Abschaffung des Amtsgeheimnisses wird in Österreich seit 2013 vermehrt thematisiert. Insbesondere die Bürgerrechtsorganisation „Forum Informationsfreiheit“ entfacht diesbezüglich viele Diskussionen und forderte mittels einer Petition ein Transparenzgesetz, das dem in Hamburg geltenden Recht gleiche. „Dort hat man eine spezielle Ansprechstelle,
Informationsfreiheit: ein Fluch für die Einen, ein Segen für die Anderen
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welche innerhalb einer bestimmten Zeit auf Anfragen antworten muss“, erklärt Daniela Kraus dieses Modell. Das ideale Modell, so Kraus, lasse so weit wie möglich Transparenz zu, erlaube nur das Verstreichen eines kurzen Zeitraums zwischen Anfrage und Herausgabe eines Dokuments und schreibe die Aushändigung eines maschinenlesbaren Dokuments vor. Raum für Verbesserung Die Welt verändert sich und die Gesellschaft entwickelt sich weiter. So weit, so banal. Bloß: Die Politik wird immer intransparenter und die PolitikerInnen immer dreister – und somit eine Chance auf Reformation im Mediensektor immer geringer. Viele PolitikerInnen bekämpfen Veränderung und Transparenz. Und damit unabhängigen Journalismus. Nicht selten findet man in sozialen Netzwerken Personen, die eine politische Position innehaben und ihre Reichweite und Macht nutzen, um Hass, Hetze und Einschüchterungsversuche in Form von Posts gegen JournalistInnen zu richten. „Online-Attacken werden sehr oft nicht ernst genommen“, meint Daniela Kraus. Umso wichtiger seien Veränderungen und das Setzen richtiger Schritte in Richtung Informationsfreiheit. Nur so können JournalistInnen ihre Kontrollaufgabe gegenüber Politik und Verwaltung ausüben. Licht am Ende des Tunnels Veranstaltungen, Galas und Vorträge, um unter der Bevölkerung Bewusstsein für die Signifikanz von Informationsfreiheit zu schaffen – all diese Bemühungen sind hinfällig, sofern die Regierung diesbezüglich nicht handelt. Und genau das tat sie nicht. Im Juni 2017 scheiterte die Abschaffung des Amtsgeheimnisses und auch im Februar 2019 wurde ein parlamentarischer Vorstoß bezüglich der Amtsgeheimnisabschaffung und somit ein erster Schritt in Richtung Informationsfreiheit von Liste Jetzt von den Parteien ÖVP und FPÖ abgelehnt. „Die Grünen fordern schon lange so ein Gesetz und auch Sebastian Kurz hat, bevor er Bundeskanzler war, ein Informationsfreiheitsgesetz gefordert“, führt Daniela Kraus im Hinblick auf die laufenden Koalitionsverhandlungen an. Entwürfe für das Informationsfreiheitsgesetz gab es sowohl von der SPÖ als auch von der Liste Jetzt. (Anm.: Der Artikel wurde Mitte Dezember 2019 fertiggestellt.) Dass PolitikerInnen des Öfteren leere Versprechungen machen und Zusagen, die während der Wahlperiode getätigt wurden, nicht umsetzen, ist keine Seltenheit. Nur die Zeit wird zeigen, wann sowie ob und mit welchen Einschränkungen die Informationsfreiheit gesetzlich vorgeschrieben wird. „Ich bin nicht so optimistisch, dass es das ideale Modell wird – aber, dass es kommt, könnte ich mir gut vorstellen“, sagt Kraus und lehnt sich entschlossen zurück. von Theresa Burgstaller
Informationsfreiheit: ein Fluch für die Einen, ein Segen für die Anderen
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Kinderfotos im Netz – Moral vs. Gesetz? Nackte Babys, Kleinkinder, die sich beim Essen vollkleckern und Jugendliche, die schräg tanzen. Es ist keine Seltenheit, dass Eltern Fotos und Videos, die ihre Kinder in sehr unangenehmen Situationen zeigen, voller Stolz über soziale Netzwerke teilen. Das Problem: Das Internet vergisst nicht. SUMO sprach mit Bloggerin Judith List alias „Stadtmama“ und der medienpädagogischen Leiterin von „Saferinternet.at“, Barbara Buchegger, über die Auswirkungen des „Sharenting“. „Eine Schülerin warf ihrer Mutter vor der gesamten Klasse vor, sie wäre daran schuld, dass sie von ihren MitschülerInnen verspottet wird“, beginnt Barbara Buchegger zu erzählen, als sie sich an einen Vorfall erinnert, der sich während eines Elternabends in einer Schule ereignete. Das 14-jährige Mädchen, das schon seit längerer Zeit versuchte, sich gegen den Upload peinlicher Fotos von sich zu wehren, schien keinen anderen Ausweg mehr zu sehen, als ihr Problem mit der gesamten Klasse und allen Eltern zu teilen. Doch selbst damit drang sie nicht zu ihrer Mutter durch. Die Schülerin hatte es satt, dem Mobbing ihrer MitschülerInnen ausgesetzt zu sein, doch ihre Mama stritt weiterhin ab, der Tochter mit ihrem Verhalten zu schaden. Das könnte einerseits eine natürliche Reaktion darauf gewesen sein, dass ihre Tochter sie gerade vor versammeltem Publikum bloßgestellt hatte, andererseits könnte es aber auch einfach Unwissenheit und fehlendes Bewusstsein über die Folgen sein, mit denen ihr Kind nun zu kämpfen hatte.
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Remember: Sharing is not always caring Die 14-jährige Schülerin ist mit ihrem Problem nicht allein. Immer wieder wenden sich junge SchülerInnen an Barbara Buchegger, um sie diesbezüglich um Hilfe zu bitten. Die Medienpädagogin versucht dann zusammen mit ihnen eine Lösung dafür zu finden, wie sie ihre Sorgen am besten an ihre
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Kinderfotos im Netz – Moral vs. Gesetz?
Eltern herantragen können. Die Studie „Kinder. Bilder. Rechte. – Persönlichkeitsrechte von Kindern im Kontext der digitalen Mediennutzung in der Familie“ des Deutschen Kinderhilfswerkes und der Universität Köln (2018), bei der zwölf Familien (Kinder, Eltern, Gesamtfamilien) interviewt wurden, zeigte außerdem, dass ein Viertel aller Eltern den Kindern gar kein Mitentscheidungsrecht beim Teilen von Fotos zugesteht. In sechs von zwölf Familien gehen die Eltern davon aus, dass ihre Kinder etwaige Bedenken ohnehin äußern würden und setzen daher das Einverständnis ihrer Kinder voraus. Nur in zwei Familien haben die Kinder aufgrund ihrer Proteste schlussendlich Mitspracherecht beim Upload ihrer Fotos erhalten. Abgesehen davon fand man heraus, dass die Kinder weitaus mehr Vorstellung und Meinung darüber haben, welche Fotos von ihnen hochgeladen werden sollten und welche nicht, als die Eltern ihnen zutrauen würden. Auch Barbara Buchegger hat das Gefühl, dass die meisten Kinder bereits im Volksschulalter besser wüssten, welche Inhalte für die sozialen Netzwerke geeignet seien, als viele Erwachsene. Einige Eltern würden die Bedürfnisse ihrer Kinder in ihrer Euphorie und ihrem Stolz jedoch nicht wahrnehmen. Außerdem herrsche bei den Eltern weitaus weniger Bewusstsein über die möglichen Konsequenzen ihres Verhaltens. Die deutsche „FIM-Studie 2016“ ergab zwar, dass 78% aller befragten Eltern-
teile davon überzeugt sind, dass sie hauptverantwortlich für den Schutz ihrer Kinder in Bezug auf Medien seien, viele scheinen die möglichen Folgen für ihre Kinder durch die Postings in sozialen Netzwerken jedoch noch zu unterschätzen. Ein mögliches Problem: Die Eltern selbst kommen mit den Auswirkungen der Postings nur selten in Berührung. Es sind ihre Kinder, die aufgrund der peinlichen Fotos sowohl in der Schule als auch via soziale Netzwerke gemobbt werden. Doch Mobbing ist nicht das einzige, womit die Kinder infolgedessen konfrontiert werden. Der „UNICEF-Bericht zur Situation der Kinder in der Welt 2017“ zeigte, dass 81 Prozent aller Kinder in den zehn untersuchten Industrieländern bereits ab dem zweiten Lebensjahr einen digitalen Fußabdruck hinterlassen. Dies ist vor allem auf den heutigen digitalen Lebensstil zurückzuführen, der viele Eltern dazu veranlasse, Bilder und Informationen ihrer Kinder für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ein Akt, der nicht nur das Ansehen der Kinder schädigen kann, sondern auch Missbrauch fördert. Immer wieder würden die Fotos laut UNICEF in MissbrauchsNetzwerke gelangen. Dies kann in manchen Fällen jedoch auch Folgen für die Eltern der betroffenen Kinder haben. Im Jahre 2011 ereignete sich ein solcher Fall in der Familie der damals dreijährigen Katie Ann Guttridge. Als die Eltern des Mädchens ein Abbild ihrer Tochter hochladen, ahnen sie nicht, was sie damit ausgelöst haben. Das Foto, auf dem die Kleine völlig verstummelt und verletzt abgebildet ist, kursiert bis heute mit dem Untertitel „Like & Teile – wenn du gegen Missbrauch bist“ im Netz. Eine „Facebook“-Userin greift das Foto der Kleinen auf und löst mit ihrem Post eine bis heute nicht endende Kettenreaktion aus. Was die meisten jedoch nicht wissen, ist, dass die Dreijährige damals nicht von ihren Eltern, sondern von einem besonders aggressiven zweijährigen Mädchen im Kindergarten verletzt wurde. Durch den „Diebstahl“ des Fotos konnte diese Falschmeldung jedoch nicht mehr aufgehalten werden. Dass Missbrauch vorkomme, stimmt auch Barbara Buchegger zu. Laut ihr wäre es unter anderem auch möglich, dass die Bilder in Form von Werbung auf Kinderpornoseiten erscheinen. Eine Tatsache, mit der sich auch Judith List, die Inhaberin des Blogs „Stadtmama“, bereits beschäftigt hat. Als Familienbloggerin und Mutter empfindet sie es als besonders wichtig, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Nach längerer Recherche habe sie für sich eine akzeptable Lösung gefunden: „Ich poste grundsätzlich keine Bilder
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mehr, auf denen nur meine Kinder zu sehen sind. In einer Studie habe ich gelesen, dass Fotos, auf denen abgesehen von den Kindern auch deren Eltern abgebildet sind für Pädophile nicht ansprechend sind.“ Ob diese Maßnahme Pädophile wirklich von Missbrauch abhält und inwiefern die Möglichkeit des Bildzuschnitts Einfluss darauf nimmt, bleibt jedoch offen. Dennoch legt die Bloggerin auch grundsätzlich großen Wert darauf, ihre Kinder im Netz nicht bloßzustellen und das Posten von Kinderfotos – sofern dies auf einem „Mama-Blog“ möglich ist – zu vermeiden. Einen Familienblog ganz ohne Kinderfotos könne sie sich jedoch auch nicht vorstellen. Schließlich sieht sie ihre Blogbeiträge auch als Hilfe und Identifikationsmöglichkeit für andere Mütter. Die Bilder, die sie dafür verwendet, seien gut überlegt und nicht einfach darauf losfotografiert. List gibt jedoch auch zu, nicht immer so intensiv auf die Auswahl der Bilder geachtet zu haben. Heute sei dies jedoch gar kein Thema mehr: Sie frage ihre älteste Tochter (neun Jahre) vor dem Upload eines Fotos immer um Erlaubnis. Mit ihren beiden jüngeren Töchtern (zweieinhalb und fünfeinhalb Jahre) könne List darüber jedoch noch nicht sprechen. Sharenting: Ein Wortspiel aus „sharing“ und „parenting“, welches das Teilen von Fotos der eigenen Kinder durch die Eltern über diverse soziale Netzwerke bezeichnet
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Und das Gesetz? Was Judith List regelmäßig macht, ist im Gesetz grundsätzlich auch so vorgesehen. Rechtlich betrachtet, ist es in Österreich seit der Novellierung des Bundesverfassungsgesetzes 2016 gar nicht mehr erlaubt, dass Eltern potenziell schädliche Bilder ihrer Kinder ohne deren Einverständnis ins Netz stellen. Jede und jeder hat außerdem schon von Geburt an bestimmte Persönlichkeitsrechte, von deren Einhaltung auch die Eltern nicht ausgenommen sind. Zu diesen Rechten zählt auch der sogenannte Bildnisschutz (§78 UrhG), der im Urheberrechtsgesetz verankert ist. Hier wird unter anderem festgehalten, dass das Bild einer Person nicht ohne deren Zustimmung veröffentlicht werden darf. Da viele PädagogInnen und auch Rechtskräfte grundsätzlich davon ausgehen, dass Jugendliche erst ab der Erreichung des 14. Lebensjahres in der Lage sind, selbst die richtigen Entscheidungen für sich treffen zu können, bestimmen bis zu diesem Zeitpunkt häufig die Eltern über gewisse Vorgänge, die das Leben ihrer Töchter und Söhne beeinflussen. Im schlimmsten Fall können die Eltern von ihren eigenen Kindern aber sogar verklagt werden, wenn sie die Bilder der Betroffenen nicht aus dem Netz nehmen. Ein solcher Fall ist Barbara Buchegger bisher jedoch noch nicht untergekommen. Sie erlebte nur einmal die Androhung einer Klage mit. In den Medien kursierte vor einiger Zeit zwar das Gerücht, eine junge Kärntnerin habe ihre Eltern wegen Verletzung des Persönlichkeitsrechts verklagt, Beweise gab es dafür aber
nicht. Seinerzeit erhielt Buchegger einige Anrufe von ausländischen KollegInnen, die ihre Freude über die Anklage mit ihr teilen wollten. Im SUMO-Interview erzählt Buchegger jedoch, dass sie eigentlich recht froh darüber war, die AnruferInnen enttäuschen zu müssen. Schließlich sollte es im besten Fall bis zur Anklage gar nicht kommen. Sofern doch, drohen den Eltern in Frankreich beispielsweise Geldstrafen in Höhe von bis zu 45.000 Euro. An der Wirksamkeit solcher Strafen zweifelt Judith List jedoch: Diese würden viel zu spät ansetzen. Präventive Maßnahmen wie die Kampagnen des deutschen Kinderhilfswerks und der Bloggerin Toyah Diebel findet List passender. Unter dem Titel „Dein Kind auch nicht“ versucht Diebel auf die Problematik der Kinderfotos im Netz aufmerksam zu machen. Die Fotos, die sie hier einsetzt, sorgen vorerst für Verwechslungsgefahr. Fotos, die Personen in den peinlichsten und unangenehmsten Situationen zeigen – ob am Töpfchen oder nackt beim Nuckeln an der Brust. Sie zeigen jedoch keine Kinder, sondern Erwachsene. Mit dem Untertitel: „So ein Bild von dir würdest du nie posten? Deine Kinder auch nicht“, sorgt sie für Aufsehen. Buchegger klärt die RezipientInnen in einer „YouTube“Videoserie ebenfalls über die rechtlichen Rahmenbedingungen und Folgen des Uploads von Kinderfotos auf und gibt Tipps zum Umgang mit den Bildern. Auch über vermeintlich private Netzwerke wie „WhatsApp“ könnten Kinderfotos laut ihr in die falschen Hände gelangen. Hierbei spielen oft auch die Großeltern eine Rolle, die das Foto
Kinderfotos im Netz – A never-ending Story? Das Phänomen „Sharenting“, das vor allem mit dem Aufkommen diverser sozialer Netzwerke an Größe gewann, werde uns laut Buchegger auch in ferner Zukunft noch begleiten. Die Tatsache, dass die heutige Eltern-Generation zu
einem großen Teil selbst schon zu den sogenannten „Digital Natives“ zähle, mache die Situation nicht besser. Diese Eltern seien mit den sozialen Netzwerken vertraut und das Posten und Teilen privater Informationen sei für die meisten gang und gäbe. Dadurch würden sie noch mehr dazu neigen, auch private Fotos ihrer Kinder zu veröffentlichen. Anders als bei den jetzigen VolksschülerInnen befürchtet Buchegger, dass die nächste Generation weitaus weniger Bewusstsein über die Auswirkungen des Sharenting haben und somit auch weniger protestieren werde. „Diese Kinder wachsen damit auf, für sie wird das ganz normal sein.“ Ein Ende der unkontrollierten Veröffentlichung von Kinderfotos im Netz sei also nicht vorauszusehen.
von Katharina Samsula
Barbara Buchegger
Judith List
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der Enkelkinder als Profilbild einstellen. Wird dabei nicht auf die richtigen Einstellungen der Privatsphäre geachtet, können auch diese Fotos unter Umständen für die Öffentlichkeit zugänglich werden. Für besonders wichtig halte sie auch, die Fotos nicht nur digital zu speichern, sondern sie in Form von analogen Fotobüchern zu sichern. Selbst digitale Clouds garantieren die Speicherung der Dateien nicht für immer. „Die Kinder sollen später schließlich auch die Möglichkeit haben, ihre peinlichen Fotos gezeigt zu bekommen.“
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„Murder ... Victim!“ – Journalismus aus der Vogelperspektive Keine Angst – nicht hier. SUMO untersucht bloß das TV-Genre: Verfolgungsjagden mit Hilfe des Helikopters. Hubschrauberberichterstattung ist in den USA üblich, in Europa nicht. Catherine Chandler, USA-gebürtige interkulturelle Sprach- und Kulturpädagogin, diskutiert in SUMO darüber. der Beliebtheitsskala, aber mit eindeutigem Abstand. All diese Fakten bilden eine gewisse Basis für die Entstehung von – manchmal sogar bizarren – Realityshows, die man auch als „kulturelles Phänomen“ wahrnehmen kann, wie es Dan Neil, Automobilkolumnist von „The Wall Street Journal“ gegenüber der BBC (2015) nennt: „You can‘t imagine how popular police chases are in the United States. They even have twitter feeds just for these. For instance, one of them is @policealive which has more than 27 000 followers. They also send you alerts when something is currently happening“. Ablauf einer Verfolgungsjagd-Sendung Fernsehsender, die Verfolgungsjagden anbieten sind mit Funkmeldeempfängern, wie z.B. einem Pager ausgerüstet. Diese, aber auch andere, wie
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US-amerikanische RezipientInnen unterscheiden sich vielfach von den europäischen, nicht nur in der Dauer der Fernsehnutzung: Laut Amy Watson und „TV Key Facts 2017“ kommen Menschen in den Vereinigten Staaten auf eine ungefähre Fernsehdauer von 4 Stunden täglich. Ein/e durchschnittliche/r österreichische/r Fernseher/in verbringt 2,8 Stunden vor dem TV-Gerät. Auch bei den Präferenzen bestehen Divergenzen. Chandler dazu: „EuropäerInnen besitzen zwar auch eine gewisse Schaulust, dennoch ist diese in Amerika wesentlich stärker ausgeprägt. Verfolgungsjagden, also Live-Dramen mit unklarem Ende sind sehr beliebt“. Manuela Pauker (W&V, 2018) erforschte, dass es in Deutschland eher Filme mit Spaßfaktor sind, die beim Publikum im Vordergrund stehen, also Komödien, Sitcoms oder Cartoons. Action und Horror befinden sich auf dem zweiten Platz
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„Murder ... Victim!“ – Journalismus aus der Vogelperspektive
etwa Funkgeräte mit der jeweiligen Polizeifrequenz dienen zur Verfolgung der polizeilichen Handlungen. Falls der Sender an einer Verfolgungsjagd interessiert ist, wird ein Hubschrauber desselben alarmiert. Die Übertragung einer solchen sei häufig von Kommentaren eines Sprechers bzw. einer Sprecherin begleitet, sagt Chandler. James Morgan von BBC konstatierte bereits 2015, dass sich der Trend, eine Verfolgungsjagd zu rezipieren, kontinuierlich verstärke, und zwar so, dass dies nicht mehr nur eine Domäne der lokalen Sender sei, sondern auch der nationalen. Daher kommt es hin und wieder zur Unterbrechung einer Sendung bzw. zu einem Programmwechsel, um die Verfolgungsjagd ausstrahlen zu können. Präzedenz aller Fälle und Gründe Die Popularität der „police chases“ in den USA eruptierte durch O. J. Simpson im Jahr 1994 – die bekannteste Verfolgungsjagd Amerikas. Der Fernsehsender „FOX 10 Phoenix“ berichtete, dass sie ungefähr 95 Millionen ZuschauerInnen hatte, die das Geschehen über neun News-Helikopter verfolgen konnten. „It had a higher audience than the year‘s superbowl“, fügt Chandler hinzu. O. J. Simpson war ein ehemaliger FootballStar und Schauspieler, der wegen Mordes an seiner Frau und an einem Kellner angeklagt worden war. Der Haftbefehl wurde am 17. Juni 1994 beantragt. Simpson stellte sich nicht, sondern floh und wurde dabei von dem News-Hubschrauber der Journalistin Zoey Tur entdeckt. Diese verständigte sogleich die Polizei. Bei der Verfolgungsjagd wurden keine polizeilichen Initiativen eingeleitet. Simpson fuhr sogar langsam und drohte dabei mit Selbstmord. Er stellte sich jedoch später und wurde von der Polizei festgenommen. „The case is so well known that if you just say ‚white Ford Bronco’ (Anm.: Die Automarke des Fahrzeuges, in dem er floh) everyone will know what you are talking about.” Das alles weckt zwar das Interesse bei ZuschauerInnen, erklärt aber noch nicht den schnellen Einsatz von mehr als neun TV-Sendern mittels Hubschrauber. Laut Chandler und „Süddeutsche Zeitung“ seien daran überwiegend die häufig vorkommenden Staus, die vor allem für Kalifornien und vorwiegend für Los Angeles typisch seien schuld. In den Vereinigten Staaten gebe es deutlich mehr LokalberichterstatterInnen als in Europa. Diese Lokalsender seien dann bei AmerikanerInnen für ihre Verkehrsberichterstattung bekannt. Da sich aber in den USA sehr lange Autobahnabschnitte befinden, sind diese kleinen Lokalsender quasi gezwungen,
einen Hubschrauber zu besitzen, mit dem sie ihr ganzes Gebiet erfassen können. Frage der Ethik Auf die SUMO-Frage, ob es nicht unethisch für die Sender sei, wenn sie sich bei solchen Übertragungen auch sensible Bilder beschaffen, antwortet Chandler mit der Gegenfrage: „What then should American channels broadcast, if this is what American consumers want to watch?“ Dies sei natürliche Schaulust bzw. menschliches Bedürfnis. „The local news agencies also focus on this thing“, fügt sie hinzu. Sie tendieren zum Boulevardjournalismus, also zur Ausgabe „sensationeller Nachrichten“, damit sie mit diesen ihre ganze Sendezeit abdecken können. „The channels try to protect their audiences from generally inappropriate pictures by often broadcasting with a small time delay“. Al Tompkins vom Poynter Institute äußerte sich gegenüber der BBC (2015), dass dies trotz aller Sicherheitsvorkehrungen nicht zuverlässig verhindert werden könne. Er erinnerte dabei an den tragischen Unglücksfall, als „Fox News“ unabsichtlich sendete, wie ein Mann nach einer Verfolgungsjagd durch die Polizei erschossen wurde. Diese Szene in der Wüste von Arizona wurde zwar mit einer Fünf-Sekunden-Verspätung übertragen, jedoch scheiterte der Versuch, diese sensible Szene auszuschneiden. Laut dem „Bureau of Justice Statistics“ (2017) sei dies kein Einzelfall. 2006 und 2007 etwa seien mehr als 400 Menschen in den Vereinigten Staaten im Rahmen einer Verfolgungsjagd ums Leben gekommen. Klassisch amerikanisch? Als ein Fazit der Verankerung der Verfolgungsjagd in der amerikanischen Kultur bietet sich ein Zitat von Professor Geoffrey Alpert gegenüber der BBC (2015) an: „Dies verfolgt uns seit den Zeiten des Wilden Westens – ein Kerl raubt eine Bank aus und flüchtet auf einem Pferd. Und der Sheriff reitet auf seinem Pferd hinterher“.
von Ondrej Svatos
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„FaceApp“ – und ihr Umgang mit Daten
Vom leicht zugänglichen Spaß mit Artifical Intelligence, um älter auszusehen, zu einer Diskussion über die Speicherung von Daten: „FaceApp“ sorgt für positive wie negative Furore. SUMO diskutierte darüber mit Hans Zeger, Obmann der ARGE DATEN – Österreichische Gesellschaft für Datenschutz, und Martin Possekel, Managing Partner bei „Future Marketing“. Die Fotofilter-Anwendung ist seit 2016 am Markt und war 2018 unter den meist gedownloadeten Applikationen. Kinder bis Promis nutzen sie dafür, wie sie aussehen werden, wenn sie älter sind. Die belustigend wirkende App hält jedoch viele Tücken bereit, über welche sich die NutzerInnen nicht im Klaren sind. Hinter der App steckt das russische Unternehmen Wireless Lab mit Sitz in Skolkovo nahe Moskau. „FaceApp“-Gründer ist Yaroslav Goncharov, der für Microsoft gearbeitet hat, später jedoch Reichtum erlangte, indem er eine Software-Firma an den russisch-niederländischen Suchmaschinenbetreiber Yandex verkaufte. Doch der größte Erfolg war die mobile Applikation „FaceApp“. Ihr Grundkonstrukt ist einfach: Ein/e Nutzer/in lädt sich die App herunter und ein Bild von sich hoch, nach wenigen Sekunden erfährt die Person, wie sie in 40 Jahren aussehen wird. Im Hintergrund analysiert die App die biometrischen Daten der/s Abgebildeten, wodurch die Modifikation individuell an die Person auf dem Foto angepasst ist. So weit, so nett.
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Dunkle Schatten des Amüsements Was jedoch wie ein harmloses Bildbearbeitungsprogramm aussieht, zeigt bei
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„FaceApp“ – und ihr Umgang mit Daten
genauerem Hinsehen, dass es die zur Bearbeitung genutzten Bilder in einer Cloud hochlädt, die IP-Adressen für einen kurzen Zeitraum speichert und die App die Möglichkeit hat, das Nutzerverhalten zu analysieren. Bei Zustimmung der Datenschutzerklärung tritt man die Rechte an Fotos sowie der eigenen Daten ab. Als Beispiel wird in der Datenschutzerklärung angeführt, wenn ein/e EU-Einwohner/in zustimmt, werden die eigenen Daten an ein Land weitergegeben, welches andere Bestimmungen hat als die EU und in dem somit anders mit den Daten umgegangen wird. Auch die Browserdaten einer Person, wie zum Beispiel die IP-Adresse und Nutzung, darf die App mit der Zustimmung verarbeiten. Der Konzern beteuert, dass die Daten nur 48 Stunden gespeichert werden. Im Falle eines Verkaufs der App können jedoch die Daten der NutzerInnen, welche in diesem Zeitraum gespeichert wurden an das neue Unternehmen fallen. Martin Possekel konstatiert dies kritisch: „Die Nutzer/innen von ‚FaceApp’ werden nicht ausreichend und klar darüber informiert, welche Daten und warum von der App erhoben, verwendet und wohin übermittelt werden, die Aussagen zum Speicherort sind unklar, ebenso die Fra-
ge, wann hochgeladene Fotos gelöscht werden. Das ist nach DSGVO völlig unzureichend. Mir scheint aber ein anderer Aspekt auch wesentlich und grundlegend zu sein, nämlich die Frage: Wie teuer ist kostenlos? Das Internet ist kein karitativer Ort und am Ende zahlt ein/e Nutzer/in einen Preis, in Euro oder eben in Daten. Ersteres ist beim Nutzer/in gelernt, bei Letzterem haben wir keine wirkliche Vorstellung, für welche Zwecke man so alles unsere Daten verwenden könnte. Deswegen ist eine gute und klare Datenschutzerklärung so wesentlich.“ Besonders in den USA wird die App kritisch betrachtet. Laut der Tageszeitung „Die Welt“ (19.7.2019) sieht der Fraktionschef der Demokraten, Chuck Schumer, in der App eine Gefahr für die USA durch russische Einflussnahme. Das FBI wurde zu einer Untersuchung aufgefordert, da „FaceApp“ laut dem Politiker ein nationales Sicherheitsrisiko sowie ein Risiko für die US-BürgerInnen darstelle. Laut Possekel zeige die USA die Tendenz, ausländische Institutionen als Gefahr für die nationale Sicherheit zu sehen. Doch sei dies bei „FaceApp“ nicht der Fall: Es erzeuge Furcht, wenn eine Applikation die komplette Kontrolle über Funktionen des Smartphones hat, doch sei dies keine Gefahr für ganze Nationen. Doch schon allein diese Funktion sei äußerst besorgniserregend. Ein weiteres Risiko in den Augen von DatenschützerInnen liegt darin, dass die Fotos auf russischen Servern geladen werden. Bilder besitzen in der heutigen Gesellschaft eine wichtige Bedeutung – und wenn nun auch noch die Tatsache hinzukomme, dass sowohl Laien und
erst recht Menschen mit technischen Kenntnissen biometrische Daten mithilfe von digitalen Bildern nutzen, sei dies laut Martin Possekel ein gravierendes Problem. „Ich will keine Schreckensszenarien entwerfen, aber in Zeiten von Bildbearbeitung und der Anwendung von Künstlicher Intelligenz müssen wir uns alle damit auseinandersetzen, dass der Satz ‚Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte‘ bedeutender denn je ist, in vielerlei Hinsicht.“ Die App wurde medial, infolgedessen auch in der Öffentlichkeit stark kritisiert wegen ihres Umgangs mit Daten, weswegen der Gründer mehr Transparenz versprach. Weiters erklärten die Betreiber, dass die Fotos gespeichert würden, um die Server nicht unnötig zu belasten durch doppeltes Hochladen von Grafiken. Auf Anfrage des Online-Nachrichtenportals „TechCrunch“ postulierten die Verantwortlichen, dass „FaceApp“ über Amazon Web Services und Google Cloud funktionieren und nicht über russische Server.
Potenzielle Folgen für NutzerInnen Die Applikation ist mit den „Basic-Features“ gratis erhältlich. Jedoch ist diese nur in monetärer Hinsicht kostenlos, denn UserInnen zahlen mit ihren sensiblen Daten. Von den Entwicklerinnen wird nicht genau angegeben, wie man die Daten nutze; Goncharov beteuert, dass sie nicht an Dritte weitergegeben werden würden. Der österreichische Datenschutz- und E-Commerce-Experte Hans Gerhard Zeger erklärt im SUMO-Interview hierzu: Wenn eine Person selbst entscheide ein Bild hochzuladen, sei dies nicht direkt datenschutzrechtlich relevant, jedoch sollte besondere Vorsicht darauf gelegt werden, dass man Bilder von anderen Personen nicht ohne weiteres nutzen dürfe, da in diesem Fall das Urheberrecht eine Rolle spiele. Denn dieses besagt unter anderem, dass man ein Bild nicht verwenden darf, wenn es die Interessen des/r Betroffenen beeinträchtigt. In diesem Fall bedeute Beeinträchtigen nicht
unbedingt, dass ein direkter Schaden zugefügt werde, sondern auch, dass eine Person nicht möchte, dass sich dessen Daten auf einem Server befinden. Mit der Zustimmung des/r Betroffenen jedoch sei dies erlaubt. Und die Speicherung des Nutzungsverhaltens sei dann gestattet, wenn der/die Nutzer/in darüber informiert werde. Martin Possekel ist als Marketingexperte mit maschineller Intelligenz wie auch Datenschutz bestens vertraut. Er beschreibt die Risiken für NutzerInnen der App so: „Die Nutzung der urmenschlichen Triebe Neugier, in diesem Fall: ‚Wie sehe ich wohl in 30 Jahren aus?‘, oder einfach Spaß-haben-Wollen oder Spielen sehe ich durchaus als Risiko an, wenn es an Aufklärung, Transparenz und Kontrolle darüber fehlt, was mit den persönlichen Daten von NutzerInnen – in diesem Fall: Bild und Nutzungsdaten des Smartphones – geschieht. Apps wie ‚FaceApp’ machen die Tür zur Privatsphäre auf, es liegt an jedem/r Nutzer/in, diese Tür ganz zu schließen oder weiter zu öffnen.“ Dass die rechtlich erlaubten Dinge nicht immer die moralisch richtigen sind, beweist „FaceApp“ recht deutlich. Zwar besteht aufgrund dieser App keine Gefahr für die nationale Sicherheit eines Landes, doch sollten sich NutzerInnen immer die Frage stellen, ob die persönliche Freiheit, die man mit der Nutzung freigibt, dies auch wirklich wert ist. Alt werden wir auch so – unabhängig von ihr.
von Nina Kern
Martin Possekel
Hans Zeger
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„FaceApp“ – und ihr Umgang mit Daten
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Arbeitswelt 2020 Zwischen Utopie und harter Realität
Ein datenjournalistisches Projekt: Die Gegenwart und Zukunft der Arbeit ist geprägt von vielen Buzzwords, etwa „agiles Arbeiten”, „Flexible Office“ und „Künstliche Intelligenz”. Gleichzeitig sind die Arbeitslosenzahlen in Österreich historisch betrachtet relativ hoch. Wie steht es wirklich um die Arbeitswelt? SUMO hat sich auf die Suche gemacht, Daten ausgewertet und visualisiert sowie mit ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen gesprochen. Der heimische Arbeitsmarkt bietet aktuell und künftig viele Chancen für junge Personen mit höherem Bildungsabschluss. Für Arbeitslose mit Pflichtschulabschluss oder ältere Personen gestaltet sich die Jobsuche hingegen schon wesentlich schwieriger. Wenn über die Zukunft der Arbeit diskutiert wird, dann geht es oft um Desk-Sharing, Home-Office oder die 30-Stunden-Woche. Ob diese Trends sich hierzulande in vielen Unternehmen langfristig durchsetzen werden, ist noch unklar. Die Datenlage dazu ist noch sehr dünn. Was aber sicher ist – der Wunsch der Unternehmen und ArbeitnehmerInnen nach mehr Flexibilität nimmt stetig zu. Es gibt aber auch Schattenseiten: Rund ein Drittel der ÖsterreicherInnen fühlt sich Burn-out-gefährdet, wie aus einer Studie des Linzer Instituts Market aus dem Jahr 2018 hervorgeht. Vermutlich lässt die Burnout-Gefährdung den Wunsch nach „New Work“ steigen.
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Zeitfresser Pendeln Viele ArbeitnehmerInnen in Österreich müssen einen langen Weg zur Arbeit in Kauf nehmen. Die Arbeiterkammer hat im November 2019 im Rahmen des „Arbeitsklima-Index“ die Situation der PendlerInnen analysiert. Demzufolge
arbeiten derzeit 45 Prozent aller Beschäftigten in Österreich in ihrer Wohngemeinde und 55 Prozent der Erwerbstätigen gelten als AußenpendlerInnen, ihr Wohn- und Arbeitsort liegt in verschiedenen Gemeinden oder Bundesländern. Laut Statistik Austria ist Wien mit Abstand das größte Einpendlerzentrum: Im Jahr 2017 hatten rund 1 Millionen Erwerbstätige ihren Arbeitsplatz in der österreichischen Hauptstadt. Aktuellere Zahlen liegen noch nicht vor. Österreichweit sind rund 4,3 Millionen Personen erwerbstätig. Neben Wien zählen die Landeshauptstädte Linz, Graz, Salzburg, Innsbruck, Klagenfurt am Wörthersee und St. Pölten, sowie die Gemeinden Schwechat, Wels und Wiener Neustadt als große Einpendler-Hotspots. 42,4 Prozent aller aktiven Erwerbstätigen arbeiten in den zehn größten Erwerbspendlerzentren. Der AK-Arbeitsklima-Index zeigt aber auch, dass sich Pendeln nur gering auf die Arbeitszufriedenheit auswirkt. Die Befragten gaben jedoch an, dass sich aufgrund des Pendelns Berufs- und Privatleben nur schwer vereinbaren lassen. Vor allem Führungskräfte nehmen längere Fahrzeiten für einen gut bezahlten Managementposten in Kauf. Um sich die täglichen Wegstrecken mit Auto
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Arbeitswelt 2020 – Zwischen Utopie und harter Realität
oder den öffentlichen Verkehrsmittel zu sparen, wäre Home-Office eine mögliche Alternative. Bei einer Eurostat-Umfrage aus dem Jahr 2014 gaben knapp 15 Prozent der ÖsterreicherInnen an, regelmäßig/manchmal im Home-Office zu arbeiten. Zum Vergleich: In Deutschland waren es nur sieben Prozent. Wenn MitarbeiterInnen das Arbeiten von zu Hause ermöglicht wird, kann der freie Arbeitsplatz im Büro möglicherweise von KollegInnen genutzt werden. Desk-Sharing – „Klare Regeln notwendig“ Desk-Sharing ist kein neues Konzept, doch immer öfters wird es in österreichischen Unternehmen, unabhängig vom Arbeitszeitmodell, flächendeckend eingesetzt. Beim Desk-Sharing gibt es in einer Abteilung oder im ganzen Unternehmen weniger Schreibtische als MitarbeiterInnen. Jeden Tag dürfen oder müssen die Angestellten einen neuen Arbeitsplatz wählen. SUMO hat mit einer Mitarbeiterin im Bankensektor gesprochen, die Desk-Sharing betreibt. Die ArbeitnehmerInnen werden vom Unternehmen ermutigt, einen Großteil ihrer Arbeit von zu Hause aus zu erledigen. Wenn die Beschäftigten ins Büro kommen, müssen sie sich in einem EDV-System anmelden. Dann beginnt die Schreibtischsuche, jeder Abteilung ist ein gewisser Bereich zugeordnet. Die Umstellung von ZweiPersonen-Büros zu Großraumbüros hat laut der Bankmitarbeiterin „eine Zeit gebraucht“. Nach ihrer Ansicht braucht es „klare Regeln“, damit DeskSharing funktionieren kann. Unter anderem müssen die Arbeitsplätze beim Verlassen immer freigeräumt werden und Dokumente werden nur mehr digital abgelegt. Bei einer abteilungsübergreifenden Zusammenarbeit kommt es manchmal noch zu Missverständnissen. Ihr Fazit: Sowohl das Desk-Sharing als auch das Home-Office funktioniert „überraschend gut”. Früher konnte sie sich es kaum vorstellen von zu Hause aus zu arbeiten, mittlerweile würde sie es nicht anders wollen. Inwiefern DeskSharing das MitarbeiterInnen-Engagement beeinflusst, haben sich WissenschaftlerInnen der FH Wien angesehen. In ihrer Publikation aus dem Jahr 2019 kommen sie zu dem Fazit, dass DeskSharing unter gewissen Voraussetzungen das MitarbeiterInnen-Engagement steigern kann. Es sollte auf jeden Fall eine Unterstützung durch das Management und klare Guidelines geben, eine radikale Umsetzung ist nach Ansicht der WissenschaftlerInnen kontraproduktiv.
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Österreichischer Arbeitsmarkt im Wandel Nicht nur die Bedürfnisse der ArbeitnehmerInnen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert, sondern auch der Arbeitsmarkt hat einen Wandel durchgemacht. In den 1970er-Jahren gab es in Österreich noch Vollbeschäftigung, seitdem steigen die Arbeitslosenzahlen. 2015 und 2016 erreichte die Arbeitslosenquote in Österreich mit 9,1 Prozent ihren Höhepunkt seit 1946. Ein niedriges Wirtschaftswachstum und ein hoher Zuzug an Arbeitskräften aus anderen EU-Staaten ließen die Arbeitslosenzahlen damals auf ein Rekordhoch steigen. In den vergangenen drei Jahren sank die Arbeitslosenrate dann aber wieder, 2019 betrug sie 7,4 Prozent. Grund zur Entwarnung gibt es aber noch nicht: Im November 2019 lag die Arbeitslosenrate bei Personen mit einem Pflichtschulabschluss bei 22,8 Prozent, geht aus einer SUMO-Auswertung der Arbeitsmarktservice-Daten hervor. Das heißt, knapp jede/r vierte PflichtschulabsolventIn hatte zuletzt keinen Job. Bei Personen mit Uni- oder FH-Abschluss lag die Arbeitslosenrate hingegen nur bei 3,2 Prozent. Auch die Prognose des Wiener Wirtschaftsforschungsinstituts (Wifo) für 2020 und 2021 zeigt, dass die mäßige Konjunkturdynamik den Beschäftigungsaufbau in Österreich künftig schwächen wird und den Abbau der Arbeitslosigkeit erschwert.
Fachkräftemangel und Pensionswelle Die „Baby-Boomer“-Generation verabschiedet sich in Österreich in den Ruhestand: Nach aktuellen Schätzungen der Statistik Austria gehen rund 250.000 Arbeitskräfte bis zum Jahre 2030 in Pension. Ohne Zuwanderung von Fachkräften aus dem Ausland soll sich der Fachkräftemangel am österreichischen Arbeitsmarkt sogar auf 400.000 Personen belaufen. In einer Umfrage der Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ) aus dem Jahr 2019 gaben 75 Prozent aller Unternehmen an, den Fachkräftemangel sehr oder eher stark zu spüren. Vor allem mittelgroße Betriebe im Westen Österreichs verzeichnen deutlich gestiegene Kosten für die zeitintensive Personalsuche. Wo
ist der Fachkräftemangel am größten? Das Arbeitsmarktservice (AMS) hat SUMO dazu exklusiv Daten zur Verfügung gestellt. Um den Fachkräftemangel zu quantifizieren, wurden Arbeitssuchende ohne Einstellungszusage mit sofort verfügbaren Stellen miteinander verglichen. Zum Beispiel gab es bei TechnikerInnen für Starkstromtechnik zuletzt 152 Arbeitslose, dem standen 427 offene Stellen gegenüber, bei DreherInnen in der Metall- und Fahrzeugindustrie lag die Relation bei 336 zu 635 und bei ElektroinstallateurInnen waren es 1.513 zu 2.534. Bei GaststättenköchInnen gab es hingegen 2.372 Arbeitssuchende und 1.833 offene Stellen. Betriebe in den Tourismusbundesländern im Westen beklagen oftmals, dass keine arbeitslosen KöchInnen, KellnerInnen und Hotelfachkräfte aus Ostösterreich ihren Wohnsitz verlegen wollen. Während sich die Diskussion vor allem auf den Mangel von Personen mit Lehrabschluss in den Bereichen Bau, Tourismus und handwerkliche Berufe konzentriert, scheint der technologische Fortschritt längst eine Lösung in petto zu haben. Einer Analyse der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) vom April 2019 zufolge, lassen sich 14 Prozent aller Berufe durch den Einsatz moderner Technologien substituieren, 36 Prozent werden sich in ihren Anforderungen stark verändern. Gerade Routinearbeiten wie Fertigungs-, Verkehrs- und Logistikberufe werden sich zukünftig radikalen Veränderungen unterziehen. Der Fokus von ArbeitgeberInnen wird sich somit zunehmend auf Personen richten, die Mehrwert durch den Einsatz von kreativer und sozialer Intelligenz leisten können.
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Suche nach Selbstverwirklichung Die Millennials – geboren zwischen 1980 und 1999 – suchen den Sinn längst nicht mehr ausschließlich in der Arbeit und lehnen unflexible Arbeitsverhältnisse zunehmend ab. Das Linzer Institut für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften (ISW) bestätigt dies 2018 und verortet ein steigendes Bedürfnis nach mehr Zeit für persönliche Interessen und Hobbies bei Personen, die sich in Teilzeitbeschäftigungsverhältnissen befinden. Ein Drittel der Befragten gab dies als Grund an und rund die Hälfte versicherte, keine Rückkehr in eine Vollzeitbeschäftigung anzustreben. Auch die OECD ortet in ihrem „Employer Outlook 2019” einen internationalen Trend dazu Arbeitsleistung unabhängig und selbstbestimmt anzubieten. Messbar ist dies durch den Anstieg an sogenannten „Nicht-Standard“ beschäftigten Personen. Durchschnittlich 16 Prozent aller Arbeitskräfte gehen ihrer Tätigkeit selbstständig nach und rund 13 Prozent befinden sich OECD-weit in befristeten Arbeitsverhältnissen. Entwicklung der Arbeitszeit „35 Stunden sind genug”, lautet die aktuelle Kampagne der Gewerkschaft für Privatangestellte, Druck, Journalismus, Papier (GPA-djp). Zum Vergleich: Im Zeitalter der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts arbeiteten die Beschäftigten noch bis zu 16 Stunden am Tag. Schrittweise wurde diese durch Verordnungen und Gesetze auf 38,5 bzw. 40 Wochenstunden reduziert. Im September 2018 erfolgte unter dem Schlagwort der „Flexibilisierung” der Arbeitszeit eine Erhöhung der maximalen Wochenarbeitszeit von 50 auf 60 Stunden und eine Erhöhung der theoretisch möglichen Tagesarbeitszeit von 10 auf
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12 Stunden pro Tag. Auch wenn es zwischen 1985 und 2018 keine gesetzlichen Änderungen der Wochenarbeitszeit gab, so zeigen Daten der Statistik Austria, dass sich die durchschnittliche Wochenarbeitszeit der Vollzeit-Erwerbstätigen von 44,3 Stunden im Jahr 2004 auf 42,7 Stunden im Jahr 2018 reduziert hat. Fallbeispiel: 30 Stunden bei voller Entlohnung Während die Gewerkschaft noch für eine 35-Stunden-Woche lobbyiert, hat die oberösterreichische OnlineMarketing-Agentur eMagnetix einen weit radikaleren Schritt gewagt – die 30-Stundenwoche bei vollem Gehalt. Das Ziel der Arbeitszeitreduzierung war es, die Attraktivität als Arbeitgeber und die MitarbeiterInnen-Zufriedenheit zu erhöhen, sagt Klaus Hochreiter, Geschäftsführer von eMagnetix, im SUMO-Interview. Über ein Jahr nach der Einführung der 30-Stunden Woche zeigt sich Hochreiter äußerst zufrieden,
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die BewerberInnenzahl für „Junior“Jobs habe sich verzehnfacht. Die im Jahr 2009 gegründete Online-MarketingAgentur entschied sich, schrittweise die Arbeitszeit für die Angestellten auf 30 Stunden zu reduzieren. Die Agentur mit Hauptsitz in der 4.200 EinwohnerInnen Gemeinde Bad Leonfelden in Oberösterreich hatte bereits 2017 mit einer Testphase für die 30-Stunden-Woche begonnen. Zu den 250 KundInnen von eMagnetix zählen oberösterreichische Großbetriebe wie Engel, Rosenbauer oder voestalpine. Schlussendlich wurde die Arbeitszeitreduzierung schrittweise durchgeführt. Mit 1. Juni 2018 wurde die Arbeitszeit von 38,5 Wochenstunden auf 34 Wochenstunden reduziert. Mit 1. Oktober 2018 erfolgte die dauerhafte Reduzierung auf 30 Wochenstunden bei gleichem Gehalt. Mit der Einführung der 30-Stunden-Woche wurde ein Erlösentgang von 22 Prozent erwartet.
Produktivität erhöht Nach Abzug von diversen produktivitätssteigernden Maßnahmen ging die Arbeitszeitreduktion schließlich mit einem erwarteten Umsatzentgang von maximal 5 Prozent in die Umsetzung. Für die Identifizierung der Maßnahmen wurden zusammen mit den MitarbeiterInnen alle Prozesse im Unternehmen beleuchtet. So entstanden über 100 kleinere und größere Verbesserungsmaßnahmen, um die Produktivität zu erhöhen. Es wurden vor allem Maßnahmen in den Bereichen Digitalisierung und Zeitmanagement umgesetzt. Im Bereich Digitalisierung sei der Fokus auf das gelegt worden, „was die Maschine nicht kann – das Kreative“, sagt der eMagnetix-Chef. Deshalb wurde zum Beispiel ein Wochenbericht automatisiert. Das Ziel beim Zeitmanagement sei es, „unterbrechungsfreie Zeiträume zu schaffen, um effizienteres Arbeiten zu ermöglichen“, sagt der Firmenchef. Daher wird beispielsweise bei der Online-Marketing-Agentur das private Smartphone am Arbeitsplatz nicht verwendet. Geschäftsführer Hochreiter setzt stark auf die Eigenverantwortung seiner MitarbeiterInnen. Auch wenn es eine tägliche Kernarbeitszeit von 5 Stunden bzw. 2 Stunden (am Freitag) gibt, sind die Gleitzeitregelungen sehr flexibel. Die Testphase der 30-StundenWoche erfolgte mit Fixarbeitszeiten. Aufgrund des Feedbacks der MitarbeiterInnen wurde diese jedoch wieder gestrichen.
und wird es auch in Zukunft nicht geben.“ Für den eMagnetix Geschäftsführer ist die 30-Stunden-Woche die ideale Arbeitsform für seine Branche und sein Geschäftsmodell. Jedes Unternehmen müsse jedoch selbst entscheiden, welche Anreize für die ArbeitnehmerInnen sinnvoll sind. Wie sieht Hochreiter als Pionier der 30-Stunden-Woche den Arbeitsmarkt der Zukunft? „Das Problem mit dem Fachkräftemangel haben alle, vor allem kleine Unternehmen, die nicht so bekannt sind. Wer sich keine einzigartige und nachhaltige Strategie überlegt, bleibt wahrscheinlich auf der Strecke. Mit einem Obstkorb punktet man sicher nicht mehr.“
von Julia Kindermann, Eva-Maria Milgotin, Viktoria Scheibböck und Madeleine Serlath / Studierende des FH St. Pölten Master Studiengangs Wirtschafts- und Finanzkommunikation
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Keine Preiserhöhung Als kleine Herausforderung im Zusammenhang mit der Einführung der 30-Stunden-Woche nennt der eMagnetix-Chef die anfängliche Unsicherheit einiger weniger KundInnen. Irrtümlicherweise glaubten diese, die Arbeitszeitreduzierung würde zu einer Preiserhöhung führen. Dieses Missver-
ständnis konnte jedoch geklärt werden und die Firma verlor keine KundInnen aufgrund der Einführung der 30-Stunden-Woche. Mittlerweile würden die KundInnen sogar von einer gestiegenen Qualität der Arbeit und Betreuung berichten. Die Frage, ob der 12-Stunden-Tag, Home Office oder Desk-Sharing im Unternehmen praktiziert wird, verneint Hochreiter. Warum der 12-Stunden-Tag von niemandem im Unternehmen genutzt wird, begründet der Firmenchef damit, dass „man im kreativen Bereich nur zwischen 5 und 6 Stunden pro Tag produktiv arbeiten kann“. Zum Thema Home Office meint er, dass die Zeit außerhalb der Arbeit zur Erholung dienen soll. In Ausnahmefällen und Notfällen kann immer die Möglichkeit von Home Office genutzt werden, ergänzt Hochreiter. Auch Desk-Sharing sieht Hochreiter kritisch: „Der Trend geht weg vom Desk-Sharing. Bei uns gibt es das nicht
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Hackathons – die Zukunft zum Thema SUMO sprach mit dem Organisator der heuer erstmals stattgefundenen „Infineon Hackathons“, Rafael Gattringer, sowie mit der Initiatorin und Managerin des Open Innovation Community Building-Formats „Industry Meets Makers“, Sandra Stromberger, und ging dabei einem InnovationsEvent auf den Grund, das in einem unkonventionellen Rahmen unkonventionellen Ideen Platz gibt. Steht der Ursprung auch nicht eindeutig fest, so gilt trotzdem gemeinhin die „JavaOne conference“ von 15.-19.6.1999 unter der Leitung von John Gage als der erste offizielle Hackathon. Die Bezeichnung selbst ist ein Kofferwort, welches sich aus Hack und Marathon zusammensetzt, wobei Hack jedoch hier nicht mit illegalen Cyber-Aktivitäten in Verbindung gebracht werden sollte. Gerard Briscoe und Catherine Mulligan beschreiben Hackathons in ihrer Fachpublikation „Digital Innovation: The Hackathon Phenomenon“ (2014) als ein Event, bei dem Computer-ProgrammiererInnen und Software-EntwicklerInnen innerhalb eines kurzen Zeitraums gemeinsam und intensiv an Software-Projekten arbeiten. Hard-
Rafael Gattringer
Sandra Stromberger
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ware ist jedoch nicht ausgeschlossen, da die Themenstellungen der einzelnen Events stark variieren können. TeilnehmerInnen arbeiten, im Allgemeinen zwischen 24 und 48 Stunden, nämlich sowohl an Blockchain und Internet of Things, als auch an Ideen zu sauberer Luft und Tourismus. Somit hielten in der Folge auch nicht technik-affine Leute Einzug. Grundsätzlich, so berichtete Hackathon-Organisator Rafael Gattringer im SUMO-Gespräch, handle es sich bei den TeilnehmerInnen um „proaktive, engagierte Leute, die in ihrer Freizeit gerne an kniffligen Aufgaben arbeiten“. Die partizipierende Altersgruppe variiere. Nur beim Geschlecht bestehe, so Sandra Stromberger, im Allgemeinen ein
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sehr hoher Männerüberhang, auf Experten- wie Entwicklerseite. Die Organisatorin des „Future Tech Bootcamps“, ein Sonderevent, das heuer erstmalig neben dem Kernformat „Industry Meets Makers“ stattfand, sieht das Problem historisch bedingt und findet, es müsse noch sehr viel Bewusstseinsund Aufklärungsarbeit im Technik-Sektor geleistet werden. So überrascht es nicht, wenn Gattringer erwähnt, dass nur zehn Prozent der 44 TeilnehmerInnen beim „Infineon Hackathon“ im Rahmen des Innovationskongresses Villach weiblich gewesen wären. Was man zu beachten hat Innovation ist ein fester Bestandteil im Vokabular zukunftsorientierter Menschen. Steve Jobs bezeichnete sie einst als den Unterschied zwischen AnführerInnen und Followern. Ein Event, welches nun eben diese Erneuerung zum Thema hat, muss in der Lage sein, die passende Plattform bieten zu können. Eine Plattform, der ein großer organisatorischer Aufwand zu Grunde liegt. Für Rafael Gattringer ist hierbei einerseits das Bereitstellen der notwendigen Infrastruktur, unter anderem banal erscheinende Dinge wie Sesseln mit Armlehnen und eine ausreichende Stromverkabelung, andererseits der persönliche Kontakt mit den TeilnehmerInnen entscheidend. Diese hätten nämlich schon im Vorfeld einige Fragen hauptsächlich organisatorischer Natur, die somit einfach zu beantworten seien. Von diesem Mehraufwand im Vorfeld profitiere allerdings das Event, da so bereits im Zuge der Vorbereitung ein Gemeinschaftsgefühl entstehe. Je nach Themenstellung sei das Schaffen von Arbeitsplätzen, an denen Werkzeuge wie Löt- oder elektronische Messegeräte problemlos bedient werden können, zusätzlich zu beachten, wie auch unliebsame Interaktionen mit HauptveranstaltungsbesucherInnen, die den Hackathon-TeilnehmerInnen während ihrer Entwicklungsphasen das Essen wegessen. Diese Expertisen beruhen auf den Erfahrungen, die Gattringer aus mittlerweile zwei Hackathons ziehen konnte, die alleine im Namen des börsennotierten Halbleiterherstellers Infineon stattfanden. Allerdings ist Ko-Organisation, wie beim „Future Tech Bootcamp“, auch eine Möglichkeit. Sandra Stromberger berichtet, dass die Fachhochschule St. Pölten sich hier als Veranstaltungsort angeboten habe, und durch das Sponsoring der Industriellenvereinigung Niederösterreich sei es überhaupt erst möglich gewesen, den die EntwicklerInnen unterstützenden externen ExpertInnen ein Honorar zu zahlen. Es sei ein Experiment gewe-
sen und erst vier Wochen vorher in Planung gegangen und daher überrascht die Aussage „Ich war mir gar nicht sicher, ob wir das überhaupt schaffen, so ein viertägiges Ding auf die Beine zu stellen“ nicht weiters. Es zeigt vielmehr, dass vor Technik und Innovation immer noch der Mensch steht. Außerdem, wie wichtig gute Vernetzung innerhalb der eigenen Branche ist. Für Leute ohne ein Milliarden-Unternehmen im Hintergrund oder ein weitläufiges Netzwerk in der Branche stehen zahlreiche Ratgeber im Internet, wie etwa von Joshua Tauberer, zur Verfügung, die die Möglichkeit bieten, selbst erste Erfahrungen im Innovationsbereich zu machen. Hierbei stehen für den amerikanischen Software-Entwickler und mehrfachen HackathonOrganisator aus Washington DC neben dem passenden Ort und Zeitpunkt aber auch Aspekte wie Neulinge willkommen heißen und eine positive Atmosphäre im Fokus. Letzteres ist auch für Sandra Stromberger von großer Relevanz: „Dieses Format lebt total von der Motivation, vom Spirit und auch von der Gruppendynamik“. Das Warum Worin liegt also der Sinn, zu entwickeln bis die Köpfe rauchen und worin, dem ganzen auch noch eine Bühne zu bieten? Nun, Rafael Gattringer erkennt hier aus Sicht der Wirtschaft einen Nutzen, der sich nicht in einem ökonomischen Return im Folgejahr äußert. Jedoch einerseits im Wissen, überhaupt im Stande zu sein, solch eine Veranstaltung auch ohne externe Partner organisieren zu können, andererseits in Early Product Feedback. Laut Gattringer bedeute das, im Zuge der Bereitstellung gewisser Produkte wichtige Rückmeldungen zu erhalten, durch die die Produkte optimiert werden können. Weiters seien eigene MitarbeiterInnen hier in der Lage, abseits des Büroalltags ungestört zu arbeiten. Ebenfalls steige der Wert der Marke, da man durch das Event ein gutes Branding erhalte. Rein aus Imagegründen mache das jedoch keinen Sinn, da TeilnehmerInnen sonst eventuell nie wieder partizipieren könnten. Eben diese berichten auf Blogs über ihre Erfahrungen und finden im Versprechen der Weiterentwicklung ihrer Selbst und dem Aufeinandertreffen von Leuten mit verschiedenen Hintergründen und doch gleichen Leidenschaften das Warum, ein Wochenende gemeinsamen an den Ideen und Problemen von morgen zu tüfteln.
von Paul Jelenik
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› wurde in den Schuljahren 2018/19 oder 2019/20 an einer niederösterreichischen Schule verfasst und erfolgreich abgeschlossen › wurde mit „gut“ oder „sehr gut“ beurteilt
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Quo vadis, Teletest? Die Zukunft der Fernsehreichweitenmessung Während die Börse erst um 8 Uhr aufsperrt, ändern sich die Wechselkurse in der Fernsehwelt täglich gegen 3 Uhr morgens. Auf Grundlage der dann veröffentlichten Teletest-Daten werden mehr als eine Milliarde Euro Werbegelder an die heimischen TV-Sender ausgegeben. Wie zuverlässig ist dieses System und welche Kritik bzw. Verbesserungsvorschläge gibt es? Dazu hat SUMO mit Karl Amon, Peter Lammerhuber und Florian Mahrl gesprochen. Im Jahr 2019 repräsentierten 1.652 ausgewählte Fernsehhaushalte mit 3.252 BewohnerInnen die TV-Gewohnheiten von 7.504.000 erwachsenen ÖsterreicherInnen in Haushalten mit Fernsehgerät. Die aufgezeichneten Daten der linearen und non-linearen Sehgewohnheiten sind die grundlegende Basis für die Verteilung der Fernsehwerbegelder, die laut „Focus Werbebilanz 2018“ fast 1,2 Milliarden Euro betrugen. Obwohl das Messverfahren der „Aktionsgemeinschaft Teletest“ (AGTT) seit vielen Jahren gemeinsam mit dem Marktforschungsinstitut „Gesellschaft für Konsumforschung“ (GfK) durchgeführt wird, gibt es Zweifel an der Validität der erhobenen Daten und Kritik an der Messmethode.
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„Vorsintflutliches Messinstrument“ Von Seiten einiger ProgrammanbieterInnen gibt es Kritik an der Zeitmäßigkeit und Genauigkeit des Teletests. Vor allem, dass zu Zeiten, an denen wenig ferngesehen wird einige wenige Leute große Unterschiede ausmachen und einige Sendungen mit null Prozent Reichweite gelistet werden, was unrealistisch sei. Ebenso wurde der Teletest als vorsintflutliches Instrument, das die 1980er Jahre messe und Äpfel mit Birnen vergleiche, bezeichnet. Außerdem beklagen KritikerInnen, dass weder die Fernsehrezeption über Mobilgeräte noch das Besuchen von Sportbars gemessen wird. Laut Peter Lammerhuber, Chairman Of
The Board bei GroupM Austria, müsse bei einer Erweiterung des Panels (Anm.: die an Tests fixe Teilnehmergruppe) immer eine Kosten-Nutzen-Relation abgewogen werden. Wenn man das Panel vergrößere, aber jahreszeituntypische Wetterverhältnisse herrschen, wie ein sommerlicher Oktober, dann gingen die Leute zum Heurigen anstatt fernzusehen und dann nütze die Vergrößerung nichts. Grundsätzlich sei ein höheres Panel aber immer aussagekräftiger, das sei eine No-Na-Frage. Aber Telemetrie sei teuer. Würde von den Sendern mehr eingezahlt, könnten die Panels erhöht werden. Denn wie Lammerhuber ebenfalls klarstellt, sei es schwierig, geeignete PanelteilnehmerInnen zu finden und sie motivieren mitzumachen, vor allem bei sozial höhergestellten Haushalten. Außerdem müssten genug Leute aus den einzelnen Bundesländern, aus großen und kleinen Städten und Regionen gefunden werden. Karl Amon, Geschäftsführer von Mediatest, ist der Ansicht, dass der Teletest nicht vorsintflutlich, aber verbesserungsfähig sei. Der Radiotest dagegen sei anachronistisch, weil nur viertel- bis halbjährlich Daten veröffentlicht würden und daher stark verbesserungsfähig. Den Vorwurf, dass der Teletest zu wenige TeilnehmerInnen hätte, sieht er nicht erfüllt. Eine für einen Markt aussagekräftige Gesamterhebung benötige höchstens 5.000 Testpersonen, egal ob der Markt Österreich sei oder
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Karl Amon
Peter Lammerhuber
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zehnmal so groß wie Deutschland und stützt sich dabei auf Belege des SORAInstituts. Somit wäre der Teletest in dem Panel-Bereich, der für eine präzise Erhebung nötig ist.
das Audiosignal mit, welches von einer Applikation in der Messuhr entschlüsselt wird. Daraus resultiert der Nachteil, dass die Rundfunkanstalten einen Encoder in ihre Sendeanlagen einbauen müssten, was nicht bei allen der Fall sei. Auf der anderen Seite gibt es das Matching-Verfahren, welches laut Amon mit dem Abgleich von Fingerabdrücken verglichen werden könne. Eine App in der Uhr misst das eingefangene Signal, vergleicht es in Sekundenschnelle mit dem Gesamtprogramm eines jeweiligen Landes und kann somit das gesendete Fernseh- oder Radioprogramm zuordnen. Durch dieses Livesignal können Sendungsverantwortliche sehen, wie gut eine Sendung performt, noch bevor sie vorbei ist. Das könne helfen, das Programm schneller an die ZuseherInnen-Interessen anzupassen. Das Matching-Verfahren, so Amon, sei im Vergleich zum Marking-Verfahren das bessere. Generell sei die Messvariante von Mediatest wesentlich besser zum Datensammeln geeignet und noch dazu preiswerter als der Teletest. Ein kleines Problem gebe es derzeit nur mit KopfhörernutzerInnen. Testpersonen müssten manuell angeben, wenn sie dies täten. Dies sei der einzige Fall, bei dem Testpersonen gezwungen wären, die reine Passivität der Fernsehnutzung zu verlassen, TV einschalten ausgenommen, und eine aktive Handlung zu setzen. Aber auch diese Aktivität solle zukünftig passiv gelöst werden können. Derzeit kommen die Mediatest-Messuhren nur in Tests zum Einsatz. Bislang gab es drei Feldphasen. Während dieser Phasen wurden unterschiedliche Belohnungen ausgegeben. Es hatte keine Auswirkung auf die Verlässlichkeit der ProbandInnen, ob diese keine Incentives, eine Sachentlohnung oder 30 bzw. 60 Euro erhielten. Auch die international übliche Drop-out-Quote von zehn Prozent während der Testphase blieb in allen Phasen gleich. Während des Gesprächs mit Karl Amon (Mitte November 2019) fand die vierte Testphase in einigen Regionen statt. Er betont jedoch, dass sich ein technisch sehr ähnliches
Wie manipulierbar ist der Teletest? Ein Schweizer Journalist des Portals „Medienwoche“, der zufällig für die schweizerische Fernsehreichweitenmessung, die dem Teletest ähnlich ist, ausgewählt wurde, berichtete 2013, wie leicht es sei, die Reichweitenmessung zu manipulieren. Hätte er die Tasten für alle HausbewohnerInnen und Gäste auf der Fernbedienung gedrückt, wäre die Zahl der ZuseherInnen sieben Mal höher. Auch das Phänomen der Sozialen Erwünschtheit trat beim Tester ein, da er sein Fernsehverhalten änderte, weil er wusste, dass man ihm zuordnen konnte, welche Programme er ansah. Außerdem gab er an, sich nicht immer eingeloggt zu haben, oder auch den Knopf für seine Frau gedrückt zu haben, da diese das Programm auch gesehen hätte. Abschließend kam er zu dem Fazit, dass das System Lücken hätte und nur erfasst würde, wer welchen Sender sehe, nicht aber ob diejenige Person wirklich zusieht. Reichweitenmessung mittels Smartwatch Abhilfe für die genannten Probleme könnte eine innovative Messtechnik schaffen, die vom österreichischen Unternehmen „Media Test Research GMBH“ (Mediatest) entwickelt und in ähnlicher Form in Skandinavien und zur Messung der Radioreichweiten in der Schweiz verwendet wird. Der ehemalige ORF-Radiodirektor Karl Amon, Geschäftsführer von Mediatest, erklärt im SUMO-Gespräch die Vorzüge und die Funktionsweise dieser Messemethode. Grundsätzlich erfolgt die Messung mittels einer Uhr (Smartwatch). Darauf aufbauend gibt es zwei Messmethoden: Auf der einen Seite das Marking-Verfahren. Hierbei sendet der Fernseh- oder Radiosender ein unhörbares Codingsignal über
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System in den skandinavischen Ländern seit einigen Jahren bewährt und dort die Währungsmaßstäbe für die dortige Werbewirtschaft verändert hätte. In der Slowakei und Tschechien kommen ähnliche Systeme zum Einsatz, wenn auch nicht flächendeckend. Ebenfalls habe sich die Schweizer Radioreichweitenmessung mittels Kontrolluhr in den vergangenen Jahren deutlich verbessert, so Amon. In Österreich will Mediatest bei der nächsten Neuausschreibung des Teletests um diesen Auftrag rittern. Peter Lammerhuber hat jedoch generelle Bedenken in Bezug auf Matchingverfahren und meint, dass diese grundsätzlich das Problem hätten, dass die Uhr ein Fernsehsignal einfange, aber die RezipientInnen auch in der Küche sein könnten und nichts vom Fernseher mitbekommen. Dem entgegen steht die Argumentation von Karl Amon, dass die Smartwatch erkenne, wie viele Personen vor dem Fernseher sitzen, ohne die Datenschutzbestimmungen zu verletzten. Dafür werden die einzelnen aufgenommenen Tonhüllen mit dem Zentralcomputer verglichen. (Gesprächs-)Inhalte werden nicht wahrgenommen. Für Florian Mahrl, Director Research & Development bei GroupM Austria, ist jedoch die Tatsache ein Problem, dass die Leute dazu gebracht werden müssten, diese Uhr immer zu tragen. Das Ziel von Mediatest sei es, eine vollumfassende Messung für die audiovisuelle Mediennutzung mittels Smartwatch zu erhalten. Zu 90 Prozent sei dies laut Karl Amon bereits gelungen. Unter anderem erkenne die Uhr auch Fernsehen via Computer, Smartphone oder auch welche Musiknummer gerade gespielt wird. Mit den Messuhren gelinge es, in Anlehnung an Wahlhochrechnungen, auf Zehntelprozentpunkte genaue Livezuseherzahlen zu generieren und das nicht nur am Wahlsonntag, sondern immer.
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Selbstmessung bei „Sky“ Der britisch-deutsche Pay-TV-Anbieter ist im Gegensatz dazu einen komplett eigenen Weg gegangen. Da es bei der Messung der TV-Reichweiten zwischen „Sky“ und der deutschen Reichweitenmessung zu Diskrepanzen kam, hat sich das Unterföhringer Unternehmen bereits 2015 dazu entschlossen, seine Reichweiten selbst zu erheben. Der Pay-TVAnbieter nutzt dazu ein Multi-SourceModel. In diesem werden mehrere Panels und Messungen vereint. Mit Hilfe des modularen Messsystems „Sky360“ wird sowohl die lineare, als auch die nonlineare Rezeption der „Sky“-Angebote gemessen. Dadurch werden neben den Fernseh- und On-Demand-Übertragungen auch die Übertragungen in öffentlichen Räumen (Sportbars) ermittelt. Die Nutzungszahlen der Onlineabrufkanäle „Sky Go“ und „Sky Online“ werden mittels Trackingtool von „Adobe“ erfasst. Die lineare Programmenutzung und der „Sky Receiver“ werden über ein von „Kantar Media“ aufgebautes Panel überwacht. Für die Out-of-Home-Datenerhebung wird von „Ipsos“ jährlich ein zweistufiges Verfahren durchgeführt, wobei 4.000 repräsentative Online-TeilnehmerInnen befragt und 1.000 TeilnehmerInnen in Teilstichgruppen wöchentlich befragt werden. Laut der Geschäftsführung werde das tatsächliche Sehverhalten durch die eigene Messung wesentlich genauer abgebildet, wodurch den WerbekundenInnen eine bessere Entscheidungsgrundlage geboten würde. Für Florian Mahrl gilt es jedoch, diese Eigenmessungen kritisch zu hinterfragen, denn die Sender würden immer ihre Highlights und ihre besten Zahlen zeigen, etwa wenn ein Spiel der Champions League Achtungswerte erreiche. Mahrl führt weiter aus, dass bedacht werden müsse, dass ein Jahr 365 Tage hat. Für eine TV-Werbekampagne zähle nicht alleine die Reichweite um 20:15, sondern auch die am Nachmittag. Daher betont Mahrl, dass für WerbevermarkterInnen und WerbekundInnen eine verlässliche Reichweite Tag für Tag wichtig sei. „Media Server“: Ergänzung statt Ersetzung Im Gegensatz zur technischen Messung mittels Teletest-Panels erfolgt die Datenerhebung beim Media Server mittels qualitativer Befragung. Im ersten Teil der Studie werden 15.000 Online- oder Face-to-Face-Interviews abgehalten. Hierbei werden unter anderem Tagesablauf, soziodemografische Daten und die Medienrezeption abgefragt. Im zweiten
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Fernseher als Überwacher? Im SUMO-Interview beschreibt Peter Lammerhuber eine weitere Möglichkeit der Fernsehreichweitenmessung. Red Bull hat mit Samsung auf Basis von dessen Smart-TV-Geräten eine Trackingvariante entwickelt, bei der das Fernsehsignal so gekoppelt ist, dass verfolgt werden kann, welcher Fernsehkanal wie lange von ZuseherInnen gesehen wird. Ein ähnliches System wird auch von A1-Telekom entwickelt. Bei beiden Varianten benötige es jedoch zusätzliche Forschung, um die Soziodemografie der Haushalte zu ermitteln. Beim Teletestpanel werden diese Daten durch das Ein- und Ausloggen mit der Spezialfernbedienung erhoben. Mittels Smart-TV-Messung könnten die personenbezogenen Daten nur über die im Fernseher integrierte Kamera aufge-
nommen werden. Das hätte aber Züge eines Überwachungsstaates und wäre mit der DSGVO nicht vereinbar. Zwischen der AGTT, Red Bull und A1-Telekom gab es bereits Vergleichstests der Smart-TVmit den Teletestdaten. Zur Prime-Time seien die Ergebnisse nahezu deckungsgleich, während in den Randzonen der Fernsehnutzung die Smart-TV-Messungen bessere Ergebnisse liefern würden. Laut Lammerhuber könnte eine Messung mittels Smart-TV, jedoch ohne Kameraüberwachung, nur ein Teil einer neuen Messlösung sein. Denn hier würde weder die Nutzung von Mobilgeräten zum Fernsehen noch das Rezipieren von „YouTube“ und Streaming-Diensten am Computer berücksichtigt. Karl Amon ist der Ansicht, dass an Trackingvarianten wie diesen sehr stark gearbeitet werde, weil die Werbewirtschaft ein großes Interesse daran hätte. Dieses Verfahren sei ein Segment, aber es liefere keine Gesamtabbildung. Zukunftsprognose und Bewertung des Teletest Für Peter Lammerhuber biete der Teletest genauere Annäherungen, während die Modelle, die auf Befragungen basieren eher weichere Annäherungen liefern würden. Generell würden MediaplanerInnen aber keine Annäherung wollen, sondern wissen, wie es wirklich ist. Dennoch betont er, dass Österreich gut aufgestellt sei, vor allem da es ein kleiner Markt ist. In Fernsehmärkten wie den USA wäre eine Panelmessung auf Grund der Größe nicht möglich. Dass der Teletest zum Auslaufmodell wird, werde laut Karl Amon nicht so schnell der Fall sein. Die AGTT-EntscheidungsträgerInnen seien sehr technikaffin und würden parallel zum jetzigen Testverfahren neue Methoden entwickeln und testen. Mittelfristig werde sich das System aber sehr stark ändern. Laut Amons Prognose wird die neue Technik in einem Jahrzehnt die alte ablösen, wobei er hoffe, dass diese Annahme nicht zu optimistisch sei.
von Michael Marsoner
Quo vadis, Teletest? Die Zukunft der Fernsehreichweitenmessung
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Teil werden die Daten aus den Gattungsstudien, wie dem Teletest, mit dem Media Server kombiniert. Die gewonnenen Daten sollen strategische intermediäre Planungen und den Vergleich der in den unterschiedlichen Gattungen erhobenen Ergebnisse ermöglichen. Neben einer Verbindung zwischen den Studien sollen zukünftige Trends im Rezeptionsverhalten erkenntlich werden. Das ambitionierte Projekt hat mittlerweile jedoch zwei wichtige Partner verloren. Aus Kostengründen sind sowohl die Mediaanalyse als auch die Webanalyse (ÖWA) aus dem Verband ausgetreten. Peter Lammerhuber sieht den Media Server als einen Ansatz, aber Umfragen würden immer auf den subjektiven Wahrnehmungen von Personen beruhen und bilden damit nicht die Wirklichkeit ab. Nachfolgend führt er aus, dass sich die Messsysteme an den Medienverkauf anpassen müssten. Wenn das Produkt digital vertrieben wird, dürfe nicht analog gemessen werden. Die Medienforschung sollte daher versuchen, Systeme zu etablieren, welche die digitale Mediennutzung in allen Bereichen vom Fernsehen über das Radio bis zum Gaming abbilden und aufzeichnen. Besser wäre es daher, eine Single Source-Erhebung durchzuführen, bei der die gesamte Mediennutzung einzelner UserInnen erhoben wird: ein Panel, bei der alle rezipierten Medien der Probandengruppe elektronisch gemessen werden können.
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Communication is key – Wie der SprachSchatz dem Journalismus hilft Das Erlernen einer Fremdsprache ist eine Bereicherung, welche sich in vielen unterschiedlichen Ebenen manifestiert. SUMO wollte im Gespräch mit Andreas Heindl, Schulungsverantwortlicher beim ORF, und Hellin Jankowski, „Die Presse“-Redakteurin in den Ressorts Innenpolitik, Gesundheit und Zeitgeschichte, wissen, ob Mehrsprachigkeit in den österreichischen Redaktionen von Bedeutung ist. früh auf den Aufbau von Fremdsprachenkenntnissen. „Englisch habe ich seit der Schulzeit gelernt. Ich bin in ein Gymnasium gegangen, da war das von Anfang an dabei und auch in der Volksschule gab es schon einige Stunden, in denen ein bisschen Englisch gelehrt wurde“, erzählt Jankowski. Sie spricht neben Englisch und ihrer Muttersprache Deutsch auch Französisch und Russisch. Grundkenntnisse hat sie im Italienischen, Polnischen und in Latein. Heindl meine auch eine Veränderung im Gegensatz zu früher zu sehen: „Ich merke das, wenn ich bei den Assessmentcenters mit jungen BewerberInnen zu tun habe und sie erzählen, wie
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Sprache ist immer sehr eng mit der Kultur eines Landes verbunden und in einer gewissen Weise auch ein Abbild einer Person durch die Färbung von persönlichen Erfahrungen, Erziehung und eigenen Wertvorstellungen. Der Journalismus bedient sich der Sprache, um one-to-many Botschaften kommunizieren zu können. Durch die Globalisierung wurden Fremdsprachenkenntnisse immer wichtiger. Um auch international agieren zu können, ist die Mehrsprachigkeit, also die Fähigkeit drei oder mehr Sprachen sprechen zu können, am Arbeitsmarkt eine immer gefragtere Kompetenz. Das österreichische Bildungssystem setzt daher schon
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viele Sprachen sie fließend sprechen und in wie vielen sie die Grundkenntnisse habe. Das ist bewundernswert!“ Mittlerweile können Englischkenntnisse auf unterschiedlichen Niveaus und die Grundkenntnis in einer weiteren Fremdsprache durch den Erwerb einer Matura vorausgesetzt werden. Н а с кол ь ко мн огоязы ч н ы а вс т р и й с кие ред акции? „Das ist schwer zu sagen, weil die Redaktionen auch so unterschiedlich sind. Ich bin mir sicher, dass bei uns im aktuellen Dienst im Fernsehen und Radio eine sehr hohe Mehrsprachigkeit besteht, weil die meisten RedakteurInnen auch alleine durch ihr Studium oft mehr als zwei Fremdsprachen beherrschen.“ Dies gelte auch für die Landesstudios, da auch hier Interviews (etwa mit TouristInnen, MigrantInnen, SportlerInnen) fremdsprachig geführt würden. Insbesondere jedoch seien ab einer internationalen Berichterstattung weitere Sprachkenntnisse vonnöten, abseits von den redaktionellen Jobs finde im ORF fast ausschließlich die deutsche Sprache Verwendung. Laut Heindl seien zwischen Radio und Fernsehen in Bezug auf die Mehrsprachigkeit keine merklichen Unterschiede zu verzeichnen. Die Redaktion der „Presse“ ist gezeichnet von hoher Mehrsprachigkeit. „Wir sind sprachlich glücklicherweise sehr breit aufgestellt. Im Außenpolitik-Ressort gibt es freilich niemanden, der keine Fremdsprachen spricht, aber auch alle anderen Ressorts sind sprachaffin – man hört also weit mehr als nur Deutsch und Englisch.“ Ob in der Redaktion jede/r über die Sprachkenntnisse des/r anderen Bescheid wisse? „Wir arbeiten in einem Großraumbüro, das heißt, zum einen bekommt man mit, wer welche Sprache kann, zum anderen findet man es sehr rasch und unkompliziert heraus – durch lautes Fragen oder per E-Mail.“ Auch beim ORF werden die Sprachkenntnisse nicht mehr erhoben, da unter anderem die DSGVO vorschreibe, nur die Daten, die einen Nutzen stiften zu erheben, und da zurzeit kein laufendes Mehrsprachigkeitsprojekt durchgeführt werde, bestehe keine Notwendigkeit dafür. Die Sprachkenntnisse können jedoch indirekt durch die ausgeschriebenen Anforderungen einer Position abgeleitet werden. Dabei werde jedoch nur die Mindestanforderung beachtet und es können keine Schlüsse auf eine zusätzliche Sprachvielfalt geschlossen werden. Laut Heindl wurde die letzte Kompetenzerhebung, welche auch die Fremdsprachenkenntnisse in-
kludierte, 2003/04 im Zuge von Mitarbeitergesprächen durchgeführt. „Damals war das insofern sehr hilfreich, als die Fußballeuropameisterschaft in Österreich [2008] stattgefunden hat. Da haben wir, um die Verkehrsströme gut leiten zu können in der Verkehrsredaktion bei Ö3 die Verkehrsansagen in verschiedenen Sprachen durchgegeben. Da war es dann hilfreich zu wissen, wer in Österreich bei uns im ORF welche Sprache spricht, ohne dass Unsummen an Kosten entstehen.“ Bis dato wird die Mehrsprachigkeit also weder intern noch extern durch Studien erfasst, somit kann die Sprachvielfalt innerhalb der Redaktionen nur durch subjektive Eindrücke festgestellt werden. El plurilingüismo como competencia adicional en el proceso de selección „Mehrsprachigkeit ist im Journalismus immer von Vorteil. Es gibt kaum eine Zeitung, die sich nur mit ‚österreichischen’ Themen auf Deutsch beschäftigt. Wir haben ja im Land auch eine Sprachvielfalt, das heißt allein um die abdecken zu können ist es gut, wenn man die Fremdsprachen kann, ganz zu schweigen von den außenpolitischen Themen, die uns ja beeinflussen. Also ich glaube, es wäre viel zu engstirnig zu sagen, wir sind in Österreich und sprechen Deutsch und damit hat es sich“, sagt Jankowski. Ihre Vorgesetzen würden bereits im Bewerbungsprozess jede Mehrsprachigkeit als Vorteil anerkennen – bereits aus einer ökonomischen Perspektive. Heindl meint, dass dadurch vor allem Kosten gespart werden können, insbesondere wenn eine Person durch Fremdsprachenkenntnisse ohne eine/n Dolmetscher/ in arbeiten könne. Aber auch in der Recherche helfen Sprachkenntnisse. Laut Jankowski könne die Bandbreite an Studien und anderen Texten durch eine Mehrsprachigkeit vergrößert werden. Des Weiteren können Fachvokabular und Fremdwörter einfach aus anderen Sprachen abgeleitet und – der wahrscheinlich wichtigste Faktor – Informationen der jeweiligen Landesmedien wesentlich schneller übernommen und übersetzt ausgespielt werden. Ein weiterer Punkt sei auch das Führen von Interviews in der Muttersprache des/ der Interviewten, welches ein Gespräch auf einer ganz anderen Ebene ermögliche: „Da erfahre ich andere Sachen als in einer für beide möglicherweise fremden Sprache. Wenn ich diese feinen Nuancen und kulturelle Unterschiede wahrnehmen kann, da habe ich ganz andere Möglichkeiten darüber zu schreiben oder zu berichten“, stellt auch Heindl fest.
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wahl, denn an dessen/deren Bedürfnisse werde die Sprache in der Programmgestaltung angepasst und entschieden, ob die bundesdeutsche Sprache oder der Dialekt Anwendung finde. Während Österreichisch als Sprache noch diskutiert wird, besteht kein Zweifel, dass Migration eine gewisse Mehrsprachigkeit in vielen Fällen mit sich bringt. Weltweit werden mehr migrantische JournalistInnen gefordert, um auch der Demografie eines Landes gerecht zu werden und einen Bubble Journalism zu umgehen. Auch im ORF-Public Value-Bericht aus 2017/18 zeigt Čedomira Schlapper diese Lücke auf. Heindl ist klar: „Ich halte Diversität grundsätzlich für wichtig und gut und man sollte sich diesem Thema nicht verschließen. Insofern ja, es braucht mehr Diversität in der österreichischen Medienlandschaft.“ Für eine Anstellung im ORF sollen Herkunft und Muttersprache keine Rolle spielen, die einzige Barriere sei das Assessmentcenter und der damit verbundene Mikrofontest. Dieser könne eine Schwierigkeit für jene darstellen, die eine nur mit viel Aufwand behebbare schlampige Aussprache, eine dialektale Färbung oder bundesdeutschen Akzent mitbringen und das störungsfreie Zuhören behindern.
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Red ma drüber mitanand Jede erlernte Sprache ist ein persönlicher Gewinn und ein wohlbehüteter Schatz. Dennoch gibt es Trendsprachen. Heindl betont die Wichtigkeit von Englisch und Französisch in der European Broadcasting Union (EBU). Auch die deutsche Sprache gewinne im allgemeinem in Europa immer mehr an Bedeutung aufgrund der Wichtigkeit des deutschsprachigen Raumes. Jankowski konstatiert, dass speziell in der Außenpolitik Chinesisch, Türkisch und Arabisch von höher werdender Bedeutung seien. Im Bezug auf die Sprachentwicklung wird auch das Österreichisch sehr kontrovers diskutiert. Heindl erinnert sich noch gut an eine Tagung in Zusammenarbeit mit dem ORF-Public Value-Kompetenzzentrum 2015/16 zu diesem Thema. „Das ist eine Definitionssache. Da gibt es zwischen den WissenschaftlerInnen unterschiedliche Auffassungen. Die einen sehen Österreichisch als eine eigene Sprache, die anderen als eine Sprachvarietät des Deutschen.“ Heindl ist der Meinung, dass die Definition müßig sei, denn das Österreichisch allein sei so divers in den unterschiedlichen Regionen und im Grunde zähle letztendlich nur das störungsfreie Reden. Schlussendlich entscheide der/die Rezipient/in über die angewendete Betonung und die Wort-
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Soft-Skills - Yabanci dilin dolayli anlatimlari „Das Erlernen einer Sprache ist eine Auseinandersetzung mit einer anderen Kultur. Und die Auseinandersetzung mit einer anderen Kultur verändert auch den Blick auf die eigene Kultur und schafft so auch die Relativierung einer kulturegozentrischen Perspektive“, beteuert Heindl. Auch Jankowski ist sich sicher, dass durch Fremdsprachen Soft Skills trainiert werden: Kulturspezifische Verhaltensweisen würden schließlich mitgelernt, wodurch es möglich sei, in vielen Dingen sensibler und empathischer zu agieren. „Mehrsprachigkeit hat mehrere Funktionen: Ich tue mir leichter, andere zu verstehen und mich bei anderen verständlich zu machen. Beides ist in einem kommunikativen Akt notwendig“, unterstreicht Heindl. Jankowski meint auch: „Streng genommen kommt man nur mit Deutsch und ohne Fremdsprachen durch, ob Sie das möchten, ist eine Frage Ihres Anspruchs. Sie haben natürlich mehr GesprächspartnerInnen, mehr Quellen, mehr Recherchemöglichkeiten, wenn Sie andere Sprachen miteinbeziehen. Sprachkenntnisse verändern den Blick auf andere Länder und Kulturen und schaffen ein besseres Verständnis dafür.“ Und hebt dadurch in aller Kürze die mehrdimensionale Bereicherung einer Fremdsprachenkenntnis hervor. Mnohojazyčná média Fremdsprachigkeit wird also in der Recherche angewendet – die Publikumsansprache gleichwohl bleibt Deutsch. Ein rares Gegenbeispiel in größerer Reichweite hierfür ist Radiosender FM4, welcher bilingual geführt ist und in den ORF-Public Value-Berichten daher als Paradebeispiel für Vielfalt angeführt wird. „FM4 ist ein besonderes Beispiel, weil dort in den Grundfesten die Mehrsprachigkeit eingemauert ist. Der Sender lebt von der diversen Kultur und das ist das Markenzeichen“, so Heindl. Als weitere Beispiele für multikulturelle und mehrsprachige Diversität beim ORF nennt Heindl das Sendungsformat „Heimat Fremde Heimat“ oder auch den ehemaligen Sender „Radio Österreich International“, denn obwohl dieser Radiosender nicht mehr existiert, seien viele der damaligen MitarbeiterInnen in anderen Redaktionen noch heute beim ORF beschäftigt. Im Bereich der Printmedien findet Bilingualität in Österreich bloß im Bereich der Ethnomedien statt. Würde eine mehrsprachige Tageszeitung am österreichischen Markt überhaupt funktionieren? „Spannend wäre es auf jeden Fall, und es kommt sicher darauf an,
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Andreas Heindl Copyright: ORF
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lich für Ihre Zielgruppe aufzubereiten. Der Journalismus 3.0 beschäftigt sich mit immer größeren Datenmengen und neuen Techniken in der Aufbereitung, aber es darf nicht vergessen werden, dass erst die Sprache eine Auswertung und Erfassung ermöglicht. Digitale Simultanübersetzer sind die große Konkurrenz der Fremdsprachen, doch können sie die sozial-kulturelle Komponente, die durch einen Spracherwerb erlernt wird, noch nicht bedienen. Journalismus 3.0 kann für vieles stehen und vielleicht auch für eine Veränderung der Sprache im Journalismus. Eine andere Herangehensweise und eine diverse Sprachkultur sind eine Zukunftsvision. Ein Journalismus von allen für alle, der keine Grenzen kennt, sich öffnet und dabei neu definiert.
welche Sprachen man sich aussucht. Das wäre für viele ZeitungsleserInnen sicher ungewohnt, weil die AbonnentInnen einer Tageszeitung meistens eher älter sind. Aber ich könnte mir durchaus vorstellen, dass das ankommen könnte und dass das wahrscheinlich eine Möglichkeit wäre, vielleicht Jüngere auch zum Zeitungsabo zu bewegen“, glaubt Jankowski. Es wäre auf jeden Fall eine Möglichkeit, das Marktpotenzial zu vergrößern, denn Jankowski meint, dass durch die Publikation auf Deutsch der Vertriebsraum abgesteckt sei durch den DACH-Raum. Jedoch sei der Spielraum im Vergleich zu beispielsweise skandinavischen Ländern durch die Publikationssprache Deutsch ohnehin schon relativ groß. Daher könne auch die Notwendigkeit von Fremdsprachenkenntnissen speziell in der Recherche in jenen Ländern größer sein als in solchen, deren Landessprache die Weltsprache Englisch sei.
von Magdalena Bauer
Die Anwendung der Mehrsprachigkeit findet mehrheitlich im Hintergrund statt und somit vorbei an den Augen der außenstehenden RezipientInnen. Medienunternehmen haben die Vorteile einer Mehrsprachigkeit erkannt und versuchen sich sprachlich divers aufzustellen, um den Content bestmög-
Mobiles bezahlen. So, wie Sie es wollen.
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Virtual Reality Journalismus – eine betretbare Nische Mit Virtual Reality-Reportagen und 360°-Videos ist das Publikum in der Lage, mittendrin statt nur dabei zu sein – die Nachrichten werden real und wir tauchen in eine neue Dimension der Berichterstattung ein. SUMO sprach dazu mit dem österreichischen Präsidenten der VR/AR Association, CEO & Gründer von e.com, Michael Schöggl, sowie mit Siegfried Steinlechner, Redakteur und Projektleiter für digitale Medien im Kulturbereich vom ORF. Ein ganz normaler warmer SommerNachmittag 2016 in Fallujah. Die Sonne strahlt und ein leichter Wind weht durch die leblosen Straßen. Ein schäbiges altes Haus – inmitten der Wände klaffen einige Löcher. Ein schwarz gekleideter Iraker ist umgeben von vier angespannten Männern in Militärausrüstung. Er liegt auf einem roten Teppich mit goldenen Akzenten und in seiner Hand ein geladenes Sniper-Gewehr. Langsam und vorsichtig zielt er durch eines der Löcher in die Ferne. Plötzlich ein lauter Knall. Etwa 2.800 Kilometer Luftlinie trennen Wien von Fallujah. Mit dem Flugzeug braucht man für die Strecke knapp acht Stunden. Setzt man sich eine Virtual Reality-Brille auf, dauert es nur wenige Sekunden, bis man sich im irakischen Kriegsgebiet wiederfindet. Dieses preisgekrönte Projekt der „New York Times“ zeigt irakische Streitkräfte, als sie vordrangen, um die Stadt vom „Islamischen Staat“ (IS) zurückzuerobern.
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VR: ein neuer Weg Wir haben uns daran gewöhnt, News und Hintergründe jederzeit und in verschiedenen Formaten zu rezipieren. Text, angereichert mit Grafik, Fotos, Video und Ton. War es das? Mitnichten. Mit Virtual Reality tauchen die RezipientInnen direkt in die Stories ein. Virtual Reality (VR) lässt sich grundsätzlich in allen Bereichen einsetzen, wo mittels 3D und in Folge somit auch in VR etwas visualisiert werden kann, so Schöggl. Laut Steinlechner ist VR in einer in allen Lebensbereichen digitali-
sierten Welt ein möglicher Schritt, den man gehen könne, aber nicht gehen müsse. Bisher ist die Technik vorrangig aus dem Entertainment- und GamingBereich bekannt und wird in erster Linie mit Computerspielen zur Unterhaltung assoziiert. Auch in der Werbung kam die Technologie bereits zum Einsatz, um KundInnen ein immersives, also „eintauchendes“ Markenerlebnis zu bieten. Im Journalismus haben bereits einige Medienhäuser mit VR experimentiert, und tun es teilweise immer noch. Während in den USA und in Kanada einige Dokus und Spielfilme in VR realisiert wurden, könne sie auch für Reportagen und Magazinbeiträge verwendet werden, wobei es sich für Kurzformate besser eigne, so Steinlechner. Dabei sei VR-Berichterstattung keineswegs eine rein technische Umstellung, sondern auch JournalistInnen müssen neue Erzählweisen erfinden. Da sich der/die Zuseher/in mitten im Ereignis befindet, muss auch sein/ihr Blick anders geleitet werden und das Storytelling sich verändern. Die JournalistInnen können die AnwenderInnen an digitalen Welten nicht nur teilhaben lassen, sondern diese mitten hineinziehen. Das eröffnet bisher ungekannte Formen der Berichterstattung und neue Wege der Informationsvermittlung. Die Ergebnisse einer umfassenden VR-Studie unter dem Titel „Virtual Reality – Utopia oder Dystopia?” (Gallup, 2016) zeigt, dass der Begriff „Virtual Reality“ bereits der Hälfte der ÖsterreicherInnen bekannt ist. Dabei zeigen sich jüngere Menschen durchschnittlich stärker interessiert als ältere.
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Aus der Studie geht zusätzlich hervor, dass 26% gerne Nachrichten und Reportagen virtuell aufbereitet rezipieren würden. 360°-Videos gelten als die Einstiegstechnologie in die virtuelle Realität. Diese haben den klaren Vorteil, dass sie vergleichsweise relativ kostengünstig produziert werden können und zudem auf alltäglichen technischen Geräten wie Laptop oder Smartphone angeschaut werden. Die benötigten Kameras sind zum Teil schon für wenige Hundert Euro erhältlich und die Einbindung auf Plattformen wie „YouTube“, die dann nicht nur auf dem Smartphone oder PC, sondern ebenso mit VR-Brillen betrachtet werden können, ist simpel. Die Unmittelbarkeit zum Geschehen und die durch VR gesteigerte Immersion bilden ein technisches Mittel zu mehr Mitgefühl. Und entgegen häufig geäußerter Bedenken einer zu realistischen und deshalb manipulativen Darstellung, seien die gestreamten 3D-Inhalte und 360-Grad-Ansichten ein zusätzlicher Sicherheitsfaktor für die Glaubwürdigkeit, meint Schöggl. Immersiver Journalismus im virtuellen Wandel Virtual Reality hat seinen Hype zwar erst in diesem Jahrzehnt erlangt, allerdings starteten die ersten Annäherungen bereits in den 1970er Jahren. Der vom US-amerikanischen Schriftsteller und Journalisten Hunter S. Thompson begründete Gonzo-Journalismus („gonzo“ = englisch für exzentrisch) trieb die ursprüngliche Idee des teilhabenden Journalismus auf ein neues Level – beziehungsweise pervertierte sie regelrecht. Es stand nun nicht mehr das eigentliche Ereignis oder Thema im Mittelpunkt der Reportage, sondern
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das übertrieben dargestellte subjektive Erleben des Journalisten, wobei die Grenze zwischen Fakt und Fiktion oftmals fließend war. Heute, fast fünfzig Jahre später, wurde der Begriff des Immersiven Journalismus schon längst technisiert und auf virtuelle Welten übertragen, wodurch er schließlich einen Wandel erfuhr und als Virtual Reality-Journalismus bezeichnet wurde. Abgesehen von der Namensänderung, transformierte sich auch die Rolle des bzw. der Rezipienten/in. Immersion war nun nicht mehr länger nur ein spezieller Schreibstil, sondern zielt danach, den/ die bislang passive/n Leser/in in den Fokus zu rücken. Die RezipientInnen tauchen dabei selbst in das Geschehen ein, sie laufen in den Realitäten umher, verändern ihre Perspektive und teilweise verwandeln sie sich in der virtuellen Realität zu ProtagonistInnen, die mit Personen innerhalb des Erzählten interagieren. Die Unmittelbarkeit öffnet eine völlig neue Perspektive und mit ihr auch eine emotionale Nähe, die uns neu fordert. Im Pressewesen ist diese Art der Berichterstattung mittlerweile eine ebenso akzeptierte Herangehensweise an die journalistische Arbeit, die sich gleichzeitig aber noch immer im Prozess der Ausdifferenzierung befindet. Wie weit ist VR-Journalismus schon gediehen? Auf globaler Ebene sei man auf den Zug von VR im Journalismus aufgestiegen, doch in Österreich habe man es nahezu vollkommen verpasst, sich diesem Trend anzuschließen. „Man hat sich eher darauf verlassen, diesen Rucksack mit digitalem Storytelling packt uns schon irgendjemand, und wenn wir es für richtig halten, können wir den Rucksack nehmen und uns auf die Reise begeben“, meint Steinlechner. Die
Michael Schöggl
Siegfried Steinlechner
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Virtual Reality ist erst der Anfang Obgleich der Einsatz von VR im Journalismus für Medienhäuser mit hohem finanziellen und technischen Aufwand verbunden ist, stellt die Technologie neue Möglichkeiten für das Storytelling dar. Teils sinkende Zeitungsauflagen und dank des Internet zunehmende Alternativen zu etablierten Medien führen zu neuen Herausforderungen, mit neuen Erzählformen und qualitativ hochwertigem Content aus der Masse herauszustechen. Allerdings stelle laut Steinlechner der Einsatz von VR bislang nur experimentellen Charakter und eher eine Ausnahme dar. „Es wird nicht verschwinden, aber es wird in eine Nische rücken“. Zukünftige Projekte werden die Grenzen, möglichen Formate und Erzählweisen erst austesten müssen, bis die Möglichkeiten breite Anwendung fänden. Für Schöggl werde die Einführung von 5G einen großen Sprung in der Technologie ermöglichen, allerdings müsse VR erst den Formfaktor und das Image als großes Hindernis hinter sich lassen. In zwei bis drei Jahren würden wir laut des Experten einen enormen Marktzuwachs erleben, weil bis dahin alle Entwicklungsschritte abgeschlossen sind. Denn erst wenn VR-Brillen ganz ohne Prozessor auskommen, weil das Bild direkt von einem Server gestreamt wird, würden die Brillen dann günstig produzierbar, leicht und handlich sein. Auch die dazugehörige AkkuTechnologie werde ständig verbessert, was zusätzlich das Gewicht reduziere, und es gebe bereits große Fortschritte bei KI-gestützter Objekterkennung, so Schöggl. Weiters ist er davon überzeugt, dass Realismus bzw. Immersion der große Mehrwehrt von VR sei und die NutzerInnen ihre eigene Geschichte schreiben würden. Somit sind die ersten Projekte mit 360°-Videos und interaktiven Reportagen womöglich erst ein Vorgeschmack auf die neue Welt des medialen Storytellings. Journalistische Ethik und klassische Sorgfaltsprinzipien müssten aber natürlich auch im VR-Zeitalter gelten.
von Klaus Ofner
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VR-Geschichten der „New York Times“ und weiterer globaler Medienhäuser werden von preisgekrönten JournalistInnen erzählt und erscheinen in regelmäßigen Abständen. In Deutschland haben mittlerweile auch ZDF, ARTE und die „Süddeutsche Zeitung“ eigene Mediatheken für ihre VR-Aufnahmen angelegt, um ZuseherInnen besondere Geschichten zu erzählen und sie dabei an Orte zu bringen, an die sie ohne die VR-Technologie niemals gelangt wären. Laut Steinlechner hat vor allem ARTE bis vor ein paar Jahren viel Kapital und Manpower in den eigenen VR-Bereich investiert, um große Projekte zu realisieren, allerdings blieb hier die Euphorie aus. Auf nationaler Ebene hat sich auch der ORF neben der „Wiener Zeitung“ dieser Technik bedient und beim Hahnenkamm-Rennen einen Probeläufer mit 360°-Kameras die Piste runtergeschickt. Das Video sorgte im Netz für großes Aufsehen, weshalb man dieses Format auch auf andere Veranstaltungen, wie etwa das Sommernachtskonzert im Schloss Schönbrunn übertragen hat. Statt der klassisch flachen VideoBilder bekommen wir dann eine fotorealistische 3D-Umgebung vom Ort der Geschehnisse und können uns dort in einem gewissen Rahmen frei bewegen, so Schöggl. Allerdings stellt Steinlechner fest, dass sich Virtual Reality in den Medienunternehmen nicht unbedingt durchgesetzt habe, obwohl es je nach medialem „push“ auch relativ gut funktioniert hätte, weil es etwas Neues war. Laut Steinlechner seien viele Medienhäuser erst gar nicht auf den VR-Zug aufgesprungen, sondern arbeiten viel mehr in Richtung Plattformjournalismus, wo sich UserInnen ihre Geschichten zusammenbauen können und VR dabei eine mögliche Rolle spielen könne. Schöggl konstatiert, dass die Technologie für viele journalistische Inhalte keinen Sinn machen würde, etwa wenn über ein Geschehnis berichtet werde, das bereits vorbei ist. Aber überall dort, wo JournalistInnen rechtzeitig vor Ort seien, um Geschehnisse live aufzunehmen und in VR zu übertragen, mache diese Technologie sehr wohl Sinn, weil alles dadurch noch „anschaulicher“ und „begreifbarer“ werde, so Schöggl.
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Creative Commons – Common sense not included Schon länger herrscht in Deutschland sowie in Österreich eine Debatte um die Freigabe öffentlich-rechtlicher Medieninhalte mithilfe von Creative Commons. SUMO hielt Korrespondenz mit Leonhard Dobusch, Universitätsprofessor am Institut für Organisation und Lernen der Universität Innsbruck (Forschungsschwerpunkt: Management digitaler Gemeinschaften und Urheberrechtsregulierung), sowie Gernot Hausar, Historiker (Forschungsschwerpunkt: Informationsaustausch und -transfer) und Freiwilliger bei Creative Commons Austria, um die aktuelle Situation bzw. die Organisation Creative Commons zu beleuchten. Im November 2019 wurde ein offizieller 3D-Scan der Büste von Nofretete, welche im Ägyptischen Museum in Berlin beheimatet ist, unter einer Creative Commons-Lizenz der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Lizenz mit dem Titel „CC BY-NC-SA 4.0“ erlaubt es, den 3D-Scan zu teilen oder auch zu verändern, unter der Voraussetzung, dass das veränderte Material ebenfalls der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Die Veröffentlichung dieses Scans ist ein Sieg nach jahrelanger Debatte mit dem Museum, das sich zuvor geweigert hatte, ihn freizugeben.
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Die Organisation Creative Commons Creative Commons (CC) finden sich inzwischen überall im Internet, etwa auf „Wikipedia“, „Flickr“, „YouTube“ oder via „Google“. Hinter den CC-Lizenzen steht eine gemeinnützige Organisation. Die Organisation Creative Commons wurde im Jahr 2001 in den USA gegründet, und bereits Ende 2002 wurde der erste Satz Lizen-
zen, mithilfe eines Teams aus BildungsexpertInnen, TechnikerInnen, JuristInnen und InvestorInnen, veröffentlicht. Im Jahr 2008 waren bereits ungefähr 130 Millionen Werke unter CC-Lizenz veröffentlicht worden, heute stünden laut Gernot Hausar bereits mehr als eine Milliarde Werke unter einer solchen. Hausar über den Erfolg der Organisation: „Der größte Erfolg war sicherlich der Enthusiasmus, mit dem nationale Teams die Idee aus den USA aufgriffen und für ihre Länder nutzbar machten. Dies war gar nicht so leicht – denn anders als in den USA gibt es in verschiedenen nationalen Rechtsordnungen ganz andere Regeln zum Umgang mit Forschung, Kunst- und Kultur […]. Dass es trotzdem gelungen ist, dies zu ‚übersetzen‘, war sicherlich der größte Erfolg für die CC-Bewegung.“ 2019 startete CC Search, eine Suchmaschine, mit der das Finden von CC-lizensierten Inhalten noch einfacher werden soll. Dabei werden die Inhalte von 20 Partnern wie „Flickr“, Deviant-
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Art oder Museen durchsucht. Laut Hausar wolle man in Zukunft versuchen, noch mehr PartnerInnen für CC Search zu akquirieren, um die potenziellen Suchergebnisse auszuweiten. Im Fokus stünde aber immer noch stark die Community. Lizenzrecht für Anfänger Creative Commons bietet verschiedene Standard-Lizenzverträge. Solche Lizenzen helfen also UrheberInnen, ihr Urheberrecht zu schützen und im selben Zug andere dazu berechtigen, ihre Werke weiterzuverwenden, zu bearbeiten oder zu kopieren. Wie funktioniert das? Eine CC-Lizenz funktioniert nach einem „Dreischichten-Konzept“. Die erste Schicht besteht aus dem eigentlichen Lizenzvertrag. Da aber die meisten BenutzerInnen keine juristischen Texte verstehen, ist dieser Vertrag auch in einem „für Menschen lesbaren“ Format als zweiter Schicht verfasst. Die letzte Schicht besteht aus einer maschinenlesbaren Fassung, die es Softwaresystemen, Suchmaschinen und anderen technischen Tools ermöglicht diese Lizenzen zu lesen. Aus Sicht des Users funktionieren die Lizenzen nach dem Baukastenprinzip. Sie können sich aus vier Modulen zusammensetzen: Namensnennung, Keine Bearbeitung, Weitergabe unter gleichen Bedingungen und Nicht-kommerziell. Daraus ergeben sich sechs Li-
zenzen. Weiters bietet Creative Commons auch eine Lizenz nach der Public Domain (CC0) an, was bedeutet, dass kein Urheberpersönlichkeits- sowie Verwertungsrecht mehr besteht. In Österreich ist die CC0-Lizenz allerdings umstritten und also mit Vorsicht zu genießen. Bei der Nutzung von CC-lizensierten Inhalten ist es wichtig, alle Bestimmungen zu beachten. Hält man diese Bedingungen nur zum Teil oder gar nicht ein, verstößt man gegen das Urheberrecht. Free the Content Eine wichtige Frage, die sich etwa auch Dobusch stellt, lautet: Sollten Inhalte, die mit öffentlichen Geldern finanziert worden sind, nicht auch der Öffentlichkeit frei zu Verfügung stehen? CC-Lizenzen wären eine mögliche Lösung, hier sind sich Dobusch und Hausar einig. Doch wie sieht es aktuell in Österreich mit der Lizenzierung von öffentlich-rechtlichen Inhalten aus? Dobusch schrieb, dass es seines Wissens zurzeit keine vom ORF produzierten oder beauftragten Inhalte gebe, die unter einer freien CC-Lizenz erscheinen. Dabei sei gerade für öffentlichrechtliche Medien das hohe Potential größerer Reichweiten hinsichtlich jüngerer und schwer erreichbarer Zielgruppen gegeben – etwa durch das Einbinden von Content in „Wikipedia“. Genau das sei bei Clips der ZDF-Dokureihe „Terra X“ passiert, die unter einer CC-Lizenz frei-
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Entwicklungen in dieser Richtung geschehen sehr langsam, aber sie geschehen. 2009 verkündete die EU-Kommission, dass sie ihre Inhalte unter den Lizenzen CC BY 4.0 (Verwenden, ändern, teilen unter Namensnennung) und CC0 (Nutzung quasi ohne Einschränkungen) veröffentlichen. Damit zieht die EU mit Staaten wie Neuseeland oder den Nie-
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derlanden gleich, die ihre digitalen Ressourcen ebenfalls unter CC freigeben. Außerdem setzt sich die Kommission ebenfalls für die Übersetzung der Lizenztexte in alle EU-Sprachen ein. Keine Angst vor Lizenzierung Auch private Medienunternehmen könnten von der Lizensierung ihres eigenen Contents unter CC profitieren. Im Jahr 2013 startete Creative Commons das CC Toolkit-Projekt, eines ihrer Ziele war es, die Vorteile von CC-Lizenzen für Unternehmen zu kommunizieren. Das Verwenden von lizenzierten Werken wie Bilder oder Musik kann Produktionskosten bei Product Design oder Marketing sparen. Das ist vor allem für StartUps und junge Unternehmen, die noch kein großes Budget aufbringen können, interessant. Ein weiterer Vorteil ist die Rechtssicherheit gegenüber anderem urheberrechtlichen Material und die Ersparnis von Transaktionskosten, die auftreten würden, sobald man dieses Material in einem unternehmerischen Kontext nutzen möchte. Nicht nur das Verwenden von CC Content kann für Unternehmen Vorteile bringen, auch das Lizenzieren von eigenen Ressourcen oder Produkten. Gibt man beispielsweise sein Produkt frei, kann die Community Feedback geben und das Produkt verbessern. Ganz ohne Einsatz von eigenen Mitteln in Richtung Innovation und Marketing. Technikunternehmen geben oftmals etwa ihre Software als OpenSource frei und ermutigen die Community etwaige Bugs oder Fehler im Code zu finden. Ein Win-Win-Prozess.
von Linda Ploszajska
Gernot Hausar
Leonhard Dobusch
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gegeben wurden. Diese finde man nun bei viel besuchten „Wikipedia“-Artikeln zu den Themen „Klimawandel“ oder „Klimamodell“. Warum also weigern sich Öffentliche-rechtliche ihren Content freizugeben? Dobusch führte bereits in einem Artikel auf „Netzpolitik.org“ Gründe für die Problematik rund um die Lizenzierung öffentlich-rechtlicher Inhalte an: Es herrsche Angst vor Verlust der Kontrolle über den Content, Manipulation und Verfälschung. Andere Probleme seien die Schwierigkeit um die rechtmäßige Vergütung der Content Creators sowie die Vielzahl involvierter RechteinhaberInnen. Im Jahr 2008 hat das Deutsche Bundesarchiv in Kooperation mit Wikimedia ca. 90.000 Bilder unter der CC BY SA (Verwenden, ändern, unter Namensnennung und der Weitergabe unter gleichen Bedingungen) kostenlos zur Verfügung gestellt. Infolgedessen konnte aber ein hoher Prozentsatz an Lizenzverletzungen festgestellt werden. Etwa 95% der Bilder wurden nicht korrekt genutzt und das führte zu einem Kooperationsende seitens des Bundesarchivs. Allerdings, so Dobusch, erfolgen auch private Nutzungen herkömmlich lizenzierter Bilder in der überwiegenden Zahl ohne Rechteklärung und damit oft ebenfalls unter Verletzung des Urheberrechts.
Journalistische Auszeichnungen: Eigen-Marketing und Anerkennung Harald Fidler, „Etat“-Redaktionsleiter beim „STANDARD“, und der deutsche Journalist und Autor Robert Domes diskutierten mit SUMO über journalistische Auszeichnungen – die sie beide erhielten – und die Bedeutung von Anerkennung im Journalismus.
Der Pulitzer-Preis Der vom Journalisten und Zeitungsverleger Joseph Pulitzer gegründete gleichnamige Preis wird seit 1917 vergeben und gilt heutzutage als der wichtigste. Der in Ungarn geborene Journalist war einer der ersten, der dafür plädiert hatte, dass es für angehende JournalistInnen ebenso eine Universitätsausbildung ge-
ben soll, wie es diese für DoktorInnen und AnwältInnen gab. So träumte er von einer „School of Journalism“. Als er 1911 starb, fand man in seinem Testament die Anweisung, den Pulitzer-Preis aufzusetzen. Ebenso stiftete er fünf Stipendien, die jährlich an Studierende der Columbia University (NY) vergeben werden, drei davon für Studierende der „School of Journalism“, welche ebendort gegründet wurde. Seit damals werden jährlich zumeist Ende April die PreisträgerInnen bekannt gegeben, die Preisverleihung findet einen Monat später in der Bibliothek statt. 1917, im ersten Jahr der Preisverleihung, wurden insgesamt fünf Pulitzer-Preise vergeben, unter ihnen für den „Dienst an der Öffentlichkeit“ und für einen „Leitartikel“ als journalistische Kategorien. Mittlerweile werden jährlich in 21 Kategorien Pulitzer-Preise verliehen. Vierzehn davon sind journalistischen Beiträgen gewidmet, sieben Erfolgen in Literatur, Theater und Musik. Außerdem wird seit 1930 ab und an ein Sonderpreis in der Kategorie „Special Awards and Citation“ verliehen. Seit 1918 erhält jeweils eine Organisation das Preisgeld und die einzige Pulitzer-Medaille in der Kategorie „Dienst an der Öffentlichkeit“. An wen ein PulitzerPreis verliehen wird, bestimmt eine Jury aus US-amerikanischen JournalistInnen und VerlegerInnen. Für den PulitzerPreis können sowohl Werke eingereicht, als auch von der Jury nominiert werden. Die Auszeichnungen im Bereich Literatur, Theater und Musik werden ausschließlich an US-amerikanische BürgerInnen verliehen. Für die Erfolge im Journalismus kommen alle AutorInnen in Frage, deren Werke in US-amerikanischen Zeitungen, Magazinen oder auf Nachrichten-Websites erschienen sein. Je nach Kategorie erhalten die PreisträgerInnen in etwa 15.000 US-Dollar als Preisgeld.
Journalistische Auszeichnungen: Eigen-Marketing und Anerkennung
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Roboterjournalismus, Soziale Medien und Blogs nehmen Einfluss auf den traditionellen Journalismus und werfen die Frage nach der Glaubwürdigkeit auf. Da wir mit einem Überangebot von Information leben, in dem es immer schwieriger wird, relevante Fakten zu erkennen, in Relation zu bringen und zu priorisieren, brauchen wir qualitativ hochwertigen Journalismus. Ein/e hauptberufliche/r Journalist/in investiert sowohl in Recherche als auch in Darstellung des jeweiligen Themas etliche Ressourcen und bietet differenzierte Argumentationslinien, die uns als Orientierung dienen. Die Anerkennung hochwertiger journalistischer Fähigkeiten ist dabei genauso relevant wie in anderen Branchen, etwa Film oder Sport. Anerkennung wird oft durch Preise ausgedrückt. So werden jährlich die Oscars den bedeutendsten Filmen des Jahres verliehen und im Sport kommt es immer darauf an, einen Platz am „Stockerl“ zu erringen. Der weltweit wichtigste Journalistenpreis ist der Pulitzer-Preis. Dieser und andere renommierte Preise zeichnen die journalistische Arbeit aus und schaffen Glaubwürdigkeit für die Ausgezeichneten, aber auch für die Medienhäuser, in denen sie mit ihren Teams arbeiten. Doch welchen Stellenwert haben journalistische Preise darüber hinaus in der Medienbranche – und steckt nicht oft auch Branchen- beziehungsweise Medienmarketing dahinter?
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Die Bedeutung von Anerkennung im Berufsleben Anerkennung im Beruf ist ein Thema, das immer mehr in den Fokus rückt. So konstatiert der Psychologe Ralph Sichler in seinem Aufsatz „Soziale Anerkennung durch Arbeit und Beruf“ („Journal für Psychologie“, 2010), dass Arbeitsmotivation und Anerkennung stark zusammenhängen. Die Wirtschaftsuniversität Wien hat zu demselben Thema 2006 eine Studie durchgeführt. Diese hat ergeben, dass vor allem intrinsische Motivation und Leistungsmotivation mit erfahrenen oder erwünschten Formen von Anerkennung im Beruf zusammenhängen. Ähnliche Ergebnisse liefert auch die „Simply Talent“-Studie von der Oracle Corporation 2015: 53% der Befragten sagen, sie wünschen sich stärkere Anerkennung der eigenen Leistung durch direkte Vorgesetzte. Mitarbeitermotivation und Unternehmenserfolg sind direkt miteinander verbunden. Anerkennung im Beruf besitzt also eine hohe Priorität. Preise sind ein sehr deutlicher Ausdruck von Anerkennung. Jedoch erhält man, wenn überhaupt, nicht oft Preise oder Auszeichnungen. SUMO: „Welche Formen der Anerkennung gibt es im Leben eines/r Journalisten/in?“ Fidler: „Höchste Anerkennung ist zunächst einmal, gelesen, gesehen und gehört zu werden. Wenn man auf Interesse stößt, wenn kommentiert wird, wenn über einen Text diskutiert wird. Positives Feedback von UserInnen, auch von Vorgesetzten, von BranchenkollegInnen – und Beförderungen sind genauso auch Anerkennung, diese finden natürlich nicht so regelmäßig und so häufig statt. Es kann aber auch eine Form der Anerkennung sein, wenn sich Menschen beschweren oder verschnupft reagieren.“ „Ich bewundere jedes funktionierende Geschäftsmodell in der Medienbranche“ Über die Bedeutung von JournalistInnen-Preisen gehen die Meinungen auseinander. Robert Domes sagt, er habe PreisträgerInnen stets glücklich und stolz erlebt, während Fidler sich durchaus geschmeichelt fühle, aber auf die Absicht von Journalistenpreisen verweist – und wie sie zustande kommen. Harald Fidler selbst wurde 2018 als „Journalist des Jahres in der Kategorie Medien“ seitens der Fachzeitschrift „Der Österreichische Journalist“ prämiert, obwohl er ein halbes Jahr in Karenz war. Er erzählt weiter von JournalistInnen, die für Arbeiten in Rubriken ausgezeichnet wurden, in denen sie gar nicht mehr tätig waren. Die Reaktion auf eine Auszeich-
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nung hänge stark mit dem Preis selbst zusammen. So gebe es auch Preise, die man aufgrund ihrer Intention und der Institution, die dahinter steht, ablehnen sollte, sagt Domes. Was steckt also hinter Preisen und Auszeichnungen? Im Gespräch mit SUMO verweist Fidler immer wieder darauf, dass das Verleihen von Preisen starkes Eigenmarketing ist. Lob schmeichle gerade einer recht eitlen Branche und so verleihen unterschiedlichste Medienhäuser, Vereine, Organisationen, Stiftungen oder andere Preisgelder und Preise an JournalistInnen, bei denen sie sich ein wenig beliebt machen oder sie vielleicht in eine Richtung lenken wollten. In letzter Konsequenz könne man das auch als eine Art Korruptionsversuch sehen, so Fidler. Eine Institution wolle zeigen: „Schau her, ich mache was Gutes“ – so tausche man Anerkennung für Aufmerksamkeit. Im Gespräch wird Fidlers kritische Haltung gegenüber Journalistenpreisen deutlich, er resümiert jedoch: „Trotzdem – ich bewundere ja alle funktionierenden Geschäftsmodelle in der Medienbranche.“ Damit spielt er auf die Schwierigkeit an, Medienprodukte in der digitalisierten Welt zu monetarisieren. Immer wieder geraten Preise auch in Verruf und müssen sich mit heftiger Kritik auseinandersetzten. So auch im Dezmber 2018, als der vielfach ausgezeichnete Journalist Claas Relotius sich als Hochstapler herausgestellte. Er hatte seine Artikel teilweise oder ganz erfunden. Das rücke Preise in ein schmieriges Licht und sei Anlass dafür, dass diesen weniger Bedeutung zugemessen werde, so Robert Domes. Medienhäuser werben natürlich gerne mit Preisen, sagt Fidler, das zeige, dass Preise zumindest für die Kommunikation nach außen dennoch Gewicht besäßen. Sowohl Fidler als auch Domes bestätigen, dass Preise im Laufe des Lebens eines/einer Journalisten/in eher an Bedeutung verlieren als zunehmen. Junge JournalistInnen und vor allem jene die freiberuflich arbeiten freuen sich über Auszeichnungen, da
diese oft mit einem Preisgeld einhergehen und es erleichtern, weiter Fuß in der Branche zu fassen.
Harald Fidler
Robert Domes
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Preisrenommee und Entscheidungsfindung Welche sind also Auszeichnungen, die zurecht ein hohes Renommee genießen und relativ uneingeschränkt als Anerkennung für den Journalistenberuf gelten? Robert Domes nennt folgende als für ihn renommierteste deutschsprachige Journalistenpreise: „Nannen Preis“, „Theodor-Wolff-Preis“, „Wächterpreis der deutschen Tagespresse“, der „Deutsche Lokaljournalistenpreis“ (Anm.: den er selbst erhielt) und der „Deutsche Reporterpreis“. Fidler nennt zusätzlich noch den „Prälat-LeopoldUngar-Preis“, den er besonders schätze, da dieser Preis von der Caritas verliehen wird und Licht auf Berichterstattungen wirft, die vor allem von sozialen Anliegen und Menschen, die nicht im Scheinwerferlicht stehen erzählen. Übrigens sponsert diesen Preis die Raiffeisen; da sie ihn aber nicht vergibt, sieht Fidler hier keinen Interessenskonflikt. Auf die Frage, ob es überhaupt Sinn mache, etwas als „das Beste“ zu küren, wenn doch die Meinung der Jury auch sehr subjektiv ist, antwortet Domes: „Von allen Einsendungen bleibt immer in etwa ein Dutzend über an Werken, die alle einen Preis verdienen, dann wird gerungen, welches den Preis bekommt. Wer schafft es mit seiner Arbeit, mehr Sympathie innerhalb der Jury zu gewinnen, das ist im Endeffekt entscheidend. Das ändert allerdings nichts daran, dass diese dutzend Arbeiten, die am Ende übrig bleiben alle ausgezeichnet sind. Vielleicht ist das auch der Punkt, der am wichtigsten ist: Der Entscheidungsprozess muss dokumentiert werden, das zeichnet einen guten Preis aus. Dass dokumentiert wird, warum welcher Text ausgewählt wurde. Wenn das nach außen transparent ist, dann ist ein wichtiger Schritt getan.“
von Annabelle Schleser
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Datenschutz-Grundverordnung: ein erstes Resümee Mit der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) wurden die Regeln für die Verarbeitung personenbezogener Daten, die Rechte der Betroffenen und die Pflichten der Verantwortlichen EU-weit vereinheitlicht. Medienanwalt Paul Pichler und Mario Painsi, Datenschutz-Beauftragter des international tätigen Medienunternehmens „Russmedia“, setzten sich im Interview mit SUMO mit den Herausforderungen dieser Verordnung auseinander. Seit 1995 galt auf Ebene der EU und des Europäischen Wirtschaftsraums ein gemeinsames Datenschutz-Niveau, jedoch wurde diese EU-DatenschutzRichtlinie in den einzelnen Mitgliedsstaaten sehr unterschiedlich ausgelegt. Zur Modernisierung und Anpassung der Digitalisierung wurde von der EU-Kommission eine EU-Datenschutzreform vorgestellt. Die DSGVO ist am 25. Mai 2016 in Kraft getreten und seit 25. Mai 2018 anzuwenden.
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Was sich seither verändert hat Rechtsanwalt und Experte für Medienrecht Paul Pichler sieht die Rechtsvereinheitlichung noch nicht vollständig durchgeführt: „Im Wesentlichen gilt in
allen EU-Staaten nun das Gleiche. In der Praxis wird es allerdings eine Weile dauern, bis die Interpretation der DSGVO vereinheitlicht ist, weil sehr viele Bestimmungen sehr unbestimmt gefasst sind und daher man darüber streiten kann, was das im Anwendungsfall aktuell bedeutet.“ Für Unternehmen gab es seit dem 25. Mai 2018 enorme interne sowie externe Veränderungen. Dies bestätigt auch Mario Painsi, der die Herausforderungen mit „Russmedia“ über die Landesgrenzen bis heute miterlebt: „Durch die neuen Verpflichtungen, wie die Dokumentationspflicht oder Auftragsdatenverarbeitungsverträge, haben wir viel Verwaltungs- und Organisationsaufwand,
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aber auch Schulungsaufwand, der bis heute betrieben wird. Wir konnten uns keinen kompetenten, externen Partner sichern, der uns mit Rat und Tat zur Seite stand und mit uns gemeinsam das Konstrukt DSGVO entwirrte.“ Öffnungsklauseln Die Datenschutz-Grundverordnung sieht für bestimmte Bereiche sogenannte Öffnungsklauseln vor, welche durch nationale Gesetze die Bestimmungen der Verordnung spezifiziert werden können. „Die Öffnungsklauseln sind das Ergebnis eines politischen Kompromisses. Bei Uneinigkeiten hat man die Öffnungsklauseln geschaffen, damit die verschiedenen Staaten sich das eigen regeln können. Natürlich wäre eine EU-weite Regelung direkt in der Verordnung besser gewesen, aber bevor man eine schlechte Lösung unionsweit hat, überlässt man diese den einzelnen Staaten“, erklärt Medienanwalt Pichler. Diese Diskrepanzen bewirken auch und gerade für Medienbetriebe teils erhebliche Schwierigkei-
ten. „Russmedia“ etwa mit seinen 14 Niederlassungen in sechs Ländern mit unterschiedlichen Öffnungsklauseln steht vor einer Hürde. Datenbeauftragter Mario Painsi möchte die Verwaltung für das gesamte Unternehmen so einfach als möglich gestalten. Daher werde versucht, gruppenweit die gleichen Regeln zu definieren, ohne Ausnahmen der Öffnungsklauseln. Besonderheiten bei Medienunternehmen Eine der Öffnungsklauseln betrifft den Journalismus. Österreich hat diese genützt: Ansprüche und Sanktionen gegen Medieninhaber betreffend deren Veröffentlichungen unterliegen in Österreich weiterhin dem Mediengesetz und nicht der DSGVO. Paul Pichler meint, es wäre in Anbetracht der drakonischen Strafdrohungen besser für die Pressefreiheit gewesen, man hätte den Journalismus europaweit verbindlich und vollständig von der DSGVO ausgenommen. Da man sich in diesem Punkt nicht einigen konnte, entscheiden nun die einzelnen
Mitgliedstaaten, wie sie das Spannungsverhältnis zwischen Pressefreiheit und Datenschutz lösen. Demokratie lebt von objektiver und unabhängiger, auch investigativer Berichterstattung. Ist nun investigativer Journalismus durch die EU-Verordnung bedroht? „Definitiv!“, meint Painsi. „Jede Berichterstattung birgt das Risiko, dass sich eine Person auf den Schlips getreten fühlt und dann wegen Verletzung der Persönlichkeitsrechte Klage bei der Behörde einreicht“. Rechtsanwalt Pichler ist einer ähnlichen Meinung: Zwar gilt für redaktionelle Veröffentlichungen in Österreich das Journalismusprivileg – die Vertriebs- und Vermarktungsaktivitäten unterliegen aber der DSGVO und die Datenschutzbehörde hat auch gleich nach deren Inkrafttreten Verfahren gegen österreichische Medienunternehmen eingeleitet. Wenn zweistellige Millionenstrafen drohen und auch tatsächlich verhängt werden, wie jüngst über die Post AG (Anm.: in diesem Fall kein Medienunternehmen), habe das natürlich Einschüchterungs-
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wirkung. Nicht nur auf Medienunternehmen, sondern auch auf deren InformantInnen. Das könne dazu führen, dass die Motivation oder die Bereitschaft der Weitergabe an Informationen an Medienhäuser weniger stark ausgeprägt sei wie davor. Ein Blick in die Zukunft Die ePrivacy-Verordnung ist die Neufassung der bestehenden ePrivacyRichtlinien, welche 2020 in Kraft treten soll. Mit der ePrivacy-Verordnung legt die Europäische Union ein Regelwerk vor, das sich speziell dem Bereich der Telekommunikation widmet. Anders ist das bei der Frage, ob Cookies, der „Treibstoff der Online-Werbung“, ohne Zustimmung des Nutzers bzw. der Nutzerin eingesetzt werden dürfen. Hier wurden die Regelungen der geltenden ePrivacy-Richtlinie völlig divergierend ausgelegt – in Deutschland sehr großzügig, in Österreich besonders streng. Aus österreichischer Sicht ist die ePrivacy-Verordnung daher Grund zur Hoffnung für die Online-Werbewirtschaft, dass es betreffend Cookies zu einer vernünftigeren Lösung kommt.
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In der Praxis werden die Vorbereitungen auf die neue Verordnung monatelang zuvor getroffen. Mario Painsi schildert SUMO, welche Maßnahmen „Russmedia“ aktuell treffen: „Die Datenschutzerklärungen werden laufend überprüft und gegebenenfalls aktualisiert. Die Einwilligungen für die Cookies, aber auch sonstige Verarbeitungen werden jetzt schon abgefragt.“ Was aber effektiv auf den Medienkonzern zukomme, kann Painsi noch nicht genau sagen.
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Verfahren (auch) gegen österreichische Medienhäuser geführt haben, wegen Dingen, die für ‚Facebook’ oder ‚Google’ völlig selbstverständlich sind“. Außerdem sei die Einführung der Verordnung für die mittelständige Wirtschaft durchaus mit hohen Kosten verbunden gewesen. „Von FriseurInnen von Burgenland bis nach Vorarlberg mussten sich wegen ihren E-Mail-Verteilern mit Verarbeitungsverzeichnissen rumschlagen. UnternehmerInnen mussten viel Geld in die Hand nehmen, um Dokumentationen zu erstellen, die gerade im Fall von kleinen und mittelständischen Unternehmen vermutlich nie jemanden interessieren werden. Da hätte die Treffsicherheit höher ausfallen sollen“, fügt Pichler hinzu. Laut Mario Painsi gebe es auf beiden Seiten Vor- als auch Nachteile. Als klaren Nachteil nenne er die Überflutung mit Zustimmungshinweisen auf KundInnen und im Gegenzug kämpfen die Unternehmen mit bürokratischem Mehraufwand. Aber es gibt auch positive Aspekte der Datenschutzgrundverordnung. Auch Paul Pichler hält neue Regeln zum Schutz der persönlichen Daten im digitalen Zeitalter für wichtig. Er erklärt SUMO bildlich: „Wenn früher etwas meine Persönlichkeitsrechte oder Ehre verletzende Inhalte in der Tageszeitung gestanden haben, ist diese Information mit der Ausgabe in Vergessenheit geraten. Da ist der Schaden noch begrenzt. Wenn heute allerdings ein abträglicher Inhalt im Internet von Suchmaschinen indexiert wird, dann wird aus einer kleinen Bombe schnell eine Atombombe, weil jede/r, der/die den Namen googelt nun auf diese Informationen stößt – und zwar zeitlich unbegrenzt. Das Recht auf ‚Vergessenwerden’, das auch in der DSGVO geregelt wurde, ist daher wirklich etwas Wichtiges!“
Fluch oder Segen? Der große Verlierer aufgrund der DSGVO sei laut Medienanwalt Pichler die heimische Wirtschaft jeweils innert der EU. „Es hat sich auch gezeigt, dass diese neuen Rechtsquellen schnell zu
von Katrin Nussmüller
Mario Painsi
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Blogging – der andere Journalismus? Soziale Medien sind längst nicht mehr bloß Plattformen zum Austausch privater Informationen. BloggerInnen scheinen die neuen Massenmedien zu dominieren. SUMO sprach mit „Fakt ist Fakt“-Gründer Philip Pramer, Social Media-Managerin Lisa Stadler und Userblog-Manager Kevin Recher beim „STANDARD“, um dem Einfluss von Blogging auf Information und Rezeption nachzuspüren. Als Philip Pramer 2016 zusammen mit zwei ehemaligen Mitstudierenden den Fact-Checking-Blog „Fakt ist Fakt“ gründet, befindet er sich noch in den Startlöchern seiner redaktionellen Karriere. Als damaliger Politikwissenschaftsabsolvent wünscht er sich konsequentere Überprüfung politischer Aussagen und somit durchgehende Konfrontation der PolitikerInnen. Seiner Meinung nach sei dies bei vielen Medien bis heute nicht ausreichend gegeben. Laut Pramer ist „Fact-Checking“ zwar „eine klassische journalistische Arbeitstechnik, die idealerweise jedes Medium betreibt“, die Schwierigkeit als klassisches Medium liege jedoch vor allem darin, permanentes Fact-Checking zu betreiben. „Dafür bräuchte es vermutlich eigene Ressorts oder eigene Fernsehsendungen“. Dennoch hat der „STANDARD“-Medienredakteur das Gefühl, dass sich die Situation verbessert habe.
So scheint es im ersten Augenblick nicht verwunderlich, dass der Begriff „Fake News“ im Zusammenhang mit Blogging und Social Media nicht selten aufkommt. „Facebook“ spielt bei der Verbreitung von Fake News in Deutschland die bedeutendste Rolle, so die Studie „Fakten statt Fakes - Verursacher, Verbreitungswege und Wirkungen von Fake News im Bundestagswahlkampf 2017“. Während unter anderem „rechte
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Blogging – ein Schrei nach mehr Information? Philip Pramer scheint mit seinem Wunsch nach mehr Fakten nicht allein zu sein. Die vom deutschen Fachjournalisten-Verband in Auftrag gegebene Studie „Blogger 2014 - Das Selbstverständnis von Themenbloggern und ihr Verhältnis zum Journalismus“ stellte fest, dass das Hauptmotiv der BloggerInnen in der Vermittlung von Informationen liegt. An zweiter Stelle folgt Unterhaltung. Auch die 2018 durchgeführte Studie „Deutschlands Blogger - Die unterschätzten Journalisten“ kam zu einem sehr ähnlichen Ergebnis. Fast die Hälfte der befragten BloggerInnen gab an, vorwiegend über bestimmte
Themen informieren zu wollen. Nur für rund ein Drittel der Befragten steht Unterhaltung und Service im Vordergrund. Die restlichen zehn Prozent sehen ihre Funktion in Kritik und Kontrolle. Verglichen mit den Motiven der JournalistInnen ist der Unterhaltungsfaktor im Blogging dennoch wesentlich bedeutsamer. Nur ein Zehntel aller befragten JournalistInnen gab an, hauptsächlich unterhalten zu wollen, während 70 Prozent Information und Vermittlung als wichtigstes Motiv angaben. Die Bereitstellung von Fakten scheint somit zwar auch im Blogging eine wichtige Rolle zu spielen, der Journalismus ist hier jedoch weiterhin der Vorreiter. Dass zwischen dem reinen Wunsch nach der Gestaltung von informativen Beiträgen und der tatsächlichen Qualität der Blogs unterschieden werden muss, zeigen weitere Ergebnisse der Studie „Deutschlands Blogger - Die unterschätzten Journalisten“. So würden BloggerInnen im Gegensatz zu den großteils besser ausgebildeten, professionellen JournalistInnen hauptsächlich Onlinerecherche betreiben. Eine Tatsache, welche die journalistischen Qualitäten der Blogs wiederum in Frage stellt.
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Blogs“ ebenfalls zur Falschinformation beitragen, sind die Hauptverdächtigten die ohnehin reichweitenstarken Medien, Parteien und PolitikerInnen via „Facebook“. „Eine reine Frage der Reichweite“, so auch Lisa Stadler. Ihrer Meinung nach bräuchte es grundsätzlich keinen Blog, um zur Meinungsbildung beizutragen. „Wenn jemand in Österreich 400.000 Follower auf ‚Instagram’ hat und sich politisch äußert, dann kann derjenige bereits Einfluss auf die Meinungsbildung nehmen.“ In der Realität würden das jedoch nicht viele schaffen. Und die es schaffen? Die deutsche Studie „Ganz meine Meinung? Informationsintermediäre und Meinungsbildung“ (2017) bestätigt, dass aufgrund diverser Social Media-Kanäle sowohl unser Blick auf das allgemeine Meinungsklima als auch unsere Anfälligkeit für Fake News stark beeinflusst wird. Die Inhalte auf Social Media müssen aber natürlich nicht unbedingt von BloggerInnen stammen. Philip Pramer, der sowohl mit den Arbeitsweisen traditioneller Medien als auch mit jenen des Bloggings vertraut ist, würde BloggerInnen in diesem Kontext nicht als Gefahr betrachten, da auch sie einen Ruf zu verlieren hätten. Er selbst habe zusammen mit seinen Mitbegründern außerdem auch die Beiträge der GastautorInnen ihres Fact-Checking-Blogs auf Richtigkeit überprüft. Ebenso haben sie ihre Fact-Checks auch untereinander gegengelesen, um das Posten von zu wenig recherchierten Beiträgen zu vermeiden. Ein Vorgang, der auch für „STANDARD“-Userblog-Manager Kevin Recher selbstverständlich ist. Das Redigieren der Blogs ist Teil seines Jobs, was jedoch nicht bei allen VerfasserInnen auf Verständnis stoße. Dennoch wäre der Großteil der Community dankbar für die professionelle Unterstützung. Partizipativer Journalismus – Freund oder Feind? Die Userblogs des „STANDARD“ sind neben den Foren unter anderem eine Möglichkeit, sich am Geschehen zu be-
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teiligen. Vom Archäologie-Blog bis zu Rezepten findet man hier alle möglichen Beiträge. Weder Alter noch Beruf spielen bei den Teilhabenden hier eine Rolle. Als Userblog-Manager ist Recher vor allem dafür verantwortlich, die Blogs zu betreuen und mit den VerfasserInnen zu kommunizieren. Eine Aufgabe, die nicht immer leicht sei: „Mit externen Leuten zu arbeiten hat viele positive, aber auch negative Seiten“. Nicht alle sind mit den Änderungen, die Recher an den Beiträgen vornimmt, einverstanden. Völlig abgelehnt würden die Blogbeiträge grundsätzlich nicht, aber immer wieder müsse auf unpassende Formulierungen oder unzureichende Recherche hingewiesen werden. Dennoch habe er den Eindruck, dass ihnen die Qualität und Richtigkeit ihrer Arbeit wichtig seien. Die Schwierigkeit liege eher darin, BloggerInnen zu finden, die neben Studium, Beruf und Privatleben auch noch die Zeit finden, regelmäßig und außerdem unentgeltlich Userblogs zu schreiben. Als Dank gebe es jedoch Goodies für die AutorInnen. Auch andere Medienhäuser legen heute mehr Wert auf die Community-Einbindung, etwa die „Krone“ (LeserreporterInnen und Forum) oder der ORF („debatte.orf.at“). Eine Maßnahme, die partizipativen Journalismus aus Sicht der Medienhäuser in ein positives Licht rückt. Bedeuten medienunabhängige Blogs und Plattformen eine Konkurrenz für die traditionellen Medienhäuser? Abgesehen von den Userblogs, die „derStandard“ selbst betreut, sieht Lisa Stadler auch andere Blogs in Österreich nicht unbedingt als Konkurrenz für den Journalismus: „Im besten Fall wäre das so“. Vor ungefähr zehn Jahren hätte man damit gerechnet, dass sich Blogs stärker am Markt etablieren würden, was jedoch nicht eingetreten sei. Als Social Media-Managerin hätte sich Stadler gewünscht, dass sich etwas am Markt verändert, da dadurch auch der Ansporn der Medien, etwas zu verändern, größer wäre. Eine Veränderung
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gab es beim „STANDARD“ vor zwei Jahren mit der Einführung des sogenannten „Newsdesk“: Hier sitzt Stadler unter anderem mit einer Chefin vom Dienst und einem Redakteur, der sich nicht nur mit einem, sondern mehreren Ressorts auseinandersetzt. Aufgrund dessen, dass die verschiedenen Abteilungen am Newsdesk in einem Raum versammelt sind, erhält die Social Media-Managerin Informationen über aktuelle Ereignisse früher und kann somit auch schneller handeln. Beiträge können früher vorbereitet und folglich auch schneller gepostet werden. „DER STANDARD“ versuche laut Stadler also zwar auch auf Social Media-Plattformen wie „Instagram“ präsent zu sein, doch um auch die jüngere Zielgruppe noch besser über derartige Plattformen erreichen zu können, würden die notwendigen Ressourcen fehlen. Abgesehen davon sei es auch schwierig, die richtige Social Media-Strategie für ein Medium zu definieren. Als sich „DER STANDARD“ 2014 erstmals auf „Instagram“ präsentierte, ging man davon aus, dass die Plattform ein reiner Lifestyle-Channel sei: „Wir haben alle geglaubt, da muss man immer schöne Bilder posten“. Im Endeffekt stellte sich jedoch heraus, dass die LeserInnen die Beiträge vor allem deswegen verfolgen, weil sie News wollten. „Im Grunde genommen logisch“, aber in diesem Fall dennoch ein Problem, das eine Umstellung des Auftritts erforderte. Heute liege der Fokus zwar auf aktuellen Neuigkeiten, um über ausreichend Content zu verfügen und die Stimmung mit positiven Beiträgen aufzulockern, werden jedoch auch Lifestyle-Themen in den Feed aufgenommen. Reisefotos und diverse Rezeptvorschläge sind unter anderem ein Teil davon. Dennoch geht Lisa Stadler davon aus, dass von Seiten der Medien nicht unbedingt der Wunsch bestehe, so zu sein wie Blogging. Auch Philip Pramer ist der Meinung, dass auf Grund der behandelten Themen kein direkter Konkurrenzkampf zwischen Journalismus und Blogging bestehe. Grundsätzlich könne Blogging dem Journalismus zwar in gewissen Bereichen, wie beispielsweise der persönlichen Annäherung an bestimmte Themen, überlegen sein, aber um den Medien LeserInnen abzuwerben, würde dies nicht ausreichen. „Blogs sind kein Ersatz für Nachrichten.“ Für die Nachrichtenproduktion brauche es dauerhafte Strukturen mit fixen Abläufen, Experten und Agenturanbindung. „Kein Blogger würde auf eine langweilige Pressekonferenz gehen“, sagt Pramer. Genau das sei aber oft notwendig, um die Grundversorgung mit Nachrichten
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sicherzustellen, die oft nur wenige Likes abwirft. Abgesehen davon gibt es in Österreich nur wenige Blogs, die sich mit politischen Themen beschäftigen. JournalistIn oder nicht – eine Frage der (Selbst-)Wahrnehmung Einer der bekanntesten Politikblogger in Österreich ist wohl Markus Wilhelm. Seinen Blog „dietiwag.at“ beziehungsweise „dietiwag.org“ bezeichnet er im Impressum als die „politischste Internetseite Österreichs“. Ausschlaggebend für die Entwicklung der Website war ursprünglich eine Konfrontation mit der im Ötztal beheimateten Stromerzeugungsgesellschaft Tiwag im Jahr 2004. Im Zuge seiner Recherchen konnte Wilhelm nicht nur das für Aufruhr sorgende Kraftwerksprojekt verhindern, sondern auch noch zahlreiche weitere Skandale des Energieversorgers aufdecken. Seitdem enthüllt der Tiroler auf seinem Blog laufend politische Skandale und versorgt seine Leserschaft mit Informationen und Neuigkeiten. In den Kreisen des Österreichischen JournalistenClubs schätzte man Wilhelms Beitrag zum politischen Diskurs in Österreich sogar so sehr, dass man ihm 2019 den renommierten „Prof. Claus GattererPreis“ verleihen wollte. Dieses Angebot lehnte Wilhelm jedoch vehement ab. In einem Blogbeitrag erläuterte er neben weiteren Begründungen sein Verhalten unter anderem mit den Worten: „Ich sehe mich nicht als Journalisten, schon gar nicht als ‚investigativen Journalisten’, wie es in der Begründung der Jury heißt, sondern als politischen Aktivisten, der halt schreibt.“ Eine Aussage, die
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sehen. Die Unterscheidung zwischen Journalismus und Blogging fällt also selbst ExpertInnen schwer. Das spricht ebenfalls dafür, dass Journalismus tatsächlich eine Frage der Wahrnehmung „Eine Frage der Selbstwahrnehmung“, ist. meint Lisa Stadler. Es gebe BloggerInnen wie Markus Wilhelm, die gründ- „Kritik ist gut, ohne Kritik hätten wir lich recherchieren und journalistische Stillstand.“ Arbeitstechniken anwenden und sich Betrachtet man Österreichs Bloggingtrotzdem nicht mit Journalismus iden- Landschaft, so findet man Beiträge zu tifizieren würden. Umgekehrt wundere allen möglichen Themen. Die Reichweisie sich immer wieder über BloggerIn- te der Blogs ist jedoch meist eher genen, die sich selbst die Funktion einer/s ring. Nur die wenigsten schaffen es, von Journalistin/en zuschreiben, ihrer Ein- ihren Tätigkeiten als BloggerIn zu leben. schätzung nach jedoch überhaupt Die wahrscheinlich größte Gefahr benicht dementsprechend handeln und steht darin, dass die VerfasserInnen schreiben. Doch auch hier sieht sie Pro- sich durch bezahlte Werbung beeinbleme bei der Differenzierung. „Was flussen lassen und sich die Auswahl unterscheidet dann zum Beispiel wie- der Themen und die Sichtweise auf der eine Lifestyle-Bloggerin von einer bestimmte Inhalte dadurch verändert. Lifestyle-Journalistin bei ‚Woman’?“ Aber: Wer kann uns versichern, dass Auch Philip Pramer, der selbst angibt, traditionelle Medien das nicht auch für seinen Blog nicht weniger intensiv machen? Durch das Auftreten des Phärecherchiert zu haben als für seine Ar- nomens „Blogging“ kann grundsätzlich tikel beim „STANDARD“, hätte sich bei angenommen werden, dass die Bevölder Gründung von „Fakt ist Fakt“ nie- kerung das Gefühl hat, die traditionelmals als Journalist bezeichnet. Seine len Medien würden sich mit gewissen persönliche Auffassung eines/r Journa- Themenbereichen noch nicht optimal listen/in ist: „Jemand, der bereits viel in auseinandersetzen. Dennoch scheint es diesem Bereich gemacht hat und dafür bisher nicht so, als würde der Journalisauch viel Zuspruch erhalten hat.“ Eine mus dadurch verdrängt werden. Ganz genaue Definition des Begriffs „Journa- im Gegenteil meint Lisa Stadler, dass listIn“ scheint es in Österreich nicht zu diese Kritik an den Medien sogar gut ist. geben. Zwar richtet sich das österrei- „Ohne Kritik hätten wir Stillstand.“ Und chische Journalistengesetz an jene, die Stillstand ist schließlich nie gut. diese Arbeit hauptberuflich betreiben und von ihrem Verdienst leben können, von Katharina Samsula in der Realität werden, wie im Falle von Markus Wilhelm, jedoch auch andere Personen als JournalistInnen angewohl den einen oder die andere überraschte. Außerdem wirft die Aussage eine besonders heikle Frage auf: Wer sind denn überhaupt JournalistInnen?
Blogging – der andere Journalismus?
Bei Fremden zu Hause: grenzüberschreitende Berichterstattung Es sind diejenigen, die uns mit dem Geschehen in unseren Nachbarländern, aber auch in den fernsten Teilen unserer Erde bekannt machen – AuslandskorrespondentInnen. SUMO erhielt eine Einladung von Danko Handrick zu einem Besuch im Auslandsstudio der ARD in Prag. Zusätzlich führte das Magazin noch ein Gespräch mit Ernst Gelegs, dem Korrespondenten des ORF in Budapest. SUMO erhielt somit Informationen aus erster Hand, welche Prozesse vor der Rezeption von Nachrichten aus dem Ausland passieren müssen. sie sich auch tatsächlich aufhalten. Jedoch kommt es häufig vor, dass ein/e Auslandskorrespondent/in über mehrere Länder berichten muss, wie es z.B. bei Ernst Gelegs vom ORF der Fall ist. In dieser Situation stehen zusätzlich sogenannte ProducerInnen zur Verfügung, die vorzugsweise die Sprache des jeweiligen Landes perfekt beherrschen
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Laut AMS-Berufslexikon sind AuslandskorrespondentInnen jene JournalistInnen, die im Ausland für eine einheimische Presse-, Radio-, Fernseh- oder Nachrichtenagenturredaktion tätig sind. Ihr Ziel ist es, die heimische Öffentlichkeit über Ereignisse in einem spezifischen Land bzw. in einer spezifischen Region zu informieren, in dem oder der
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(beim ORF sind es sogar StaatsbürgerInnen des Landes). Diese halten die KorrespondentInnen kontinuierlich auf dem Laufenden, benachrichtigen sie bei außerordentlichen Geschehnissen oder bereiten Interviews vor. Handrick meint zur Arbeit der AuslandskorrespondentInnen, dass sie nur einen gewissen Umfang an Übersetzungsarbeit leisten sollen. Wenn sie sich in einem Land längere Zeit aufhalten oder sogar dort beheimatet sind, verlieren sie laut ihm den objektiven Blick auf die Entwicklungen und Geschehnisse, der für die Berichterstattung in ihrem Heimatland aber unbedingt nötig sei. Deswegen findet es Handrick auch gut, dass die KorrespondentInnen der ARD nach fünf Jahren wechseln.
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„Das typische Auslandsbüro“ Die Größe der Auslandsredaktion ist das Alpha und Omega bei der Suche nach Unterschieden zwischen einem inländischen und einem ausländischen Studio. In den Auslandsredaktionen sind alle Ressourcen (personelle, finan-
zielle, materielle usw.) auf einem niedrigeren Niveau gehalten. Ernst Gelegs gibt SUMO ein Beispiel: „Eine Innenpolitikredaktion beschäftigt hunderte MitarbeiterInnen, darunter SpezialistInnen im Bereich der Statistiken, Analysen usw. Ein/e Auslandskorrespondent/ in muss sich alle Informationen selbst verschaffen und das auch für acht Länder!“ Ein weiterer Unterschied liegt in der Tatsache, dass jedes ORF-Auslandsbüro selbst entscheide, welche Inhalte das Studio eigentlich produzieren wolle. „Wir bekommen überhaupt keine Anweisungen“ sagt Gelegs. Die Gestaltung der Berichterstattung eines Auslandsbüros laufe so ab, dass die Redaktion zuerst eine Auswahl an Möglichkeiten anbiete. Stimme der Abnehmer (also sämtliche Abteilungen des ORF) zu, werde dieses Thema produziert. Werde der Vorschlag abgelehnt, komme es nicht zur Realisierung der Idee. Bei der ARD sei die Gestaltung laut Handrick ähnlich. Jedoch sei sein Büro vorwiegend dem „Ersten Deutschen Fern-
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sehen“ zulieferungspflichtig und stehe erst dann anderen Sendern zur Verfügung. Das Team des Auslandsbüros beobachte das Geschehen im Land und schreibe Angebote für mögliche berichtenswerte Begebenheiten. In weiterer Folge entstehe der Inhalt für Sendungen wie z.B. „Europamagazin“ oder „Weltspiegel“, aber auch für viele Sendungen von dritten Sendern wie MDR. Damit schaffen die Auslandsbüros der ARD sehr hohe Reichweiten und kooperieren deswegen auch mit mehreren Redaktionen innerhalb der ARD. Die „Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland“ (ARD) besitzt insgesamt 30 Auslandsstudios in vielen Gebieten der Welt und beschäftigt mehr als 100 KorrespondentInnnen. Die ARD ist aber nicht für die Auslandsstudios zuständig, sondern die Landesrundfunkanstalten, die auch gemeinsam die ARD-Sendungen produzieren. Demgemäß wird die angesehenste Sendung der ARD, die „Tagesschau“, in Hamburg beim „Norddeutschen Rundfunk“ (NDR) produziert, das „Mittagsmagazin“ bei „Rundfunk Berlin-Brandenburg“ (RBB) und das TV-Magazin „Brisant“ beim „Mitteldeutschen Rundfunk“ (MDR) in Leipzig. Diese Landesrundfunkanstalten teilen sich auch die Auslandsredaktionen auf der Welt. Demnach besitzt der
NDR Redaktionen in London, der WDR betreibt das Studio in Moskau und der MDR hat die Auslandsredaktionen in Neu-Delhi und ist auch für Länder wie etwa Afghanistan, Pakistan und Sri Lanka kompetent. Der MDR betreibt noch wie schon erwähnt das Auslandstudio in Prag, das SUMO besuchte. Die Redaktion in Prag ist die kleinste der insgesamt 30 ARD-Auslandsbüros und hat nur fünf-sechs vor allem freie MitarbeiterInnen. Es wurde im Jahr 1964 eröffnet. „Einen Alltag gibt’s bei uns nicht!“… …antwortet Handrick auf die SUMOFrage nach seinem Tagesablauf. Eine permanente Rufbereitschaft sei notwendig, da man nie vorhersehen könne, was im Laufe des Tages passieren werde. „Festgelegte Zeiten, wie 8:00 Uhr Beginn und 16:00 Uhr Ende des Dienstes, existieren in diesem Job nicht. Ein/e Auslandskorrespondent/in muss sich die Arbeitszeit selber einteilen und stets für Unvorhersehbares bereit sein. Ein aktuelleres Beispiel war der Tod von Karel Gott. Bei solchen unerwarteten Ereignissen muss ein/e Auslandskorrespondent/in die bereits begonnene Arbeit zur Seite stellen und sich rasch in dieses Thema einarbeiten“, fügt er hinzu. Ernst Gelegs kann dies nur bestätigen und gibt SUMO ein Beispiel von einem
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Einheimische des jeweiligen Staates – Pro und Contra ihrer Auslandsberichterstattung Es ist klar, dass sich die MitarbeiterInnen eines Medienhauses sehr gut in dem jeweiligen Land auskennen müssen, über das sie berichten. Das können natürlich vor allem einheimische BürgerInnen, also bei einer Berichterstattung über die Slowakei die SlowakInnen selbst. Diese Personen sind mit der Umgebung und der politischen Lage vertraut und verstehen auch alle Spezifika des Landes, die JournalistInnen aus anderen Ländern unbekannt bleiben würden. Andererseits kann es bei diesen RedakteurInnen leicht vorkommen, dass ihre Berichterstattung subjektiv geprägt ist oder dass sie uninteressante Informationen übermitteln, weil sie den/die typische/n österreichische/n Rezipienten/in nicht so gut kennen wie ein/e Journalist/in aus Österreich. „Für mich ist es wichtig, mit einer deutschen Brille auf Themen zu schauen. Themen, die für meine tschechischen oder slowakischen KollegInnen nicht interessant sind, könnten für die deutschen ZusachauerInnen durchaus interessant – weil unbekannt sein“, meint Handrick. Dazu ist es aber wichtig zu erwähnen, dass die ARD noch über ein Projekt namens „Ostblogger“ verfügt. Der ORF hingegen setzt auf Menschen des jeweiligen Landes. Auf die Frage, ob es negative Aspekte haben könnte,
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Tagesablaufszenario bei Wahlen. Dabei sei der Korrespondent oder die Korrespondentin für mehrere Sendungen bzw. Gattungen zuständig. Die erste Berichterstattung finde schon in der Früh für das „Ö1-Morgenjournal“ statt und danach für das „Ö1-Mittagsjournal“, da der Hörfunk die Prime-Time in der ersten Tageshälfte habe. Im Rahmen der Morgenberichterstattung werde die Erwähnung der Wahlen durchgeführt und die Ausgangsituation erörtert. Nach dem „Mittagsjournal“ komme aber schon die Prime-Time für das Fernsehen, wie etwa „ZiB“ um 17:00 oder „ZiB 1“ bzw. „ZiB 2“, in denen bereits die Hochrechnungen präsentiert werden können. Nach der Ausstrahlung dieser Live-Interviews folge die Vorbereitung auf die Sendungen, die am nächsten Tag am Vormittag ausgestrahlt werden. „An einem Tag mit Breaking News kann es leicht vorkommen, dass die Arbeit länger als 13 Stunden dauert“, sagt Gelegs. Jedoch gebe es auch wesentlich ruhigere Tage: „Das passiert, wenn der Schwerpunkt der Berichterstattung auf innenpolitischen Themen wie z.B. bei der Ibiza-Affäre, Bundeswahlen usw. liegt“.
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antwortet Gelegs: „Alle bei uns angestellte ProducerInnen sind professionell ausgebildete JournalistInnen, die mit dieser Herausforderung zielgerichtet umgehen können. Der/Die Auslandskorrespondent/in übernimmt dann ihre Arbeit, was eine zusätzliche Kontrolle darstellt. Gibt es Zweifel, muss man immer nachfragen. Andere Denkweisen, Informationsinteressen bzw. Sichtweisen bestehen immer.“
„Ostblogger“...
...ist ein Projekt des MDR mit dem Ziel, Landsleute über ihre Länder berichten zu lassen. Dadurch ergibt sich für deutsche RezipientInnen die einzigartige Möglichkeit, einen Einblick ins Leben der BewohnerInnen der ehemaligen Ost-Bock Staaten zu bekommen.
EBU...
…ist eine internationale Organisation, die zurzeit aus 72 Rundfunkanstalten besteht. Das bekannteste Projekt dieses Zusammenschlusses ist der „Eurovision Song Contest“. Diese Union erleichtert ebenfalls die Arbeit einer Nachrichtenredaktion, weil sich die Mitglieder der EBU gegenseitig eigenen Content zur Verfügung stellen.
Die Recherche im Ausland …unterscheidet sich grundsätzlich nicht sehr von der Datensammlung im Inland. Es kommt aber natürlich auf die Story an, die durch die Recherche gewonnen werden soll. In erster Instanz sind es Agenturen, wie beim ORF die internationale Nachrichtenagentur Reuters. Da einige KorrespondentInnen wie etwa Ernst Gelegs mehrere Länder betreuen müssen, sind sie noch durch RedakteurInnen in Wien unterstützt, die ihren Content mit Hilfe der European Broadcasting Union (EBU) produzieren können. Handrick meint dazu, dass die Berichterstattung vor Ort immer höhere Präferenz haben müsse, denn dort könne ein/e Journalist/in die Ausgangssituation und ihre weiteren Folgen besser einschätzen. Handrick gibt ein Beispiel dazu, das die Lage der deutschen Redaktionen in Prag beschreibt. Aufgrund finanziellen Mangels und Konkurrenz seien in dieser Stadt bereits mehrere deutsche Redaktionen geschlossen worden. Das bedeutet, dass die Mitteilungen über das Geschehen in Tschechien nicht direkt aus dem Land, sondern aus Deutschland kommen. Dies sei nicht genügend, da diese Nachrichten durch eine oberflächliche deutsche Sicht beeinflusst sind. Es komme auch häufig vor, dass den MitarbeiterInnen in Deutschland die hintergründigen Informationen unbekannt bleiben. AuslandsredakteurInnen gewinnen ihre Expertise auch durch die tägliche Lektüre der inländischen Zeitungen des Landes, die oft in mehreren Sprachen verfasst sind. Darum bestehe eine der wichtigsten Fähigkeiten eines Auslandsjournalisten oder einer Auslandsjournalistin darin, die jeweiligen Landessprachen zu beherrschen. Dadurch habe der/die Korrespondent/ in die Möglichkeit, die BürgerInnen des Staates direkt in ihrer Muttersprache anzusprechen. Da diese Methode möglichst präzise sein müsse, um Objektivität zu gewährleisten, erfolgen alle Gespräche des ORF oder der ARD mit der dortigen Bevölkerung ausschließlich in der Sprache des jeweiligen Landes, denn nur so seien die Befragten nicht durch eine Fremdsprache limitiert.
Während sich ein/e Journalist/in, der oder die sich außerhalb des betroffenen Landes befindet, zuerst einen gewissen Überblick über eine Problematik verschaffen muss, ist den vor Ort stationierten ReporterInnen die erste Basis für ihre Nachricht höchstwahrscheinlich bereits bekannt. Entscheidung, welche Nachrichten auf Sendung kommen und welche nicht Redaktionen sind bei Formaten wie etwa „Zeit im Bild“ generell durch ein enges Zeitfenster begrenzt und es ist nicht immer leicht, in diesem alle wichtigen Ereignisse auf der Welt für das österreichische Publikum informativ abzubilden. Bei der ARD entscheide der oder die ChefIn vom Dienst in Hamburg oder Leipzig, welche Nachricht eine höhere Priorität habe. Innerhalb des ORF liege diese Entscheidung bei den AuslandskorrespondentInnen selbst. Gelegs und Handrick sind einer Meinung, dass die höchste Präferenz, ob die Nachricht auf Sendung komme oder nicht, die Bedürfnisse der einheimischen RezipientInnen seien. Laut Gelegs sollte man sich immer diese Fragen stellen: „Ist das tatsächlich für eine/n österreichische/n Rezipient/in interessant?“ oder „Betrifft diese Nachricht auch das Leben in Österreich?“ – Falls ja, sei die Präferenz natürlich höher. Handrick gesteht ein, dass die ARD zwar über Länder wie Tschechien oder die Slowakei berichten wolle, diese aber nicht so große Dimensionen wie die USA oder China hätten. Wenn sich etwa eine Nachricht über den US-amerikanischen-chinesischen Wirtschaftsstreit ergebe, habe sie Vorrang vor anderen. Eigenschaften eines/r idealen Auslandskorrespondenten/in „Neugierig sein“ – war die prompte erste Antwort beider SUMO-Interviewpartner. Handrick betonte zusätzlich die Flexibilität in allen Bereichen und auch die Fähigkeit, mit verschiedenen Inhaltsformaten (Berichte, Filme…) umgehen zu können. Gelegs betont ausdrücklich die Gleichheit mit jedem anderen Redakteur oder jeder anderen Redakteurin. Er hält zusätzlich noch fest, dass ein Journalist bzw. eine Journalistin nicht gleich von Anfang als AuslandskorrespondentIn arbeite, sondern erst langsam durch das Sammeln nötiger Erfahrungen in diese Funktion hineinwachse.
von Ondrej Svatos
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Europäische Statistikinstitute unter der Lupe SUMO sprach mit Thomas Burg, Alexander Kowarik und Diana Yancheva. Burg und Kowarik sind beide in leitenden Positionen der Bereiche Qualitätsmanagement und Methodik von Statistik Austria. Diana Yancheva setzt sich beim nationalen bulgarischen Statistikinstitut mit Unternehmensstatistik auseinander und seit 2012 ist sie die Vize-Präsidentin. Aus zeitlicher Ressourcenknappheit kam ein Interview mit dem schwedischen Pendant nicht zustande. Datenerhebung Laut Burg und Kowarik gebe es in Österreich zwei bereits sehr etablierte Arten von Datenquellen: Erhebungsdaten, zumeist in Form von Stichproben und nachfolgender Befragung, sowie diverse administrative Datenquellen. Derzeit befinde sich die Nutzung neuerer, durch die Digitalisierung entstandener Datenquellen, die man salopp als „Big Data“ bezeichne in der Entwicklung. Unter diesen Begriff fallen diverse Datenquellen, die einen sehr unterschiedlichen Entwicklungsstand haben. Beispiele dafür seien Scannerdaten von Kassen im Einzelhandel für die Preisstatistik oder Daten über Unternehmen via Web Scraping (Anm.: Auslesen von Websites). Zukünftig sollen auch Daten privater EignerInnen wie Mobilfunkdaten als Datenquelle in Frage kommen. In Bulgarien werden laut Yancheva die Daten nicht über administrative Wege besorgt. Einerseits erfolge dies über Online-Befragungen, die bereits seit über zehn Jahren angewendet und ständig verbessert werden, oder auch über persönliche Interviews und Befragungen von verschiedenen Haushalten. Das Portfolio umfasse auch noch „veraltete“ Methoden, da das Institut so Vergleichbarkeit sicherstelle, erklärt Yancheva. Um auf das Beispiel der Haushaltsbefragungen zurückzukommen – dieses Verfahren besteht bereits seit 90 Jahren. Durch die Digitalisierung haben sich aber auch in Bulgarien neue Methoden etabliert, wie Online-Informationssysteme, wo mit Unternehmen nahtlos zusammengearbeitet werde.
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Wie es mit den Daten weitergeht In Österreich und Bulgarien variieren die Zeiträume der Auswertungen, da die verschiedenen Statistikprodukte unterschiedliche Datengrundlagen haben. Methoden für die große Anzahl der Erhebungen kommen laut Burg und Kowarik aus dem Bereich der Stichprobentheorie sowohl design- als auch modellbasierter Art. Statistische Modelle wie auch Machine-Learning-Mo-
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delle kommen in diversen Produkten in verschiedenen Produktionsschritten zum Einsatz – wie etwa bei der Ersetzung von fehlenden Werten oder bei der Erstellung von Flash Estimates (Schnellschätzungen). Ebenfalls könne bei Flash Estimates die Methode aus der Zeitreihentheorie, etwa zur Vorhersage von noch nicht eingelangten Meldungen, zur Anwendung kommen. Optimierungsmethoden sind laut Burg und Kowarik bei der Erstellung von Geheimhaltungsmustern einsetzbar, um möglichst wenige Zellen in Datenwürfeln sperren zu müssen. Im Kontrast dazu gibt Diana Yancheva einen tieferen Einblick in die Auswertungszeiträume. Jährlich werden vom bulgarischen Statistikinstitut 270 Umfragen durchgeführt. Darunter befinden sich Ergebnisse, die noch im gleichen Monat veröffentlicht werden, genauso wie Ergebnisse, die beinahe ein Jahr später veröffentlicht werden – ein Beispiel stellt die BIP-Veröffentlichung dar. Volkszählungen, die nur alle zehn Jahre durchgeführt werden, benötigen sogar bis zu drei Jahre, bis sie publiziert werden. In Österreich kommt es zu ähnlichen Zeiträumen, wobei Großerhebungen wie Volkszählungen oder Agrarstrukturerhebungen nur bis zu zweieinhalb Jahre brauchen. In Österreich wurde der Statistik Austria im Jahr 2019 ein Budget von 49,9 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. In Bulgarien hingegen steht dem Institut nur ein Budget von 12 Millionen Euro zur Verfügung. Dieses wird in den 28 regionalen sowie dem Hauptstandort verhältnismäßig eingesetzt. Eine Union – Eine Vorgehensweise? Ein großer Teil des Arbeitsprogramms eines nationalen statistischen Institutes in Europa ist durch die europäische Legislatur einheitlich normiert. Das betreffe laut Burg und Kowarik zumeist den Lieferzeitpunkt und -umfang der Statistik. Dies bedeute jedoch nicht, dass Durchführung und Datengrundlage in allen Ländern gleich seien. Ge-
nerell lasse sich sagen, dass vor allem die skandinavischen Länder stärker mit Registern arbeiten, während in Mittelund Südeuropa mehr direkt erhoben wird. Bei Erhebungen im klassischen Sinne, also Befragungen, gebe es oft einen Modell-Fragebogen, den dann alle Länder in die jeweiligen Landessprachen übersetzen und verwenden. Auch bei der Auswertung findet man Differenzen. Manche Länder arbeiten bei der Stichprobenfehlerrechnung mit Replikationsverfahren, wie Bootstrap
oder Jackknife, und andere mit klassischen Methoden, wie Taylor-Linearisierung, erläutern Burg und Kowarik. Die schwerwiegendsten Unterschiede seien bei den Investitionen zu finden. Grund dafür sei die differente Wichtigkeit der Investition in innovative Themen wie dem Einsatz neuer Datenquellen und Methoden. So habe ONS (UK) beispielsweise einen eigenen „Data Science Campus” und CBS (NL) ein „Centre for Big Data Statistics”. Yancheva fügt noch hinzu, dass die Mitgliedschaft in der EU und somit auch Eurostat die Exploration massiv fördere. Außerdem schaffe die Zusammenarbeit einen fundamentalen Grundstein zur europäischen Integrität. Daten sind die Grundessenz Datenerhebungen stellen letztendlich ein numerisches Abbild über das gesamte sozioökonomische Spektrum der für eine Gesellschaft wichtigen Themen dar. Burg und Kowarik betonen, dass es
von großer Bedeutung für eine Gesellschaft sei, faktenbasierte Entscheidung treffen zu können, sowie gute objektiv und unabhängig erstellte Daten als Grundlage für einen Diskussionsprozess zu verschiedensten Themen zur Verfügung zu haben. Daher seien Grundsätze wie Unabhängigkeit, Objektivität und Unparteilichkeit wichtige Grundsätze für nationale statistische Institute. Diese seien neben anderen auch im Verhaltenskodex für Europäische Statistiken festgeschrieben, zu dem sich Statistik Austria vollinhaltlich bekennt. Die gleiche Meinung vertritt auch Yancheva. Außerdem fügt sie an, dass die Ergebnisse sind nicht nur für die Regierung von hoher Relevanz sind, sondern auch für NGOs, Unternehmen und die gesamte Gesellschaft. Denn Daten sind essenziell für den Erfolg von Regierung genauso wie Unternehmen.
von Kathrin Minich
Alexander Kowarik Copyright: Z. Marton u. K. Ranger, Statistik Austria
Diana Yancheva
Thomas Burg Copyright: Z. Marton u. K. Ranger, Statistik Austria
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Die Sinnhaftigkeit von E-Voting Wird die Stimmabgabe im Internet den physischen Gang zur Wahlurne bald ablösen? SUMO interviewte Alexander Prosser, Universitätsprofessor für Wirtschaftsinformatik an der Wirtschaftsuniversität Wien, und Werner T. Bauer von der Österreichischen Gesellschaft für Politikberatung und Politikentwicklung (ÖGPP) zu Herausforderungen, Chancen und Risiken von E-Voting. Wenn von E-Voting gesprochen wird, meint man den Einsatz von elektronischen Hilfsmitteln für Abstimmungen oder Wahlen. Mit Hilfe von E-VotingSystemen kann also die Stimmabgabe online am heimischen Rechner oder auch unterwegs via Smartphone oder Tablet erfolgen. Streng genommen zählen Scanner für die Stimmzettelauswertung auch darunter, ebenso wie die elektronischen Wahlmaschinen, die in vielen Ländern in Wahlkabinen zum Einsatz kommen. Das Thema wird in Politik und Gesellschaft sehr kontrovers diskutiert. Viele sehen die elektronische Stimmabgabe als Fortschritt der Digitalisierung, andere bleiben aufgrund von vergangenen Sicherheitslücken skeptisch oder sehen keinen Mehrwert darin. Werner T. Bauer, wissenschaftlicher Autor bei der Österreichischen Gesellschaft für Politikberatung und Politikentwicklung, hat sich bereits vor vielen Jahren mit dem Thema E-Voting beschäftigt und den Hype Anfang der 2000er Jahre mitverfolgt.
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Dem Hype folgte jahrelange Stagnation 2004 hat sich eine Arbeitsgruppe im
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Bundesministerium für Inneres (BMI) mit rechtlichen, technischen und ökonomischen Erfordernissen zur Implementierung eines E-Voting-Konzeptes in Österreich auseinandergesetzt. Aus dem Abschlussbericht geht hervor, dass im Falle einer Adaptierung der gesetzlichen Grundlagen eine Durchführung einer E-Voting-unterstützten Wahl in Österreich prinzipiell machbar erscheint. Trotzdem haben sich die Diskussionen über eine mögliche Umsetzung in den letzten Jahren wieder abgeflacht. Warum ist das so? Bauer: „Nicht nur in Österreich, sondern auch in anderen Ländern hat sich seitdem wenig getan. Es gab einige Versuche in verschiedenen Ländern auf unterschiedlichen Ebenen, diese wurde allerdings oft aus Sicherheitsbedenken wieder abgedreht.“ „Bauchfleck“ nach ÖH-Wahlen An dieser Stelle sind die Wahlen zur Österreichischen Hochschülerschaft (ÖH) zu nennen. 2009 war es möglich, die Stimme per E-Voting abzugeben. Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hob die Verordnung zum E-Voting bei ÖH-Wahlen allerdings später als gesetzeswidrig auf, da sie zu unpräzise geregelt waren. Das System war intransparent und für
die Wahlbehörde nicht ausreichend nachprüfbar. Seit 2011 stimmen Universitäten wieder in Wahlkabinen ab. Bauer äußert sich skeptisch: „Seit diesem Fall haben sich die Technologien in den vergangenen Jahren sicherlich weiterentwickelt, dementsprechend steigt aber auch das Gefahrenpotential, dass diese Wahlen manipuliert oder gehackt werden können. Es gibt allgemein eine große Skepsis.“ Alexander Prosser, Betreuer der Forschungsgruppe E-Voting.at und Universitätsprofessor für Wirtschaftsinformatik, vergleicht den Fall aus 2009 mit einem „Bauchfleck“. „Es war ein Fehler, weil man ein sehr großes komplexes Wahlsystem abgebildet hat. Es gab über 200.000 Wahlberechtigte und eine komplexe Wahlordnung.“ Das Thema E-Voting sei seitdem stark beschädigt. Mit seiner Forschungsgruppe hat er selbst bereits eine Software-Infrastruktur entwickelt, welche in Österreich bisher bei drei Wahltests zum Einsatz kam und weiß, dass man klein beginnen sollte. „Man sollte nicht mit Wahlen starten, sondern mit kleinen Abstimmungen, die auch wichtig sind. Diese schaffen Vertrauen und die Menschen gewöhnen sich daran. Nicht nur
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die WählerInnen, auch PolitikerInnen und WahladministratorInnen müssen sich langsam daran gewöhnen.“ Anforderungen an ein E-Voting-System Der Europarat hat 2017 eine neue Empfehlung zu internationalen Standards für E-Voting abgegeben. Es handelt sich um eine Neuauflage der ursprünglichen Empfehlung aus 2004. „Insbesondere die Nachvollziehbarkeit und eine wesentlich strengere Absicherung des Wahlgeheimnisses sind gefordert. Das sind die zwei zentralen Verbesserungen gegenüber der früheren Version“, betont Prosser. Es gibt grundsätzlich zwei Arten, das Stimmgeheimnis zu sichern. Ein Beispiel für die erste Möglichkeit ist etwa das estnische System. Hier wird das Stimmgeheimnis gesichert, nachdem sie in die Urne eingebracht wurde, d.h. die Information, wer wie gewählt hat, liegt in der digitalen Urne und man trennt es erst danach – das ist bei digi-
talen Daten allerdings nicht einfach. Bei der zweiten Variante wird die Anonymisierung vor dem Einbringen der Stimme in die Wahlurne. Der Vorteil bei diesem System ist, dass BürgerInnen selber kontrollieren können, ob die Stimme richtig und unverändert in der virtuellen Wahlurne gelandet ist. Prosser: „Das ist also ein Maß der Verifizierbarkeit, das man nicht einmal im normalen Papierwahlsystem in der Wahlzelle hat. Natürlich bleibt wie bei jeder Wahl ein Restrisiko für Manipulationen, aber man kann es zumindest erkennen. Es ist ein transparentes System. “ Die Bedeutung der persönlichen Teilnahme ist wichtig Bei der Frage, ob der Gang zur Wahlurne noch zeitgemäß ist, betont Bauer die erforderliche gesellschaftliche Konstanz. „Es muss bestimmte Rituale geben, die eine bestimmte Beständigkeit haben und die nicht einfach aufgrund des technischen Fortschritts geopfert werden sollten. Außerdem funktionie-
ren die Wahlen in Österreich nahezu perfekt.“ Das Recht zur Teilnahme an politischen Wahlen ist nicht selbstverständlich, es wurde erst in den Jahren 1907 (für Männer) und 1918 (für Frauen) eingeführt. „Die persönliche Teilnahme hat eine gewisse Feierlichkeit, schließlich nimmt man einer wichtigen Entscheidung teil. Das Wahlrecht ist ein fundamentales und hart erkämpftes Recht.“ Mit E-Voting kann man bequem per Klick seine Stimme abgeben. Das birgt aber auch das Risiko, dass die Reflexion für den Wahlakt in Zeiten von Social Media und Online-Shopping abnehmen könnte. „Sowohl für den Einzelnen, aber auch für die Gesellschaft könnte die Bedeutung dadurch entwertet, kurzfristig und unüberlegt werden“, sagt Bauer. „Die zeitlichen Argumente, die dagegen sprechen sind lächerlich, weil Menschen sich auch für andere, viel banalere Dinge, viel Zeit nehmen. BürgerInnen können sich durchaus alle vier bzw. fünf Jahre für eine halbe Stunde wohin bewegen, um an diesem
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Wahlbeteiligung bei Vorreiter Estland Sieht man sich die österreichische Wahlbeteiligung der letzten Jahre an, erkennt man einen abnehmenden Trend. Der Ibiza-Skandal und die kurz vorher publizierte mutmaßliche Spesenaffäre um Heinz-Christian Strache hat viele WählerInnen kurzfristig von ihrer Stimmenwahl abgehalten, somit sank die Wahlbeteiligung bei der Nationalratswahl im vergangenen Jahr auf das zweitniedrigste Niveau seit der Zweiten Republik auf 76%. Auffällig hoch bei dieser Wahl war die Zahl der ausgestellten Wahlkarten. Diese nahmen im Vergleich zur vorherigen Nationalratswahl 2017 mit 1,07 Mio. Wahlkarten um rund 20% zu. Es zeigt sich also, ÖsterreicherInnen wollen Flexibilität. Sie wollen zeit- und ortsunabhängig ihre Stimme – etwa bei Ortsabwesenheit, gesundheitlichen Gründen oder Auslandsaufenthalten – abgeben. Gibt es hier Potential für Online-Wahlen? Wer glaubt, dass E-Voting die Wahlbeteiligung steigern könne, wird leider enttäuscht. Estland gilt als Pionier des E-Votings. Als erstes Land weltweit hat es 2005 die Stimmabgabe im Internet flächendeckend für Kommunalwahlen eingeführt. Wissenschaftliche Untersuchungen aus diesem Land zeigen, dass kein signifikan-
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ter Anstieg der Wahlbeteiligung durch die elektronische Wahlmöglichkeit festgestellt wurde. Es scheint, als wurden dadurch in erster Linie andere Stimmkanäle ersetzt. Diese Bedingung wird auch auf der Website des BMI festgehalten. E-Voting darf auf lange Sicht nur eine zusätzliche Möglichkeit neben einer traditionellen Stimmabgabe sein. Es müsse weiterhin eine Stimmabgabe mittels Wahlkarte in Papierform oder im Wahllokal geben. Ansonsten besteht die Gefahr, Menschen ohne Internetzugang oder ohne entsprechende digitale Kenntnisse zu benachteiligen. Nichtsdestotrotz besteht in der österreichischen Bundesverfassung derzeit keine geeignete Rechtsgrundlage für Wahlen auf elektronischem Weg. Ob und wann E-Voting in Österreich Einzug hält, bleibt abzuwarten. Im BMI wird die Entwicklung und der Erfolg auf diesem Gebiet im In- und im Ausland weiterhin beobachtet.
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von Melanie Gruber
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wichtigen staatsbürgerlichen Akt teilzunehmen. Ich denke, das ist wichtig für den Menschen generell, aber auch für die Gemeinschaft.“
Whistleblowing: zwischen Heldentum und Verrat Eine einfache Recherche zu den Schwierigkeiten der Zusammenarbeit von JournalistInnen und Whistleblowers entwickelte sich zu einem Selbstexperiment. „Ihre Anfrage übersteigt den Rahmen des uns Möglichen.“ „Vielen Dank für die Übermittlung Ihrer Fragebogens. Darf ich Sie ersuchen, sich an das hierfür zuständige Bundesministerium zu wenden.“ „Leider ist mir wegen akuter Arbeitsüberlastung die Beantwortung Ihrer Fragen nicht möglich.“ Vier einfache Fragen – die nicht beantwortet wurden. rechtlichen Schutz. Diese Whistleblower spielen eine entscheidende Rolle bei der Enthüllung von kriminellen Machenschaften oder Missständen in Politik, Wirtschaft und öffentlichem Interesse. Als Insider sitzen sie oft direkt an der Informationsquelle und können so vertrauliche Details an die Öffentlichkeit bringen. Aus der Zusammenarbeit von JournalistInnen und Whistleblowern sollte eine Win-Win-Situation entstehen. Aber welche Diskrepanzen gibt es aufgrund des rechtlichen Ungleichgewichts?
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Exil, Verfolgung, Haft, in einigen Ländern vielleicht sogar Tod. Mit diesen Folgen – zwischen Heldentum und Verrat – können Whistleblowers in der Regel rechnen, im Endeffekt handeln sie aber meistens im Sinne der Allgemeinheit. Während sie meist rechtswidrig agieren, müssen sich JournalistInnen berufsgemäß nach Gesetzen richten und in Österreich auch (idealiter) gemäß Ehrenkodex handeln. Genaugenommen sind JournalistInnen verpflichtet, über ihre Quellen zu schweigen, die HinweisgeberInnen hingegen unterliegen keinem
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EU-Richtlinie Am 23. Oktober 2019 beschloss das EUParlament die EU-Richtlinie zum Schutz von Whistleblowers. Sie soll ein höheres Schutzniveau bieten für Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden. Die Richtlinie gilt für juristische Personen des Privatsektors ab 50 MitarbeiterInnen, juristische Personen des öffentlichen Sektors, Landes-/ Regionalverwaltungen und Gemeinden. Der Schutz der Richtlinie beinhaltet die Meldung von Rechtsverstößen durch HinweisgeberInnen. Dies können sein: ArbeitnehmerInnen, Selbstständige, bereits ausgeschiedene ArbeitnehmerInnen, bezahlte und unbezahlte PraktikantInnen. Mit neuen Vorschriften werden Schutzvorkehrungen getroffen, um HinweisgeberInnen zu schützen, eingeschüchtert oder gekündigt zu werden. Auch muss die Vertraulichkeit für ihre Identität gewahrt bleiben. Die Mitgliedsstaaten haben zwei Jahre Zeit, die Vorschriften national umzusetzen, was beispielsweise in Österreich gewisse Schwierigkeiten hervorrufen kann. Die Richtlinie empfiehlt Whistleblowers zunächst die internen Kanäle ihrer Organisation zu nützen, bevor sie sich an Externe oder an Behörden wenden. Ihr Schutz bleibt auch dann bestehen, wenn sie sich sofort an unternehmensfremde Organisationen wenden. Durch die EU-Empfehlung sich vorerst an die internen Unternehmenskanäle zu wenden, wird von vielen ExpertInnen für Arbeitsrecht die Ansicht vertreten, dass die neue EU-Whistleblower-Richtlinie hohe Risiken für HinweisgeberInnen im Sinne des Arbeitnehmerschutzes birgt. Daher ist es bei der Zusammenarbeit mit HinweisgeberInnen äußerst wichtig, zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen
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bei der Kommunikation zu treffen. Im digitalen Zeitalter ist es besonders fatal, (versehentlich) den Namen oder andere Identitätsmerkmale preiszugeben. Bei einer Kooperation dieser Art bedarf es besonderen Einfühlvermögens für die Privatsphäre des Whistleblowers. Sie erleben universelle Vergeltungsmaßnahmen, weil sie das Richtige tun. Sie werden von MitarbeiterInnen gemieden, als untreu schikaniert, degradiert oder gar entlassen. Die Karriere ist ruiniert. Viele können nie wieder in ihrer Branche oder ihrem Beruf arbeiten. Nicht unüblich ist es daher, dass HinweisgeberInnen einen Anwalt konsultieren, bevor sie mit JournalistInnen arbeiten. Leaking vs. Whistleblowing Leaking kann über das Whistleblowing hinausgehen. Häufig geht es um die unbefugte Freigabe sensibler Materialien, von denen einige für die Öffentlichkeit wertvoll sind. Bundesbehörden haben spezifische Büros, die rechtmäßig Whistleblower-Informationen akzeptieren können und sind verpflichtet, diese zu untersuchen. Wenn jedoch ein/e Informant/in vertrauliche Informationen oder anderes sensibles Material an die Nachrichtenmedien weiterleitet, kann er oder sie wegen eines Verbrechens angeklagt werden. Der Hauptunterschied zwischen geschützter WhistleblowingAktivität und Leaking besteht also darin, dass beim Whistleblowing die Informationen an Bundesbeamte bzw. -beamtinnen gemeldet werden, die gesetzlich dazu bestimmt sind, sie zu erhalten, während beim Leaking die Information an jemanden weitergegeben wird, der nicht berechtigt ist, sie zu erhalten. Die beliebtesten Anlaufstellen sind natürlich die Medien.
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Internationaler Vergleich Für mehrere Staaten ergeben sich aus der neuen EU-Richtlinie Probleme mit der Umsetzung. In den Niederlanden gibt es eine externe Whistleblower-Institution, die gemeinsam mit HinweisgeberInnen den geeignetsten Meldeweg sucht. In Schweden haben BeamtInnen die Möglichkeit ohne Hindernis Kontakt mit den Medien aufzunehmen. Irland hat das fortschrittlichste Whistleblower-Gesetz: Der irische Protected Disclosures Act von 2014 gewährt jedem/r ArbeitnehmerIn das Recht, sich persönlich an die Regierungsbehörde zu wenden. Der Verdacht, dass die Information „im Wesentlichen wahr“ ist genügt. Der/Die ArbeitgeberIn muss nicht informiert werden. Für Österreich ergibt sich aus dem EU-Recht das Problem, dass der Betriebsrat die Einführung von Meldekanälen oder Verfahren für Meldungen als „menschenunwürdig“ bezeichnen und diese dauerhaft verhindern kann. Damit wären die von der Richtlinie geforderten Sicherheiten für Whistleblowers nicht gewährleistet. Das bestehende Experiment der Whistleblower-Hotline bei der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft könnte jedoch nun (Anm.: Die Anfragen an alle Behörden wurden zwischen Oktober 2019 und Januar 2020 vorgenommen) per Gesetz zur Dauereinrichtung werden. Auskünfte dazu gibt die WKSta jedoch nicht gerne, wie SUMO feststellen musste. Auch die vorgeschlagene Weiterleitung an das Bundesministerium für Verfassung, Reformen, Deregulierung und Justiz führte zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis. Als alternative Anlaufstelle wurde die Finanzmarktaufsicht angegeben, deren Kontaktaufnahme verlief jedoch vorerst ebenso im Sand. Schließlich erbarmte sich Klaus Grubelnik, Sprecher bei der Fi-
nanzaufsichtsbehörde, und beantwortet SUMO einige Fragen. Whistleblowing gab es schon immer, jedoch als anonyme Anrufe oder Briefe ohne Absender/in. „Neu ist, dass dies als unternehmensinternes Informationssystem oder als Informationssystem gegenüber Behörden institutionalisiert wurde“, so Grubelnik. Im Jahr 2018 bestätigte Oberstaatsanwältin Täubl von der WKSta gegenüber dem „KURIER“ 6.378 vertrauliche Hinweise in den letzten Jahren. Bei der Hälfte der Fälle war kein Verdacht festzustellen, bei einem Drittel handelte es sich Finanzvergehen, für den Rest waren andere Staatsanwaltschaften zuständig. Dass Whistleblowing in Österreich im internationalen Vergleich relativ spät kommt, entspricht ganz einem österreichischen Klischee, was bereits 2012 die an der Universität Graz tätige Juristin Paula Aschauer in ihrem Buch „Whistleblowing im Arbeitsrecht“ bestätigt. Auch die 2018 erschienene Studie des Fachhochschulcampus Wien und der Verwaltungsakademie Bremen zeigt, dass in Deutschland 80% der Top-Unternehmen klaren Whistleblowing-Regeln folgen, in der Schweiz 75%, in Österreich hingegen nicht einmal 54%. Klaus Grubelnik von der FMA berichtet, dass die Whistleblower-Meldungen von 140 im Jahr 2015 auf 232 im Jahr 2018 gestiegen seien. Rund die Hälfte aller Whistleblowing-Hinweise betrifft heute Anlagenbetrug, 2015 erst 20%. Vielleicht liegt die Schwierigkeit dieser Thematik nicht in der Zusammenarbeit allein, sondern bereits in der Kontaktaufnahme. Ist es JournalistInnen möglich, Whistleblowers zu suchen oder müssen sie sich gedulden, bis gezielt auf sie zugegangen wird? C. Fred Alford schrieb in seinem 2001 veröffentlichtem Werk „Whistleblowers: Broken Lives and Organizational Power“ Folgendes: „Whistleblowing ist nicht nur ein Akt des Aussprechens. […] Es erweist sich als überraschend schwierig für Whistleblower, ihren internen Dialog mit anderen in der Organisation zu teilen. Nicht nur will niemand zuhören, sondern niemand will über Nicht zuhören sprechen.“
Rund 80 Prozent der ÖsterreicherInnen informieren sich laut CCS Austria 2014/15 täglich über das aktuelle Geschehen in Tageszeitungen.
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Tiefenrecherche gegen Junk-Food-Journalismus: Das Magazin „DATUM“ SUMO sprach mit Stefan Apfl, dem Chefredakteur des Monatsmagazins „DATUM“, und Univ.-Prof. Dr. Rudolf Renger, Leiter der Journalistik-Abteilung an der Universität Salzburg, über Qualität im Journalismus, dessen Finanzierung und die Rolle von „DATUM“. Im Juni 2019 hat das Monatsmagazin „DATUM“ seinen 15. Geburtstag gefeiert. Seit seiner Gründung war es stets das Ziel, unabhängigen, sauberen Journalismus zu betreiben. Kurz: Qualität steht an oberster Stelle. Gegründet wurde das Magazin von Klaus Stimeder und Johannes Weyringer, die ein Pendant zum amerikanischen „New Yorker“ schaffen wollten, wie Renger sagt. In den 15 Jahren seit der Gründung gab es Erfolge und ein Beinahe-Aus. Im Frühling 2016 übernahm Stefan Apfl, der erst 2015 Chefredakteur geworden war, das Magazin von der Medienbeteili-
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gungsholding Medecco, da diese damit nichts mehr anfangen konnte, so Apfl, der es vor dem Aus bewahren wollte. Apfl konstatiert heute, dass es richtig war, sowohl das finanzielle Risiko einzugehen, als auch sämtliche Energie und Zeit zu investieren. „‚DATUM‘ solle Teil des vielstimmigen Konzertes des recherchierenden Journalismus im deutschsprachigen Raum bleiben“. Zum Zwecke ökonomischer Stabilität wurde ebenfalls 2016 der Satzbau-Verlag gegründet, in welchem das Monatsmagazin erscheint. Neben Apfl, der zu 22.5% am Satzbauverlag betei-
Tiefenrecherche gegen Junk-Food-Journalismus: Das Magazin „DATUM“
ligt ist, gehören 25% Sebastian Loudon und 52,5% der Firma AZH Beteiligungs GmbH. Am 4. Mai 2018 wurde bekannt, dass der „ZEIT Verlag“ und „DATUM“ eine Verlagspartnerschaft starten, die sich besonders auf gemeinsame Veranstaltungen und Vertriebskooperationen fokussiert. Die Schnittstelle dabei bildet Sebastian Loudon, der neben seiner Tätigkeit als Österreich-Repräsentant des „ZEIT Verlags“ seit Mai auch die Rolle des „DATUM“-Herausgebers übernommen hat. „DATUM“ erscheint zehn Mal jährlich, wobei es zwei Doppelausgaben gibt, nämlich für die Sommermonate Juli und August und die Wintermonate Dezember und Jänner. Neben der Printausgabe, die das Herzstück bildet, gibt es auch Online-Beiträge zu lesen bzw. Podcasts zu hören. Das Magazin ist multithematisch aufgestellt und so findet man neben Reportagen und Analysen zur Innenpolitik auch Bilderstrecken und Reportagen zur Außenpolitik. Im Interview mit SUMO sagt Chefredakteur Apfl: „‚DATUM‘ ist ein General Interest Magazin. Wir interessieren uns für Themen jenseits dessen, was man Tagesaktualität nennt. Eine ‚DATUM‘Geschichte muss entweder etwas Unerzähltes erzählen oder etwas oft Erzähltes anders erzählen.“
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Qualitätsjournalismus und dessen Finanzierung Woran sich Qualitätsjournalismus messen lässt, erklärt Univ.-Prof. Renger folgendermaßen: „Wenn ein Produkt die Erwartungen der KonsumentInnen erfüllt und mit qualitativer Ware hergestellt wurde, dann liegt Qualität vor. Dabei müssen Dimensionen wie: die Nachricht muss Relevanz haben, die Nachricht muss Nachrichtenfaktoren in sich einschließen, die Nachricht muss eine gewisse Nähe haben oder auch die Nachricht muss vielfältig sein, erfüllt werden.“ „DATUM“ zeigt mit seinen tiefgründig recherchierten Texten, dass es möglich ist, diese An-
forderungen zu erfüllen, allerdings hat diese Qualität ihren Preis. Nicht zuletzt ist das der Grund, warum sich online in etwa zwei Drittel der Artikel hinter einer Paywall (meist zwischen ein-drei Euro) befinden. Die Finanzierung von Qualitätsjournalismus ist sowohl anders als auch schwieriger geworden, so Apfl. (Qualitäts-)Journalismus habe historisch gesehen zwei Einnahmequellen: die KäuferInnen und zum anderen Inserate. Dadurch, dass die Digitalisierung RezipientInnen dahingehend sozialisiert habe, dass online alles gratis zur Verfügung gestellt werde, habe die Bereitschaft für Qualität zu zahlen stark abgenommen. Ebenso hat die Inseraten-Schaltung in Printmedien an Wert verloren, da online veröffentlichte Werbung für den Werbetreibenden besser nachvollziehbar (Stichwort: Tracking) und individuell anpassbarer ist. Wie kann dem also entgegengewirkt werden? Diversifikation ist in diesem Zusammenhang essentiell. Obwohl der Hauptfokus auf der Print-Ausgabe liege, sei „DATUM“ breit aufgestellt. Apfl sieht Print als eine Art Vinyl, das es immer geben werde, und die Redaktion von „DATUM“ bestehe aus „Paperholics“, die es fasziniere, welche Möglichkeiten das Trägermedium Papier hat. Neben den Online-Beiträgen und dem Podcast „DATUM-Kosmos“ über die Hintergründe und Entstehung der jeweiligen Ausgabe, gibt es ein TalenteProgramm, dass die Ausbildung junger JournalistInnen zum Ziel hat. Hierbei engagieren sich Unternehmen in Form von Bildungssponsoring. Im Sommer 2019 wurde ein Buch veröffentlicht und immer wieder finden Diskussionsveranstaltungen statt. Außerdem ist sich „DATUM“ seines Wertes bewusst. Laut Stefan Apfl sei Informationsqualität in einer liberalen Gesellschaft ein zentrales Gut, für das es ein Bedürfnis gebe. Er vergleicht Journalismus-Qualität mit Lebensmittelqualität: Es gebe viel Junk-Food-Journalismus, aber eben
Rudolf Renger
Stefan Apfl
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auch qualitativ hochwertigen. Ziel sei es, diesen Qualitätsjournalismus anzubieten; das Angebot wahrnehmen müssen die Menschen jedoch selbst. Man wolle und müsse die LeserInnen davon überzeugen, dass es Sinn mache, für guten Journalismus zu zahlen.
Für die Zukunft von „DATUM“ hat Apfl folgende Pläne: Es sollen weiterhin die Ressourcen in den Qualitätsjournalismus und die damit einhergehende Ausbildung von QualitätsjournalistInnen investiert werden. Außerdem die Diversifikation: Im Frühsommer 2020 komme – als nächste große Zündstufe von „DATUM“ – ein großes neues Projekt auf den Markt. Für die Zukunft des österreichischen Journalismus wünscht sich Apfl bessere JournalistInnen, als sich das Land verdient habe und interessierte LeserInnen.
von Annabelle Schleser
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Obwohl die Finanzierung nicht einfach sei, meint Renger, dass man sich momentan keine allzu großen Sorgen um den Qualitätsjournalismus machen müsse. Zum einen habe dieser seit geraumer Zeit einen stabilen Marktanteil, der zwar nicht übergroß sei, sich aber dennoch etabliert habe. Zum anderen habe die momentane politische Lage dazu beigetragen, dass verstärkt auf das Wohlergehen von Qualitätsjournalismus geachtet werde. Renger zitiert Paul Lendvai, der behauptet, dass die Tatsache, dass momentan in der Weltpolitik einige „Politclowns“ und gewählte Diktatoren am Ruder seien, einen positiven Effekt hätte: Qualitätsjournalismus wurde wieder ins Zentrum der Perspektiven gebracht. Renger: „Man stellt sich schützend vor diesen wertvollen Gut-Journalismus, dies ist überlebensnotwendig in einer Demokratie.“ Die Bedeutung von Qualitätsjournalismus ist groß, da sind sich Renger und Apfl einig. Der Zugang beziehungsweise das Verständnis
jedoch ist nicht für alle möglich. Journalismus-Professor Renger stellt fest, dass es viele Menschen in Österreich gebe, die mit hochwertigem Journalismus nichts anfangen, da sie diesen nicht verstehen könnten. Das, ebenso wie die Aussage von Apfl, dass Qualitätsjournalismus und das Papier als Trägermedium eine Art Vinyl seien, deutet darauf hin, dass Qualitätsjournalismus Spartenjournalismus bleiben werde. Spartenjournalismus von großer Bedeutung, aber nicht gemacht für jedermann. Besonders schätzt Renger an „DATUM“, dass es die Durststrecken immer überwunden habe und dass gute JournalistInnen in einer guten Redaktion guten Journalismus machen.
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Tiefenrecherche gegen Junk-Food-Journalismus: Das Magazin „DATUM“
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Das Team der Ausgabe 34 und des Onlinemagazins www.sumomag.at Stehend von links nach rechts: Marko Brkic, Tobias Kachelmeier, Anna Neuherz, Katja Müller, Kathrin Minich, Lisa Müllner, Roland Steiner, Lisa Mühleder, Nina Kern, Jasmin Klozyk, Ondrej Svatos, Caroline Weiss, Michael Marsoner Sitzend von links nach rechts: Raffael Hagleitner, Katharina Samsula, Klaus Ofner, Annabelle Schleser, Elena Weissengruber, Deniz Aslan, Theresa Burgstaller, Marlene Lampl, Christian Ortner, Linda Ploszajska, Christian Woltran, Magdalena Bauer, Melanie Gruber Nicht im Bild: Katrin Nussmüller, Lisa Wögerbauer
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Nächster Halt: Zukunft! Sechs Studienbereiche ein Ziel: Wissen, das in Zukunft gebraucht wird.
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Eva Milgotin Studentin Wirtschafts- und 88 Finanzkommunikation
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