Filmpodium Programmheft Februar/März 2020 // Programme issue february/march 2020

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16. Februar – 29. März 2020

Albanien im Film Éric Rohmer


Jodie Foster directing Little Man Tate (1991)

FEBRUAR 2020 REGIEDEBÜTS VON SCHAUSPIELSTARS

DU BIST JÜNGER ALS DIESER FILM?. Alle unter 25 Jahren bezahlen die Hälfte.. «That’s the truth about Las Vegas Filmpodium!».


01 Editorial

Blaues Auge, schwarze Null Das Jahr 2019 brachte für die Schweizer Kinos wenn nicht eine Wende, so doch eine erfreuliche und überraschende Verschnaufpause: Nach mehrjähriger Erosion des Publikums stiegen die Eintrittszahlen erstmals wieder etwas an. Die Auguren der Branche machen dafür das gegenüber dem Vorjahr schlechtere Wetter verantwortlich und ein Filmangebot, das neben Mainstream-Hits auch starke und populäre Arthouse-Filme bot, etwa Bong JoonHos Parasite, der über 80 000 Eintritte verbuchte. Das Filmpodium hat seinen Zuschauerdurchschnitt pro Vorstellung ebenfalls leicht steigern können, zumindest hinter dem Komma: Er liegt aktuell bei 34,64 Eintritten pro Vorstellung (2018: 33,79). Zu dieser statistischen schwarzen Null beigetragen haben einige sehr gut beachtete Sonderveranstaltungen, die von externen Partnern angeregt wurden: Die Filme im Rahmen der Ringvorlesung zum 30. Jubiläum des Seminars für Filmwissenschaft brachten scharenweise Studierende ins Filmpodium und auch das kleine Buster-Keaton-Festival des IOIC zwischen den Jahren erfreute sich weit überdurchschnittlicher Beachtung. Immerhin lockte auch das hauseigene Filmbuff-Quiz fast 200 Personen an, und die neue Idee, freie Programmplätze kurzfristig und mit Aktualitätsbezug zu bespielen, geniesst guten Zuspruch. Neben dem Stummfilmfestival wurden die Woche der Nominierten für den Schweizer Filmpreis, die Jahrhundertfilmreihe und die Billy-Wilder-Retrospektive besonders gut besucht. Durchaus mehr Beachtung bzw. Entdeckerfreude verdient hätten allerdings die Zyklen zu Edward G. Robinson, Joe May, Youssef Chahine, Luis Buñuel und Hal Hartley sowie die Raritäten in der Locarno-Retrospektive «Black Light». Wir sind also in Sachen Publikumsstatistik mit einem blauen Auge davongekommen. Umso mehr hoffen wir, dass die aktuelle Reihe «Albanien im Film» die Neugier unseres Stammpublikums weckt und dass auch Angehörige der ­Diaspora den Weg in unser Kino finden. Was in der «Black Box» Albanien während der kommunistischen Ära (1944–1990) entstand, ist hierzulande erstmals zu sehen, und das neuere albanische Filmschaffen braucht den Vergleich mit dem westlichen Kino nicht zu scheuen. Eine Podiumsdiskussion mit Gästen verspricht weitere aufschlussreiche Einblicke und Begegnungen. Ein guter Bekannter des Filmpodium-Publikums ist hingegen der Nouvelle-Vague-Cineast Éric Rohmer (1920–2010), dessen 100. Geburtstag wir in der zweiten Hauptreihe mit einer Retrospektive würdigen. Michel Bodmer Titelbild: Arta Dobroshi in Le silence de Lorna von Jean-Pierre Dardenne und Luc Dardenne


02 INHALT

Albanien im Film

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Albanien war jahrzehntelang ein faktisch abgeschottetes Land. Unter dem Regime Enver Hoxhas entwickelte sich ein eigenes Filmschaffen im Stil des sozialistischen Realismus nach ­sowjetischem Muster. Es entstanden Heldenepen über den Kampf gegen den Faschismus, Satiren über veraltete Sitten sowie spannende Jugendfilme, teilweise auf hohem gestalterischem Niveau. Seit der Wende reflektiert das Filmschaffen in Albanien und im Kosovo sowohl die Probleme der Vergangenheit als auch die Herausforderungen der Neuzeit. Zu sehen sind ausserdem westeuropäische Filme wie Lamerica, Le silence de Lorna und Vergine giurata, die von aussen auf Albanien blicken. Mehrere albanische Filmschaffende werden ihre Werke persönlich vorstellen und darüber diskutieren. Bild: Magic Eye

Éric Rohmer

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Ein eher humorloser Mann, kurz davor, eine feste Bindung einzugehen, begegnet einer lebhaften, selbstbewussten Frau, die ihn so sehr bezaubert, dass er seine Entscheidung infrage stellt – so könnte das Grundmuster vieler Filme von Éric Rohmer beschrieben werden. Am 21. März wäre der französische Filmemacher, Essayist, Theaterregisseur und Filmkritiker 100 Jahre alt geworden. Der Dialogfilm gilt als sein Markenzeichen. Prinzipien und Moral werden darin grundsätzlich überprüft und hinterfragt, sei es in Geschichten von heutigen jungen ­ ­Menschen an einem Wendepunkt oder in ­literarisch inspirierten historischen Stoffen. Dass er diese Themen mit spielerischer Leichtigkeit verhandelt, darin liegt seine Meisterschaft. Bild: Conte d’été


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Das erste Jahrhundert des Films: 1930

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Der Tonfilm triumphiert und Josef von Sternberg lässt Marlene Dietrich der Welt gleich zweimal den Kopf ­verdrehen: als fesche Lola in Der blaue Engel und als androgyne Sängerin im Frack in Morocco. Prompt skan­da­ lisiert und mancherorts verboten ­wurden Luis Buñuels L’âge d’or und Lewis Milestones international gefeierter Antikriegsfilm All Quiet on the Western Front. Sous les toits de Paris, René Clairs Liebeslied an seine Heimatstadt, wurde unangefochten zum Welterfolg. Bild: Der blaue Engel

Filmpodium für Kinder: Die Melodie des Meeres

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Regisseur Tomm Moore zeigt nach Das Geheimnis von Kells (2012) erneut seine grosse Meisterschaft in der Verfilmung keltischer Mythen: Die Melodie des Meeres (Song of the Sea) wurde 2015 für den Oscar nominiert und mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichnet. Bild: Die Melodie des Meeres

Einzelvorstellungen Im Kampf mit dem Berge 30 live vertont vom AMAR QUARTETT CINEMA Buchvernissage 31 Sélection Lumière: 32 12 Angry Men



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Albanien im Film Politisch jahrzehntelang abgeschottet, entwickelte Albanien ein Filmschaffen nach dem Vorbild des propagandistischen Sowjetkinos. ­Trotzdem hinterliessen westliche Einflüsse ihre Spuren. Seit dem Sturz des kommunistischen Regimes 1990 wirft eine neue Generation von albanischen Filmschaffenden kritische Blicke auf Vergangenheit und Gegenwart ihrer Heimat, auch im Kosovo. Parallel dazu entstanden in Westeuropa auch Aussensichten auf Albanien. Albanien ist bis heute ein relativ unbekanntes Land. Südlich von Montenegro und nördlich von Griechenland gelegen, musste das «Land der Adler» seit der Zerstörung des Osmanischen Reiches 1912 ständig gegen neue Invasoren kämpfen. Als Spielball kriegsführender Mächte wechselte es von einer Besetzung zur nächsten. Erst 1944 wurde Albanien von der faschistischen Fremdherrschaft Italiens und Deutschlands befreit. In der Folge errichtete der Stalinist Enver Hoxha eine Diktatur, die fast ein halbes Jahrhundert andauerte. Sozialistischer Realismus vs. westliche Einflüsse Schon früh erwacht Albaniens Leidenschaft für den Film. Albanische Fotografen wie die Brüder Janaki und Milton Manaki treten in die Fussstapfen von Auguste und Louis Lumière; die albanischen Schauspieler Aleksandër Moisiu und Kristaq Antoniu und die Schauspielerin Elena Qirici machen im Ausland Karriere und werden in ihrer Heimat verehrt. Die Anzahl der Kinosäle in Albanien nimmt zu, und das Publikum entdeckt die Meisterwerke der ausländischen Filmkunst. Doch während sich Albanien nach einer Zugehörigkeit zur Zivilisation des 20. Jahrhunderts sehnt, suchen die Europäer in diesem Land nur nach orientalischen Stereotypen. Entsprechende Aufnahmen ausländischer Filmschaffender sind erhalten, doch was damals von Albanern gedreht wurde, ist verschollen, auch die Dokumentarfilme, die der Pionier ­Mihallaq Mone während der italienischen Besetzung in den 1940er-Jahren schuf. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als sich das Land zunehmend abschottet, werden ab 1947 mithilfe der UdSSR erste Dokumentationen und Wochenschauen gedreht. 1952 wird das von den Sowjets gebaute Kinostudio Shqipëria e Re (Neues Albanien) eröffnet, und das Filmland Albanien erwacht erneut. 1953 entsteht als Koproduktion mit Mosfilm unter der Regie von Sergej Jutkewitsch Skanderbeg, ein Epos über den gleichnamigen albanischen Nati-

< >

Satire über das Patriarchat: The Captain (Kapedani) von Muharrem Fe­jzo und Fehmi Hoshafi Drama um Geschlechterrollen: Vergine giurata von Laura Bispuri


06 onalhelden. Der erste Kurzfilm Fëmijët e saj (Ihre Kinder) von Regisseur ­Hysen Hakani kommt 1957 ins Kino. Zahlreiche Filmschaffende erlernen an osteuropäischen Hochschulen technische Fertigkeiten wie Kamera und Schnitt. In ihre Heimat zurückgekehrt, führen sie Regie, so auch Kristaq Dhamo, der 1958 den ersten albanischen Spielfilm Tana dreht. In den folgenden Jahrzehnten wächst die Anzahl der Produktionen. Die staatliche Zensur überprüft und kontrolliert die Filme mit Argusaugen, das Kinostudio trimmt die Filmemacher auf Kurs. Toka jonë (Unser Land, 1967) von Hysen Hakani ist der erste Spielfilm, der ohne Hilfe aus der Sowjetunion in Albanien produziert wird. Fortan herrscht ein Kampf zwischen Form und Inhalt, zwischen der künstlerischen Sprache der Filmschaffenden und der propagandistischen Geschichtsschreibung. Das italienische Fernsehen, das regelmässig zeitgenössische Filme ausstrahlt, bietet ein – verbotenes – Fenster zur Aussenwelt. Obwohl das Regime solche Einflüsse unverzüglich unterdrückt, sind sie doch in einzelnen Filmen erkennbar. Nusja dhe shtetërrethimi (The Bride and the Curfew), dessen neorealistische Anmutung nicht zu übersehen ist, schafft es in die Kinosäle, doch die Zensur verbietet sofort alle Produktionen ähnlicher Machart. Die Impulse aus dem westlichen Kulturraum sind aber nicht zu stoppen: Jüngere Menschen hören sich zu Hause die Beatles an, die Künste werden immer freier – bis Hoxha 1973 in einem furchtbaren Akt der Gewalt und Unterdrückung durchgreift und Kulturschaffende einsperren und hinrichten lässt. Die Satire Kapedani (The Captain, 1972) von Muharrem Fejzo und Fehmi Hoshafi zeugt noch von jener allzu kurzen Freiheitswelle. Abseits des sozialistischen Realismus bewegt sich auch Xhanfise Keko. Als ausgebildete Cutterin und Ehefrau des regierungsnahen Regisseurs Endri Keko dreht sie auf dessen Anraten nie Filme für Erwachsene, sondern äusserst einfühlsame Kinderfilme. Deren nuanciert gezeichnete junge Protagonisten stehen oft auch allegorisch für Topoi wie Verrat oder Einsamkeit. Nach seiner Aufkündigung der Bündnisse mit der UdSSR und China wird Enver Hoxha Ende der 1970er-Jahre immer paranoider und befiehlt die «Verbunkerung» des Landes (dramatisiert in Kolonel Bunker, 1996). Gleichzeitig entfernt sich die Filmproduktion von den immer gleichen Geschichten über die Bekämpfung des Faschismus, um vermehrt soziale Aspekte und Probleme aufzugreifen. Anstelle des sozialistischen neuen Menschen rücken realistische und durchaus auch negative Figuren auf die Leinwand. Nach der Wende Solche Geschichten und Darstellungen von «Verlierern» werden zur Norm, als sich 1991 Albaniens Grenzen öffnen und westliche Kultur und Wirtschaft schlagartig Einzug halten. Die Filme reflektieren nun die jüngste Vergangenheit, erste Koproduktionen entstehen, und eine neue Generation kämpft um ihre Sichtbarkeit, doch die Anzahl der entstehenden Werke sinkt erheblich.


07 Die Grenzöffnung markiert auch den Anfang eines massiven Exodus in die benachbarten Länder. Albanien leert sich und die Auswanderung hinterlässt ein Land, das bis heute um den Wiederaufbau ringt. Mehrere ausländische Filmschaffende wie Gianni Amelio oder die Dardenne-Brüder porträtieren den Kampf der albanischen Diaspora auf der Suche nach ihrer Identität. Im kosovarischen Kino nehmen albanische Figuren als Exponenten der ethnischen Mehrheit einen wichtigen Platz ein. Doch die Filme berichten weiterhin von den unzähligen Konflikten, Verschiebungen und Übergriffen, sei es vor oder während dem Kosovo-Krieg. Das schwierige und teilweise traumatische Zusammenleben der serbischen und albanischen Bevölkerung spiegelt sich in zahlreichen Filmen, die von berührenden Einzelschicksalen erzählen. Nachdem heute in Albanien und Kosovo die Grundbedürfnisse weitgehend gedeckt sind, rücken andere soziale Themen in den Fokus, seien es veraltete Sitten, die überwunden werden müssen, oder noch wenig sichtbare Minoritäten, deren Kampf um Anerkennung erst beginnt. Internationale Filmfestivals bieten dem neueren Filmschaffen dieses Kulturraums inzwischen vermehrt eine Plattform, aber das Filmerbe Albaniens wird erst nach und nach ausgegraben und restauriert. Die vorliegende Auswahl an Klassikern zeigt, dass es einiges zu entdecken gibt. Louise Burkart Louise Burkart, studierte Theater- und Filmwissenschaftlerin, erstellt seit mehreren Jahren Reihen zu marginalem Kino. Zurzeit arbeitet sie als Restauratorin für das Deutsche Filminstitut & Filmmuseum e.V. in Frankfurt. Das Filmpodium dankt dem albanischen Kulturministerium, der Gesellschaft Schweiz-Albanien und Albana Rexhepaj sowie dem Förderverein Lumière für die ­wertvolle Unterstützung.

ALBANIEN IM FILM

PODIUMSDISKUSSION SA, 7. MÄRZ | 18.15 UHR

Über das albanische Kino der Ära Hoxha, das Filmschaffen im albanischen Kulturraum seit der Wende und die Aussensicht auf Albanien im westeuropäischen Kino diskutiert unsere Gastkuratorin Louise Burkart mit folgenden Gästen: Arta Dobroshi, Star von Le silence de Lorna und Magic Eye; Iris Elezi, Ko-Regisseurin von Bota und Leiterin des Albanischen Filmarchivs; Thomas Logoreci, Ko-Regisseur von Bota; Fatmir Koçi, Regisseur von The ­River That Never Runs Dry und Tirana, année zéro, und Elvira Dones, Filmemacherin und ­Autorin der Romanvorlage zu Vergine giurata. Die Diskussion findet auf Englisch statt; eine Übersetzung Albanisch-Englisch und umgekehrt ist verfügbar. A Q SH F

ARKIVI QENDROR SHTETËROR i FILMIT


> Tomka and His Friends.

> Les coquelicots sur les murs.

> The Bride and the Curfew.

> Colonel Bunker.

> Lamerica.


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Albanien im Film

THE CAPTAIN (Kapedani)

TOMKA AND HIS FRIENDS

Albanien 1972

(Tomka dhe shokët e tij) Albanien 1977

Sulo, ein alternder Partisanenhauptmann und Kriegsheld, tut sich schwer damit, dass eine Frau den Vorsitz der Genossenschaft innehat und ihn als nutzlosen Greis behandelt. Also hängt er auf dem Dorfplatz eine Karikatur auf, die die Vorsitzende als Huhn verunglimpft. Bei der nächsten Versammlung ermuntert die Vorsitzende Sulo zu Selbstkritik, was ihm den Rest gibt: Er fährt nach Tirana, um sich über die Vorsitzende zu beklagen. Doch in der modernen Hauptstadt haben offenbar die Frauen überhaupt das Zepter übernommen. In den frühen 1970er-Jahren wehte kurz ein frischerer Wind durch Albanien; die Zensur liess auch Filme entstehen, die nicht mehrheitlich den Kampf gegen den Faschismus besangen. Als Komödie eine Seltenheit, wurde The Captain zum Publikumsliebling, obwohl die real existierenden Geschlechterverhältnisse dieser Vision von Gleichberechtigung keineswegs entsprachen. (mb)

Der kleine Tomka und seine Freunde streifen gerne durch ihr hübsches Städtchen Berat. Als dann die Deutschen einmarschieren und als Erstes den Fussballplatz der Jungs besetzen, nehmen diese das nicht kampflos hin. Sie nerven die feindlichen Soldaten, wo sie nur können, doch dann bitten die Partisanen Tomka um Hilfe bei einem Anschlag auf das deutsche Lager. Xhanfise Keko, lange die einzige Frau, die in Albanien Filme inszenieren konnte, war als Regisseurin von Jugendfilmen weniger der Zensur ausgesetzt als ihre Kollegen. Tomka and His Friends war regimekonform, aber die Stärken des Films liegen in der natürlichen Darstellungsweise, die Keko den Kindern abgewann. (mb) 77 Min / sw / DCP / Albanisch+D/e // REGIE Xhanfise Keko // DREHBUCH Nasho Jorgaqi // KAMERA Faruk Basha // MUSIK Aleksandër Lalo // SCHNITT Xhanfise Keko // MIT Enea Zhegu

96 Min / sw / 35 mm / Albanisch/e // REGIE Muharrem Fejzo,

(Tomka), Pavlina Oça (Tomkas Mutter), Zehrudin Dokle (Tom-

Fehmi Hoshafi // DREHBUCH Skënder Plasari // KAMERA Ilia

kas Vater), Herion Mustafaraj (Vaska), Genci Mosho (Gëzimi),

Tërpini // MUSIK Tasim Hoshafi // SCHNITT Marika Vila // MIT

Xhelal Tafaj (Italienischer Soldat).

Albert Vërria (Onkel Sulo), Nikolin Xhoja (Onkel Beqo), Flora Mërtiri (Vorsitzende der Kooperative), Zagorka Shuke (Sulos Frau), Ismail Zhabjaku (Sekretär der Kooperative).

LES COQUELICOTS SUR LES MURS (Lulkuqe mbi mure) Albanien 1976 Albanien während der italienischen Besetzung. Die Kinder eines Waisenhauses werden vom Italien-treuen Direktor und vom brutalen Hauswart schikaniert. Nur der Lehrer Luan erzieht die Kinder zu selbstständigem Denken. Sein Schüler Jace bewundert den etwas älteren Lio, der antifaschistische Pamphlete verbreitet und Jagd auf Verräter macht. Da spitzt sich die Fehde zwischen dem Hauswart und den Kindern zu. Dhimitër Anagnosti zählt zu den albanischen Filmemachern, die sich vom italienischen Neorealismus beeinflussen liessen. Zwar halten hier die italienischen Besatzer wie so oft als Feindbild her, aber das Interesse des Regisseurs gilt den Jungen und ihrem Reifeprozess. Daher erinnert Les coquelicots sur les murs an Werke von Truffaut und andere Coming-of-Age-Geschichten. (mb) 100 Min / sw / 35 mm / Albanisch+I/f // REGIE Dhimitër ­Anagnosti // DREHBUCH Petraq Qafzezi // KAMERA Pëllumb Kallfa // MUSIK Kujtim Laro // MIT Timo Flloko (Lehrer), ­Strazimir Zaimi (Jaçe), Agim Qirjaqi (Direktor), Kadri Roshi (Hauswart), Enea Zhegu (Lelo), Artur Hoxhkolli (Bardhi).

THE BRIDE AND THE CURFEW (Nusja dhe shtetërrethimi) Albanien 1978 Albanien ist von den Nazis besetzt. Shpresa, eine beherzte junge Partisanin, bringt überall patriotische Graffiti an und schreckt nicht davor zurück, Kollaborateure zu töten. Der neue deutsche Kommandant will hart durchgreifen. Er verhängt eine Ausgangssperre, riegelt die Stadt nach aussen ab und lässt überall nach Shpresa suchen. Aufgrund eines Drehbuchs von Ismail Kadares Frau Elena Kadare haben Kristaq Mitro und Ibrahim Muçaj einen rasanten und atmosphärischen Kriegsfilm inszeniert. Wohl nicht ganz zufällig steht eine heldenhafte Frau im Mittelpunkt. (mb)

THE RIVER THAT NEVER RUNS DRY (Lumi që nuk shteron) Albanien 1989 In einem verwüsteten winterlichen Bergdorf verbergen sich versprengte Partisanen auf dem Rückzug vor den anrückenden Deutschen. Ein Paar nimmt einen kleinen verwaisten Jungen in seine Obhut und gerät dadurch in Gefahr. Mit wenig Dialog und starken Bildern schildert Fatmir Koçi eine düstere Episode aus dem Zweiten Weltkrieg, was dem regimetreuen Chef der albanischen Filmproduktion sauer aufstiess. (mb)


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Albanien im Film THE BRIDE AND THE CURFEW 54 Min / sw / 35 mm / Albanisch+D/e // REGIE Ibrahim Muçaj, Kristaq Mitro // DREHBUCH Elena Kadare // KAMERA Bardhyl Martiniani // MUSIK Kujtim Laro // SCHNITT Atalanta Pasko // MIT Raimonda Bulku (Shpresa), Llazi Sërbo (Hauptmann Edgar), Thimi Filipi (Fuhrmann), Sotiraq Bratko (Petrit), Kastrioti Çaushi (Fatmir), Gjergji Lala (Gjergji).

THE RIVER THAT NEVER RUNS DRY 41 Min / sw / 35 mm / Albanisch/e // REGIE Fatmir Koçi, ­Flamur Koçi // DREHBUCH Petrit Ruka, nach Motiven aus ­einem Roman von Halil Qëndro // KAMERA Frederik Ivanaj // MUSIK Dhimitër Llazri // SCHNITT Atalanta Pasko // MIT ­Suela Konjari, Gjergji Lala, Sofia Meçi.

LAMERICA Italien 1994 «Ein 28-jähriger Italiener will mit einem Geschäftspartner offiziell eine Schuhfabrik in Albanien aufbauen, in Wahrheit aber nur Subventionen in die eigene Tasche wirtschaften. Der unbedarft-arrogante junge Mann muss sich auf die Spur eines 80-jährigen, geistig verwirrten Mannes begeben, des Präsidenten der Scheinfirma, und dabei wird er mit den Verhältnissen im Lande konfrontiert. Eine mit bitterer Skepsis gezeichnete, eindrucksvolle und zutiefst berührende Bestandsaufnahme, die eine beklemmende Vision über den Verlust von Identität und Würde entwirft, dem der Einzelne ebenso wie ein ganzes Volk ausgesetzt ist.» (Filmpodium, Mai 1999) 116 Min / Farbe / 35 mm / Albanisch+I/d/f // REGIE Gianni Amelio // DREHBUCH Gianni Amelio, Andrea Porporati, Alessandro Sermoneta // KAMERA Luca Bigazzi // MUSIK Franco Piersanti // SCHNITT Simona Paggi // MIT Enrico Lo Verso (Gino), Carmelo Di Mazzarelli («Spiro Tozaj»), Michele Placido

Muro Neto (dem historischen Bunker-Bauer Josif Zegali nachempfunden) wird beauftragt, dieses Mammutunterfangen zu leiten. Der Stress der Bunkerisierung belastet Netos Ehe mit der polnischen Pianistin Anna. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Bunker-Oberst beim unberechenbaren Regime in Ungnade fällt. Kurz nach der Wende und knapp vor dem Zusammenbruch Albaniens 1997 schildert Kujtim Çashku mit ätzendem Sarkasmus, wie das totalitäre Hoxha-Regime Individualität und Privatsphäre zerstörte und selbst loyale Vollstrecker und angebliche Helden jederzeit desavouieren und zu Volksfeinden erklären konnte. (mb) THINGS THAT DO NOT CHANGE 4 Min / Farbe / 35 mm / ohne Dialog // REGIE Stefan Taçi.

COLONEL BUNKER 100 Min / Farbe + sw / 35 mm / Albanisch/f // DREHBUCH UND REGIE Kujtim Çashku // KAMERA Afrim Spahiu // MUSIK ­Andrzej Krause // SCHNITT Kahéna Attia, Shazie Kapoli // MIT Agim Qirjaqi (Oberst Muro Neto), Anna Nehrebecka (Anna), Teresa Lipowska (Annas Mutter).

THE FALL OF IDOLS (Shembja e Idhujve) Albanien 1993 Ausgehend von Aufnahmen eines Strassenhändlers, der alte Porträts grosser Männer verhökert, montiert Kujtim Gjonaj Archivmaterial zu einer absurd anmutenden, rasanten Achterbahnfahrt ­ durch die wechselhafte Geschichte Albaniens. (mb)

TIRANA, ANNÉE ZÉRO (Tirana viti 0) Albanien/Frankreich 2001

(Fiore), Piro Milkani (Selimi), Elida Janushi (Selims Cousine), Sefer Pema (Direktor des Arbeitslagers).

THINGS THAT DO NOT CHANGE (Gjëra që nuk ndryshojnë) Albanien 1993 Cleverer Stop-Motion-Animationsfilm darüber, wie Machtmissbrauch und Gräueltaten unabhängig von Zeit und Ort immer gleich ablaufen. (mb)

COLONEL BUNKER (Kolonel Bunker) Albanien/Frankreich/Polen 1996 Von 1977 bis 1981 ordnet der zunehmend paranoide Staatschef Hoxha an, in Albanien Hunderttausende Bunker zu bauen, um die Bevölkerung vor mutmasslichen Angriffen zu schützen. Oberst

Albanien im Jahr 1997. Nach dem Ende des Kommunismus und dem Zusammenbruch des Finanzsystems ist das Land ruiniert. In Tirana muss jeder für sich selbst sorgen, auch das junge Paar Niku und Klara. Klara träumt davon, nach Paris zu ziehen und als Model zu arbeiten. Niku hingegen war mal in Italien und weiss, dass auch in der Fremde die Strassen nicht mit Gold gepflastert sind. Lieber führt er mit dem schrottreifen Lastwagen seines kranken Vaters Transporte aus, für eine teils mehr als merkwürdige Kundschaft. Die oft grotesken Geschehnisse in diesem Film über den Zusammenprall der Kulturen und Generationen in Albanien beruhen auf wahren Begebenheiten; die Hauptdarstellerinnen und -darsteller sind Laien; Nikus Eltern allerdings werden von Stars des klassischen albanischen Kinos verkörpert. (mb)


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Albanien im Film THE FALL OF IDOLS 18 Min / sw / 35 mm / Albanisch/e // REGIE Kujtim Gjonaj.

TIRANA, ANNÉE ZÉRO 89 Min / Farbe / 35 mm / Albanisch/f+d // REGIE Fatmir Koçi // DREHBUCH Enzo Brandner, Fatmir Koçi // KAMERA Enzo Brandner // MUSIK Art Denissov // SCHNITT Michel Klochendler, Thomas Kühne // MIT Nevin Meçaj (Niku), Ermela Teli (Klara), Raimonda Bulku (Marta, Klaras Mutter), Robert Ndrenika (Kujtim, Klaras Vater), Lars Rudolph (Günter).

MAGIC EYE (Syri magjik) Albanien/Deutschland 2005

gier werden kann. Aber Claudy verliebt sich in Lorna und versucht clean zu werden. Damit steht er Fabio und Sokol im Wege, und Lorna gerät in ­einen Gewissenskonflikt. «Lorna ist gleichzeitig Opfer der Umstände und ein freier Mensch. Unmögliche Situationen heben die Notwendigkeit individueller Entscheidungen nicht auf, und Lorna verdient unsere Anteilnahme, nicht weil sie ein Symbol unschuldigen Leidens ist, sondern weil sie stur, eigensinnig und handlungsfähig ist.» (A. O. Scott, The New York Times, 30.7.2009) 105 Min / Farbe / 35 mm / F+Albanisch+Russ/d // DREHBUCH UND REGIE Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne // KAMERA

1997 herrscht in Albanien nach den Finanzskandalen um Schneeballsysteme das Chaos. Allenthalben beschiessen sich bewaffnete Gruppen. Petro, Fotograf im Ruhestand, sieht von seinem Fenster aus, wie ein TV-Reporter Aufnahmen des Tumults macht. Petro richtet seine eigene Super8-Kamera auf das Geschehen und zeichnet zufällig auf, wie ein kleines Mädchen ums Leben kommt. Im Fernsehen wird behauptet, dass die Kleine versehentlich von ihrem Grossvater erschossen wurde, aber Petro weiss mehr. Er bricht mit seinem Film nach Tirana auf, um die Wahrheit zu beweisen. Unterwegs freundet er sich mit dem jungen Paar Viola und Berti an. Zu spät erkennt er, dass Berti der Reporter ist, den er anzuklagen gedenkt. Und Bertis Chef will um jeden Preis einen ruinösen Skandal verhindern. Magic Eye setzt die gefährlichen Zustände in Albanien Ende der 1990er-Jahre in Beziehung zur Bedrohung der Ära Hoxha. Eine spannende Reflexion über die Macht der Bilder und die Manipulation von und durch Medien. (mb) 93 Min / Farbe / 35 mm / Albanisch/e/d // REGIE Kujtim Çashku // DREHBUCH Vath Koreshi, Kujtim Çashku // ­KAMERA Hajo Schomerus // MUSIK Dürbeck & Dohmen // SCHNITT Marco Heiter // MIT Bujar Lako (Petro), Arta ­Dobroshi (Viola), Alban Ukaj (Berti), Timo Flloko (Niko), Mariana Deti (Leonora), Ele Bardha (Afrim), Luan Bexheti (Ben).

✶ am Freitag, 6. März, 18.15 Uhr: in Anwesenheit von Arta Dobroshi

LE SILENCE DE LORNA Belgien/Frankreich/Italien/Deutschland 2008 Die Albanerin Lorna lebt und arbeitet in Belgien. Ihr albanischer Freund Sokol und der Italiener Fabio haben sie in einen dubiosen Deal verstrickt: Lorna hat den belgischen Junkie Claudy geheiratet, um die belgische Staatsbürgerschaft zu erhalten, und soll nach einer Blitzscheidung einen kriminellen Russen ehelichen, damit dieser Bel-

Alain Marcoen // SCHNITT Marie-Hélène Dozo // MIT Arta ­Dobroshi (Lorna), Jérémie Renier (Claudy Moreau), Fabrizio Rongione (Fabio), Alban Ukaj (Sokol), Morgan Marinne ­(Spirou), Olivier Gourmet (Inspektor), Anton Yakovlev (Andrei).

✶ am Freitag, 6. März, 20.45 Uhr: in Anwesenheit von Arta Dobroshi

BOTA Albanien/Italien/Republik Kosovo 2014 Im albanischen Niemandsland steht einsam das Café Bota («Welt»). Dessen Besitzer Beni spekuliert darauf, dass die Autobahn, die im Bau ist, dereinst neue Kundschaft bringt. Bis dahin versucht er die Strassenbauarbeiter ins Bota zu locken, mit Anstrengungen, die kaum zu rentieren versprechen. Beni ist verheiratet, aber seine Frau lebt in der Stadt und so macht er mit der Kellnerin Nora herum. Aber auch Juli, die in Benis Abwesenheit den Laden schmeisst, wird von ihm hintergangen; er weiss mehr über das Verschwinden von Julis Mutter als Juli selbst ... Bota, inszeniert von Iris Elezi, der heutigen Leiterin des Albanischen Filmarchivs, und ihrem albanisch-amerikanischen Lebenspartner Thomas Logoreci, überzeugt als subtiles Gruppenbild einer Handvoll Aussenseiter, die sich im heutigen Albanien durchzuschlagen versuchen, aber gleichzeitig lässt der Film auch metaphorische Lesarten zu. Traditionelle und heutige Geschlechterrollen in Osteuropa werden ebenso verhandelt wie die Spätfolgen der kommunistischen Vergangenheit Albaniens für das Schicksal der Nachgeborenen. (mb) 104 Min / Farbe / DCP / Albanisch+I/e // REGIE Iris Elezi, Thomas Logoreci // DREHBUCH Stefania Casini, Iris Elezi, Thomas Logoreci // KAMERA Ramiro Civita // SCHNITT Walter Fasano // MIT Flonja Kodheli (Juli), Artur Gorishti (Beni), Fioralba ­Kryemadhi (Nora), Tinka Kurti (Noje), Alban Ukaj (Mili).

✶ am Samstag, 7. März, 20.45 Uhr: in Anwesenheit von Iris Elezi und Thomas Logoreci


> Cold November.

> The Marriage.

> Tirana, annĂŠe zĂŠro.


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Albanien im Film

VERGINE GIURATA Italien/Schweiz/Deutschland/Albanien 2015 Hana ist Waise, ihr Pflegevater hat sie nach dem Tod ihrer Eltern vom Berg herab zu seiner Frau und seiner Tochter gebracht und wie seine eigene Tochter aufgezogen. Hana liebt ihre Pflegefamilie, möchte aber wie ein Mann leben. Der Kanun, das alte albanische Gewohnheitsrecht, erlaubt ihr dies, um den Preis des Verzichts auf ihre Sexualität. Als die Schwester mit ihrem Freund vor der traditionellen Frauenrolle nach Mailand flüchtet, bleibt Hana zurück – als Sohn anerkannt vom Vater und der Dorfgemeinschaft, und unter dem Namen Mark. Erst nach dem Tod der Eltern entschliesst sich auch Mark/Hana zu einem neuen Leben und reist unangekündigt zur Schwester. «Ein Mädchen, das sein Geschlecht zurückweist, weil es in seinem gesellschaftlichen Um­ feld eindeutig als minderwertig und fremdbestimmt definiert ist, wäre schon für sich genommen eine fast unspielbar theoretische Figur. Wenn aber die schliessliche Frauwerdung nach zehn Jahren geschlechtsloser Männlichkeit dazu kommt, wird das vollends abstrakt. Dass es Laura Bispuri mit Alba Rohrwacher zusammen gelingt, diese Abstraktionen konkret erfahrbar zu machen, fühlbar und oft schmerzlich, das ist ein kleines Wunder.» (Michael Sennhauser, Filmpodium April/Mai 2016) Die Romanvorlage von Elvira Dones ist 2017 unter dem Titel «Hana» beim Zürcher Verlag ink press erschienen. 84 Min / Farbe / DCP / Albanisch+I/d // REGIE Laura Bispuri // DREHBUCH Laura Bispuri, Francesca Manieri, nach dem Roman von Elvira Dones // KAMERA Vladan Radovic // SCHNITT Carlotta Cristiani, Jacopo Quadri // MIT Alba Rohrwacher (Mark/Hana), Emily Ferratello (Jonida), Lars Eidinger (Bernhard), Flonja Kodheli (Lila), Luan Jaha (Stjefen).

✶ am Sonntag, 8. März, 20.45 Uhr: in Anwesenheit von Elvira Dones

THE MARRIAGE (Martesa) Albanien/Republik Kosovo 2017

Gesellschaft ein brisantes Thema auf. Ihr Film wurde ins Rennen um den Oscar für den besten fremdsprachigen Film geschickt. 97 Min / Farbe / DCP / Albanisch/e // REGIE Blerta Zeqiri // DREHBUCH Blerta Zeqiri, Kreshnik Keka Berisha // KAMERA Sevdije Kastrati // SCHNITT Kreshnik Keka Berisha // MIT ­Alban Ukaj (Bekim), Adriana Matoshi (Anita), Genc Salihu (Nol), Vjosa Abazi (Zana), Kumrije Hoxha (Sadie), Luan Kryeziu (Nevzati), Edon Rizvanolli (Bujar).

SHOK GB/Republik Kosovo 2015 Als die Serben den Kosovo besetzen, versucht der kleine Petrit mit ihnen Geschäfte zu machen. Damit bringt er sich und seinen Freund Oki in Gefahr. Shok, ein Drama nach Tatsachen, wurde 2016 für den Oscar nominiert. (mb)

COLD NOVEMBER (Nëntor i ftohtë) Republik Kosovo/Albanien/Mazedonien 2018 Priština, 1992. Die Spannungen zwischen den Serben und den autonomiehungrigen Kosovaren spitzen sich zu. Als der Serbe Nikola die Leitung eines Betriebs übernimmt und von der Belegschaft verlangt, dass sie faktisch dem serbischen Regime die Treue schwören, kündigen die Kosovaren reihenweise. Der Archivar Fadil zögert, da er für seine Familie sorgen muss und sich nicht leisten kann, arbeitslos zu werden. Bald gerät er zwischen alle Fronten. «Eine ‹Geschichte, die so nie erzählt wurde›, hat Ismet Sijarina mit seinem Film im Sinn. Er spielt dabei auf die persönliche Ebene an, die in Cold November zum Tragen kommt. Der Grossteil der Crew durchlebte diese schwierige Zeit, und die Erinnerung daran ist noch sehr frisch. Diese Ausgangslage erlaubte Sijarina, die Dialoge nicht zu skripten, sondern die starken Schauspieler füllten das narrative Gerüst mit Emotionen, die gerade aufgrund ihrer Spontaneität so authentisch wirken.» (Tom von Arx, outnow.ch, 7.10.2018) SHOK 21 Min / Farbe / DCP / Albanisch + Serbisch/e // DREHBUCH

Fast zehn Jahre nach dem Kosovokrieg betreibt Bekim eine Bar in Priština, und er ist verlobt mit Anita. Da taucht Nol auf, ein alter Freund von Bekim, der die letzten Jahre als Musiker in Frankreich gelebt hat. Anita ahnt dabei nicht, dass Nol einst Bekims Liebhaber war und dass er über das Ende ihrer Beziehung nie weggekommen ist. Blerta Zeqiri, 1979 in Priština geboren, greift in ihrem Spielfilmerstling mit der Unmöglichkeit einer homosexuellen Liebe in der kosovarischen

UND REGIE Jamie Donoughue // KAMERA Philip Robertson // MUSIK Trimor Dhomi, Sarah Peczek // MIT Lum Veseli ­(Petrit), Andi Bajgora (Oki), Melihate Qena (Grossmutter).

COLD NOVEMBER 93 Min / Farbe / DCP / Albanisch/e // REGIE Ismet Sijarina // DREHBUCH Arian Krasniqi, Ismet Sijarina // KAMERA Sevdije Kastrati // MUSIK Petrit Çarkaxhiu // SCHNITT Vladimir ­Pavlovski // MIT Kushtrim Hoxha (Fadil), Adriana Matoshi (Hana), Emir Hadzihafizbegovic (Nikola), Fatmir Spahiu (Arsim).



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Éric Rohmer 1951 veröffentlichte Éric Rohmer (1920–2010) seinen ersten Artikel in den neu gegründeten Cahiers du cinéma. Ab 1962 widmete er sich ganz dem Filmemachen und realisierte bis 2007 über zwei Dutzend ­Filme, die er oft in Zyklen – etwa «Contes moraux» oder «Comédies et proverbes» – zusammenfasste. Wir zeigen seine schönsten Werke, in denen sich Lebensfreude und Melancholie subtil die Waage halten und die auf magische Art natürlich wirken. Bei ihm bleibt die Liebe nicht, wo sie war. Sie fängt als Vorsatz an, aber dann entpuppt sie sich als sprunghaft. So gern seine Figuren ihre Gefühle auch kontrollieren würden, immer ist das Leben listiger als die Strategien, die sie sich ausdenken. Eine Verliebtheit gebiert die nächste. Stets kommt die Verführung der Wahl in die Quere. Bei Éric Rohmer sind Liebe und Sehnsucht ein Plan, der glücklich scheitert. Er versteht es, das Einfache plötzlich kompliziert werden zu lassen. In seinen frühen Filmen führen die Hauptfiguren unweigerlich die Vokabel «Moral» im Munde. Sie wähnen sich ihrer Entscheidungen sicher. Aber auch die Moral bleibt nicht dort, wo sie war: Sie ist kein sittliches Prinzip, sondern eine Lehre, die aus der Erzählung zu ziehen ist. Manchmal liegt sie auch einfach in der Anmut der Gesten, Gedanken und Worte. Denn für den französischen Regisseur entfalten die Gefühle ihre filmische Aura erst in der Reflexion. Das Wort fungiert als ihr Ersatz, ihre Verdopplung oder ihre Rekonstruktion. Dass die Konversation im französischen Kino zu einer eigenen, gar dominierenden Kategorie des Handelns wurde, ist vor allem diesem Filmemacher zu verdanken. Sie erscheint ihm als triftigstes Mittel, die filmischen Bedingungen der Wahrheit zu erkunden. Zu trauen ist der Rede nicht. Dazu sind zu viel Ironie und Weisheit im Spiel. Nicht jedem, dem er das Wort erteilt, gibt er auch recht. Und der Irrtum ist nicht das Privileg nur eines Geschlechts. Absichtsvolle Spontaneität Während seine Figuren allen Grund hatten, dem Planvollen zu misstrauen, schien Éric Rohmers Karriere einem präzisen Entwurf des zyklischen Erzählens zu gehorchen. Den von 1962 bis 1973 entstandenen Six contes moraux

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Die Wirren der Fran­zösischen Revolution aus dem Blickwinkel einer aufgeklärten ­britischen Royalistin: L’Anglaise et le duc Claires Knie zu liebkosen, wird für Jérôme zur Obsession und stellt seine Treue auf die ­Probe: Le genou de Claire


16 liess er später die Comédies et proverbes und schliesslich die Contes des quatre saisons folgen. Auch zwischendurch beherrschte er die Kunst der Fuge, drehte Solitäre, in denen die vertrauten Themen in sacht veränderter Tonlage anklangen. Selbst in Kostümfilmen variierte er kunstfertig die Grundmelodie seines filmischen Universums. Sie lautet: Ein eher humorloser Mann, der kurz davorsteht, eine feste Bindung zu besiegeln, begegnet einer lebhaften, selbstbewussten Frau, die ihn so sehr bezaubert, dass er seine Entscheidung infrage stellt. Der Einbruch der Spontaneität bringt die romantischen Gewissheiten ins Wanken, fungiert als eine heitere Parenthese der Freiheit. Allerdings bestand Rohmer darauf, dass die Darstellerinnen und Darsteller den Drehbüchern (er war der einzige Regisseur der Nouvelle Vague, der nie einen Koautor brauchte) bis aufs Komma folgten. Achtsam kalkulierte er jedoch ihr Temperament stets ein. Rohmer war empfänglich für ihren verschmitzten Ernst und ihre geistreichen Launen. Feinnervig fing er Timbre und Nuancen in ihrem Spiel ein. So durften sie (und das Publikum) den Eindruck gewinnen, sie könnten sich ungehindert entfalten. Das Publikum konnte miterleben, wie Fabrice Luchini und Béatrice Romand vor seiner Kamera heranreiften, und durfte sich auf die regelmässige Begegnung mit Arielle Dombasle, André Dussollier, Anne-Laure Meury (der abenteuerlustigen Studentin aus­ La femme de l’aviateur) und nicht zuletzt mit Marie Rivière freuen. Für Rohmer war nichts aufregender, als ihnen zuzuschauen, wie sie die Gedanken beim Reden verfertigten und auch dann, wenn alles gesagt schien, noch ein Geheimnis offen liessen. Ausschweifende Schmucklosigkeit Obwohl er ein verlässlicher Gefühlswert an Kinokassen weltweit war, begriff er seine Arbeit als regelmässige Rückkehr zum Amateurfilm. Seine Filme kosteten wenig, weil er meist nur mit einem achtköpfigen Team und vorzugsweise auf 16 mm drehte. Seine Vorbereitungen begannen oft lang im Voraus: Die Rosen, die Béatrice Romand und Jean-Claude Brialy in Le genou de Claire pflücken, hatte er ein Jahr zuvor pflanzen lassen, damit sie pünktlich zu den Dreharbeiten blühten. Auf Motivsuche ging er selbst (und setzte dabei fast jeden Winkel seiner Heimat in sein filmisches Recht); wenn einmal für eine Szene ein Duschvorhang fehlte, besorgte er ihn eigenhändig im nächsten Kaufhaus. Da er ausgiebig mit den Darstellerinnen und Darstellern probte, musste er selten mehr als einen Take drehen. Diese fragilen Produktionsbedingungen schlugen um in eine robuste, unverwechselbare Ästhetik. Sein Kino ist eines der Evidenz, das listig vorgibt, nichts zu verbergen. Seine szenisch unaufwendigen, gleichwohl komplizierten Liebesintrigen setzte er mit ausschweifender Schmucklosigkeit in Szene. ­Selten verlangte dieser Asket nach zusätzlichen Scheinwerfern, vielmehr zog er es vor, das natürliche Licht zu formen und interpretieren. Die Unberechen­


17 barkeit der Witterung spielte eine zentrale, ja philosophische Rolle in der ­Rohmerschen Ästhetik. Sein funktioneller Regiestil stand in der Kamera-aufAugenhöhe-Tradition von Howard Hawks, auf den er sich bei seiner Verfilmung von Kleists Die Marquise von O… ausdrücklich bezog. Dieses menschliche Mass liess Raum für Stilisierung: Bei Perceval le Gallois orientierte er sich an den irrealen Grössenverhältnissen mittelalterlicher Miniaturen. Die Inspiration seiner Drehbücher mochte literarisch anmuten – gern strukturierte er sie nach Kapiteln, die er mit handgeschriebenen Blättern eröffnete –, seine Bildfindungen jedoch waren geschult an der Kunstgeschichte. Seine Kleist-Verfilmung war inspiriert von der deutschen Romantik (sie ist verblüffend hell für einen Historienfilm); für Le genou de Claire stand Paul Gauguin Pate; bei L’Anglaise et le duc, einem der ersten französischen Filme, die digital gedreht wurden, bezog er sich auf das Brauchtum der Tableaux vivants. Wachsame Zeitlosigkeit Kaum ein anderer Regisseur konnte sich so tief einfühlen in die Sitten vergangener Epochen. Dabei ging es ihm nicht um die blosse Vergegenwärtigung von Historie; sein Gestus der Präsentation wahrt Abstand. Die Wirren der Französischen Revolution schildert er in L’Anglaise et le duc aus dem Blickwinkel einer aufgeklärten britischen Royalistin. Er tut dies mit dem ihm eigenen Gespür für den doppelten Boden. Der Gegenspieler der schottischen Aristokratin ist der Herzog von Orléans, Cousin des Königs und glühender Republikaner. Das einstige Liebespaar verstrickt der Marivaux-Kenner und moderne Enzyklopädist Rohmer in ein komödienhaftes Spiel um These und Antithese. Dabei verhandelt er sein kardinales Thema, den Widerspruch zwischen Selbsttreue und -betrug, mit verblüffender Frische. Rohmers erzählerisches Ethos von Beständigkeit und jugendlicher Entdeckerfreude spottete Zeitgeist und Moden mit leichtfüssiger Strenge. Dabei blieb sein Kino stets durchlässig, war empfänglich für das, was in der Luft lag. Die Satire L’arbre, le maire et la médiathèque zeigte ihn 1993 als wachsamen Beobachter der gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen. Was hier, im typisch Rohmerschen Aufeinanderprallen gegensätzlicher Prinzipien, über die Auflösung klassischer Kategorien von links und rechts, reaktionär und fortschrittlich zutage tritt, ist von höchst aktueller Brisanz. Auch zehn Jahre nach seinem Tod hört dieser Regisseur nicht auf, ein Zeitgenosse seines Publikums zu sein. Gerhard Midding

Gerhard Midding arbeitet als freier Filmjournalist in Berlin.


> Le beau mariage.

> Perceval le Gallois.

> Le signe du lion.

> La femme de l’aviateur.

> La boulangère de Monceau.

> Die Marquise von O….


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Éric Rohmer

FRÜHE FILME VON ÉRIC ROHMER: LA SONATE À KREUTZER Frankreich 1956 Ein junger Architekt beschliesst zu heiraten und wählt dafür in einem Jazzkeller eine unauffällige junge Frau aus. Neben Rohmer selbst in der Hauptrolle und Jean-Luc Godard, der den Film produziert hat, tauchen auch andere Cineasten wie Truffaut und Chabrol kurz auf. Bis 2013, als das CNC den Film restaurierte, war er nur zweimal in Arbeitskopien zu sehen.

LA BOULANGÈRE DE MONCEAU Frankreich 1963 «Einfach, delikat und jazzig: Schon die erste der ‹Moralischen Geschichten› lässt erahnen, was den Rohmerschen Stil später auszeichnen wird: eine unspektakuläre, naturalistische Kamera­ arbeit, das ironische Voice-over des Ich-Erzählers und das Bild der ‹unergründlichen› Frau. » (Criterion Collection)

LE SIGNE DU LION Frankreich 1959 «Der in Paris lebende Amerikaner Pierre Wesselrin erfährt, dass eine erwartete Erbschaft nicht ihm, sondern seinem Vetter zugefallen ist. Als Musiker erfolglos, steigt er in der sommerlichen Metropole langsam zum Clochard und Strassengeiger ab, bis er unverhofft die Nachricht erhält, dass der Vetter tödlich verunglückt ist. Rohmer erzählt in seinem ersten langen Spielfilm von der Verwandelbarkeit einer Existenz und ihrer Umwelt. Der distanzierte und beharrliche Blick auf die kleinen Details des Alltags erschliesst hinter der Fassade der Konventionen eine ferne, abenteuerliche Welt, die zwar von Entfremdung geprägt ist, aber eine befreiend konkrete Gestalt ­gewinnt. Eines der zentralen Werke der französischen Nouvelle Vague.» (Lexikon des int. Films) 102 Min / sw / DCP / F/d // REGIE Éric Rohmer // DREHBUCH Éric Rohmer, Paul Gégauff (Dialoge) // KAMERA Nicolas Hayer // MUSIK Louis Sagner // SCHNITT Anne-Marie Cotret, Marie-Josèphe Yoyotte // MIT Jess Hahn (Pierre Wesselrin), Van Doude (Jean-François Santeuil), Michèle Girardon (Dominique Laurent), Stéphane Audran (Patronne des Hotels),

LA CARRIÈRE DE SUZANNE

Jean-Luc Godard (Musikliebhaber).

Frankreich 1963 In der Freundschaft von Bertrand mit dem Frauenhelden Guillaume schwingen mitunter Neid und Feindschaft mit. «Mit grobkörnigen Schwarzweissbildern gelingt es Rohmer, das Pariser Lebensgefühl der 60er-Jahre einzufangen. Ein wunderbar bewegendes Porträt jugendlicher Naivität und komplizierter Bindungen von Freundschaft und Liebe.» (Criterion Collection)

LE GENOU DE CLAIRE Frankreich 1970

(Stimme des jungen Mannes), Michèle Girardon (Sylvie).

«Um vor seiner Heirat seinen Grundbesitz zu verkaufen, fährt Jérôme nach Annecy. Unterstützt von der römischen Schriftstellerin Aurora, einer Bekannten, die er zufällig trifft, stellt er, halb im Scherz, den jungen Töchtern seiner Vermieterin nach; sein Streben gilt dem Ziel, Claires Knie zu liebkosen. Die Ferienatmosphäre in Rohmers fünfter ‹Moralischer Geschichte› (...) liefert sowohl die Möglichkeit als auch die entspannte Atmosphäre für die Erprobung von Jérômes Treue. Die Zwiespältigkeit seines Interesses an Laura und Claire, seine fortwährende Beteuerung dessen, was er für seine Einstellung hält, seine undefinierte Beziehung zu Aurora und ihre seine Situation manipulierende Rolle geben dem Film Spannung.» (Rororo Filmlexikon)

LA CARRIÈRE DE SUZANNE

105 Min / Farbe / DCP / F/d // DREHBUCH UND REGIE Éric

52 Min / sw / DCP / F/d // DREHBUCH, REGIE UND SCHNITT

Rohmer // KAMERA Néstor Almendros // MUSIK Jean-

Éric Rohmer // KAMERA Daniel Lacambre // MUSIK W ­ olfgang

Claude Gasche // SCHNITT Cécile Decugis // MIT Jean-

Amadeus Mozart // MIT Catherine See (Suzanne Hocquetot),

Claude Brialy (Jérôme), Aurora Cornu (Aurora), Laurence

Philippe Beuzen (Bertrand), Christian Charrière (Guillaume),

de Monaghan (Claire), Béatrice Romand (Laura), Gérard

Patrick Bauchau (Franck).

­Falconetti (Gilles), Fabrice Luchini (Vincent).

LA SONATE À KREUTZER 43 Min / sw / DCP / F/d // REGIE Éric Rohmer // DREHBUCH Éric Rohmer, nach der Novelle von Leo Tolstoj // KAMERA ­Roland Sarver // MIT Éric Rohmer, Jean-Claude Brialy, ­Françoise Martinelli, Jean-Luc Godard.

LA BOULANGÈRE DE MONCEAU 26 Min / sw / DCP / F/d // DREHBUCH, REGIE UND SCHNITT Éric Rohmer // KAMERA Bruno Barbey, Jean-Michel Meurice // MIT Barbet Schroeder (junger Mann), Bertrand Tavernier


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Éric Rohmer

DIE MARQUISE VON O...

LA FEMME DE L’AVIATEUR

BRD/Frankreich 1976

Frankreich 1981

Im Jahr 1799 herrscht Krieg. Bei der Eroberung des Anwesens wird die Marquise von O… von russischen Soldaten misshandelt. Ein Offizier kommt ihr zu Hilfe. Wochen später entdeckt sie ihre Schwangerschaft, für die sie keine Erklärung findet. Da taucht der inzwischen tot geglaubte Retter wieder auf und hält um die Hand der Marquise an. «Rohmer hat (...) den umständlichen, jedoch präzisen und psychologisch scharf charakterisierenden Stil Kleists in eine völlig adäquate Bildgestaltung übertragen, eindringlich unterstützt von (...) einem grossartigen, homogenen Schauspielerensemble von der Schaubühne Berlin, das mit traumwandlerischer Sicherheit eine Welt der Gefühle, in der höchstes Glück unvermittelt neben tiefster Verzweiflung steht, lebendig werden lässt.» (Urs Jaeggi, Zoom, 12/1976)

«François, ein Junge, so rein und gedanken­ schlicht wie Parzifal, arbeitet des Nachts als Angestellter der Post am Gare de l’Est und beobachtet morgens, wie ein Mann das Zimmer von Anne verlässt, die er liebt und die ein wenig älter ist als er. La femme de l’aviateur handelt von den Odysseen der Eifersucht (...). Als Detektiv in Sachen eigener Verletztheit verfolgt François den vermeintlichen Nebenbuhler quer durch Paris, wobei sich ihm ein von seiner Besessenheit becirctes Mädchen (...), Lucie, als Detektivin Nr. 2 und bezaubernd weiblicher Watson hinzugesellt. Er vergeht vor Weh und Schlaflosigkeit, sie erblüht vor Aufgewecktheit und Abenteuersinn, während der Film im Gefühls- und Vermutungslabyrinth lustwandelt, das er sich und seinem Plaisir unnachahmlich delikat selbst errichtet hat.» (Harry Tomicek, Österreichisches Filmmuseum, 10/2010)

105 Min / Farbe / DCP/ D/f / // REGIE Éric Rohmer // DREHBUCH Éric Rohmer, nach der Novelle von Heinrich von Kleist

104 Min / Farbe / DCP / F/d // DREHBUCH UND REGIE Éric

// KAMERA Néstor Almendros // MUSIK Roger Delmotte //

Rohmer // KAMERA Bernard Lutic // SCHNITT Cécile Decugis

SCHNITT Cécile Decugis // MIT Edith Clever (die Marquise),

// MIT Marie Rivière (Anne), Philippe Marlaud (François), Anne-

Bruno Ganz (der Graf), Peter Lühr (der Vater), Edda Seippel

Laure Meury (Lucie), Mathieu Carrière (Christian), Philippe

(die Mutter), Otto Sander (der Bruder), Ruth Drexel (die Heb-

­Caroit (François’ Freund), Coralie Clément (Annes Kollegin),

amme), Éric Rohmer (russischer Soldat).

Haydée Caillot (Blondine), Fabrice Luchini (Mercillat).

PERCEVAL LE GALLOIS Schweiz/Frankreich/Italien 1978 «Perceval le Gallois ist ein einzigartiger Film, der Chrétien de Troyes’ Epos aus dem 12. Jahrhundert getreu folgt. Mit einem wunderbaren Gespür für die Epoche kombiniert er mittelalterliche Musik, leuchtende Farben, Mimenspiel, stilisierte Schauspielkunst und theatralische Dekors. Dieser elegante Abenteuerfilm ist vollumfänglich im Studio gedreht. Rohmer porträtiert Perceval als jungen Unschuldigen, der dies nutzt, um das Vertrauen seiner Feinde zu gewinnen. (...) Dem Film gelingt es, einen Sinn für das Mittelalter mit modernen Anliegen zu verschmelzen und dabei den Zauber der alten Legende wirken zu lassen.» (Dennis Schwartz: Ozus’ World Movie Reviews, 7.3.2004) 140 Min / Farbe / DCP / F/d // REGIE Éric Rohmer // DREHBUCH Éric Rohmer, nach dem Versroman von Chrétien de

LE BEAU MARIAGE Frankreich 1982 «Sabine lebt in Le Mans und studiert Kunstgeschichte in Paris. Sie bricht mit ihrem Liebhaber, der verheiratet ist, und eröffnet ihm, dass sie selbst zu heiraten gedenkt. Sie weiss zwar noch nicht, wen, aber sie ist fest entschlossen. Bei e ­ iner Hochzeit von Freunden lernt sie einen Rechtsanwalt aus Paris kennen. Er ist schön, jung, reich – und frei. Sie beschliesst, ‹er und kein anderer wird mein Mann werden›.» (Verleih-Dossier) «Eine feinsinnige, hintergründige Komödie über die verzweifelte Glückssuche des Menschen, über das Problem vorgefertigter Geschlechterrollen und über die Unwägbarkeit und Inkon­ sequenz menschlicher Gefühle. Erkenntniswert, leiser Charme und Humor des Films resultieren vor allem aus einer absichtsvoll kühlen und beherrschten Ästhetik.» (Lexikon des int. Films)

Troyes // KAMERA Néstor Almendros // MUSIK Guy Robert, Lieder des 12. u. 13. Jahrhunderts // SCHNITT Cécile Decugis

97 Min / Farbe / DCP / F/d // DREHBUCH UND REGIE Éric

// MIT Fabrice Luchini (Perceval), André Dussollier (Gauvain),

Rohmer // KAMERA Bernard Lutic // MUSIK Ronan Girre,

Pascal de Boysson (la Veuve Dame), Marie-Christine Barrault

­Simon des Innocents // SCHNITT Cécile Decugis, María Luisa

(Königin Guenièvre), Michel Etcheverry (Fischerkönig), Marc

García // MIT Béatrice Romand (Sabine), André Dussollier

Eyraud (König Arthur), Clémentine Amouroux (la Pucelle de la

(Edmond), Féodor Atkine (Simon), Huguette Faget (Maryse),

Tente), Arielle Dombasle (Blanchefleur).

Arielle Dombasle (Clarisse).


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Éric Rohmer

PAULINE À LA PLAGE

LE RAYON VERT

Frankreich 1983

Frankreich 1986

«Nach ihrer Scheidung fährt Marion mit ihrer jungen Cousine Pauline ins Sommerhaus ihrer Familie, in der Nähe von Granville in der Normandie. Am Strand trifft sie ihre Jugendliebe Pierre und lernt dessen Bekannten Henri kennen. Pierre gesteht Marion seine ungebrochene Liebe (...). Rohmer spricht von allgemeinen Gefühlen, die er mikroskopisch genau sichtbar macht. Er spinnt seine Geschichten mit verblüffender Konsequenz, spielt wie Hitchcock mit offenen Karten: Man wartet als Zuschauer nicht auf eine Lösung – die eh nicht möglich wäre –, aber auf Erlösung aus einer durchgehaltenen Spannung im Gefühlsbereich. Der ‹suspense› liegt im Unausgesprochenen.» (Walter Ruggle, Filmbulletin 2/1984) «In Pauline à la plage fasziniert gerade die Identität von Sprache und Charakter bei den sechs Hauptfiguren (...) – sie machen aus dem anzüglichen Vaudeville eine geistreiche Charakterkomödie.» (Gerhart Waeger, Zoom, 10/1984)

«Die junge, eben von ihrem Freund verlassene Delphine sucht, zuerst im sommerlich schwülen Paris, dann an verschiedenen Ferienorten Frankreichs, einen Urlaubspartner, um ihrer Vereinsamung zu entkommen. Da sie nichts für beiläufigoberflächliche Flirts übrig hat, bleibt ihre Suche erfolglos, bis sie im Bahnhof von Biarritz unerwartet der ‹rayon vert› trifft.» (Martin Schlappner, Zoom, 23/1986) «Wie in manch anderen Rohmer-Filmen finden in Le rayon vert kleine, als Zufälle getarnte Wunder statt. Das im Titel angedeutete Wunder ist ein Naturphänomen: Bei günstigen atmosphärischen Voraussetzungen ist kurz nach dem Untergang der Sonne ins offene Meer ein grüner Strahl zu sehen. Wenn ihn ein Paar erlebt, so wird das Naturwunder zum Wunder der Erfahrung der Zweisamkeit. Le rayon vert zeigt den Weg eines Mädchens, das durch dieses spirituelle Erlebnis von einer Depression befreit wird.» (Gerhart Waeger, Filmpodium, Februar 1996)

100 Min / Farbe / DCP / F/d // DREHBUCH UND REGIE Éric Rohmer // KAMERA Néstor Almendros // MUSIK Jean-Louis

90 Min / Farbe / DCP / F/d // DREHBUCH UND REGIE Éric

Valero // SCHNITT Cécile Decugis, Chris Tate // MIT Amanda

Rohmer // KAMERA Sophie Maintigneux // MUSIK Jean-

Langlet (Pauline), Arielle Dombasle (Marion), Pascal Greg-

Louis Valero // SCHNITT María Luisa García // MIT Marie

gory (Pierre), Féodor Atkine (Henri), Simon de La Brosse

­Rivière (Delphine), Béatrice Romand (Béatrice), Rosette (die

­(Sylvain), Rosette (Louisette).

Freundin aus Cherbourg), Carita (Léna).

LES NUITS DE LA PLEINE LUNE

L’AMI DE MON AMIE

Frankreich 1984

Frankreich 1987

«Louise und Rémi sind ein ungleiches Paar: Er ist mit ihrem vertrauten, gesetzten Leben in einem Pariser Vorort zufrieden, sie hingegen sehnt sich nach Freiheit, Lebendigkeit und Aufregung und mietet eine Wohnung in Paris (…). Eine geistreiche und intelligente Auseinandersetzung mit fundamentalen Fragen des menschlichen Zusammenlebens. Der von Sympathie für seine Personen getragene, inszenatorisch nur scheinbar leichte Film besticht gleichermassen in Stil, Tonlage, Erzählrhythmus und Sujet.» (Lexikon des int. Films) «Konkret, unprätentiös, schnörkellos, funktional. (...). Auch dieser Film dreht sich mit hintersinnigem Humor um die unerträgliche Leichtigkeit des Seins.» (Wolfram Knorr, Zoom, 2/1985)

«L’ami de mon amie gehört zu den ‹Comédies et proverbes› (…), leichtgewichtige kleine Launen, dazu gedacht, alltägliche Wahrheiten auf ironische Weise zu illustrieren.(…) Zwei junge Frauen (…) sehen einen gut aussehenden jungen Mann. Die eine mag ihn, die andere bekommt ihn, und dann wird getauscht, wobei ein ehemaliger Liebhaber und ein paar weitere Freunde ins Spiel kommen. (…) Rohmer will das alltägliche Verhalten einer neuen Klasse von Franzosen beobachten, der jungen Berufstätigen, deren Werte meist materialistisch sind, deren Ideen von der Populärkultur geprägt sind, die nicht viel lesen, viel über Politik nachdenken oder viel Tiefe haben. Am Ende dieses Films werden Sie seine Figuren vielleicht besser kennen, als sie sich selbst jemals kennen werden.» (Roger Ebert, rogerebert.com, 16.9.1988)

100 Min / Farbe / DCP / F/d / // DREHBUCH UND REGIE Éric Rohmer // KAMERA Renato Berta // MUSIK Elli et Jacno // SCHNITT Cécile Decugis // MIT Pascale Ogier (Louise), Tchéky Karyo (Rémi), Fabrice Luchini (Octave), Virginie Thé-

100 Min / Farbe / DCP / F/d // DREHBUCH UND REGIE Éric

venet (Camille), Christian Vadim (Bastien), Laszlo Szabo (der

Rohmer // KAMERA Bernard Lutic // MUSIK Jean-Louis Valéro

Maler), Lisa Garneri (Tina), Mathieu Schiffman (ein Freund

// SCHNITT María Luisa García // MIT Emmanuelle Chaulet

von Louise), Noël Coffman (Stanislas).

(Blanche), Sophie Renoir (Léa), François-Éric Gendron.


> L’ami de mon amie.

> Conte d’hiver.

> Les nuits de la pleine lune.

> L’arbre, le maire et la médiathèque.

> Le rayon vert.


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Éric Rohmer

CONTE D’HIVER

CONTE D’ÉTÉ

Frankreich 1992

Frankreich 1996

Eine junge Frau verliebt sich während ihrer Sommerferien, schreibt dem geliebten Mann beim Abschied allerdings in der Hektik eine falsche Adresse auf. Die Jahre vergehen, ohne dass sie etwas von ihm hört. Dennoch bleibt sie ihm treu, erzieht die gemeinsame Tochter und lebt mit zwei Männern zusammen – bis der Geliebte unverhofft und wie durch ein Wunder wieder auftaucht. «Rohmers Lebensnähe wirkt immer wieder schmerzlich, denn während man der Frau wünscht, ihr verschollenes Ideal von Mannsbild möge wieder auftauchen, sehen wir zu, wie sie sich mit den beiden andern schwertut. (...) Rohmer wird die Shakespearsche Fügung schaffen, die aus der ausweglosen Situation ein offenes und doch glücklich anmutendes Ende stiftet. Die wundersame Wiedervereinigung, zu der der Film gelangt, hat der französische Gefühlsgeometer jedenfalls dem ‹Wintermärchen› des englischen Machtanalytikers entlehnt.» (Walter Ruggle, züritipp, 1992)

«Juli, Sommer in der Bretagne: Gaspard steht kurz vor seinem ersten richtigen Job und ist für die letzten freien Tage hierhergefahren, um seine Freundin Léna zu treffen. Aber da von ihr vorerst nichts zu sehen ist, zieht er allein seine Kreise im Ort (...). Erst die Bekanntschaft mit Margot bringt etwas Farbe in seinen Aufenthalt, was er sich allerdings selbst nicht eingestehen will. Er verfällt zunehmend in eine Art Leidenspose, die verrät, dass er Léna viel schneller vergessen könnte, als er selbst vielleicht denkt.» (Lexikon des int. Films) «Mit unsichtbarer Präzision führt Rohmer uns durch die Sommerliebschaften, zeigt uns, wie einer um die Welt reisen muss, um selber festzustellen, dass die Erde rund ist. Es ist ein Spiel ums Reden und ums Handeln, ein kleines Spiel zunächst, das zum Spektakel des Unspektakulären wächst. Zum Genuss wird es, weil Rohmer uns beim Wachsen zuschauen lässt.» (Walter Ruggle, züritipp, 1996)

114 Min / Farbe / DCP / F/d // DREHBUCH UND REGIE Éric

113 Min / Farbe / DCP / F/d // DREHBUCH UND REGIE Éric

Rohmer // KAMERA Luc Pagès // MUSIK Sébastien Erms //

Rohmer // KAMERA Diane Baratier // MUSIK Philippe Eidel,

SCHNITT Mary Stephen // MIT Charlotte Véry (Félicie),

Sébastien Erms // SCHNITT Mary Stephen // MIT Melvil Pou-

Frédéric van den Driessche (Charles), Michel Voletti

paud (Gaspard), Amanda Langlet (Margot), Gwenaëlle Simon

­(Maxence), Hervé Furic (Loïc), Ava Loraschi (Élise).

(Solène), Aurélia Nolin (Léna), Alain Guellaff (Onkel Alain).

L’ANGLAISE ET LE DUC

L’ARBRE, LE MAIRE ET LA MÉDIATHÈQUE Frankreich 1993 «Eine Salonkomödie über die soziale Wirklichkeit (...). Was wäre, wenn der sozialistische Bürgermeister des Dorfs Saint Juire, wohnhaft in einem Schloss und ergeben der Suggestion der Modernität, den Plan ins Aug fassen würde, eine médiathèque (...) aus dem Boden jenes Angers zu stampfen, auf dem eine weit über 100 Jahre alte Silberweide steht? Was wäre, wenn Blandine Lenoir, Redakteurin von ‹Après-demain›, nicht ihren Anrufbeantworter abgestellt hätte? Wenn der Ball von Véga, Tochter des maire, nicht zu Füssen von Zoé, Tochter des Lehrers, gelandet wäre? Der Film handelt amüsiert vom Kampf des Alten und Modernen, um sich vorbehaltlos fürs Neue in Form der erhaltenen Natur zu entscheiden.» (H. Tomicek, Österreichisches Filmmuseum, 10/2010)

Frankreich 2001 «Einst liebten sich Grace Elliott und LouisPhilip­ pe II., Herzog von Orléans, nun sind sie treue Freunde. Die Französische Revolution droht jedoch einen Keil zwischen sie zu treiben: Sie sympathisiert mit dem Adel, er stimmt im Nationalkonvent sogar für die Hinrichtung seines Cousins, König Ludwigs XVI. Rohmers mit Abstand aufwendig-teuerste, gestalterisch dabei experimentellste Produktion, inspiriert zu gleichen Teilen von D. W. Griffiths Orphans of the Storm (1921), Napoléon vu par Abel Gance (1927) und Renoirs La Marseillaise (1938). Ganz erstaunlich sind die Aussenszenen, die Rohmer als belebte Bilder gestaltete: Er liess 37 Gemälde im Stil der Zeit anfertigen, in die er die Darsteller digital einfügte. Der Effekt ist frappierend.» (Rui Hortênsio da Silva e Costa, Österreichisches Filmmuseum, 10/2010) 125 Min / Farbe / DCP / F/d // REGIE Éric Rohmer // DREH-

105 Min / Farbe / DCP / F/d // DREHBUCH UND REGIE Éric

BUCH Éric Rohmer, nach den Memoiren von Grace Elliott //

Rohmer // KAMERA Diane Baratier // MUSIK Sébastien Erms

KAMERA Diane Baratier // SCHNITT Mary Stephen // MIT Lucy

// SCHNITT Mary Stephen // MIT Pascal Greggory (Julien

Russell (Grace Elliott), Jean-Claude Dreyfus (Duc d’Orléans),

­Dechaumes), Arielle Dombasle (Bérénice Beaurivage), ­Fabrice

Alain Libolt (Duc de Biron), Charlotte Véry (Pulcherie), Rosette

Luchini (Marc Rossignol), Clémentine Amouroux (Blandine).

(Fanchette).


24 Das erste Jahrhundert des Films

1930 1930 traf die Weltwirtschaftskrise Deutschland besonders schwer und beendete die Goldenen Zwanziger: Massenarbeitslosigkeit und Armut führten zur politischen Radikalisierung der Bevölkerung und zum Aufstieg der NSDAP. 1930 gilt aber auch als das Jahr, in dem sich der Tonfilm durchsetzte. Zum ersten deutschen Tonfilmklassiker wurde Der blaue Engel, durch den Marlene Dietrich als fesche Lola über Nacht zum Star avancierte und der die langjährige Zusammenarbeit zwischen ihr und Josef von Sternberg begründete. Noch in der Premierennacht reiste sie mit dem Regisseur nach Hollywood und drehte mit ihm und an der Seite von Gary Cooper kurz darauf Morocco, ein Meisterwerk der Licht- und Tondramaturgie, das sie als befrackte Diseuse zur glamourösen Kunstfigur erhob und ihr eine Oscarnominierung einbrachte. Im gleichen Jahr schuf René Clair, der dem aufkommenden Tonfilm zunächst skeptisch gegenüberstand, mit Sous les toits de Paris ein grossartiges «Ton-Gemälde», in dem er Ton und Bild virtuos in kontrapunktische Beziehung setzte, und landete damit weltweit einen Riesenerfolg. Mit gleich zwei Oscars wurde All Quiet on the Western Front, der Antikriegsfilm schlechthin, ausgezeichnet. Lewis Milestone erzielte durch den Ton eine ungeheure Wirkung und liess damit sein Publikum das Grauen des Ersten Weltkriegs unmittelbar spüren. In Berlin tobte Joseph Goebbels und organisierte mit seinen SA-Horden so lange massive Angriffe, bis die Filmzensur einknickte und ein hochumstrittenes Verbot aussprach. Luis Buñuel sorgte derweil für einen Skandal anderer Art: Sein L’âge d’or war ein Frontalangriff auf die bürgerliche Gesellschaft und die Kirche, führte in Paris prompt zu heftigen Protesten und schon bald zum Verbot des Films; erst 1981 wurde er wieder freigegeben – auch heute noch verblüfft das surreale Werk mit einigen der unvergesslichsten Bilder der Filmgeschichte. Tanja Hanhart Das erste Jahrhundert des Films In der Dauerreihe «Das erste Jahrhundert des Films» zeigen wir im Lauf von zehn Jahren rund 500 w ­ egweisende Werke der Filmgeschichte. Die Auswahl jedes Programmblocks ist gruppiert nach Jahrgängen, woraus sich schliesslich 100 Momentaufnahmen des Weltkinos von 1900 bis 1999 ergeben. ­Referenzzahl ist jeweils der aktuelle Jahrgang, d. h. im Jahr 2020 sind Filme von 1920, 1930, 1940 usw. zu sehen. Weitere wichtige Tonfilme von 1930: (wichtige Stummfilme: siehe Stummfilmfestival 2020) Animal Crackers Victor Heerman, USA City Girl F. W. Murnau, USA (auch Stummfilmfassung) Die Drei von der Tankstelle Wilhelm Thiele, D Hell’s Angels Howard Hughes, USA Le sang d’un poète Jean Cocteau, F Murder! Alfred Hitchcock, GB

Prix de beauté A. Genina, F (in Louise-Brooks-Reihe, April/Mai) Stürme über dem Mont Blanc Arnold Fanck, D The Big Trail Raoul Walsh, USA The Dawn Patrol Howard Hawks, USA The Silent Enemy H. P. Carver, USA (teilw. mit Ton) Westfront 1918 Georg Wilhelm Pabst, D


Das erste Jahrhundert des Films: 1930

DER BLAUE ENGEL Deutschland 1930 Als Professor Rath erfährt, dass seine Schüler sich im «Blauen Engel» herumtreiben, sucht er das Vergnügungslokal auf, um sie in flagranti zu erwischen. Doch dabei erliegt er den Reizen der Sängerin Lola Lola – und merkt erst viel zu spät, dass ihn seine Liebe in den Abgrund stürzt. Josef von Sternbergs Der blaue Engel, das Drama um den Wert der Liebe und der Würde eines Menschen, war und bleibt bis heute ein künstlerisch herausragend gestalteter Film der frühen Tonfilmepoche. «Es gibt Filme, die sich so tief in unserem kollektiven (und privaten!) Bewusstsein eingenistet haben, dass man sie auswendig zu kennen glaubt – und doch immer wieder anschauen will. Kinomythen eben. Der blaue Engel ist so einer: Die Dietrich mit Zylinderhut als Variété-Diseuse Lola Lola mit cooler Stimme und endlosen Beinen ist zur Ikone lasziver Sünde mit Domina-Touch für bourgeoise Ängste geworden. Und der unmöglich verliebte Pauker Professor Unrat aus der Feder von Heinrich Mann zum Inbegriff des Hahnreis, so, wie ihn Emil Jannings mit dem Mut zur Selbstentblössung verkörpert hat. (…) Heinrich Mann freilich blieb ganz auf dem Boden: ‹Herr Jannings, den Erfolg dieses Films werden in erster Linie die

nackten Oberschenkel der Frau Dietrich machen.› Mag ja sein. Von Jannings kam immerhin die Idee, Josef von Sternberg als Regisseur zu engagieren (…). Sternberg seinerseits hatte unter anderen erst Brigitte Helm, den Star von Metropolis, für die Rolle der Lola Lola im Auge, sah dann aber die Dietrich und setzte sie bei Jannings und Ufa-Chef Pommer durch. ‹Nicht diese Hure!›, soll Letzterer ausgerufen haben. Zum Glück vergeblich. Die Filmgeschichte wäre um ein Kapitel ärmer geblieben: Weitere sechs Male stand die Dietrich nach diesem Highlight des frühen deutschen Tonfilms bei Sternberg vor der Kamera. Lola Lola war der Anfang: ‹Von Kopf bis Fuss auf Liebe eingestellt›.» (Martin Walder, NZZ, 7.12.2008) 108 Min / sw / DCP / D // REGIE Josef von Sternberg // DREHBUCH Carl Zuckmayer, Karl Vollmoeller, Robert Liebmann, Josef von Sternberg, nach dem Roman «Professor Unrat» von Heinrich Mann // KAMERA Günther Rittau, Hans Schneeberger // MUSIK Friedrich Hollaender // SCHNITT Sam ­Winston // MIT Emil Jannings (Prof. Immanuel Rath), Marlene Dietrich (Lola Lola), Kurt Gerron (Kiepert, Zauberkünstler), Rosa Valetti (Guste, seine Frau), Hans Albers (Mazeppa), Eduard von Winterstein (Schuldirektor), Reinhold Bernt ­ (Clown), Karl Huszár-Puffy (Wirt), Gerhard Bienert (Polizist), Wilhelm Diegelmann (Kapitän), Rolf Müller (Gymnasiast Angst), Roland Varno (Gymnasiast Lohmann), Carl Balhaus (Gymnasiast Ertzum), Friedrich Hollaender (Klavierspieler), Wolfgang Staudte (Gymnasiast).

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Das erste Jahrhundert des Films: 1930

MOROCCO USA 1930 Die Nachtclubsängerin Amy gerät in einer ma­ rokkanischen Garnisonsstadt zwischen zwei ­Män­ner: Sie wird vom reichen Geschäftsmann La ­Bessière umworben und vom mittellosen Fremdenlegionär Tom Brown begehrt. Tom verzichtet auf Amy, sie heiratet La Bessière. Als Tom verwundet wird, lässt Amy La Bessière im Stich und pflegt Tom gesund. Und als er mit seiner Truppe in die Wüste marschieren muss, folgt sie ihm. Josef von Sternberg inszeniert diese Dreiecksgeschichte mit grossem stilistischen Raffinement, lässt Marlene Dietrich in ihrem ersten Hollywoodfilm als androgynes, erotisch aufgeladenes Wesen erscheinen, das in Frack und Zylinder Männern wie Frauen gleichermassen den Kopf verdreht. Kameramann Lee Garmes’ von oben steil einfallendes Führungslicht, das ihr Gesicht aushöhlte und geheimnisvoll verschattete, sollte fortan zu ihrem Markenzeichen werden. «Vermutlich Sternbergs definitives Stück Hollywoodkino. Wechselball von ‹thrill› und ‹fun›, ‹splendor› und ‹suspense›. Ein Lustspiel in der unmittelbarsten und ein erotischer Abenteuerfilm in der doppelten Bedeutung des Worts. Zum einen ein Pas de deux von Blicken, Sätzen und

Gesten, die Marlene Dietrich und Gary Cooper ­einander in wollüstig knisternder Lässigkeit zuwerfen. Zum anderen ein Streifen, der Erotik und Glamour nicht bloss zum Thema erkürt, sondern hinreissend suggestiv in Film verwandelt. Jede Einstellung eine Verführung, jedes Bild eine Evokation. Gleissen von Licht und Seide, spielende Schatten, irisierender Schimmer auf der Geografie der Gesichter.» (Harry Tomicek, filmmuseum. at, 2/2017) 92 Min / sw / DCP / E/d // REGIE Josef von Sternberg // DREHBUCH Jules Furthman, nach dem Theaterstück «Amy Jolly» von Benno Vigny // KAMERA Lee Garmes, Lucien Ballard // MUSIK Leo Robin, Karl Hajos // SCHNITT Sam Winston // MIT Marlene Dietrich (Amy Jolly), Gary Cooper (Tom Brown), Adolphe Menjou (La Bessière), Ullrich Haupt (Caesar), Eve Southern (Madame Caesar), Francis McDonald (Serg. Tatoche), Paul Porcasi (Lo Tinto), Juliette Compton (Anna Dolores), Emile Chautard (General).


Das erste Jahrhundert des Films: 1930

ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT USA 1930 Zu Beginn des Ersten Weltkriegs: Angestachelt von seinem fanatischen Lehrer meldet sich Gymnasiast Paul Bäumer mit seinen Kameraden begeistert freiwillig für die Armee. An der Westfront in Frankreich muss er jedoch das ganze Grauen des Kriegs erfahren. Lewis Milestones All Quiet on the Western Front nach Erich Maria Remarques Roman ist ein USamerikanischer Klassiker des Antikriegsfilms. «Mit Pickelhauben liegen die Soldaten im Schützengraben. Die Kamera fährt langsam über die Köpfe der jungen Kämpfer. Die schrill tönenden Geschosse zerreissen die Stille. Bomben fallen, Soldaten schiessen, Soldaten rennen mit Bajonetten auf einem lehmigen Schlachtfeld auf den Gegner zu. Soldaten feuern aus dem Schützengraben mit Maschinengewehren. Soldaten fallen um wie Zinnmänner. Die Schlachtszene dauert sieben lange Minuten. Sie ist in die Filmgeschichte eingegangen und hat spätere Kriegsund Antikriegsfilme beeinflusst. (...) Der zweifache Oscargewinner erhielt in den USA und in England sehr viel gute Kritik, (...) im Deutschen Reich hingegen sah er sich vor allem negativer Kritik ausgesetzt. (...) Joseph Goebbels (...) star-

tete eine massive Kampagne gegen den Film. Er organisierte Massenaufläufe und handgreifliche Krawalle – vor und in den Kinos. Nationalsozialisten zündeten in den Lichtspielhäusern (...) Rauchoder Stinkbomben. Teilweise liessen sie sogar Mäuse frei, um die Menschen aus dem Saal zu scheuchen (...); nur eine Woche nach der Erstaufführung wurde der Antikriegsfilm verboten. Grund: ‹Gefährdung des deutschen Ansehens in der Welt und die Herabsetzung der deutschen Reichswehr›. Auch in anderen Ländern wurde der Film (...) verboten und teilweise erst Jahrzehnte später wieder freigegeben. (...) Der Film zeigt, was mit Soldaten passiert, die täglich Menschen sterben sehen. Deshalb ist er in Zeiten andauernder und hoffnungsloser Konflikte immer noch relevant und brandaktuell.» (Cynthia Ringgenberg, srf.ch, 10.11.2018) 136 Min / sw / DCP / E/d // REGIE Lewis Milestone // DREHBUCH Del Andrews, Maxwell Anderson, George Abbott, Lewis Milestone, nach dem Roman von Erich Maria Remarque // KAMERA Arthur Edeson, Karl Freund // MUSIK David Broekman // SCHNITT Edgar Adams // MIT Lew Ayres (Paul ­Bäumer), Louis Wolheim (Stanislaus Katczinski), John Wray (Himmelstoss), Arnold Lucy (Prof. Kantorek), Ben Alexander (Franz Kemmerich), Scott Kolk (Leer), Slim Summerville (Tjaden), Russell Gleason (Müller), William Bakewell (Albert Kropp), Harold Goodwin (Detering).

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Das erste Jahrhundert des Films: 1930

SOUS LES TOITS DE PARIS

L’ÂGE D’OR

Frankreich 1930

Frankreich 1930

Albert verkauft Noten beliebter Chansons in den Gassen von Paris. Als er sich in die schöne Pola verliebt, gerät er ins Visier des Ganoven Fred, der es aus anderen Gründen auf die junge Dame abgesehen hat. Und als Albert zu Unrecht als Dieb ins Gefängnis gesteckt wird, bandelt sein bester Freund Louis mit Pola an. René Clairs zärtliche Liebeserklä­rung an Paris ist eine bittersüsse Komö­die, die in Frankreich anfangs kaum Begeisterung auslöste, in Berlin aber innerhalb eines Ta­ges ihre gesamten Produktionskosten einspielte und in wenigen Monaten zum Welterfolg wurde. «Sous les toits de Paris ist einer der allerersten Filme, die voller Leidenschaft beides zu sein beabsichtigen: Film, der sich in Bildern genügt, und Film, der sich auf der Tonspur artikuliert. Wie bei allen Anfängen mit ihrer aus dem Quellgrund des Enthusiasmus genährten Sprache ist in René Clairs Film etwas wiederfindbar, was später (...) selbstverständlich geworden ist. Wie ist eine Geschichte mit gleicher Frische auf einer Ebene visuell, auf einer anderen akustisch zu erzählen? So ist diese Gauner- und Liebesgeschichte mit ihren im Studio nachgebauten Banlieue-Strassen und von aufgeregt mobiler Kamera durchwandertem Hinterhof-Grau-Schornstein-Filigran nicht nur ein charmantes Kinozeitstück, sondern ein Manifest des Tonfilms.» (Harry Tomicek, Österreichisches Filmmuseum, 4/2009) «Einer der ersten einfallsreichen Ansätze zum Musical als Filmgattung. Clair beschränkt den Dialog auf ein Minimum und verwendet Musik und Geräusche, um einen unbeschwerten, poetischen Stil zu erschaffen.» (Pauline Kael, 5001 Nights at the Movies, Marion Boyars 1993)

Ein Liebespaar wird ständig am Vollzug seiner Liebe durch die «etablierten Ordnungsmächte» gehindert. Eine «normale» Handlung gibt es allerdings in diesem Film nicht, die Geschichte der Amour fou wird unterbrochen, kontrastiert und kommentiert durch Wochenschaubilder und subversive Bilder: Alles beginnt als Dokumentation über Skorpione und endet bei Jesus und den 120 Tagen von Sodom. Buñuel: «Es ist der einzige Film meiner Karrie­re, den ich in einem Zustand von Euphorie, ­Enthusiasmus und Zerstörungswut drehte. (Filmklassiker, Reclam 1995) «In der Premierenwoche bewarfen faschistische Schlägerbanden die Leinwand mit Farbbeuteln und zerstörten im Kinofoyer ausgestellte Bilder von Man Ray und anderen Surrealisten. Auch die Zensurbehörden griffen ein, L’âge d’or verschwand im Giftschrank und erlebte erst fünfzig Jahre später in San Francisco seine zweite Uraufführung. (…) In diesem zweiten, längeren Film (nach Un chien andalou) werden ansatzweise Geschichten erzählt, und die Flut subversiver Bilder wird überlagert von einer recht eindeutigen politischen Stossrichtung gegen den Klerus, die Bourgeoisie und ihre rigide Sexualmoral. (...) L’âge d’or entpuppt sich so als Vorläufer zur beissenden Bourgeoisiekritik von Buñuels bekanntesten Nachkriegsfilmen wie Belle de jour oder Le charme discret de la bourgeoisie.» (Daniela Janser, tagesanzeiger.ch, 5.1.2011) 63 Min / sw / DCP / F/e // REGIE Luis Buñuel // DREHBUCH Luis Buñuel, Salvador Dalí // KAMERA Albert Duverger // MUSIK Luis Buñuel, Georges Van Parys // SCHNITT Luis Buñuel // MIT Gaston Modot (der Mann), Lya Lys (die Frau), Max Ernst (Räuberhauptmann), Pierre Prévert (Péman, ein

96 Min / sw / 35 mm / F/d // DREHBUCH UND REGIE René Clair

Räuber), Lionel Salem (Herzog von Blangis).

// KAMERA Georges Périnal // MUSIK Armand Bernard //

4K-Restaurierung der Cinémathèque française und des Cen-

SCHNITT René Le Hénaff // MIT Albert Préjean (Albert), Pola

tre Pompidou, MNAM-CCI/Service du cinéma expéri­mental

Illéry (Pola), Gaston Modot (Fred), Edmond T. Gréville (Louis), Bill Bocket (Emile), Paul Ollivier (Stammkunde des Cafés).


29 Filmpodium für Kinder

Die Melodie des Meeres Das modern erzählte Märchen greift auf Figuren der schottischen und irischen Mythologie zurück. Ein visuell bezaubernder und vielfach ausgezeichneter Animationsfilm.

DIE MELODIE DES MEERES (Song of the Sea) / Irland / Dänemark / Belgien 2014 93 Min / Farbe / DCP / D / ab 6 // REGIE Tomm Moore // DREHBUCH Tomm Moore, Will Collins // MUSIK Bruno Coulais // SCHNITT Darragh Byrne // MIT DEN DEUTSCHEN STIMMEN VON Jacob Neise (Ben), Roland Hemmo (Conor), Angela ­Stresemann (Macha), Celine Fontanges (Bronach, Ben und Saoirses Mutter), Emma Luise Herrmann (Saoirse), Wolf Frass (Dan), Achim Schülke (Lug), Klaus Dittmann (Mossy), Peter Weis (Spud). ENGLISCHE FASSUNG: 93 Min / Farbe / Digital HD / E/d / ab 6 // MIT DEN STIMMEN VON David Rawle (Ben), Brendan Gleeson (Conor/Mac Lir), Fionnula Flannagan (Grossmutter/Macha), Lisa Hannigan (Bronach) , Lucy O'Connell (Saoirse), Jon Kenny (Dan/Der grosse Seanachai), Pat Shortt (Lug), Colm O Snodaigh (Mossy), Liam Hourican (Spud).

Ben und seine kleine Schwester Saoirse leben mit ihrem Vater in einem Leuchtturm. Die Mutter ist vor einiger Zeit verschwunden. Sie hat den Kindern eine magische Muschel hinterlassen, deren Melodie von alten Legenden und Fabelwesen berichtet. Doch die Geschichten erweisen sich als wahr und ­ Saoirse selbst ist in Wirklichkeit eine Selkie – ein Wesen, das an Land als Mensch und im Meer als Robbe lebt. Mehr und mehr tauchen die Kinder ein in ein Abenteuer, in dem sie die Welt der Legenden vor dem Untergang ­bewahren müssen und zu ihren eigenen Wurzeln finden. (pm) Kinderfilm-Workshop Im Anschluss an die Vorstellungen vom 29. Februar und 14. März bietet die Filmwissenschaftlerin Julia Breddermann ­einen Film-Workshop an (ca. 45 Min., gratis, keine Voranmeldung nötig). Die Kinder erleben eine Entdeckungsreise durch die Welt der Filmsprache und werden an einzelne Szenen und Themen des Films herangeführt.


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Im Kampf mit dem Berge Für die Musik für seine «Alpensymphonie in Bildern» fand Regisseur Arnold Fanck 1921 durch Zufall einen Komponisten, der kurz vor dem Durchbruch stand: Paul Hindemith. Dessen Musik, die 1963 in seinem Nachlass gefunden wurde, spielt am 12. März live das AMAR QUARTETT. «In den Walliser Alpen und dem Matterhorn-Monte-Rosa-Gebiet drehte ­Arnold Fanck in 4000 Meter Höhe diesen spektakulären Dokumentarfilm voller atemberaubender Aufnahmen. Er hält das wilde Toben eines Schneesturms ebenso eindrucksvoll fest wie die feierliche Stille der Eisgrate. Die überwältigende Kraft der Natur kontrastiert er mit den Versuchen der winzig wirkenden Menschen, die Berge zu bezwingen. Ein Film, der die Natur auf eindrucksvollste Weise, frei von Kitsch, feiert.» (Filmportal.de) «Über die unendliche Schönheit und Majestät der schneebedeckten Bergriesen, über das Grauen ihrer Schlunde und Moränen, über den Triumph menschlichen Mutes, der diese Höhenwelt bezwingt, ist schwer ‹Filmkritik› zu schreiben. Man möchte nur wünschen, dass recht, recht viele an dem ­Erlebnis dieses Films teilnehmen.» (Hans Wollenberg: Lichtbild-Bühne, zur Uraufführung am 22. September 1921)

IM KAMPF MIT DEM BERGE / Deutschland 1921 73 Min / tinted + toned / DCP / Stummfilm, d Zw’titel // DREHBUCH, REGIE UND SCHNITT Arnold Fanck // KAMERA Sepp ­Allgeier // MUSIK Paul Hindemith // SCHNITT Arnold Fanck // MIT Hannes Schneider, Ilse Rohde. AMAR QUARTETT Im Sommer 1921 weilten Paul Hindemith und Arnold Fanck in Meran und lernten sich zufällig kennen. Fanck war damals mitten in der Schnittarbeit von Im Kampf mit dem Berge und zeigte Hindemith den Film in einer ersten Fassung. Hindemith war davon so begeistert, dass er in nur zwei Wochen eine Musik dazu komponierte, signiert mit dem humoristischen Pseudonym Paul Merano. Anna Brunner (Violine), Elias Schödel (Violine), Aida-Carmen Soanea (Viola), Marcin Sieniawski (Violoncello) bilden aktuell das ­international auftretende AMAR QUARTETT, das diesen Namen seit Paul Hindemiths 100. Geburtstag 1995 trägt. Hindemith gründete 1922 als Bratschist unter diesem Namen ein Quartett, benannt nach dessen erstem Geiger Licco Amar. Die StreichquartettFassung von Hindemiths Filmmusik zu Im Kampf mit dem Berge wurde eigens für das AMAR QUARTETT in Auftrag gegeben.


31 DO, 20. FEB. | 18.15 UHR

BUCHVERNISSAGE CINEMA #65

SKANDAL Kein anderes Wort hat die jüngsten ge­

par Noé, Oliver Stones Natural Born Killers),

sellschaftlichen Debatten gleichermassen

aktuellen Skandalen um Preisverleihungen

bestimmt wie der vom griechischen ‹skan-

u. ä. sowie Skandalen, die auf den ersten

dalon› abgeleitete, «Ärgernis, Anstoss, Fall­

Blick keine sind.

strick» bezeichnende Begriff Skandal. Im

Die Buchvernissage wird präsentiert von

Kino haben sogenannte «Skandalfilme»

Heinrich Weingartner und garniert mit fünf

eine lange Tradition. Werke, die sich auf ge-

mehr oder minder skandalösen Schweizer

wagte Art mit heiklen Themen wie Sex, Ge-

Kurzfilmen.

walt, Religion oder Politik beschäftigen und dabei inhaltliche, geschmackliche oder formale Grenzen überschreiten, stossen Teile des Publikums und der Medien vor den Kopf, geraten deshalb in Verruf und erhalten den Stempel des «Skandalfilms» auf­ gedrückt. Genauer besehen, zeigen die meisten von ihnen – ob verschlüsselt oder unverschlüsselt – gesellschaftliche Missstände auf oder hinterfragen verkrustete Normen oder Konventionen. Nicht selten erweist sich der Skandalfilm von heute als willkommener Wegbereiter von morgen. CINEMA #65 beschäftigt sich mit «Skandalfilmen», der Hinterfragung dieses Begriffs, den üblichen Verdächtigen (u. a. Gas-

> Selfies.

ALL INCLUSIVE / Schweiz 2018 10 Min / Farbe / DCP / Dokumentarfilm ohne Dialog // DREHBUCH, REGIE UND SCHNITT Corina Schwingruber Illić // ­KAMERA Nikola Illić // MUSIK Heidi Happy.

SELFIES / Schweiz 2018 4 Min / Farbe / DCP / Animationsfilm ohne Dialog // DREHBUCH, REGIE, KAMERA UND SCHNITT Claudius Gentinetta // MUSIK Claude Kaiser, Peter Bräker.

ZUFALL / Schweiz/Deutschland 2016 6 Min / Farbe + sw / DCP / Dokumentarfilm / D // DREHBUCH, REGIE UND SCHNITT Thaïs Odermatt.

TEMPÊTE SILENCIEUSE / Schweiz 2019 13 Min / Farbe / DCP / Arabisch/f/e // DREHBUCH, REGIE UND KAMERA Anaïs Moog // SCHNITT Pierre Schlesser.

SECRET PSSST / Schweiz 2019 2 Min / Farbe / DCP / Experimentalfilm // DREHBUCH, REGIE, KAMERA UND SCHNITT Ivana ­Kvesic.


32 SÉLECTION LUMIÈRE

MI, 4. MÄRZ | 18.15 UHR MI, 18. MÄRZ | 20.45 UHR

12 ANGRY MEN Justitia ist zwar heute nicht mehr ganz

und Lee J. Cobb als schwer belehrbares

so alt, weiss und männlich wie in Sidney

Grossmaul, das mit Vaterproblemen ringt

­Lumets 12 Angry Men, aber die Wahrheits-

und einen undankbaren Teenager nicht

findung in Geschworenenprozessen läuft

freisprechen will. (...) Heutzutage machen

wohl nach wie vor ähnlich argumentativ ab.

allzu wenige Filme die Kunst des Argumen-

Ein tolles Schauspieler-Ensemble zeigt,

tierens zum Thema; wir könnten sicher

wie Hochspannung ohne Action auskommt.

mehr davon gebrauchen, aber bis dahin wird Lumets Einblick in die Mühen der Bür-

«Pfund für Pfund bietet Sidney Lumet im-

gerpflicht weiterhin beste Dienste leisten.»

mer noch die beste Filmografie aller New

(Joshua Rothkopf, timeout.com, 2.7.2013)

Yorker Giganten (sorry, Martin Scorsese),

✶ am Mittwoch, 18. März, 20.45 Uhr: Einführung von Martin Walder

und wenn man bedenkt, dass er seine Karriere als Spielfilmregisseur mit dieser brillanten Charakterstudie begonnen hat, erbleicht man vor dem Talent dieses Mannes. Das Szenario von Reginald Rose, das sich im Laufe eines langen Sommertages und -abends in einem einzigen Geschworenenraum abspielt, war ursprünglich für eine Fernsehproduktion vorgesehen – wie auch Lumet selbst der rasanten Welt des live übertragenen Fernsehspiels entstammt. Der Regisseur aber nutzte die technischen Freiheiten, die ihm ein erstklassiger Kameramann wie Boris Kaufman gewährte, und steigerte mit jeder Nahaufnahme die Klaustrophobie. Oftmals steht dieses Dutzend

12 ANGRY MEN / USA 1957 93 Min / sw / DCP / E/d // REGIE Sidney Lumet // DREHBUCH Reginald Rose // KAMERA Boris Kaufman // MUSIK Kenyon Hopkins // SCHNITT Carl Lerner // MIT Henry Fonda (Geschwo-

Geschworene augenscheinlich kurz davor,

rener Nr. 8), Martin Balsam (Nr. 1), John Fiedler (Nr. 2), Lee

handgreiflich zu werden; dieser Film über

­Edward Binns (Nr. 6), Jack Warden (Nr. 7), Joseph Sweeney

einen Mordprozess handelt von Überzeugungsarbeit, zeigt aber auch das ausgeprägte Talent der New Yorker, auf engem Raum zu koexistieren. Doch wer hätte etwas gegen solche ­Gesellschaft einzuwenden? Zu Recht wird 12 Angry Men für seine durchweg tolle Besetzung gefeiert, allen voran Henry Fonda als Fürsprecher und Mann der leisen Töne

J. Cobb (Nr. 3), E. G. Marshall (Nr. 4), Jack Klugman (Nr. 5), (Nr. 9), Ed Begley (Nr. 10), George Voskovec (Nr.11), Robert Webber (Nr. 12).


33 IMPRESSUM

DAS FILMPODIUM IST EIN ANGEBOT DES PRÄSIDIALDEPARTEMENTS

in Zusammenarbeit mit der Cinémathèque suisse, Lausanne/Zürich LEITUNG Corinne Siegrist-Oboussier (cs), STV. LEITUNG Michel Bodmer (mb) WISSENSCHAFTLICHE MITARBEIT Tanja Hanhart (th), Primo Mazzoni (pm), Laura Walde // SEKRETARIAT Claudia Brändle BÜRO Postfach, 8022 Zürich, Telefon 044 412 31 28, Fax 044 412 31 25 WWW.FILMPODIUM.CH // E-MAIL info@filmpodium.ch // KINO Nüschelerstr. 11, 8001 Zürich, Telefon 044 415 33 66 UNSER DANK FÜR DAS ZUSTANDEKOMMEN DIESES PROGRAMMS GILT: Arkivi Qendror Shtetëror i Filmit, Tirana; Buka Production, Priština; Bunker Film Plus, Tirana; Centre Pompidou, Paris; La Cinémathèque française – Musée du cinéma, Paris; Ciné-Sud Promotion, Paris; DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum, Wiesbaden; Elsani Film GmbH, Köln; Gentinettafilm, Zürich; Golden Egg Production, Genf; I's Continuum, Tirana; Ivana Kvesic, Zürich; Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, Wiesbaden; Thaïs Odermatt, Luzern; Ouat Media, Toronto; Park Circus, Glasgow; Praesens Film, Zürich; SKA-NDAL Film Production, Tirana; Spot On Distribution, Zürich; SRF Schweizer Radio und Fernsehen, Zürich; TF1 Studio, Boulogne; Vega Film, Zürich; Wide Management, Paris; Xenix Filmdistribution, Zürich. DATABASE PUBLISHING BitBee Solutions GmbH, Zürich // KONZEPTIONELLE BERATUNG Esther Schmid, Zürich GESTALTUNG TBS, Zürich // KORREKTORAT Nina Haueter, Daniel Däuber // DRUCK Ropress, Zürich // AUFLAGE 5000 ABONNEMENTE Filmpodium-Generalabonnement : CHF 400.– (freier Eintritt zu allen Vorstellungen; inkl. Abo Programmheft) // Filmpodium-Halbtaxabonnement: CHF 80.– (halber Eintrittspreis bei allen Vorstellungen; inkl. Abo Programmheft) // Jahrhundert-Abo: CHF 50.– (für alle in Ausbildung; freier Eintritt zu den Filmen der Reihe «Das erste Jahrhundert des Films» // Programm-Pass: CHF 60.– (freier Eintritt zu allen Vorstellungen einer Programmperiode) // Abonnement Programmheft: CHF 20.– // Anmeldung an der Kinokasse, über www.filmpodium.ch oder Tel. 044 412 31 28

VORSCHAU Louise Brooks

King Vidor

Mit ihrem Bob wurde Louise Brooks (1906–

King Vidor (1894–1982) gehört zur Genera-

1985) zur Ikone der Roaring Twenties; als

tion der in den 1890er-Jahren geborenen

Schauspielerin war sie ihrer Zeit voraus. Hol-

Regisseure, die das Hollywoodkino von den

lywood setzte die ausgebildete Tänzerin ab

zwanziger bis in die fünfziger Jahre mass-

1925 vor allem in Komödien ein, aber Howard

geblich prägten. Schon zur Stummfilmzeit

Hawks machte sie 1928 in A Girl in Every Port

realisierte er legendäre Filme wie The

zum kühlen Vamp und William A. Wellman

Crowd; Filmgeschichte schrieben aber auch

entdeckte in Beggars of Life Brooks' Fähigkei-

Duel in the Sun, The Fountainhead und War

ten im ernsten Fach. Erst in Europa entstan-

and Peace. Vidor gilt als einer der grossen

den ihre legendärsten Filme: G. W. Pabst be-

amerikanischen Independents von Holly-

setzte sie als verführerische Lulu in Die

wood. Er wechselte zwischen mächtigen

Büchse der Pandora (1928) und als unter-

Studioaufträgen und kleinen, eigenen Pro-

drückten Freigeist in Tagebuch einer Verlore-

jekten und arbeitete mit grossen Stars wie

nen (1929); in Prix de beauté (1930) von Au-

Audrey Hepburn und Gary Cooper, galt aber

gusto Genina spielte Brooks ihre letzte

auch als Entdecker von vielversprechenden

Hauptrolle; mit 32 beendete sie ihre Karriere.

Jungtalenten.


als Auch -Abo henk G es c lich erhält

Die Streaming-Plattform für FilmliebhaberInnen The Bad Sleep Well (1960) von Akira Kurosawa

www.filmingo.ch


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