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» Reality-TV und die Faszination von Fremdscham von Paul Jelenik
from SUMO #37
RealityTV und die Faszination von Fremdscham
Unterhaltung hat viele Gesichter. Sie bringt uns zum Weinen und zum Lachen, sie kann informieren und ist Nährboden unseres Eskapismus. Im Falle von Reality-TV hat Unterhaltung noch eine weitere Funktion – sie bringt uns dazu, uns für andere zu schämen. SUMO geht diesem Phänomen auf den Grund und unterhielt sich dafür mit der Professorin für Kommunikationswissenschaften und Medienkommunikation Prof. Dr. habil. Katrin Döveling (Darmstadt) und Oliver Svec, Director of Entertainment bei ATV.
Warum empfinden wir überhaupt Fremdscham bei der Rezeption? Für Döveling entsteht Fremdscham durch die Fähigkeit des Menschen, Empathie für andere zu empfinden und sich in deren Lage zu versetzen. Dementsprechend fühlten wir für diejenigen stellvertretend Scham, die es in der jeweiligen Situation nicht tun. In diesem Zusammenhang erwähnt Döveling den sozialen Vergleich als medienpsychologische Konstante. Diese gibt also unserem Drang nach dem permanenten Vergleich mit anderen einen Namen. Dabei entstehe oftmals ein Gefühl der Erhabenheit von RezipientInnen gegenüber den im jeweiligen Format vorkommenden Charakteren, was wiederum in Entspanntheit resultiere. Svec erkennt ebenfalls den Wunsch des Menschen, andere Personen zu sehen, denen es schlechter geht. Er fügt jedoch hinzu, dass Humor dabei eine zentrale Rolle einnehme und ein „ganz großer Treiber im Reality-TV“ sei. Für Svec ist die Humorebene in solchen Formate mittlerweile die definierende und bette die jeweilige Sendung in eine Weichheit ein, die es den ZuseherInnen erlaube, „Mein Gemeindebau“ & Co. ohne schlechtes Gewissen zu rezipieren. Fremdscham als Quotenbringer
Fremdscham als Emotion könne dabei laut Döveling über alle Länder hinweg empfunden werden. Reality-TV wiederum hat für Svec jedoch oftmals einen lokalen Touch. So seien jene RealityFormate, die auf ATV gezeigt werden, „extrem österreichisch“ und würden kaum auf einem deutschen Sender Platz finden. In diesem Zusammenhang stellt der Unterhaltungschef den bunten Blockbuster-Charakter bei RTL den selbstzweifelnden Underdogs bei ATV gegenüber. Beide Herangehensweisen scheinen zu funktionieren. So hatte RTL laut der AGF Videoforschung GmbH im April 2021 einen Monatsmarktanteil bei den ZuseherInnen in der Altersgruppe 14 bis 49 Jahre von 10,6 Prozent und steht damit an der Spitze der deutschen Sender und erreicht in Österreich laut Teletest im selben Monat 3,4 Prozent. ATV ist mit 3,3 Prozent nur knapp dahinter, liegt mit „PULS 4“ gleich auf und lässt „ProSieben“ und „Sat.1 Österreich“ hinter sich – allesamt zur gleichen Sendergruppe gehörend. Keine ProtagonistInnen, keine Aufreger, kein Format
Ideen für Reality-TV Formate werden erst dann bei ATV weiterfolgt, wenn sich Svec und sein Team die ProtagonistInnen angesehen haben, so der Unterhaltungschef. Damit machen jene Personen also das Zentrum des Entwicklungsprozess aus. Weiters stehe ATV für Aufreger und behandle dementsprechend nur Themen, die eckig genug sind, um für den Sender auch tatsächlich in Produktion zu gehen. Eben diese sei konträr der öffentlichen Meinung nicht durch „gescriptete“ Formate gekennzeichnet, da die RezipientInnen das sofort merken würden. Das schließe aber nicht ein Set-Up, eine Anordnung, aus, die dann „gewisse emotionale Prozesse fast zwangsläufig auslöst“, so Svec. Somit seien die Emotionen der Charaktere real, wären allerdings nie ohne dass vorher gesetzte Set-Up aufgetreten. Diese Charaktere müssen laut dem Unterhaltungschef Personen sein, denen RezipientInnen gerne eine Stunde ihrer Zeit widmen und miterleben wollen, was sie erleben. Die Gründe dafür können unterschiedlich sein und von romantischen
Gefühlen bis hin zur Hass-Liebe reichen. Laut Döveling nehmen die ProtagonistInnen aufgrund des Bedürfnisses nach Aufmerksamkeit und dem Wunsch im Gespräch der Öffentlichkeit zu bleiben teil. Im Falle von Formaten mit Prominenten habe das für eben diese dann zusätzlich oftmals noch Werbedeals zur Folge. Döveling spricht sogar von einer Aufmerksamkeitsmaschinerie, die da in Gang gesetzt werde.
Voyeurismus ist universal
„Ich glaube nicht, dass es diesen gibt“, antwortet die Medienforscherin auf die Frage, ob es den typischen Rezipienten/die typische Rezipientin dieses Genres gibt. Reality-TV wird genauso in bildungshöheren Schichten verfolgt und daher sei die Zuseherschaft nicht notwendigerweise bildungsspezifisch oder sozio-ökonomisch klar definierbar. Die Faszination des Voyeurismus und der Selbsterhebung sei somit Schichtübergreifend sehr wichtig. Hinzu komme noch Sexualität, die unter dem altbekannten Motto „Sex sells“ als basaler Mechanismus fungiere. Auch Svec kann keine Zielgruppe grundsätzlich ausschließen, da Reality-TV mittlerweile ein sehr breites Genre sei. Besonders während der Pandemie habe es verstärkt Bedarf nach solchen Formaten gegeben, die laut Svec eine „Flucht aus der Krisenrealität“ darstellen. Döveling erkennt ebenfalls ein enormes Pandemie-bedingtes Unterhaltungs- und Entspannungsbedürfnis und glaubt an den weltweit anhaltenden Trend von Reality-TV. Das Reality-TV-Format, das für sie dabei besonders hervorsticht, ist jenes, das Prominente und deren Bloßstellung ins Zentrum rückt. Als Beispiel führt sie hier das Dschungel-Camp an, das offiziell unter dem Titel „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus“ geführt wird. Das Faszinierende entstehe für Döveling darin, Prominente, die über uns zu schweben scheinen, wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Der soziale Vergleich habe als Folge, dass die Stars zum Jedermann werden, und das tue RezipientInnen gut. Die breite Zuseherschaft könnte neben den angeführten Charakteristika von Reality-TV ebenfalls auf das Fernsehen im Allgemeinen zurückzuführen sein. So sieht Svec lineares Fernsehen als den „Spezialisten für den größten gemeinsamen Nenner“. Damit stehe es im starken Kontrast zu Streaming-Anbietern, die auf sehr spezifische Bedürfnisse einzelner Zielgruppen ausgelegt seien.
Ausblick
„Ich befürchte, es wird so ein“, stellt Döveling fest und beantwortet damit die Frage, ob aufgrund der zunehmenden Abgestumpftheit der RezipientInnen die Inhalte und Formate im Reality-TV in Zukunft extremer werden. Das zeigen die Entwicklungen der letzten 20 Jahre, in denen sich die Grenzen des RealityTV verschoben haben. In Hinblick auf kulturelle Strömungen wie #Metoo und Fridays For Future identifiziert sie Reality-TV als Bastion, in der Voyeurismus und Emotionen wie Fremdscham weiterhin faszinieren und Themen wie Naturschutz oder feministische Bewegungen wenig Anklagen finden würden.
von Paul Jelenik
Katrin Döveling / Copyright: Katrin Döveling
Oliver Svec / Copyright: Marlena Koenig