Filmpodium Programmheft April Mai 2016 // Filmpodium programme issue april may 2016

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1. April – 15. Mai 2016

Léa Pool Paolo Sorrentino


Ab 24. März iM Kino

Eine Hymne an die Freiheit und die Jugend LeyL a Bouzid, T unesien

As I OpEn My EyEs Publikumspreise in Venedig, Bastia und Namur

Ab 7. April iM Kino

abluka Emin AlpEr, TürkEi

Von brennender AktuAlität

«Emin Alpers Abluka ist meisterliche Erzählkunst.» SRF, Brigitte Häring

Spezialpreis Jury Venedig


01 Editorial

Nicht nur Film, sondern auch Podium Das Filmpodium ist nicht nur ein Hort der Filmkunst, wo Klassiker und neue, wegweisende Werke des Kinos zu sehen sind; es ist auch ein Podium für Diskussionen über den Film. So sind oft Filmschaffende aus aller Welt bei uns zu Gast: Im April und Mai wird die Kanada-Schweizerin Léa Pool, der wir eine Retrospektive widmen, im Rahmen des Pink Apple Festivals in unserem Kino über ihre Filme sprechen. Der kubanische Cineast Fernando Pérez stellt zwei seiner Werke vor. Und die Filmwissenschaftler Jörg Schweinitz und Daniel Wiegand präsentieren ihr neues Buch über die Ästhetik des Stummfilms. Ebenso wichtig wie solche Anlässe ist uns aber der Austausch mit Ihnen, unserem geschätzten Publikum. Ob Sie Filmfan sind oder selber Filme machen – Ihre Meinung zum Programm interessiert uns. Kritisieren Sie, loben Sie, kommentieren Sie – und benutzen Sie dafür unsere Online-Podien Facebook, Blog und Twitter. Unsere neue Mitarbeiterin Laura Walde betreut das Filmpodium auf diesen Kanälen und ist gespannt auf Ihren Input. Auf unserer Facebook-Seite, auf der wir besondere Veranstaltungen und Hinweise publizieren, können Sie Ihre Kommentare und Meinungen kundtun. Wenn Ihnen dieses Podium nicht behagt, können Sie sich demnächst via Filmpodium-Blog in die Diskussion einbringen. Auch hier informieren wir nicht nur über das Programm, sondern geben Ihnen die Möglichkeit zu Anregungen, eigenen Beiträgen und Rückmeldungen. Online bauen wir zudem die Programmkommunikation weiter aus: Änderungen, technische Probleme, kurzfristig anberaumte Veranstaltungen? Der bereits lancierte Filmpodium-Newsletter, den Sie auf unserer Website abonnieren können, hält Sie immer auf dem Laufenden. Neu finden Sie auf Instagram aktuelle Bilder zum Programm, Schnappschüsse von FilmpodiumAnlässen und Gästen sowie Blicke hinter die Kulissen. Auf Twitter schliesslich gibts Nachrichten zum Filmpodium und seinem Programm in knappster Form, die Sie kommentieren und/oder weiterverbreiten können. Wir freuen uns, wenn Sie von diesen neuen Möglichkeiten Gebrauch machen und unsere Angebote bei Ihnen Widerhall finden. Denn so sehr uns die Arbeit am Programm Freude und Vergnügen ist, so machen wir es doch in allererster Linie für Sie. Corinne Siegrist-Oboussier & Michel Bodmer www.facebook.com/filmpodiumzurich

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Titelbild: Toni Servillo in Paolo Sorrentinos La grande bellezza


02 INHALT

Léa Pool

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Paolo Sorrentino

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Die diesjährige Ausgabe des Pink Apple Festivals begrüsst als Stargast die Kanada-Schweizerin Léa Pool (*1950). Das Filmpodium nimmt dies zum Anlass, die Cineastin, deren jüngstes Werk La passion d’Augustine unlängst im Kino zu sehen war, mit ­einer Retrospektive zu würdigen. Frauenbilder und Frauenliebe zählen seit Pools Anfängen in den achtziger Jahren zu den Hauptthemen der gebürtigen Genferin, die sich mit feinfühligen Filmen wie Anne Trister, À corps perdu und Maman est chez le coiffeur international einen Namen gemacht hat. Mit Emporte-moi errang sie weltweit zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Schweizer Filmpreis. Zu diesen Werken wird Léa Pool im Filmpodium Gespräche führen.

Zwischen der schwelgerischen Fabulierlust Federico Fellinis und dem satirischen Scharfblick Nanni Morettis hat Paolo Sorrentino (*1970) einen eigenen Weg gefunden. Den skrupellosen (realen) Machtmenschen Giulio Andreotti zeichnet er in Il divo ebenso scharf wie den eitlen Schriftsteller Jep in La grande bellezza oder den abgelebten Rockstar in This Must Be the Place. Seine hintergründigen, vielfach preisgekrönten Gesellschaftstableaus sind sorgfältig komponiert und inszeniert; im Mittelpunkt stehen vom Schicksal verwöhnte Männer, die mit ihrer Existenz und ihrem Alter hadern. Für die Faszination seiner Antihelden bürgen herausragende Darsteller wie Toni Servillo, Sean Penn, Michael Caine und Harvey Keitel.

Bild: Emporte-moi

Bild: Paolo Sorrentino


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Das erste Jh. des Films: 1946

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Nach dem Krieg herrschen gleichzeitig Aufbruchsstimmung und Unsicherheit. Tauchen Sie ein ins Jahr 1946 mit Staudtes Die Mörder sind unter uns, Rossellinis Paisà, Wylers The Best Years of Our Lives, Hawks’ The Big Sleep, Cocteaus La Belle et la Bête und Powell & Pressburgers A Matter of Life and Death; begleitet von Beiträgen aus der damaligen Schweizer Filmwochenschau.

Premieren

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Alba Rohrwacher brilliert in Vergine giurata als albanische Frau, die als Mann unter Männern leben muss; Christopher Plummer überzeugt in Remember als dementer Greis, der eine Gräueltat aus dem Zweiten Weltkrieg rächen soll. Bild: Vergine giurata

Reeditionen

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In Wenn die Kraniche ziehen erzählt Michail Kalatosow von den katastrophalen Folgen des Kriegs für ein Liebespaar; Akira Kurosawa macht in Die verborgene Festung zwei Bauern zu Helden wider Willen.

Filmpodium für Kinder: Shrek

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Der eigenbrötlerische Oger Shrek muss für den feigen Adligen Farquaad die schöne Prinzessin Fiona aus den Klauen eines Drachen befreien. Frechfröhliche Märchenparodie. Bild: Shrek

Einzelvorstellungen Buchvernissage Stummfilme 34 IOIC-Soirée: Le miracle des loups 36 Ein Abend mit Fernando Pérez 37 Sélection Lumière: Gloria 40



05 Léa Pool

Lebenskrisen und Neuanfänge Die schweizerisch-kanadische Regisseurin Léa Pool ist Stargast des diesjährigen Pink Apple Festivals. Das Filmpodium widmet der ­Cineastin, die seit den achtziger Jahren ihren eigenen Weg geht und ein beeindruckendes, vielfältiges Werk vorzuweisen hat, eine umfassende Retrospektive. Festivalleiterin Doris Senn würdigt Léa Pools Schaffen. «Das Leben soll sich in meinen Filmen spiegeln, sei es mein eigenes oder das von den Menschen um mich herum. Filmschaffende, wie alle künstlerisch Tätigen, nähren sich davon, was sie umgibt. Das ist ihre Quelle der Inspiration.» Tatsächlich waren, wie Léa Pool 2008 in einem Interview festhielt, ihr Leben, ihre Erfahrungen immer wesentlich für ihr Schaffen. Eines ihrer ersten Werke zeigt dies anschaulich als Mise en abyme: La femme de l’hôtel (1984) handelt von der Beziehung der geheimnisumwobenen Estelle zur Filmemacherin Andréa. Letztere arbeitet am Porträt einer Sängerin, die im Lauf der Dreharbeiten immer mehr Estelle zu ähneln beginnt. Die titelgebende «femme de l’hôtel» und die Protagonistin des Films im Film stehen je für «Realität» und «Fiktion» und ihre wechselseitige Beziehung. Viele von Pools Filmen kreisen um Menschen, die an einem Wendepunkt ihres Lebens stehen. So Anne Trister (1986) – Pools erster grosser Erfolg –, der deutlich autobiografische Züge trägt: Léa Pool wuchs in der Westschweiz auf und hat jüdische Wurzeln. 25-jährig brach sie alle Brücken hinter sich ab und wanderte nach Kanada aus, um sich dort wie die Titelheldin in Anne Trister der Kunst – oder besser: dem Filmemachen – zuzuwenden. Darüber hinaus thematisierte dieser Film als einer der ersten Kinofilme jener Zeit lesbische Liebe differenziert und positiv, was ihn zu einem Meilenstein der Lesbenfilmgeschichte macht. Auch À corps perdu (1988) dreht sich um eine Sinnkrise. Der Foto­ reporter Pierre kommt traumatisiert von einer Lateinamerikareise nach Mont­ réal zurück. Die Beziehung zu seinen Liebsten – eine Ménage-à-trois mit einem Mann und einer Frau – ist auseinandergebrochen. Seine bisherige Welt liegt in Trümmern. Léa Pool versinnbildlicht dies mit weiten Landschaften und urbaner Anonymität: Beides fungiert als Echoraum für die existenzielle Verlorenheit ihrer Figuren. Dabei bergen die Krisen immer auch Hoffnung. Die Protagonisten durchlaufen einen Prozess der Wandlung, das filmische Ge >

Glückliche Ménage-à-trois: À corps perdu < Zweisamkeit im Zug: Mouvements du désir

<

Einsam ohne Mutter: Maman est chez le coiffeur


06 schehen endet schwebend – wenn die Akteurinnen und Akteure bereit sind für einen Neuanfang. Zum Beispiel in Mouvements du désir (1994), in dem Catherine und Vincent – beide unterwegs zu einem Neustart weit weg von ihrem bisherigen Leben – sich auf einer langen Zugfahrt quer durch Kanada näherkommen. Emanzipation in und von der Familie Die Familie als Bezugspunkt, aber auch als Konfliktherd ist immer wieder ein Motiv in Pools Werken: so in Maman est chez le coiffeur (2009), der mit viel Zeitkolorit die sechziger Jahre wieder aufleben lässt. Als die Homosexualität des Vaters ans Licht kommt, verlässt die Mutter die bislang harmonische Kleinfamilie von einem Tag auf den andern, und die drei Kinder sind fortan auf sich gestellt. Oder in La dernière fugue (2010), in dem ein patriarchalischer Vater, todkrank, sich in seinen letzten Tagen zu einer Aussöhnung mit seinem ältesten Sohn durchringt. Eine dysfunktionale Familie bildete auch den Mittelpunkt in Emportemoi, in dem Pool 1999 Bausteine ihrer eigenen Biografie verwendete: Der Vater, ein erfolgloser Schriftsteller, tyrannisiert seine beiden Kinder und seine Frau, während sich Letztere bis zur Selbstaufgabe für ihn aufopfert. Die 13-jährige Hanna sehnt sich vergeblich nach der Liebe ihrer Mutter und flüchtet in eine Traumwelt: das Kino Godards, dessen Nana S. in Vivre sa vie ihr zum grossen Vorbild wird. Geborgenheit findet Hanna in der Beziehung zu einem gleichaltrigen Mädchen, für das sie zärtliche Gefühle entwickelt. Mit Emporte-moi realisierte Léa Pool einen ihrer bedeutendsten Filme. Er wurde mehrfach prämiert, unter anderem mit dem Schweizer Filmpreis. Gleichzeitig lancierte sie damit die Schauspielkarriere von Karine Vanasse, die für ihre Rolle als Hanna vielfach ausgezeichnet wurde. Erfolg und Engagement Der Erfolg von Emporte-moi sollte Léa Pool den Weg zu zwei englischsprachigen Auftragsproduktionen mit Grossbudget und Staraufgebot ebnen: zum einen Lost and Delirious (2001) über die Liebe zweier Mädchen in einem Internat. Pool siedelt die Handlung in der Gegenwart an, mit Anklängen an den Klassiker Mädchen in Uniform, der 1931 erstmals u. a. mit Erika Mann verfilmt wurde und 1958 erneut; diesmal mit Manns einstiger Partnerin Therese Giehse, Romy Schneider und Lilli Palmer. Pool zeigt aber auch, dass ein Coming-out je nach gesellschaftlichem Umfeld noch immer tragisches Potenzial bergen kann. Mit einem Film fürs breite Publikum, The Blue Butterfly (2004), konnte die Regisseurin die Tür zum kommerziellen Welterfolg aufstossen. Pool erzählt die Geschichte des krebskranken Jungen Pete, der einen letzten grossen Wunsch hat: einen magischen Blauen Morphofalter zu fangen. Dafür nimmt ihn ein Insektenforscher (William Hurt) mit auf eine abenteuerliche


07 LÉA POOL ZU BESUCH IM FILMPODIUM Das Pink Apple Festival dauert in Zürich vom 27. April bis zum 5. Mai. Vom 28. April bis zum 1. Mai finden im Filmpodium Vorstellungen von Léa Pools Filmen in Anwesenheit der Regisseurin statt (siehe Spielplan). Ausserdem gibt Léa Pool am 30. April um 17 Uhr bei einem Werkstattgespräch mit der Filmdozentin Marille Hahne (ZHdK) Auskunft über ihr Schaffen. Am 1. Mai schliesslich wird Léa Pool im Filmpodium der Pink Apple Festival Award verliehen.

Reise durch den Regenwald. Wünsche und Träume sind wichtige Elemente in Pools Filmen und vollbringen – wie hier – mitunter Wunder. Frauenfiguren und feministisches Engagement prägen Léa Pools Filmschaffen. Das gilt nicht nur für ihre Spielfilme, in denen starke Mädchen- oder Frauenfiguren oft die Hauptrolle spielen. Jüngst wieder in La passion d’Augustine (2015), der emanzipatorische Anliegen und Coming-of-AgeDrama verbindet: Die Nonnen eines Klosters kämpfen für ihre Schule, während die rebellische Schülerin Alice den Tod ihrer Mutter überwinden muss. Auch in ihren weniger bekannten Dokumentarfilmen widmet sich Léa Pool der Rolle der Frau in der Gesellschaft und ihrer Emanzipation: in der Fernsehreihe «Femmes: Une histoire inédite» (1995) über die Geschichte der Frauenbewegung, in Gabrielle Roy (1998), einem filmischen Porträt der bedeutendsten kanadischen Autorin der Nachkriegszeit, aber auch in ihrem ersten Kinodokumentarfilm Pink Ribbons, Inc. (2012), in dem sie, basierend auf dem Buch von Samantha King, die Kommerzialisierung und die Machenschaften hinter der Brustkrebs-Solidaritätskampagne «Pink Ribbons» aufdeckt. Identitätssuche, künstlerischer Aufbruch, Frauenwelten, Frauenliebe: Das sind die Themen, die Léa Pool über all ihre Filme hinweg begleiten. Mit ihrer bislang rund fünfzehn Titel umfassenden Filmografie spannt Léa Pool einen eindrücklichen Bogen von ihren experimentellen Werken der Anfangszeit über engagierte Geschichten aus der Sicht der Frauen und über lesbische Liebe bis hin zu Familienfilmen, aber auch kämpferischen Dokumentarfilmen. Doris Senn

Doris Senn ist Filmwissenschaftlerin und u. a. als Filmkritikerin tätig. Seit 2001 ist sie Co-Kuratorin und Co-Leiterin des schwullesbischen Filmfestivals Pink Apple.


> La femme de l’hôtel.

> Mädchen in Uniform.

> Lost and Delirious.

> La demoiselle sauvage.


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Léa Pool. 89 Min / Farbe / 35 mm / F/d // REGIE Léa Pool // DREHBUCH

MÄDCHEN IN UNIFORM

Léa Pool, Michel Langlois, Robert Gurik // KAMERA Georges

BRD/Frankreich 1958

Dufaux, Daniel Jobin // MUSIK Yves Laferrière // SCHNITT

Potsdam 1910. Die junge Manuela von Meinhardis soll nach dem Tod ihrer Mutter in einem Stift für adelige Mädchen ihre Bildung abschliessen. Das sensible Mädchen tut sich schwer mit Uniformen und preussischer Zucht und Ordnung. Einzig die Erzieherin Elisabeth von Bernburg zeigt für Manuela Verständnis. Manuelas Verehrung für ihre Lehrerin entwickelt sich zu einer leidenschaftlichen Liebe, die sie auch öffentlich erklärt – mit drastischen Folgen. In dieser versöhnlicheren zweiten Adaptation eines autobiografischen Theaterstücks der Offizierstochter Christa Winsloe verguckt sich Romy Schneider in Lilli Palmer, zum Entsetzen von Therese Giehse. Léa Pool, die sich die Programmierung dieses Films gewünscht hat, lehnt sich in Lost and Delirious klar an dieses Vorbild an.

Marleau (Estelle), Marthe Turgeon (die Schauspielerin),

95 Min / Farbe / DCP (restaurierte Fassung) / D // REGIE Géza von Radványi // DREHBUCH Friedrich Dammann, Franz ­Höllering, nach dem Theaterstück «Ritter Nérestan» von Christa Winsloe // KAMERA Werner Krien // MUSIK Peter Sandloff // SCHNITT Ira Oberberg // MIT Lilli Palmer (Elisabeth von Bernburg), Romy Schneider (Manuela von Meinhardis), Therese Giehse (Oberin), Blandine Ebinger (Fräulein von Racket), Adelheid Seeck (Prinzessin), Gina Albert (Marga von Rackow), Sabine Sinjen (Ilse von Westhagen).

LA FEMME DE L’HÔTEL Kanada 1984

Michel Arcand // MIT Paule Baillargeon (Andréa), Louise Serge Dupire (Simon), Geneviève Paris (Pianistin).

ANNE TRISTER Kanada 1986 «Anne, eine 25-jährige Schweizer Künstlerin, reist nach dem Tod ihres Vaters nach Kanada. Dort versucht sie, die Leere, die dieser Verlust hinterlassen hat, durch einen schöpferischen Akt zu füllen; sie malt eine grosse, leerstehende Feuerwehrhalle als ‹Environment› im ‹Trompe l’œil›-Stil aus. Doch Annes Selbstverwirklichung führt gleichzeitig zu einer Absonderung und Einschränkung. Daran kann auch ihre Liebe zu einer Frau, Alix, nichts ändern. (...) Anne Trister ist ein abgeklärter, differenzierter, aber keineswegs spröder Film über den Versuch einer jungen Frau, sich mit den ‹grossen Themen› Liebe, Tod und Kunst auseinanderzusetzen und zu sich selbst zu finden. Er beeindruckt vor allem durch seine grösstenteils sehr originellen Bilder und Metaphern, die das Verschwimmen der Grenzen von Realität und Vorstellung für Anne sehr anschaulich machen und dennoch Platz für eigene Vorstellungen lassen.» (Michel Bodmer, annabelle, 14.10.1986) 103 Min / Farbe / 35 mm / F/d // REGIE Léa Pool // DREHBUCH Léa Pool, Marcel Beaulieu // KAMERA Pierre Mignot // ­MUSIK René Dupéré // SCHNITT Michel Arcand // MIT Albane Guilhe (Anne), Louise Marleau (Alix), Lucie Laurier (Sarah),

Eine Regisseurin, die in einem Hotel einen Film dreht, erkennt, dass eine Frau, die dort logiert, ihrer fiktiven Protagonistin sehr ähnlich ist. Die Filmemacherin lässt sich von der Frau im Hotel zusehends faszinieren. «Für mich stellt dieser Film nicht nur eine der eleganteren und schöpferisch innovativeren Überarbeitungen der Filmsprache dar, die je aus diesem Land (und Québec) hervorgegangen sind, sondern – und darin liegt seine Bedeutung – er spricht auch die Frauen direkt an und erzählt ihnen vom psychischen Raum und der emotionalen Erfahrung der Frauen. Der Film spürt mit viel Feingefühl und Liebe dem empathischen und emotional aufgeladenen Wesen von Beziehungen unter Frauen nach und wagt es, ein unglaublich nachhallendes Porträt der Frau zu schaffen, das sie als selbständige und eigensinnige Produzentin von Bedeutung zeigt, nicht nur als deren Trägerin.» (Brenda Longfellow, Canadian Forum, Februar 1985)

Guy Thauvette (Thomas), Hugues Quester (Pierre), Nüvit ­Özdogru (Simon), Kim Yaroshevskaya (Mutter).

À CORPS PERDU Kanada/Schweiz 1988 Der Fotojournalist Pierre kehrt von einem Auftrag in Nicaragua zurück nach Montréal und muss feststellen, dass die harmonische Ménage-àtrois, die seit Jahren sein Zuhause und seine Zuflucht war, inzwischen zerfallen ist. Indem er sich in ein neues Projekt stürzt, will Pierre sein zerstörtes Leben wieder in den Griff bekommen. «À corps perdu, die Adaptation eines Romans von Yves Navarre, beobachtet die Welt allein durch Pierres Augen. Dieser Film, der wenige Worte enthält, aber voll von visueller Poesie ist, ist wie ein Tongedicht konstruiert, dessen wiederholte Bilder, wunderschön gefilmt von Pierre


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Léa Pool. Mignot, zu einem psychologischen Spiegelkabinett werden. Die Eröffnungsszenen in Nicaragua, in denen Pierre zwei Exekutionen fotografiert, zählen zu den häufigsten visuellen Motiven in einem Bilderstrom, der die Gegenwart laufend mit schwarzweissen Rückblenden unterbricht. Allmählich wird Pierre bewusst, dass der leidenschaftslose Voyeurismus, den er in seinem Beruf auslebt, angefangen hat, in die Ménage-à-trois zu sickern und diese zu zerstören.» (Stephen Holden, New York Times, 4.2.1991) 92 Min / Farbe / 35 mm / F/d // REGIE Léa Pool // DREHBUCH Marcel Beaulieu, Léa Pool, nach dem Roman «Kurwenal» von Yves Navarre // KAMERA Pierre Mignot // MUSIK Osvaldo Montes // SCHNITT Michel Arcand // MIT Matthias Habich ­(Pierre Kurwenal), Johanne-Marie Tremblay (Sarah), Michel Voïta (David), Jean-François Pichette (Quentin), Kim Yaro­ shevskaya (Noémie), Jacqueline Bertrand (Mutter), France Castel (Michèle), Victor Dêsy (Dr. Ferron).

LA DEMOISELLE SAUVAGE Kanada/Schweiz 1991 Nach einer Bluttat versucht eine junge Frau sich umzubringen, überlebt aber und irrt durchs Gebirge. Bei einem Stausee findet sie der Ingenieur Élysée und nimmt sich ihrer an. Doch die Liebe des «wilden Fräuleins» zu Élysée kann nicht von Dauer sein. Verfilmung einer preisgekrönten ­Erzählung der Westschweizer Autorin S. Corinna Bille. «Léa Pool beherrscht das Spiel mit den bildlichen Metaphern von Film zu Film perfekter. Unaufdringlich und konzentriert erzählt sie die letztlich simple Geschichte zugleich auf mehreren Ebenen: in Handlung, Bild (Georges Dufaux) und Musik (Jean Corriveau). Ja selbst die steigenden und sinkenden Kamerabewegungen verdoppeln den Weg des Wassers und der Protagonistin.» (Matthias Rüttimann, Zoom 1/1992) 105 Min / Farbe / 35 mm / F/d // REGIE Léa Pool // DREHBUCH Laurent Gagliardi, Michel Langlois, Léa Pool, nach der Erzählung von S. Corinna Bille // KAMERA Georges Dufaux // ­MUSIK Jean Corriveau // SCHNITT Alain Belhumeur // MIT Patricia Tulasne (Marianne), Matthias Habich (Élysée), Roger Jendly (Maurice), Michel Voïta (Polizeibeamter).

MOUVEMENTS DU DÉSIR Kanada/Frankreich/Schweiz 1994 Auf einer Bahnfahrt quer durch Kanada begegnet Catherine, die mit ihrer kleinen Tochter Charlotte aus einer zerbrochenen Beziehung geflohen ist, dem jungen Informatiker Vincent, den in Vancouver seine Freundin erwartet. Im Mikrokosmos des

Zugs entwickelt sich aus der Zufallsbekanntschaft bald eine leidenschaftliche Affäre. Léa Pools Film ist inspiriert von Roland Barthes’ Essay «Fragments d’un discours amoureux» und bevölkert mit teils felliniesk anmutenden Figuren. «Die sinnliche Valérie Kaprisky ist hier nicht bloss ein Sexsymbol. Sie zeigt zwar eine ganze Menge Haut, enthüllt aber auch eine beeindruckende schauspielerische Bandbreite in ihrer Verkörperung dieser vielschichtigen Frau, die sich von einer fast schon magnetischen Anziehung zu einem Mann mitreissen lässt, den sie eben erst kennengelernt hat. Auch Pichette verdient Höchstnoten für seine darstellerische Leistung, wobei beide noch übertrumpft werden von Jolianne L’Allier-Matteau in der Rolle des Mädchens, das die heisse Eisenbahnromanze der Mama nicht goutiert. (...) Kameramann Pierre Mignot, der viel mit Robert Altman gearbeitet hat, kontrastiert gekonnt Handkamera-Einstellungen der engen, klaustrophobischen Innenräume mit weiten Ausblicken ins Freie, und Bilder der kanadischen Landschaft geistern durch diese intime Liebesgeschichte.» (Brendan Kelly, Variety, 7.2.1994) 93 Min / Farbe / 35 mm / OV/d // REGIE Léa Pool // DREHBUCH Léa Pool, nach «Fragments d’un discours amoureux» von ­Roland Barthes // KAMERA Pierre Mignot // MUSIK Zbigniew Preisner // SCHNITT Michel Arcand // MIT Valérie Kaprisky (Catherine), Jean-François Pichette (Vincent), Jolianne L’Allier-Matteau (Charlotte), William Jacques (Tom), Matthew Mackay (Tadzio).

EMPORTE-MOI Kanada/Schweiz/Frankreich 1999 Montréal, Anfang der sechziger Jahre: Aus den Ferien bei den Grosseltern kehrt die junge Hanna nach Hause zurück und muss sich mit ihrem ­Erwachsenwerden und mit ihrer Familie auseinandersetzen: Ihr heimatloser jüdischer Vater ­versucht sich erfolglos als Schriftsteller durchzuschlagen; die fragile Mutter ist ständig überarbeitet. Unterstützung findet Hanna bei ihrem Bruder sowie bei ihrer Lehrerin, die Hannas Idol Anna Karina in Jean-Luc Godards Vivre sa vie ähnelt. «Das Tolle an Coming-of-Age-Geschichten – und Emporte-moi ist eine der besten, die uns das Kino je beschert hat –, ist, dass sie die ganze verschüttete Erregung und Verwirrung der Pubertät wiederbringen können, sowohl das Gefühl, dass nun die Welt aufbricht und ihre Geheimnisse preisgibt, als auch die Angst, dass unsere behagliche, vertraute Welt uns ausgesperrt hat. Jede Nuance dieser Begeisterung und Unsicherheit ist auf Vanasses Gesicht abzulesen, ob sie nun im


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Léa Pool. Bett liegt und ihren Eltern beim Streiten zuhört oder mit Laura, dem Mädchen, das sie in einem Tanzkeller kennenlernt, einen ersten Kuss austauscht.» (Charles Taylor, salon.com, 28.4.2000) 95 Min / Farbe / 35 mm / F/d // REGIE Léa Pool // DREHBUCH Léa Pool, Nancy Huston, Monique H. Messier // KAMERA Jeanne Lapoirie // MUSIK Robyn Schulkowsky // SCHNITT Michel Arcand // MIT Karine Vanasse (Hanna), Pascale Bussières (Mutter), Miki Manojlovic (Vater), Alexandre Mérineau (Paul), Charlotte Christeler (Laura), Nancy Huston (Lehrerin), Monique Mercure (Grossmutter), Anne-Marie Cadieux (Prostituierte), Marie-Hélène Gagnon (Vermieterin).

LOST AND DELIRIOUS Kanada 2001 In einem Mädcheninternat wird die schüchterne Mary, genannt Mouse, Zeugin, wie sich zwischen zwei Mitschülerinnen, der rebellischen Paulie und Victoria, einer braven Tochter aus gutem Hause, eine Liebesbeziehung entwickelt. Als die Liaison auffliegt und Victoria Paulie verleugnet, bahnt sich eine Tragödie an. «Lost and Delirious ist eine Hymne an die Jugend, ihren Idealismus und ihre Hormone. Man hat den Film rezensiert als Drama um heissen lesbischen Sex in einem Mädcheninternat, doch das ist so, als rezensierte man ein Rennpferd aufgrund dessen, was es in seinem Stall macht. (...) Léa Pool hat einen üppigen, sorgfältig gestalteten und komponierten Film geschaffen; ihr klassischer visueller Stil verleiht dieser romantischen Geschichte Gewicht. (...) Manche sind wohl versucht, sich über diesen Stoff zu stellen und auf sein Ungestüm und seinen kompromisslosen Idealismus herabzusehen. Wer das tut, gibt jenem Zynismus nach, an dem die meisten modernen Filme kranken.» (Roger Ebert, Chicago Sun-Times, 13.7.2001) 103 Min / Farbe / 35 mm / E/df // REGIE Léa Pool // DREHBUCH Judith Thompson, nach dem Roman «The Wives of Bath» von Susan Swan // KAMERA Pierre Gill // MUSIK Yves Chamberland // SCHNITT Gaétan Huot // MIT Piper Perabo (Pauline «Paulie» Oster), Jessica Paré (Victoria «Tori» Moller), Mischa Barton (Mary «Mouse» Bedford), Jackie Burroughs (Fay Vaughn), Mimi Kuzyk (Eleanor Bannet), Graham Greene (Joe Menzies), Emily VanCamp (Allison Moller).

THE BLUE BUTTERFLY Kanada/USA/GB 2004 Frei nach Tatsachen erzählt The Blue Butterfly vom krebskranken zehnjährigen Pete, der sich einen letzten Wunsch erfüllen will: den legendären Blauen Morphofalter für seine Schmetterlings-

sammlung zu fangen. Zusammen mit seiner Mutter überredet Pete den Insektenforscher Alan Osborn, ihn auf eine Expedition in den Dschungel von Costa Rica zu begleiten. Ihr beschwerliches, aber aufregendes Abenteuer eröffnet Pete eine neue Welt – und beschert ihm eine wundersame Genesung. «Léa Pool überlässt es dem Zuschauer, die angebotenen Erklärungsmuster selber zu gewichten. Sie beschränkt sich auf die im Handlungsgefüge enthaltenen Andeutungen, wie überhaupt der ganze Film durch sein subtiles Gleichgewicht zwischen äusserer Aktion und hintergründiger Andeutung überzeugt. War es in Lost and Delirious ein Falke, der zur Symbol- und schliesslich zur Identifikationsfigur der Heldin wurde, so übernimmt hier die ganze Natur diese Rolle.» (Gerhart Waeger, NZZ, 29.10.2004) 97 Min / Farbe / 35 mm / OV/d/f // REGIE Léa Pool // DREHBUCH Pete McCormack // KAMERA Pierre Mignot // MUSIK Stephen Endelman // SCHNITT Michel Arcand // MIT William Hurt (Alan Osborn), Pascale Bussières (Teresa Carlton), Marc Donato (Pete Carlton), Raoul Max Trujillo (Alejo), Marianella Jimenez (Yana), Gerardo Hernandez (Manolo), Steve Adams (Moderator), Silverio Morales (Diego, der Schamane).

MAMAN EST CHEZ LE COIFFEUR Kanada 2008 Sommer 1966 in der Provinz Québec. Die halbwüchsige Élise und ihre jüngeren Brüder Coco und Benoît freuen sich auf die grossen Ferien. Doch dann zerbricht plötzlich ihre harmonische Familie: Der Vater hat mit seinem Golfpartner die Mutter betrogen, und diese sucht das Weite. Nun muss Élise versuchen, die Restfamilie irgendwie zusammenzuhalten. Nach aussen hin begründet man die Abwesenheit der Mutter damit, sie sei eben «kurz beim Friseur» ... «‹Von unglücklichen Kindern würde ich nie erzählen, wenn ich ein Buch schreibe. Das ist zu gewöhnlich›, sagt Élise an einer Stelle des Films und umreisst damit die Agenda der Regisseurin Léa Pool. Natürlich sind Coco, Benoît und Élise kreuzunglücklich, als sie und ihr Vater von der Mutter verlassen werden. Dennoch behält der Film lange Zeit seinen sommerlich-leichten Tonfall bei, in den sich anfangs kaum wahrnehmbar kleine Störungen und Widersprüchlichkeiten drängen, bis schliesslich die ganze Tragödie der unmöglichen Situation deutlich zutage tritt. Dennoch überwiegt niemals das Schwere, was auch an den bezaubernden Kinderdarstellern liegt, die dafür sorgen, dass man selbst in den tragischsten Momenten noch ein Lächeln kaum unterdrücken kann.» (Joachim Kurz, kino-zeit.de)


> Pink Ribbons, Inc..

> La dernière fugue.

> The Blue Butterfly.

> La passion d’Augustine.


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Léa Pool. 97 Min / Farbe / 35 mm / F/d // REGIE Léa Pool // DREHBUCH Isabelle Hébert // KAMERA Daniel Jobin // MUSIK Laurent Eyquem // SCHNITT Dominique Fortin // MIT Marianne Fortier (Élise Gauvin), Élie Dupuis (Coco Gauvin), Hugo ­ St-Onge-Paquin (Benoît Gauvin), Laurent Lucas (Vater), ­ ­Céline Bonnier (Mutter), Gabriel Arcand (Monsieur Mouche), Maxime Desjardins-Tremblay (Tracteur).

LA DERNIÈRE FUGUE Luxemburg/Kanada 2010 Der Patriarch Anatole hat seine Familie ein Leben lang tyrannisiert. Nun ist er alt, leidet an Parkinson und hat sich und seinen Körper nicht mehr im Griff. An Weihnachten versammeln sich seine Kinder und Enkel und beraten mit der Mutter, was aus Anatole werden soll. Dieser will sich nicht nur einer solchen Bevormundung durch die Jüngeren entziehen, sondern auch dem, was sein Leben geworden ist, entfliehen. Aber vorher müssen noch ein paar alte Rechnungen beglichen werden. «Einmal mehr hat (...) Léa Pool mit La dernière fugue ihr grosses Können unter Beweis gestellt. Auch bei ihrem neuen, sechzehnten Film hat sie mit starken Gesten, treffenden Dialogen, einem angenehmen Wechsel von Stille und Aktion, einer brillanten Orchestrierung der Familienkonversation und mit aussagestarken Landschaftsbildern gearbeitet. (...) In all ihren Arbeiten geht sie mit ihrer Analyse unter die Haut, ohne dabei zu verletzen, weil sie den Menschen, deren Geschichten sie erzählt, sehr nahe ist, sie letztlich liebt.» (Hans­peter Stalder, der-andere-film.ch) 91 Min / Farbe / 35 mm / F/d // REGIE Léa Pool // DREHBUCH Gil Courtemanche, Léa Pool // KAMERA Pierre Mignot // ­MUSIK André Dziezuk, Marc Mergen // SCHNITT Michel ­Arcand // MIT Yves Jacques (­ André), Jacques Godin (Anatole), Andrée Lachapelle (Mutter), Aliocha Schneider (Sam), Nicole Max (Isabelle), Marie-France Lambert (Géraldine).

PINK RIBBONS, INC. Kanada 2011 «Ausgehend von Samantha Kings Buch ‹Pink Ribbons, Inc.: Breast Cancer and the Politics of Philanthropy› kontrastiert Pool Aufnahmen von firmengesponserten Märschen, Wettläufen und Fallschirmsprüngen mit überlegten Aussagen von Aktivistinnen, medizinischen Fachleuten und einer Selbsthilfegruppe für Patientinnen im Stadium IV. Natürlich kommen die Komens, Revlons und Avons der Welt dabei schlecht weg, denn sie veranstalten Anlässe, die mehr Bewusstsein für Yoplait und Kentucky Fried Chicken wecken, als dass man ihretwegen mehr von Brustkrebs verstünde – geschweige denn erführe, wo all diese

Dollars für die Forschung hingehen. Pools bevorzugte Gesprächspartnerinnen formulieren ihr Unbehagen bezüglich der Terminologie der rosa Bewegung mit ihren beruhigenden Binsenweisheiten über ‹Empowerment› und belasteten Begriffen wie dem ‹Bekämpfen› und ‹Überleben› der Krankheit, aber noch viel vernichtender ist der Interessenkonflikt zwischen Brustkrebsorganisationen und sponsernden Konzernen, deren Produkte ein Teil des Problems sein könnten.» (Scott Tobias, Onion A.V. Club, 31.5.2012) 97 Min / Farbe / DCP / E/f // REGIE Léa Pool // DREHBUCH ­Patricia Kearns, Nancy Guerin, Léa Pool // KAMERA Sylvaine Dufaux, Daniel Jobin, Nathalie Moliavko-Visotzky // MUSIK Peter Scherer // SCHNITT Oana Suteu // MIT Samantha King, Barbara Ehrenreich, Susan Love, Barbara Brenner.

LA PASSION D’AUGUSTINE Kanada 2015 «Mutter Augustine leitet eine Klosterschule im Kanada der 1960er Jahre. Sie lebt ihre Leidenschaft für die Musik mit ihrer Ordensgemeinschaft und ihren begabten Schülerinnen. Doch die Schule ist von den gesellschaftlichen Umbrüchen bedroht. Der Staat möchte die Klosterschulen aufheben, der Orden hat immer weniger Geld und im Vatikan findet das Zweite Vatikanische Konzil statt. (...) In dieses spannungsreiche Leben Augustines tritt ihre Nichte Alice, die eine aussergewöhnliche Begabung mitbringt und das Leben der Äbtissin von Grund auf verändert. Sehr berührend erzählt der Film von der inneren Wandlung der Ordensfrau Augustine: Vor die schwere Alternative gestellt, muss sie sich zwischen der Leidenschaft für die Musik und ihrem Gelübde entscheiden. Léa Pool führt ihre Figuren mit Fingerspitzengefühl und begegnet dem katholischen Milieu im Aufbruch mit grossem Respekt. Sie steht dabei für die Frauen ein, die sich in eine neue Welt einfinden müssen. Sehr überzeugend ist dabei die schauspielerische Leistung von Céline Bonnier als Ordensfrau und Musiklehrerin, umgeben von einer charakterstarken Besetzung der Nonnen. Unbedingt sehenswert ist Lysandre Ménard, die als pubertierende Alice die ganze Bandbreite von der frechen Göre bis zum sensiblen Wunderkind beherrscht.» (Charles Martig, kath.ch, 10.11.2015) 103 Min / Farbe / DCP / F/d // REGIE Léa Pool // DREHBUCH Léa Pool, Marie Vien // KAMERA Daniel Jobin // MUSIK François Dompierre // SCHNITT Michel Arcand // MIT Céline ­Bonnier (Oberin Augustine), Lysandre Ménard (Alice), Diane Lavallée (Schwester Lise), Valérie Blais (Schwester Claude), Pierrette Robitaille (Schwester Onésime).



15 Paolo Sorrentino

Ein grosszügiger Moralist Bereits für seinen ersten Spielfilm L’uomo in più wurde der Neapolitaner Paolo Sorrentino mit dem Nastro d’argento 2002 als bester Nach­ wuchsregisseur ausgezeichnet; mit Il divo, seinem satirischen Porträt von Giulio Andreotti, wurde er 2008 international bekannt. Inzwischen hat er einen Oscar, einen Golden Globe, Europäische Filmpreise und viele andere Auszeichnungen in Empfang nehmen können. Wir präsentieren neben den Spielfilmen des Ausnahmetalents auch eine Aus­wahl seiner Kurzfilme. Tagaus, tagein betrachtete er sie in der Hotelbar. Stets vermied er es, das Wort an sie zu richten. Womöglich tat er es mit der Unfreundlichkeit eines schüchternen Jungen, der dem Objekt seiner Sehnsucht ausweicht. Wenn ihr Blick einmal auf ihn fiel, beschlich ihn der Zweifel des älteren Mannes, ob die schöne, junge Kellnerin wirklich ihn meine. Er legte Wert darauf, kein frivoler Mann zu sein. Eines Tages hat sie genug. Sie will endlich gegrüsst und als Mensch wahrgenommen werden. So viel Höflichkeit kann sie verlangen. Auch darauf schweigt er. Aber sie hat ihn aus der Reserve gelockt. Ein Zauber ist gebrochen, nun kann ein neuer entstehen. Acht Jahre lang hat Titta di Girolamo (Toni Servillo), ein Geschäftsmann mit dunkler Vergangenheit, im Exil zugebracht. Nun wagt er sich aus der Deckung. «An dieser Bar zu sitzen», sagt er zur Kellnerin, «ist vielleicht das Gefährlichste, was ich je getan habe.» Skepsis und Lebensüberdruss müssten ihn eigentlich zurückschrecken lassen vor ihrer Annäherung. Aber der Titel des Films, dessen Wendepunkt diese Szene markiert, benennt bereits das Risiko, dem Paolo Sorrentino seinen Helden aussetzt: Le conseguenze dell’amore. Als di Girolamo die Schönheit der Kellnerin zum ersten Mal in den Blick nimmt, fährt ein Leichenwagen am Hotel vorbei. Maliziös spielt der Regisseur mit den Konventionen des Gangsterfilms. Die Übereinkünfte des Genrekinos bilden freilich keine zuverlässige Orientierung, um die Richtung zu bestimmen, die Sorrentinos Filme einschlagen. Der Regisseur lädt das Gewöhnliche, Alltägliche magisch auf und unterwirft das Leben einer rätselhaften Choreografie. Er komponiert Bilder von erlesen halluzinatorischer Wucht, in denen die Realität den Gesetzen eines Traumes folgt. >

This Must Be the Place: Ein alternder Rockstar (Sean Penn) auf der Suche nach dem Peiniger seines Vaters

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Il divo: Toni Servillo als Giulio Andreotti. Seine einzige Ausschweifung: die Liebe zur Macht


16 Die verlängerte Erzählung In anderthalb Jahrzehnten hat der 1970 geborene Neapolitaner ein Werk von ganz eigener, unverwechselbarer Prägung geschaffen. Auch wenn er bisweilen offensiv den Vergleich mit Fellini herausfordert – La grande bellezza ist seine Replik auf La dolce vita und Youth seine Variante von Otto e mezzo –, bewegt sich sein Kino in einem persönlichen Koordinatensystem der erzählerischen Motive und Obsessionen. Seine Themenwahl ist oft verblüffend – wer hätte ahnen können, dass auf Il divo, seine fiktive Biografie Giulio Andreottis, This Must Be the Place folgen würde, die filmische Eskapade eines Rockmusikers, der in den USA den Mann sucht, der seinen Vater im KZ misshandelt hatte? Gleichwohl scheint seine Filmografie einem Masterplan zu folgen. Er ist bekannt dafür, seine Drehbücher so präzise auszuarbeiten, dass seine Darstellerinnen und Darsteller ihm kaum Fragen stellen müssen. Seit seinen Anfängen versichert er sich einer Kontinuität, indem er einen festen Stab um sich schart, aus dem der Kameramann Luca Bigazzi und der Schauspieler Toni Servillo hervorstechen. Die Zusammenarbeit mit diesem grandiosen Darsteller reicht in andere Medien hinüber: Gelegentlich verfilmt Sorrentino Servillos Bühneninszenierungen für das Fernsehen; die von Servillo verkörperte Hauptfigur aus dem Langfilmdebüt L’uomo in più greift Sorrentino später in einem Roman wieder auf. Es bestehen intime Verbindungen zwischen den Filmen, mitunter antworten sie direkt aufeinander: In der Fantasie des Titelhelden von L’amico di famiglia lebt sein verschollener Vater in Rom gegenüber vom Kolosseum; der Gesellschaftsjournalist Jep tut es in La grande bellezza tatsächlich. Rolltreppen beschäftigen Sorrentinos visuelle Vorstellungskraft immer wieder. Seine Impressionen von der Indiskretion des Hotellebens aus Le conseguenze dell’amore finden ihre Fortsetzung in Youth, und die Frage nach der Gültigkeit von Freundschaften stellt sich in seinem gesamten Werk, um schliesslich in Youth eine ebenso affirmative wie schwermütige Antwort zu finden. Sorrentinos Werk summiert sich zum Bildungsroman alternder Männer, die ein einfallsreiches Schicksal zu Wohlleben und Müssiggang verdammt hat. Ihr Begehren zielt auf die Jugend, deren Schönheit ihnen als verlorenes Paradies erscheint. Die Rückkehr dorthin muss scheitern, denn die Unschuld lässt sich nicht wieder herstellen. Das Geniessen ist Sorrentinos Protagonisten noch gegeben, das Erleben nicht mehr. Einzig dem Rockmusiker in This Must Be the Place wird das Privileg einer Prüfung zuteil: Die Konfrontation mit den Gräueln des Holocaust erlöst ihn aus seiner Lethargie. Ansonsten jedoch schürt der Regisseur Zweifel, ob seine Figuren das erträumte Glück verdienen. Er unterschlägt ihre monströsen Züge nicht. Die Ambivalenz der Figurenzeichnung tritt bereits in L’amico di famiglia deutlich zutage, wo er listig das Klischee des schäbigen Geldverleihers un-


17 terläuft. Sie kulminiert im Porträt des Machiavellisten Andreotti, dessen einzige Ausschweifung die Liebe zur Macht ist. Servillo spielt ihn als Ungeheuer (seine Körperhaltung erinnert an Murnaus Nosferatu), dessen letztes Ziel das Durchhalten ist. Er schöpft einen trotzigen Stolz daraus, seine Gegner überlebt zu haben. Sorrentinos Helden sind gefallene Souveräne, die zwar noch einen Ehrenplatz am Bankett des Lebens einnehmen, aber längst im Stadium exquisiter Desillusionierung angelangt sind. Obszöne Verfügbarkeit Die Hypothese, jeder seiner bisherigen Filme sei das Kapitel eines einzigen (für den La grande bellezza kein schlechter Arbeitstitel wäre), wird bestärkt durch einen atmosphärischen Sog, der sich durch sein Werk zieht. Sorrentino erschafft prunkende Wehmutswelten, die Luca Bigazzis Kamera mit lyrischer Ironie einfängt. Seine Filme muten an wie Werbespots für den Überfluss des Lebens. Sie blicken auf Schaufenster, in denen die Konsumwelt grell und verschwenderisch drapiert ist. Darin reflektieren sie die Tyrannei der Zerstreuung, in die sich das Italien der Berlusconi-Ära begeben hat. Die Vulgarität dieses Pandämoniums der Verfügbarkeit übersetzt Sorrentino auf der Leinwand in einen sinnlichen Überschuss (die Sorgfalt, die er auf die Tonspur seiner Filme verwendet, wäre eine wissenschaftliche Arbeit wert), in dessen Zentrum eine spirituelle Leere nistet. Die Opulenz, die sich der Kamera unerbittlich darbietet, mag diese zum Schwelgen verleiten. Dem Glanz des süssen Lebens ist jedoch ebenso unausweichlich die Flüchtigkeit eingeschrieben, der die elegische Montage Rechnung trägt. Die Heranfahrten der Kamera auf bezeichnende, verlockende Requisiten unterstreichen nur deren Unerreichbarkeit. Sorrentino komponiert seine Gesellschaftstableaus so hintergründig, dass sie sich für eine zweite oder dritte Ebene öffnen können, auf der die Entzauberung lauert. Er betrachtet das dekadente, mondäne Welttheater weder als Komplize noch als Spielverderber, er nimmt die Rolle des grosszügigen Moralisten ein, der bereit ist, sich überraschen zu lassen. Das Aufgebot an Schönheit ist in seinen Augen nicht vergeblich (erst recht nicht als Schauwert); episodisch schürt es die Hoffnung auf Einsicht und Verankerung im Leben. Die «grande bellezza» ist vielleicht nur ein anderes Wort für Wahrheit. Der Regisseur gibt die Suche nicht auf. Die Schaulust ist sein Schicksal. Gerhard Midding

Gerhard Midding arbeitet als freier Filmjournalist in Berlin. Wir danken dem Stadtkino Basel, auf dessen Vorarbeit wir bei der Organisation dieser Reihe zurückgreifen durften.


> Le conseguenze dell’amore.

> L’amico di famiglia.

> La grande bellezza.

> Youth.


19

Paolo Sorrentino.

RIO, EU TE AMO – LA FORTUNA

THE DREAM

Brasilien/USA 2014

Italien 2014

Wie andere Kurzfilme von Sorrentino spielt auch La Fortuna (eine Episode aus dem Städtefilm Rio, Eu Te Amo) – am Meer. Die schöne Dorothy und James, ihr an den Rollstuhl gebundener Freund, verbringen Ferien in einer wundervollen Villa. Am Swimmingpool und vor rauschendem Meer unterhalten sich die beiden über die Frage nach dem Glück.

Eine Frau wandelt im Traum durch Rom. In den verlassenen Gassen trifft sie ihre verstorbenen, noch jungen Eltern, die sie in eine alte Villa führen. The Dream ist ein Werbefilm für Bulgari.

L’UOMO IN PIÙ

Ein distinguierter Mann mittleren Alters lebt seit Jahren schon in einem gehobenen Tessiner Hotel für Geschäftsleute – ein mysteriöser Gast ohne sichtbare Gefühle, dessen Leben sich ausschliesslich zwischen Foyer und Hotelbar ­ abzuspielen scheint. Nach und nach werden ­ die diskreten Geschäfte und die wahren Lebens­umstände des Mannes enthüllt.
 «Nach seinem Debütfilm L’uomo in più realisiert Paolo Sorrentino mit Le conseguenze dell’amore einen zweiten aussergewöhnlichen Film, der seine nun bereits unverkennbare Handschrift trägt, einen Film noir mit einem moralischen Anspruch, der heute ganz selten zu finden ist. Es ist die Geschichte eines Mannes ohne Eigenschaften, der seine vielleicht gescheiterte Existenz mit letzter Konsequenz infrage stellt. Der Regisseur setzt Schweigen, Blicke und Stimmungen meisterhaft in Szene. Es ist, als ob er sich einer psychologischen Zeitlupe bedienen würde. Toni Servillo ist einfach wunderbar, ohne grosse Gesten kann er alles und mehr ausdrücken, er ist wahrhaftig ein Gepeinigter.» (Maurizio Porro, Corriere della Sera)

Italien 2001 «Antonio Pisapia, genannt Tony, ist Sänger und Verehrer von zunehmend jüngeren Frauen. Als er eines Tages mit einer Minderjährigen im Bett erwischt wird, bekommt er richtig Ärger. Sein Namensvetter, geboren am gleichen Tag, rund zehn Jahre später als Tony, ist Profifussballer. Er steht auf dem Höhepunkt seiner Karriere, als eine Verletzung ihn früher als geplant in den Ruhestand befördert. Die Leben der beiden verlaufen parallel, sie wissen nichts voneinander, bis sie sich eines Tages begegnen ...» (Filmfest München 2013) «Paolo Sorrentinos Erstling ist ein wahrhaft bemerkenswerter Film, ausgesprochen originell und mutig. Er stellt sich schwierigen Themen mit grosser Natürlichkeit und Entschiedenheit, ohne dabei auf eine gute Dosis Ironie und Napoletanità (mehrere Szenen werden in neapolitanischem ­Dialekt gesprochen) zu verzichten. Toni Servillo und Andrea Renzi interpretieren ihre Rollen meisterhaft. Mit einem Spiel, das sich stetig an der Grenze zwischen Dramatik und Komik bewegt, legt der gute Toni aber noch eins drauf – in einer perfekten Verbindung von grösster Expressivität und unbestreitbarem Talent. Kurz und gut, der ‹uomo in più› des italienischen Kinos scheint in diesem Fall tatsächlich der gerade mal 30-jährige neapolitanische Regisseur zu sein. Ein kleines grosses Juwel, das, wie es so oft der Fall ist, nur wenige kennen.» (pianosequenza.net, 23.11.2006)

LE CONSEGUENZE DELL’AMORE Italien 2004

THE DREAM 9 Min / Farbe / Digital HD / I/e // DREHBUCH UND REGIE Paolo Sorrentino // KAMERA Daria D’Antonio // SCHNITT Cristiano Travaglioli // MIT Valeria Golino (Valeria), Simone Corbisiero (Valerias Vater), Teresa Romagnoli (Valerias Mutter), Monique Cuomo (küssende Frau). LE CONSEGUENZE DELL’AMORE

RIO, EU TE AMO – LA FORTUNA

100 Min / Farbe / 35 mm / I/d // DREHBUCH UND REGIE Paolo

8 Min / Farbe / Digital SD / E // DREHBUCH UND REGIE Paolo

Sorrentino // KAMERA Luca Bigazzi // MUSIK Pasquale

Sorrentino // KAMERA Daria D’Antonio // MUSIK Pedro

­Catalano // SCHNITT Giogiò Franchini // MIT Toni Servillo

Bromfman // MIT Basil Hoffman (James), Emily Mortimer

(Titta), Olivia Magnani (Sofia), Adriano Giannini (Valerio),

(Dorothy), Paulo Campani (Arzt).

Antonio Ballerio (Bankmanager), Gianni Paola Scaffidi ­

L’UOMO IN PIÙ 100 Min / Farbe / DCP / I/e // DREHBUCH UND REGIE Paolo ­Sorrentino // KAMERA Pasquale Mari // MUSIK Pasquale Catalano // SCHNITT Giogiò Franchini // MIT Toni Servillo (Tony Pisapia), Antonio Bruschetta (Genny), ­Andrea Renzi (Antonio Pisapia), Nello Mascia (Il Molosso), Angela Goodwin (Tonys Mutter), ­Roberto De Francesco (Gigi Moscati), Enrica Rosso (Elena).

(Giulia), Nino D’Agata (Mafioso), Giselda Volodi (Kellnerin).


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Paolo Sorrentino.

LA PARTITA LENTA Italien 2009 «In einem zwischen Realität und Fiktion angesiedelten Rugby-Spiel inszeniert Sorrentino in La partita lenta mit Laiendarstellern eine wortlose Allegorie auf die alltäglichen Kämpfe einer italienischen Familie.» (Filmfest München 2013)

L’AMICO DI FAMIGLIA Italien 2006 «Geremia De Geremei ist um die 70 Jahre alt; er betätigt sich als Wucherer, ist zynisch, hässlich, lebt im Dreck, ist zwar reich, aber geizig und steht in einer obsessiven und krankhaften Beziehung zu allem, was ihn umgibt: Mutter, Vater, Geld, Frauen – kurz gesagt: zum Leben an sich. Deshalb glaubt er, ein Unikat zu sein. Aber er ist es nicht. Viele sind wie Geremia.» (Stattkino Luzern) «Eine höchst ungewöhnliche Arbeit von surrealistischer Kühnheit und dynamischer Wucht legt der 1970 in Neapel geborene Paolo Sorrentino mit seinem dritten Langspielfilm vor. L’amico di famiglia ist das zunächst abstossende, dann irritierende und zunehmend mehrschichtig werdende Porträt eines Individuums, das einem Roman von Dickens entlaufen scheint. Ein überragender Giacomo Rizzo verkörpert diesen Geremia De Geremei, eine ebenso ekelhafte wie erbärmliche und zugleich faszinierende Gestalt, einen bis zum Exzess geizigen Geldverleiher, in dessen Fängen die hilflosen Opfer zappeln, der Visionen hat von der Erschlagung seiner monströsen bettlägerigen Mutter, mit der er zusammenlebt, und der doch auf eine verquere Weise nicht nur der Schönheit der Frauen, sondern auch jener der Worte und der Sprache huldigt.» (Christoph Egger, NZZ, 29.5.2006) LA PARTITA LENTA 10 Min / sw / Digital SD / ohne Dialog // DREHBUCH UND REGIE Paolo Sorrentino, Umberto Cortarello // KAMERA Gergely Pohárnok // SCHNITT Cristiano Travaglioli // MIT Roberto Gnani (Sohn), Monica Dugo (Ehefrau), Roberto Bernardini (Ehemann), Francesco Iacorossi (Freund). L’AMICO DI FAMIGLIA 102 Min / Farbe / 35 mm / I/d // DREHBUCH UND REGIE Paolo

IL DIVO

(Il divo: La spettacolare vita di Giulio Andreotti) Italien/Frankreich 2008 «Kein Gericht konnte ihm je etwas nachweisen. Kein Staatsanwalt. Kein Journalist. Jedenfalls keiner, der überlebte. Eigentlich ist es verwunderlich, dass Giulio Andreotti nicht schon früher zur Filmfigur wurde. Aber erst der Regisseur Paolo Sorrentino zeigt: Andreotti ist einer, dem man nur noch mit den Mitteln der Kunst beikommen kann.» (Petra Reski, Die Zeit, 17.4.2009) «Sorrentino glückt es meisterlich, moderne Politik als klassisches Königsdrama zu inszenieren, im Stil von Shakespeares ‹Richard III.› oder ‹Julius Caesar›. Auch an Chaplins The Great Dictator muss man denken, ist doch der Ton selbst in bitteren Momenten oft heiter und gelassen. Während Nanni Moretti in seiner Berlusconi-Satire Il caimano von so starker Antipathie getrieben war, dass es dem Film schadete, erkennt man bei Sorrentino eine weit interessantere Mischung ­ aus Abneigung und Faszination. Indem er die Machenschaften italienischer Politik – Flügel­ kämpfe, Nepotismus, Korruption, Medienmanipulation, Lügen und Gefälligkeiten für Gönner – schildert, präsentiert er einerseits ein zeitgenössisches Panorama, dessen Gültigkeit über Italien hinausgeht; andererseits übt sein bewundernswert genau komponierter Film einen ungewohnten Ton ein: Politik als Musical-artige Farce, als mit hoher Eleganz choreografiertes Machtballett.» (Rüdiger Suchsland, Filmdienst 2009/8) 110 Min / Farbe / 35 mm / I/d/f // DREHBUCH UND REGIE Paolo Sorrentino // KAMERA Luca Bigazzi // M ­ USIK Teho Teardo // SCHNITT Cristiano Travaglioli // MIT Toni Servillo (Giulio Andreotti), Anna Bonaiuto (Livia Danese), Giulio ­Bosetti (Eugenio Scalfari), Flavio Bucci (Franco Evangelisti), Carlo Buccirosso (Paolo Cirino Pomicino).

SABBIA Italien 2014 Sabbia ist ein Werbespot für Armani: Die Wellen rollen über einen Sandstrand. Sie haben zwei Menschen angespült. Ein Hund huscht in Zeitlupe durch die Szenerie.

Sorrentino // KAMERA Luca Bigazzi // MUSIK Teho Teardo //

THIS MUST BE THE PLACE

SCHNITT Giogiò Franchini // MIT Giacomo Rizzo (Geremia De

Italien/Frankreich/Irland 2011

Geremei), Laura Chiatti (Rosalba De Luca), Gigi Angelillo (Saverio), Marco Giallini (Attanasio), Barbara Valmorin (Nonna beim Bingo), Luisa De Santis (Silvia), Fabrizio Bentivoglio (Gino), ­Roberta Fiorentini (Saverios Frau), Clara Bindi (Geremias Mutter), Elia Schilton (Tesauro), ­Lorenzo Gioielli (Montanaro).

«Der 50-jährige Cheyenne, ein ehemaliger Rock­star, hat sich aus dem Musikgeschäft zurückgezogen. Er pflegt zwar weiterhin seinen GothicLook, kümmert sich jetzt aber vor allem um seine


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Paolo Sorrentino. Aktien, um die Langeweile zu vertreiben. Der Tod seines Vaters führt ihn in die USA. Obwohl er seinem Vater nie nahestand, beschliesst er nun, dessen Lebenswerk zu Ende zu führen: Er will dessen Peiniger finden, einen Nazi, der sich in die USA abgesetzt hat. So beginnt Cheyenne auf den Strassen Amerikas seinen Rachefeldzug ...» (Julien Welter, arte.tv, 20.5.2010) «Wenn man diesen Film sieht, sieht man eine Menge Filme. Hört eine Menge Musik. Trifft eine Menge Stars der Musikgeschichte. Denn Paolo Sorrentinos Film enthält eine Menge der Mythen, Motive, Mittel der Popkultur der letzten paar Jahrzehnte; und er lässt dabei seinen Film alles andere als ein Setzkastensammelsurium oder ein epigonisches Hommagekino sein. (...) Sean Penn spielt seinen Cheyenne, als wäre der leibhaftige Johnny Depp hinter ihm her – und lässt dabei alle aufdringlichen Manierismen fallen, um eine unglaublich exzentrische, exaltierte, kapriziöse Darstellung zu erreichen, die durchaus auf dem Boden der Tatsachen steht.» (Harald Mühlbeyer, filmgazette.de) SABBIA 2 Min / Farbe / Digital HD / ohne Dialog // REGIE Paolo Sorrentino // KAMERA Daria D’Antonio // SCHNITT Francesco Di Stefano // MIT Daisy Mancini, Carlos Machado. THIS MUST BE THE PLACE 118 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Paolo Sorrentino // DREHBUCH Paolo Sorrentino, Umberto Contarello // KAMERA Luca Bigazzi // MUSIK David Byrne, Will Oldham // SCHNITT Cristiano Travaglioli // MIT Sean Penn (Cheyenne), Judd Hirsch (Mordecai Midler), Frances McDormand (Jane), Eve Hewson (Mary), Kerry Condon (Rachel), Harry Dean Stanton (Robert Plath), David Byrne (er selbst).

LA GRANDE BELLEZZA Italien/Frankreich 2013 «In La grande bellezza folgt die ‹Handlung› dem Schriftsteller Jep, der seinen 65. Geburtstag gerade mit einem dröhnenden Fest über den Dächern von Rom feiert, bei dem die alternde Kulturschickeria neurotisch-bekokst um sich selbst kreist; was sich in vielen abendlichen Diners und Debatten, meist auf Jeps Terrasse mit Blick aufs Kolosseum, als Endlosschleife fortsetzt. Jep gehört zu dieser geschwätzig-eitlen Welt. Seit er in jungen Jahren mit seinem Romandebüt einen Hit landete, fühlt er sich als deren King. Auch wenn literarisch dann nichts mehr folgte. Ihm fehlt die Perspektive; sein zynischer Witz reicht gerade noch für gallige Interviews oder Kolumnen. Also schweigt er meistens, verschanzt sich hinter seinen Zigaretten und beobachtet leicht angewidert

die vergebliche Suche nach Ruhm, Glück, Erfüllung. Erinnerungen aus seiner Jugend, an die erste Liebe seines Lebens, werfen Schatten, die Decke seines mondänen Schlafzimmers kräuselt sich wie das Meer, Flamingos und eine Giraffe irrlichtern durch die Geschichten, schliesslich auch eine schildkrötenhafte Nonne, die ihr Leben den Armen verschrieben hat.» (Josef Lederle, Filmdienst 2013/15) 141 Min / Farbe / DCP / I/d/f // REGIE Paolo Sorrentino // DREHBUCH Paolo Sorrentino, Umberto Contarello // KAMERA Luca Bigazzi // MUSIK Lele Marchitelli // SCHNITT Cristiano Travaglioli // MIT Toni Servillo (Jep Gambardella), Carlo Verdone (Romano), Sabrina Ferilli (Ramona), Carlo Buccirosso (Lello Cava), Luciano Virgilio (Alfredo), Roberto Herlitzka (Kardinal Bellucci), Giorgio Pasotti (Stefano).

YOUTH Italien/Frankreich/Schweiz/GB 2015 «Das Setting von Youth, ein altertümliches LuxusSanatorium in den Schweizer Alpen, erinnert fast an einen Wes-Anderson-Film. Und ebenso illuster ist auch das Personal, mit dem Sorrentino es bevölkert: Michael Caine spielt den berühmten Klassik-Komponisten und -Dirigenten Fred Ballinger im Ruhestand, Harvey Keitel seinen besten Freund Mick Boyle, einen kultisch verehrten USRegisseur, der seinen Urlaub im Berghotel dazu nutzt, mit einer Handvoll Jünger seinen letzten Film vorzubereiten. Auf Spaziergängen unterhalten sich die beiden gewitzten, aber erschöpften Greise über alte Liebschaften und Prostata-­ Probleme und dringen im Verlauf einer skurrilturbulenten Handlung immer weiter durch die Barrieren ihrer Eitelkeiten zu ihren wahren Gefühlen und einstigen Sehnsüchten vor. Youth ist eine meisterliche, facettenreiche, nie morali­ sierende oder sentimentale Farce, die Michael ­Caines zu Beginn mit britisch steifer Oberlippe geäusserten Satz, Gefühle seien manchmal überbewertet, ad absurdum führt: Sie, nicht ­ Karriere, Geltung und Ruhm, sind alles, was ­ uns im Alter bleibt.» (Andreas Borcholte, Der Spiegel, 20.5.2015) 118 Min / Farbe / DCP / I/d/f // DREHBUCH UND REGIE Paolo Sorrentino // KAMERA Luca Bigazzi // ­MUSIK David Lang // SCHNITT Cristiano Travaglioli // MIT M ­ ichael Caine (Fred Ballinger), Harvey Keitel (Mick Boyle), Rachel Weisz (Lena Ballinger), Paul Dano (Jimmy Tree), M ­ adalina Diana Ghenea (Miss Universe), Jane Fonda (Brenda Morel), Alex MacQueen (Gesandter der Queen).


22 Das erste Jahrhundert des Films

1946 Kurz nach dem Krieg richtet sich der Blick gleichzeitig auf eine schwierige Gegenwart und eine ungewisse Zukunft: Im ersten deutschen Nachkriegsfilm, Die Mörder sind unter uns, manifestieren sich in den expressionistisch ausgeleuchteten Ruinen des zerstörten Berlin die Schatten als stumme Zeugen der Vergangenheit und gleichzeitig als Seelenlandschaft der deutschen Bevölkerung. Demgegenüber zeichnet Roberto Rossellinis Paisà in sechs Episoden ein nüchternes Bild Italiens und steht damit paradigmatisch für den damals bahnbrechenden italienischen Neorealismus, der sich von der Filmästhetik der Kriegsjahre abwendet und in möglichst unverfälschter Form der Wirklichkeit zu begegnen versucht. Mit The Best Years of Our Lives verschliesst sich auch Hollywood nicht der Nachkriegsrealität und zeigt in ungewohnter Deutlichkeit die problematische Rückkehr dreier Veteranen in die Heimat. Das Jahr 1946 spiegelt sich in indirekter Form im verwirrenden Plot von Howard Hawks Film-noir-Klassiker The Big Sleep: Der ahnungslose Privatdetektiv Philip Marlowe personifiziert die Ängste und eine grundlegende Verunsicherung am Ausgang des Zweiten Weltkriegs. Mit Fantastik wiederum begegnen La Belle et la Bête und A Matter of Life and Death der Gegenwart. Oftmals als Eskapismus fehlinterpretiert, werfen die Filme vielmehr einen ungewohnten, von Hoffnung geprägten Blick auf ihre Zeit. Marius Kuhn

Das erste Jahrhundert des Films In der Dauerreihe «Das erste Jahrhundert des Films» zeigen wir im Lauf von zehn Jahren rund 500 ­wegweisende Werke der Filmgeschichte. Die Auswahl jedes Programmblocks ist gruppiert nach Jahrgängen, woraus sich schliesslich 100 Momentaufnahmen des Weltkinos von 1900 bis 1999 ergeben. ­Referenzzahl ist jeweils der aktuelle Jahrgang, d. h. im Jahr 2016 sind Filme von 1916, 1926, 1936 usw. zu sehen. Weitere wichtige Filme von 1946 Duel in the Sun King Vidor, USA Fünf Frauen um Utamaro (Utamaro o meguru gonin no onna) Kenji Mizoguchi, J Gilda Charles Vidor, USA Great Expectations David Lean, GB It’s a Wonderful Life Frank Capra, USA Jugend ohne Reue (Waga seishun ni kuinashi), Akira Kurosawa, J La bataille du rail René Clément, F

Les portes de la nuit Marcel Carné, F My Darling Clementine John Ford, USA Notorious Alfred Hitchcock, USA Panique Julien Duvivier, F Sciuscià Vittorio De Sica, I The Killers Robert Siodmak, USA The Postman Always Rings Twice Tay Garnett, USA The Stranger Orson Welles, USA Unter den Brücken Helmut Käutner, D


Das erste Jahrhundert des Films: 1946.

THE BIG SLEEP USA 1946 Ein ehemaliger General wird erpresst und beauftragt deshalb den Privatdetektiv Philip Marlowe, der Sache nachzugehen. Dieser bemerkt bald, dass sein Auftraggeber und dessen Töchter selbst in kriminelle Geschäfte verwickelt sind. Der Privatdetektiv gerät immer stärker in ein Netz aus Lügen und Intrigen, aus dem es nur schwer ein Entkommen gibt. Humphrey Bogarts Marlowe ist die Personifikation des einsamen Wolfs im Film noir, einzig gebändigt von seiner damaligen Partnerin Lauren Bacall. Der Film ist nicht zuletzt aufgrund des verworrenen Plots (William Faulkner verfasste das Drehbuch nach einer Vorlage Raymond Chandlers) ein Klassiker, in dem sich die Verunsicherung und die Ängste am Ende des Zweiten Weltkriegs zu manifestieren scheinen. (mk) «Die Unsicherheit über den logischen Ablauf seiner eigenen Geschichte erfasste auch (…) Chandler: ‹Ich erinnere mich noch, wie vor mehreren Jahren, als Howard Hawks den Big Sleep machte, er und Bogart in Streit gerieten, ob eine der Figuren nun eigentlich ermordet worden sei oder Selbstmord begangen habe. Sie schickten mir ein Telegramm, um mich zu fragen, und, ver-

dammt, ich wusst’ es selber nicht …›» (Meinolf Zur­horst, Lexikon des Kriminalfilms, 1985) «Ein beispielhaftes Werk der ‹Schwarzen Serie› Hollywoods, das durch sein Klima der allgegenwärtigen Bedrohung, Amoralität und Korruption die gesellschaftlichen Umbrüche im Amerika der 1940er Jahre spiegelt. Geradlinig und lakonisch erzählt, mit von William Faulkner glänzend adaptierten Dialogen, ist der Film weniger an logischer Stimmigkeit als an der ‹existenzialistischen› Lebenshaltung seines Helden interessiert. Humphrey Bogart zeigt in der Hauptrolle eine der besten Leistungen seiner Karriere.» (Lexikon des int. Films) 114 Min / sw / 35 mm / E/d/f // REGIE Howard Hawks // DREHBUCH William Faulkner, Jules Furthman, Leigh Brackett, nach dem Roman von Raymond Chandler // KAMERA Sidney Hickox // MUSIK Max Steiner // SCHNITT Christian Nyby // MIT Humphrey Bogart (Philip Marlowe), Lauren Bacall (Vivian Sternwood), John Ridgely (Eddie Mars), Martha Vickers (Carmen Sternwood), Dorothy Malone (Buchhändlerin), Peggy Knudsen (Mona Mars), Regis Toomey (Bernie Ohls), Charles Waldron (General Sternwood), Bob Steele (Canino), Elisha Cook jr. (Harry Jones), Charles D. Brown (Norris), Louis Jean Heydt (Joe Brody).

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Das erste Jahrhundert des Films: 1946.

DIE MÖRDER SIND UNTER UNS Deutschland 1946 In den Trümmern Berlins begegnen sich der ehemalige Unterarzt Hans Mertens und die KZ-Überlebende Susanne Wallner. Beide versuchen die Schrecken des Krieges zu verarbeiten und kommen sich dabei näher. Als er zufällig auf einen früheren Kameraden trifft, der den Mord an über 100 Zivilisten veranlasst hatte, brechen alte Wunden auf und Mertens entschliesst sich, den Kriegsverbrecher umzubringen. «Die deutsche Schuld ist das grosse Thema des Films. Wolfgang Staudte hatte ihn noch in den letzten Kriegswochen entworfen. Jetzt, im Nachkrieg, wurde er zu einem Zeitbild. Die Anklage, die er gegen einen deutschen Offizier führt, der im okkupierten Polen Geiseln erschiessen liess, fand in der politischen Aktualität ihre historische Dimension: Der Tag, an dem Die Mörder sind unter uns uraufgeführt wurde, war der Tag vor der Vollstreckung des Nürnberger Urteils. (…) Mehr als das äussere Bild der Nachkriegszeit reflektiert der Film eine innere Verfassung. (…) Staudtes Bildsprache schafft den ästhetischen Aufbruch: expressive Schatten, düstere, drohende Ruinen. Es sind die Erscheinungen der Wirklichkeit, die zu Seelenlandschaften werden.» (Wolfgang Gersch, Geschichte des deutschen Films, 2004).

«Staudte (…) fühlte, dass er das Starke, Tiefe, Ungeheure, das er in seinen Mördern aussagen wollte, nicht in den konventionellen, glatten Formen des deutschen Films der faschistischen Epoche aussagen konnte. Es ist kein Zufall, dass er bei der Suche nach den geeigneten Formen auf expressionistische Formen zurückgriff, dass die gestürzte und gekippte Perspektive, die eigenwillige Kameraeinstellung und (...) Lichtführung (…) direkt bei der expressionistischen, künstlerisch hochentwickelten deutschen Stummfilmschule anknüpften, denn die akademische Glätte der vor­ ­ angegangenen Filmperiode entsprach nicht dem aufwühlenden Appell, der von seinem Film ausging.» (Kurt Maetzig, Neue Filmwelt, 5/1950) 85 Min / sw / DCP / D // DREHBUCH UND REGIE Wolfgang Staudte // KAMERA Friedl Behn-Grund, E ­ ugen Klagemann // MUSIK Ernst Roters // SCHNITT Hans Heinrich // MIT Hildegard Knef (Susanne Wallner), Ernst ­Wilhelm Borchert (Dr. Mertens), Arno Paulsen (Ferdinand Brückner), Erna Sellmer (Frau Brückner), Robert Forsch (Mondschein), Ernst StahlNachbaur (Arzt).


Das erste Jahrhundert des Films: 1946.

PAISÀ Italien 1946 Ein GI erlebt durch den Strassenjungen Pasquale das Elend im zerstörten Neapel; in der Po-Ebene kämpfen Amerikaner und Partisanen gegen die letzten Überreste der deutschen Armee. In sechs Episoden schildert Paisà die Schlussphase des Zweiten Weltkriegs. Dem französischen Filmkritiker André Bazin diente der Film als Pars pro Toto um den damals aufkommenden italienischen Neorealismus, dessen Einfluss bis in die Gegenwart reicht, zu charakterisieren: «Rossellinis Technik bewahrt sicher eine gewisse Verständlichkeit in der Abfolge der Tatsachen, doch diese greifen nicht ineinander wie eine Kette auf einem Zahnrad. Der Verstand muss von einer Tatsache zur anderen springen, wie man von Stein zu Stein hüpft, um einen Bach zu überqueren. Bisweilen zögert der Fuss, welchen Stein er nehmen soll, oder er rutscht aus. So ergeht es auch unserem Verstand. (...) Tatsachen sind Tatsachen, unsere Vorstellungskraft benutzt sie, doch sie haben nicht a priori die Funktion, ihr zu dienen. Bei der üblichen filmischen Auflösung (...) macht sich die Kamera über die Tatsache her, zerstückelt, analysiert sie und setzt sie wieder zusammen; zwar verliert die Tatsache ihre eigentliche Substanz nicht völlig, doch sie wird in eine Ab-

straktion gehüllt, wie der Lehm des Ziegelsteins in die noch fehlende Mauer, die seine Quaderform vervielfachen wird. Auch bei Rossellini nehmen die Tatsachen einen Sinn an, doch nicht wie ein Werkzeug, dessen Funktion seine Form im Voraus bestimmt. (...) Die erzählerische Einheit in Paisà ist nicht die ‹Einstellung›, ein abstrakter Blickwinkel auf die zu analysierende Wirklichkeit, sondern die ‹Tatsache›». (André Bazin, Was ist Film?, 1958–62; dt. 2004) «Paisà ist in seiner Ausdruckskraft ein Meilenstein des Kinos. Es ist sinnlos ihn zu beschreiben, da er hinsichtlich seiner Form, seiner dramatischen Konstruktion und seiner Botschaft kein gewöhnlicher Film ist. In gewisser Weise ist er die Antithese zum klassischen Erzählkino.» (Bosley Crowther, The New York Times, 30.3.1948) 125 Min / sw / DCP / I/d // REGIE Roberto Rossellini // DREHBUCH Sergio Amidei, Federico Fellini, Roberto Rossellini, Klaus Mann (Beteiligung am Sujet) // KAMERA Otello Martelli // MUSIK Renzo Rossellini // SCHNITT Eraldo Da Roma // MIT 1. Episode: Carmela Sazio (Carmela), Robert Van Loon (Robert), 2. Episode: Alfonsino Pasca (Pasquale), Dots M. Johnson (Joe, Militärpolizist), 3. Episode: Maria Michi (Francesca), Gar Moore (Fred), 4. Episode: Harriet White (Harriet), Renzo Avanzo (Massimo), 5. Episode: Bill Tubbs (Bill Martin), 6. Episode: Dale Edmonds (Dale), Cigolani (Partisan).

25


26

Das erste Jahrhundert des Films: 1946.

A MATTER OF LIFE AND DEATH

LA BELLE ET LA BÊTE

GB 1946

Frankreich 1946

Über England wird der Pilot Peter D. Carter abgeschossen. Wie durch ein Wunder überlebt er den Absturz und trifft auf die amerikanische Funkerin June, in die er sich verliebt. Der Grund für seine wundersame Rettung ist jedoch ein Engel, der nicht rechtzeitig dort war, um Carter in den Himmel zu holen. Nun muss der Pilot vor einem himmlischen Gericht verhandeln, ob er auf der Erde bleiben darf. «Als Propagandafilm geplant, um die Beziehung zwischen England und den USA zu verbessern, funktionierte der Film auch als vergnügliche Aufheiterung für die Briten, die sich mit der verspielten und gleichzeitig scharfen Satire identifizieren konnten. Das Resultat ist eine fantastische, herzerwärmende Geschichte (…). Die Schauspieler sind erstklassig und das Drehbuch hervorragend geschrieben. Während die Szenen auf der Erde in traumhaftem Technicolor gedreht sind, erstrahlt der Himmel in brillantem Schwarzweiss.» (Dennis Schwartz, Ozus’ World Movie Reviews, 19.9.2015)

Nach dem bekannten Märchen von Jeanne-Marie Leprince de Beaumont erzählt Jean Cocteau die Geschichte der jungen Belle, die sich, um ihren Vater zu retten, in ein geheimnisvolles, von einem Biest bewohntes Schloss begibt. «Kurz nach Kriegsende gedreht, wirkt La Belle et la Bête zunächst wie eine Flucht vor der harten Nachkriegsrealität. Während Cocteaus Zeitgenossen in Italien den Neorealismus begründeten und mit einer humanistischen Schule, die nach den ‹wahren› Geschichten der Menschen auf der Strasse suchte, das fantasievolle, märchenhafte Kino und seine Poesie negierten, verfolgte Cocteau seinen eigenen Weg. (…) Cocteaus Kino war ein tröstliches Kino, in dem er versuchte, der Wirklichkeit das wiederzugeben, was die harte Realität und die unaussprechlichen Taten des Zweiten Weltkriegs in Europa ausgelöscht hatten: die Irrationalität in Form von Fantasie und Poesie.» (Frederik König, schnitt.de) 96 Min / sw / 35 mm / F/d // REGIE Jean Cocteau, René ­Clement (ungenannt) // DREHBUCH Jean Cocteau, nach ei-

104 Min / Farbe + sw / DCP / E/d // DREHBUCH UND REGIE

nem Märchen von Jeanne-Marie Leprince de Beaumont //

Michael Powell, Emeric Pressburger // KAMERA Jack Cardiff

KAMERA Henri Alekan // MUSIK Georges Auric // SCHNITT

// MUSIK Allan Gray // SCHNITT Reginald Mills // MIT David

Claude Ibéria // MIT Jean Marais (Avenant/Biest/Prinz),

Niven (Peter David Carter), Kim Hunter (June), Robert Coote

Josette Day (Belle), Mila Parély (Félicie), Nane Germon ­

(Bob Trubshawe), Kathleen Byron (Engel), Richard Attenbo-

­(Adélaïde), Michel Auclair (Ludovic), Marcel André (Belles

rough (englischer Pilot), Roger Livesey (Dr. Frank Reeves),

­Vater), Raoul Marco (Wucherer).

Robert Atkins (Vikar), Abraham Sofaer (Richter).


Das erste Jahrhundert des Films: 1946.

THE BEST YEARS OF OUR LIVES USA 1946 Nach Kriegsende kehren drei Soldaten gemeinsam zurück in die Heimat, eine Kleinstadt im amerikanischen Mittelwesten. Der Krieg ist in den Köpfen noch präsent und die Rückkehr in den Alltag gestaltet sich für alle drei schwierig. In formal brillant inszenierten Tiefenkompositionen des Kameramanns Gregg Toland (Citizen Kane) thematisiert William Wyler in seinem mit acht Oscars ausgezeichneten Film auf bewegende Art die mitunter schwierige Heimkehr der Veteranen. «60 Jahre nach seiner Premiere wirkt der Film überraschend modern: klar, direkt, aufrichtig im Zusammenhang mit seinen Themen, die die Holly­ woodstudios damals für gewöhnlich ignorierten. Nach den Kriegsjahren mit Heldentum und Patriotismus in den Filmen war dies ein ernüchternder Blick auf die Probleme, mit denen Veteranen konfrontiert wurden. (…) Solange es Kriege und heimkehrende Soldaten gibt, wird dieser Film nie an Aktualität einbüssen.» (Roger Ebert, Great Movies, 29.12.2007) «Der Film ist ein bitterböser Kommentar zur Situation der amerikanischen Nachkriegsgesell-

schaft. Er zeigt, wie sehr die Erfahrungen des Krieges einen Teil der Menschen für lange Zeit abspalten wird von den anderen, die zu Hause geblieben sind und ihren eigenen Alltag gelebt haben. Es ist keine Gemeinsamkeit möglich, nur da und dort, bei den Frauen vor allem, ein bisschen Gefühl und Verständnis. Doch nicht um die Idylle, die, melodramatisch verklärt, im Vordergrund gezeichnet wird, geht es, sondern um den Realismus der Erfahrungen, die Wylers Protagonisten im Zentrum machen müssen. (...) Ein grosses Epos über den tiefen Riss in der amerikanischen Gesellschaft: Mythen und Heldenlieder, Legenden und Seelenbilder, aber auch Momentaufnahmen und Alltagsskizzen – das breite Weltbild einer ganzen Zivilisation.» (Norbert Grob, Drei Meister in Hollywood, 2015) 172 Min / sw / DCP / E/e // REGIE William Wyler // DREHBUCH Robert E. Sherwood, nach einem Roman von MacKinlay Kantor // KAMERA Gregg Toland // MUSIK Hugo Fried­hofer // SCHNITT Daniel Mandell // MIT Myrna Loy (Milly Stephenson), Fredric March (Al Stephenson), Dana Andrews (Fred Derry), Teresa Wright (Peggy Stephenson), Virginia Mayo (Marie Derry), Cathy O’Donnell (Wilma Cameron), H ­ oagy ­Carmichael (Butch Engle), Harold Russell (Homer Parrish), Gladys George (Hortense Derry), Roman Bohnen (Pat Derry), Ray Collins (Mr. Milton), Steve Cochran (Cliff).

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28 Reedition

Die verborgene Festung 1958 machte sich Akira Kurosawa mit Die verborgene Festung erstmals daran, die traditionellen Werte des Samurai-Epos zu untergraben. Seine Schelmengeschichte gemahnt an John Fords Western und an Shakespeare. Restaurierte Fassung.

­ DIE VERBORGENE FESTUNG (Kakushi toride no san-akunin) / Japan 1958 139 Min / sw / DCP / Jap/d // REGIE Akira Kurosawa // DREHBUCH Akira Kurosawa, Ryuzo Kikushima, Hideo Oguni, Shinobu Hashimoto // KAMERA Kazuo Yamasaki // MUSIK Masaru Sato // SCHNITT Akira Kurosawa // MIT Toshiro Mifune (General ­Rokurota Makabe), Takashi Shimura (General Izumi Nagakura), Misa Uehara (Prinzessin Yukihime), Minoru Chiaki (Tahei).

Japan im 16. Jahrhundert. Zwei arme Bauern, die umsonst im Krieg ihr Glück zu machen suchten, finden auf dem Heimweg ein Goldstück. Dieses gehört zum Schatz der Prinzessin Yukihime, die von einer feindlichen Sippe verfolgt wird und sich unter dem Schutz ihres Generals Rokurota in eine verborgene Festung geflüchtet hat. Rokurota gibt sich als Bandit aus, der den Schatz geraubt hat, und stellt Yukihime als seine Geliebte hin. Er nutzt die Gier der Bauern aus, um die Prinzessin mit ihrer Hilfe in Sicherheit zu bringen. «In diesem Sinne trifft der Titel des Filmes zu, der vollständig lautet: Drei böse Männer in einer verborgenen Festung. Darin steckt schon die Intention, die Kurosawa in Yojimbo (1961) zu einer konsequenten Umcodierung der Genrekonventionen führen wird – eine Welt zu entwerfen, die von Grund auf verdorben ist und in der das Böse nur mit Bösem zu bekämpfen ist. Von dieser Position aus betrachtet erscheint Die verborgene Festung nur als eine Art Vorübung, die sich noch ganz dem Charme des Abenteuers, der tölpelhaften und heroischen Gestalten, der Faszination grandioser Landschaften und auftrumpfender Massenangebote überlässt.» (Karsten Visarius, in: Akira Kurosawa, Hanser Verlag 1988)


29 Reedition

Wenn die Kraniche ziehen Michail Kalatosows Wenn die Kraniche ziehen zählt zu den ersten sowjetischen Filmen, die sich von der blossen Propaganda abkehrten. Bis heute beeindrucken die in Cannes ausgezeichnete Hauptdarstellerin Tatjana Samoilowa und die «emotionale Kamera» Sergej Urussewskis.

WENN DIE KRANICHE ZIEHEN (Letjat shurawlij) / UdSSR 1957 94 Min / sw / DCP / Russ/d // REGIE Michail Kalatosow // DREHBUCH Wiktor Rosow, nach seinem Bühnenstück // ­KAMERA ­Sergej Urussewski // MUSIK Moisei Vaynberg [=Michail Wainberg] // SCHNITT Marija Timofejewa // MIT Tatjana ­Samoilowa ­(Weronika), Alexej Batalow (Boris), Wassili Merkurjew (Fjodor Iwanowitsch), Alexej Schworin (Mark), Swetlana Charitonowa (Irina).

Eine Liebesgeschichte vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs. Weronika und Boris lieben sich und wollen heiraten, doch als das Land überfallen wird, meldet sich Boris freiwillig an die Front. In der langen Zeit des Wartens auf Lebenszeichen ihres Geliebten wird Weronika von Mark erobert, Boris’ vom Kriegsdienst freigestellten Bruder. Sie heiraten, doch ihrer Ehe ist kein Glück beschieden. Dieser Tauwetter-Klassiker, der 1958 die Goldene Palme gewann, ist in einer restaurierten Fassung zu sehen. «Der Film zeigt, was im Sowjetfilm durchaus ungewöhnlich war, den ‹grossen vaterländischen Krieg› nicht als heldisches Erlebnis des Kollektivs, sondern als bedrückenden Konflikt des Individuums.» (Reclams Filmführer) «Kalatosow greift auf einen Stil zurück, der beliebt war, als Pudowkin und Dowschenko heroische Revolutionsfilme drehten. Es ist ein Stil, der im Stummfilm verwendet wurde, voller schräger Blickwinkel und Nahaufnahmen rennender Füsse und bestürzter Gesichter. Kalatosow hat ihn aber modernisiert und mit Ton und mit der Sprache zeitgenössischer Filmberichterstattung kombiniert.» (Bosley Crowther, New York Times, 22.3.1960)


30 Premiere: Vergine giurata

Das verhandelte Geschlecht Eine junge Frau in den Bergen Albaniens entschliesst sich, von einer Tradition Gebrauch zu machen und fortan als Mann in ihrer Gesellschaft zu leben. Dazu muss sie allerdings ewige sexuelle Enthaltsamkeit schwören. Zehn Jahre später reist sie nach Mailand und wird dort ganz langsam doch noch zur Frau.

VERGINE GIURATA / Italien/Schweiz/Deutschland/Albanien/Kosovo/Frankreich 2015 84 Min / Farbe / DCP / OV/d // REGIE Laura Bispuri // DREHBUCH Laura Bispuri, Francesca Manieri, nach dem Roman von ­Elvira Dones // KAMERA Vladan Radovic // SCHNITT Carlotta Cristiani, Jacopo Quadri // MIT Alba Rohrwacher (Mark/Hana), Emily Ferratello (Jonida), Lars Eidinger (Bernhard), Flonja Kodheli (Lila), Luan Jaha (Stjefen), Bruno Shllaku (Gjergj).

Laura Bispuris Regieerstling geht von einer Situation aus, die einem GenderStudies-Labor entstammen könnte. Aber dieser Film braucht keine Theorie, er spielt alles ganz praktisch, einleuchtend und zu Herzen gehend durch. Hana ist Waise, ihr Pflegevater hat sie nach dem Tod ihrer Eltern vom Berg herab zu seiner Frau und seiner Tochter gebracht und wie seine eigene Tochter aufgezogen. Hana liebt Mutter und Pflegeschwester, aber sie hängt am Ersatzvater, lebt nach seinem Rollenvorbild. Hana möchte schiessen, jagen und selbstbestimmt leben. Und der Vater lässt ihr die Freiheit, wie ein Mann zu leben, weist sie gleichzeitig auf die Grenzen, Konsequenzen und Verhaltensweisen hin. Als die Schwester mit ihrem Freund vor der traditionellen Frauenrolle nach Italien flüchtet, bleibt Hana mit den Eltern zurück – als Sohn anerkannt vom Vater und der Dorfgemeinschaft, und unter dem Namen Mark. Erst


31 nach dem Tod beider Eltern entschliesst sich auch Mark/Hana zu einem neuen Leben, reist unangekündigt nach Mailand zur Schwester und ihrem Mann und deren Teenager-Tochter. Für Laura Bispuris Film ist die italienische Schauspielerin Alba Rohrwacher ein Glücksfall. Zwar erkennt das Publikum sie von Anfang an als Frau. Aber als Mark nimmt sie mit ihrer Lakonie und feinen Kleinheit ein, ohne einem richtig vertraut zu werden. Mark/Hana ist ein geschlechtsloses Zwitterwesen, ein Mensch, der einen definierten Preis für eine eng definierte Freiheit bezahlt hat. Und in Mailand langsam merkt, dass dieser Handel in der alten Umgebung vielleicht sinnvoll schien – in der neuen aber bloss noch absurd sein kann. Dass es in Mailand dann ausgerechnet die synchronschwimmende Teenager-Nichte sein wird, welche Mark als Frau erkennt und anerkennt und ihre Weiblichkeit befördert, ist ein hübsches Detail in diesem extrem facettenreichen, ruhigen Film. Ein Mädchen, das sein Geschlecht zurückweist, weil es in seinem gesellschaftlichen Umfeld eindeutig als minderwertig und fremdbestimmt definiert ist, wäre schon für sich genommen eine fast unspielbar theoretische Figur. Wenn aber die schliessliche Frauwerdung nach zehn Jahren geschlechtsloser Männlichkeit dazu kommt, wird das vollends abstrakt. Dass es Laura Bispuri mit Alba Rohrwacher zusammen gelingt, diese Abstraktionen konkret erfahrbar zu machen, fühlbar und oft schmerzlich, das ist ein kleines Wunder. Vergine giurata ist eine italienisch-schweizerisch-deutsch-albanisch-­ kosovarische Koproduktion. Bevor die ersten Bilder auf der Leinwand erscheinen, lacht das Publikum erst einmal verblüfft über den endlosen Vorspann mit Geldgebern und Produktionspartnern. Ihre Vielzahl deutet darauf hin, dass kein einzelner Produzent das Risiko alleine tragen wollte oder konnte, dass wohl alle damit rechnen mussten, dass ein dermassen kühnes Projekt auch einfach scheitern kann. Aber der Film ist geglückt. Michael Sennhauser

Michael Sennhauser ist Filmredaktor bei SRF 2 Kultur und führt einen Blog (http://sennhausersfilmblog.ch).


32 Premiere: Remember

Irrfahrt in die Erinnerung Als Nachschlag zur Retrospektive im letzten Programm zeigt das ­Filmpodium Atom Egoyans neusten Film Remember. Dieses Roadmovie, das Parallelen zu Paolo Sorrentinos This Must Be the Place aufweist, wird zur Reflexion über Erinnerung und Vergessen, Schuld und Sühne.

REMEMBER / Kanada/Deutschland 2015 95 Min / Farbe / DCP / OV/d // REGIE Atom Egoyan // DREHBUCH Benjamin August // KAMERA Paul Sarossy // MUSIK Mychael Danna // SCHNITT Christopher Donaldson // MIT Christopher Plummer (Zev Guttman), Dean Norris (John Kurlander), Martin Landau (Max Rosenbaum), Bruno Ganz (Rudy Kurlander 1), Jürgen Prochnow (Rudy Kurlander 4), Peter DaCunha (Tyler).

Zev Guttman lebt im Altersheim. Er hat vor kurzem seine Frau Ruth verloren, und seine fortschreitende Demenz raubt ihm das Gedächtnis. Nun schickt ihn sein gebrechlicher Freund Max auf eine längst vereinbarte Mission: Zev soll den Mann aufspüren, der vor 70 Jahren in Auschwitz ihre beiden Familien ausgelöscht hat, und ihn richten. Der einstige SS-Mann lebt in Nordamerika unter dem Decknamen Rudy Kurlander, und Max gibt Zev Geld und Anweisungen, wie er die vier Männer, die so heissen, aufspüren kann. Zevs Reise droht immer wieder an seiner Verwirrtheit zu scheitern, aber nach mehreren falschen Anläufen kommt es doch noch zur Abrechnung. «Die Suche nach verborgenen Wahrheiten war von jeher der Motor der Filme von Atom Egoyan, sie kreisen obsessiv um private und historische Lügen und Geheimnisse, vom Kindesmissbrauch in The Sweet Hereafter bis zum Genozid an den Armeniern in Ararat. Jetzt liefert ihm das Drehbuchdebüt von Benjamin August eine böse Intrige um den Massenmord an den Juden. In betont einfachen Bildern, ganz ohne Rückblenden, verzahnt er das intime Schicksal der Demenz mit dem Drama der historischen Verdrängung, setzt die Sehnsucht nach Erinnerung in ein Spannungsverhältnis zur Gnade des Vergessens.» (Anke Sterneborg, Süddeutsche Zeitung, 3.1.2016)


33 Oscar® 2016 NomiNatioN

Bester fremdsprachiger Film

Bester fremdsprachiger Film

27.4. — 5.5.16 Zürich

6.5. — 8.5.16 Frauenfeld

SON of saul

UF A K VER PRIL R O V 1 9. A AB

«Ein überwältigender, kluger Film.»

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EIN fIlm VON láSzló NEmES

Tagesspiegel

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schwullesbisches Filmfestival


34 BUCHVERNISSAGE FRÜHE STUMMFILME

FILM BILD KUNST

EINZELVORSTELLUNG DI, 5. APRIL | 18.15 UHR

Anfang April erscheint als Band 35 der

vivants) oder Tanz, aber auch mit dem ­

«Zürcher Filmstudien» das Buch «Film Bild

«Schönen» des Alltags wie Modefotografie

Kunst. Visuelle Ästhetik des vorklassi-

usw. Das Kino bildete so Gestaltungsmittel

schen Stummfilms». Die Herausgeber Jörg

heraus, die wegweisend wurden und es teils

Schweinitz und Daniel Wiegand vom Semi-

bis heute geblieben sind.

nar für Filmwissenschaft der Universität

Die ausgewählten Beispiele verraten da-

Zürich stellen das Buch vor und zeigen drei

von viel: Der französische Kurzfilm Dans

repräsentative Filme aus den Jahren 1909

l’Hellade (Charles Decroix, F 1909) zeigt den

bis 1918.

Schleiertanz einer Nymphe (Stacia Napierkowska). Mit seinem Rückgriff auf die anti-

Das europäische Kino des Jahrzehnts nach

kisierende Welt eines Fauns und der Be-

1907/08 war besonders auf die Kultivierung

geisterung für wehende Schleier entspricht

der Bildästhetik ausgerichtet. Stärker als in

er virtuos dem Zeitgeschmack. An dem ita-

den USA, wo man auf die Beschleunigung

lienischen Melodrama Rapsodia satanica

des Erzählens durch Schnitt und Einstel-

(Nino Oxilia, I 1915/17) zeigt sich, wie Lyda

lungswechsel setzte, pflegte man hier das

Borelli ihren Körper im Spiel gleichsam in

«schöne malerische Bild» (Regisseur Urban

eine «lebende Arabeske» als tragendes

Gad). Dabei trat der Film mit dem ästheti-

Element der Bildkomposition verwandelt.

schen Zeitgeist in Dialog, vor allem mit visu-

Auch der deutsche Film Die Liebe der Maria

ellen Künsten wie Malerei (und Tableaux

Bonde (Emerich Hanus, D 1918) handelt von

> Die Liebe der Maria Bonde.


35

Buchvernissage frühe Stummfilme.

Liebe, Eifersucht und Tod. Die kunstvoll ausgearbeitete Bildästhetik, oszillierend zwischen Fläche und Tiefe, Ornamentalem und Malerischem, erreicht hier einen Hö-

RAPSODIA SATANICA Italien 1915 45 Min / handkoloriert / Digital SD / Stummfilm mit Musik, ital. Zw’titel // REGIE Nino Oxilia // DREHBUCH Alberto Fas-

hepunkt.

sini, Fausto Maria Martini (Gedicht) // KAMERA Giorgio Ricci // MUSIK Pietro Mascagni // MIT Lyda Borelli (Contessa Alba

DIE LIEBE DER MARIA BONDE D 1918 46 Min / sw / 35 mm / Stumm, dt. Zw’titel // REGIE Emerich Hanus // DREHBUCH Friedel Köhne // MIT Martha Novelly (Maria Bonde), Paula Eberty (Frau Bonde), Eva Maria Hartmann (Gunne), Kurt Vespermann (Baron Fedja Bronikow).

d’Oltrevita), Ugo Bazzini (Mephisto), Andrea Habay (Tristano). Rapsodia satanica wurde 1915 gedreht, nach einer ersten geschlossenen Vorführung aber umgeschnitten und erst 1917 in die Kinos gebracht. Pietro Mascagni («Cavalleria rusticana») komponierte eine Originalmusik, die wesentlich zum Erfolg des Films beitrug. Sie ist im Filmpodium zu hören.

am Flügel: André Desponds.

DANS L’HELLADE Frankreich 1909 6 Min / sw + handkoloriert / 35 mm / stumm, franz. Zw’titel // REGIE Charles Decroix // MIT Stacia Napierkowska, Andrée

✶ Einführung und Buchpräsentation durch die Herausgeber. Gesamtdauer inkl. Filme: ca. 125 Min. Im Anschluss sind Sie zu einem Umtrunk eingeladen. Eine Veranstaltung in Zusammenarbeit mit dem Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich.

Marly. am Flügel: André Desponds.

FÜR 9 FRANKEN INS KINO?

Mit dem U25-Abo des Filmpodiums www.filmpodium.ch


36 DO, 14. APRIL | 20.45 UHR

IOIC-SOIREE

DAS MITTELALTER IM STUMMFILM Den Abschluss der Reihe «Das Mittelalter

Fouquet und dem Ritter Robert Cottereau.

im Stummfilm» des Instituts für incohä-

Auf der Flucht vor bewaffneten Burgundern

rente Cinematographie (IOIC) bildet der

wird Jeanne von einem Rudel wilder Wölfe

französische Historienfilm Le miracle des

gerettet und wandelt sich in der Folge zu

loups über die Zeit Karls des Kühnen. Die

Jeanne Hachette, die sich mit der Axt in der

Live-Vertonung übernimmt ein achtköpfi-

Hand für ihren König in die Schlacht stürzt.

ges Impro-Orchester.

Im nationalistisch gestimmten Frankreich der 1920er-Jahre wurde Raymond

Als Louis XI. nach dem Hundertjährigen

Bernards Historienfilm zum Grosserfolg.

Krieg den Thron besteigt, bedient er sich al-

Das nostalgische Beschwören einer glor-

ler möglichen Mittel, Frankreich zu einen

reichen Epoche Frankreichs sollte nicht zu-

und über alle anderen Staaten zu erheben.

letzt den Prozess des nationalen Wieder­

Sein mächtiger Rivale Charles le Téméraire

erwachens ankurbeln. Was Birth of a Nation

(Karl der Kühne), der Herzog von Burgund,

(1915) für die USA war, das sollte Le miracle

macht ihm jedoch einen Strich durch die

des loups für Frankreich werden. (IOIC)

Rechnung, trommelt seine Truppen zusam-

Live-Vertonung: IOIC Impro-Orchester 2016

men und feuert sie an, die königliche Fes-

Rea Dubach (Stimme), Linda Vogel (Harfe, Stimme),

tung Beauvais zu stürmen.

Hans Koch (Bassklarinette, Sopransaxophon),

Vor diesem Hintergrund entwickelt sich

Manuel Troller (E-Gitarre), Gabriel Stampfli (E-Gitarre), Nadan Rojnic (E-Bass), Vincent Glanzmann (Schlagzeug),

die hindernisreiche Liebesgeschichte zwi-

Lionel Friedli (Schlagzeug)

schen der jungen Bürgerstochter Jeanne

Weitere Informationen zum IOIC: http://ioic.ch

LE MIRACLE DES LOUPS / Frankreich 1924 129 Min / tinted / 35 mm / stumm, frz. Zw’titel // REGIE Raymond Bernard // DREHBUCH Jean-José Frappa, Raymond Bernard, André-Paul Antoine, nach dem Roman von Henry Dupuy-Mazuel // KAMERA Robert Batton, Maurice Forster, Marc Bujard // MIT Vanni Marcoux (Charles le Téméraire), Charles Dullin (Louis XI), Yvonne Sergyl (Jeanne Fouquet), Romuald Joubé (­ Robert Cottereau), Armand Bernard (Bische), Ernest Maupin (Fouquet), Fernand Mailly (Philippe Le Bon), Gaston Modot (du Lau), Philippe Hériat (Tristan l’Ermite).


37 EIN ABEND MIT FERNANDO PÉREZ

FR, 15. APRIL

Kubas Kino hat viele Schweizer Fans, und kein kubanischer Regisseur hat mehr Erfolg als Fernando Pérez. Anlässlich seiner Friedrich-Dürrenmatt-Gastprofessur weilt Pérez derzeit in der Schweiz. Zu seinem Besuch in Zürich am 15. April zeigt das Filmpodium seinen grössten Hit La vida es silbar und seine fantasievolle Fabel Madrigal. Die Filme des Kubaners Fernando Pérez haben nicht nur in seiner Heimat und in Lateinamerika Erfolg, sondern auch in Europa. Seine Gabe, die Poesie des magischen Realismus lateinamerikanischer Prägung

LA VIDA ES SILBAR / Kuba/Spanien 1998 106 Min / Farbe / 35 mm / Sp/d/f // REGIE Fernando Pérez //

mit satirischer Systemkritik zu verquicken,

DREHBUCH Fernando Pérez, Eduardo del Llano // KAMERA

findet hierzulande grossen Anklang, sogar

Julia Yip // MIT Luis Alberto García (Elpidio Valdés), Isabel

noch mehr als in Spanien. In La vida es silbar kontrastiert Pérez drei

Raúl Pérez Ureta // MUSIK Edesio Alejandro // SCHNITT Santos (Chrissy), Coralia Veloz (Julia), Claudia Rojas ­(Mariana), Rolando Brito (Dr. Fernando), Bebé Pérez (Bebé).

Schicksale aus Havanna: Die Tänzerin Mariana will enthaltsam sein, um ihre Traumrolle zu ergattern – und verliebt sich prompt; Elpidio, ein kiffender Kindskopf, den seine Mutter verlassen hat, will nicht erwachsen werden; die Sozialarbeiterin Julia fällt bei der Erwähnung von Sex in Ohnmacht. Doch die gute Fee Bebé wacht über die drei bei ihrer Suche nach dem Glück. Madrigal ist Pérez’ Hommage an den legendären Cineasten René Clair. Der schöne Schauspieler Javier soll die füllige Luisita verführen, um deren riesige Wohnung zu ergattern, verliebt sich aber in sein «Opfer». In einem Zukunftsroman verarbeitet

MADRIGAL / Kuba 2007

Javier seine zwiespältigen Gefühle für sein

112 Min / Farbe / 35 mm / Sp/d/f // REGIE Fernando Pérez //

trügerisches Tun. (mb)

DREHBUCH Susana Maria, Fernando Pérez, Eduardo del Llano // KAMERA Raúl Pérez Ureta // MUSIK Edesio Alejandro // SCHNITT Iñigo Remacha, Julia Yip // MIT Carlos Enrique

✶ Vorführungen um 18.00 und 21.00 Uhr in Anwesenheit von Fernando Pérez

Almirante (Javier), Liety Chaviano (Luisita), Ana de Armas (Stella Maris), Luis Alberto García (Angel), Carla Sánchez (Eva), Yailene Serra (Elvira).


38 Filmpodium für Kinder

Shrek – Der tollkühne Held

Frei nach dem gleichnamigen kuriosen Kinderbuch von William Steig haben die Drehbuchautoren (scheinbar) Ethik und Ästhetik von Märchen auf den Kopf gestellt.

SHREK – DER TOLLKÜHNE HELD (Shrek) / USA 2001 87 Min / Farbe / Digital HD / D // REGIE Andrew Adamson, Vicky Jenson // DREHBUCH Ted Elliott, Terry Rossio, Joe Stillman, Roger S. H. Schulman, nach dem Kinderbuch von William Steig // KAMERA Simon J. Smith // MUSIK Harry Gregson-Williams, John Powell // SCHNITT Sim Evan-Jones, Michael Andrews, Christopher Knights. MIT DEN DEUTSCHEN STIMMEN VON ­Sascha Hehn (Shrek), Esther Schweins (Prinzessin Fiona), Randolf Kronberg (Esel), ­Rufus Beck (Lord Farquaad), Santiago Ziesmer (Lebkuchenmann), Michael Nowka (Zauberspiegel), Michael Pan (Monsieur ­Robin Hood). MIT DEN ENGLISCHEN STIMMEN VON Mike Myers (Shrek), Eddie Murphy (Donkey), Cameron Diaz (Prinzessin Fiona), John Lithgow (Lord Farquaad), Vincent Cassel (Monsieur Robin Hood), Conrad Vernon (Lebkuchenmann), Chris Miller (Geppetto/ Zauberspiegel), Cody Cameron (Pinocchio/die drei Schweinchen). Filmpodium für Kinder jeweils am Samstag um 15:00 Uhr // Zusätzliche Vorstellung in der englischen Originalversion mit deutschen Untertiteln: Sonntag, 3.4., 15:00 Uhr

Shrek ist ein grünhäutiger, griesgrämiger Eigenbrötler, der gern in sein Schlammbad furzt und aus Ohrenschmalz Kerzen dreht. Sein Gegenspieler ist der eitle Lord Farquaad, der seine Kleinwüchsigkeit mit Beinattrappen tarnt und sein Land ethnisch säubert, um im nach seinem Bilde gestalteten Schloss keine Konkurrenz zu haben. Per Zauberspiegel kürt er die Singleprinzessin, die einen Millionär – pardon: Adligen – heiraten will und ihn damit zum Kö-


39 nig macht. Seine Wahl fällt auf Prinzessin Fiona, die dummerweise vor einem Drachen gerettet werden muss. So lässt Farquaad den unappetitlichen, aber strammen Shrek diese Heldentat an seiner statt vollbringen. Im Gegenzug will er Pinocchio, Schneewittchen, Rotkäppchen samt Wolf und Co., die als Asylanten Shreks Sumpf heimsuchen, wieder verschwinden lassen. Dieses «gebrochene Märchen» veräppelt die braven Grimm- und Per­ rault-Adaptationen von Disney. In der schrägen Fabel vom unheroischen Unhold Shrek, der wider Willen eine schöne Prinzessin rettet, werden nicht nur klassische Märchenmotive und -figuren durch den Kakao gezogen; Zoten und Fäkalhumor für die Kids gehören ebenso zum breiten Spassrepertoire wie Seitenhiebe gegen Disneyland. Bei aller Respektlosigkeit und anachronistischen Verspieltheit huldigt Shrek am Ende ähnlichen Werten wie die parodierten Disney-Filme: Wer zu sich selbst steht, wird auch liebenswert, und mehr als Äusserlichkeiten zählen innere Werte. Die Rechnung, mit einem kühnen Stilmix Kinder ebenso anzusprechen wie cinephile Erwachsene, ging künstlerisch wie kommerziell auf: Shrek hat an Amerikas Kinokassen damals selbst Disneys Blockbuster Pearl Harbor versenkt und wurde mit einem Oscar als bester Animationsfilm ausgezeichnet. Michel Bodmer

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40 SÉLECTION LUMIÈRE

GLORIA John Cassavetes hat als Schauspieler in

nicht übers Herz bringen, innezuhalten und

Hollywoodstreifen Geld verdient, um damit

uns zu überlegen, wie albern das Ganze ist.»

Filme nach eigenem Gusto zu drehen. Ne-

(Roger Ebert, Chicago Sun-Times, 7.1.1998)

ben seinen innovativen, teils sperrigen Dialogstücken hat er mit Gloria einen Ausflug ins Krimigenre gewagt und damit auch ein

✶ am Mittwoch, 6. April, 20:45 Uhr: Einführung von Michel Bodmer

breiteres Publikum erobert. «Bereits von der einleitenden Montage­ sequenz an ist klar, dass wir uns in den Händen eines Meisters befinden. Der Film gleitet elegant von einer gemalten Titelsequenz über aufregende Luftaufnahmen von Manhattan bei Nacht zu einer entnervten Frau, die versucht, einen vollgepackten Bus zu verlassen, alles zu den gefühlvollen Klängen von Bill Contis schöner Jazz-Orchestermusik. Rowlands ist wie üblich Spitze als New Yorker Gangsterbraut mit taffem Mundwerk – halb Hure, halb Mutter –, die wider Willen einen vorzeitig machohaften Latino-Jungen am Hals hat, nachdem seine Familie von der Mafia ermordet worden ist. Auf ihrer gemeinsamen Flucht verwandelt sich Feind­ seligkeit unweigerlich in Zuneigung, doch Cassavetes und die beiden Hauptdarsteller halten die Sentimentalität im Zaum bis zum sehr bitteren Ende, wenn der Film im Grunde eingesteht, dass Happy Ends à la Hollywood blosse Wunschträume sind. Grossartig.» (Geoff Andrew, Time Out Film Guide) «Gerade weil der Stoff dieses Films so vertraut wirkt, hängt fast alles von den schauspielerischen Leistungen ab. Und da rettet Cassavetes den Stoff und kompensiert die Abgedroschenheit seiner Story. Rowlands treibt die Handlung mit so viel reizvoller nervöser Energie voran, dass wir es

GLORIA / USA 1980 123 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // DREHBUCH UND REGIE John Cassavetes // KAMERA Fred Schuler // MUSIK Bill Conti // SCHNITT Jack McSweeney // MIT Gena Rowlands (Gloria Swenson), John Adames (Philip Dawn), Julie Carmen (Jeri Dawn), Buck Henry (Jack Dawn), Lupe Guarnica (Margarita Vargas), Jessica Castillo (Joan Dawn).


41 IMPRESSUM

DAS FILMPODIUM IST EIN ANGEBOT DES PRÄSIDIALDEPARTEMENTS

in Zusammenarbeit mit der Cinémathèque suisse, Lausanne/Zürich LEITUNG Corinne Siegrist-Oboussier (cs), STV. LEITUNG Michel Bodmer (mb) WISSENSCHAFTLICHE MITARBEIT Tanja Hanhart (th), Marius Kuhn (mk), Primo Mazzoni (pm), Laura Walde SEKRETARIAT Claudia Brändle BÜRO Postfach, 8022 Zürich, Telefon 044 412 31 28, Fax 044 212 13 77 WWW.FILMPODIUM.CH // E-MAIL info@filmpodium.ch // KINO Nüschelerstr. 11, 8001 Zürich, Tel. 044 211 66 66 UNSER DANK FÜR DAS ZUSTANDEKOMMEN DIESES PROGRAMMS GILT: ACPAV, Montréal; Archives françaises du film du CNC, Bois d’Arcy; Catpics, Adliswil; Cinecittà Luce, Rom; Cineteca di Bologna; Columbus Film, Zürich; Stiftung Deutsche Kinemathek, Berlin; Fandango, Rom; Filmcoopi, Zürich; Frenetic Films, Zürich; Gaumont Pathé Archives, Saint-Ouen; Indigo Film, Rom; Intramovies, Rom; Metropolis Film, Berlin; Motion Picture Licensing Corporation (MPLC), Zürich; NFB, Montréal; Park Circus, Glasgow; Pathé Films, Zürich; Praesens Film, Zürich; Ripley’s Film, Rom; Société Nouvelle de Cinématographie, Paris; SRF Schweizer Radio und Fernsehen, Zürich; Stadtkino, Basel; Tamasa Distribution, Paris; Tiberius Film, München; trigon-film, Ennetbaden; Twentieth Century Fox Film Corp., Zürich; Vega Film, Zürich; ZDF, Mainz. DATABASE PUBLISHING BitBee Solutions GmbH, Zürich // KONZEPTIONELLE BERATUNG Esther Schmid, Zürich GESTALTUNG TBS & Partner, Zürich // KORREKTORAT N. Haueter, D. Kohn // DRUCK Ropress, Zürich // AUFLAGE 7000 ABONNEMENTE Filmpodium-Generalabonnement : CHF 400.– (freier Eintritt zu allen Vorstellungen; inkl. Abo Programmheft) // Filmpodium-Halbtaxabonnement: CHF 80.– / U25: CHF 40.– (halber Eintrittspreis bei allen Vorstellungen; inkl. Abo Programmheft) // Abonnement Programmheft: CHF 20.– // Anmeldung an der Kinokasse, über www.filmpodium.ch oder Tel. 044 412 31 28

VORSCHAU Ida Lupino

Der Garten im Film

Niemand soll taffe, vom Pech verfolgte

Das Museum Rietberg widmet ab Mitte Mai

«dames» so gut verkörpert haben wie Ida

den «Gärten der Welt» eine Ausstellung. Das

Lupino. Ihr Filmdebüt gab die in eine Schau-

Filmpodium zeigt ergänzend dazu eine Reihe

spielerdynastie geborene Britin bereits mit

von Filmen, in denen Gärten und Parks eine

15 Jahren, 1933 ging sie nach Hollywood, wo

zentrale Rolle spielen. Als Idyllen abseits

sie u. a. an der Seite von Stars wie Humphrey

des Alltags, als Orte der Sehnsucht, als

Bogart und Edward G. Robinson überzeugte.

Horte der Zuflucht, als Quellen künstleri-

Da gute Frauenrollen immer seltener wur-

scher Inspiration, als Schauplätze für Ro-

den, wagte Lupino 1949 den Schritt hinter die

manzen wie auch als Tatorte von Verbrechen

Kamera, gründete die Firma «The Filmma-

bieten Gärten dem Kino prachtvolle Szene-

kers» und profilierte sich als Drehbuchauto-

rien. Von All That Heaven Allows zu The

rin, Produzentin und Regisseurin (Hard, Fast

Draughtsman’s Contract, von The Go-Between

and Beautiful, The Bigamist u. a.). Wir ehren

bis zu The Swimmer und von Unser Garten

die vielseitige Pionierin mit ihren besten

Eden bis zu A Little Chaos reicht unser blumi-

­Regiearbeiten und starken Beispielen ihrer

ges Potpourri von Horti- und Filmkultur.

Schauspielkunst.


APRIL 7


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