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Markus Imhoof
Markus Imhoof zum 80. Geburtstag
Markus Imhoof (*19.9.1941) war von Anfang an ein unbequemer Filmemacher. Sowohl in fiktionalen als auch in dokumentarischen Werken hielt er der Schweiz einen Spiegel vor, der nichts beschönigte. Zum 80. Geburtstag zeigt das Filmpodium eine Auswahl von Imhoofs Filmen.
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Markus Imhoof wurde in eine intellektuelle Winterthurer Familie geboren und durch die vorübergehende Aufnahme von Flüchtlingskindern in ihrem Hause schon bald mit der harten Wirklichkeit der weniger vom Schicksal verwöhnten Menschen konfrontiert. Diese prägenden Kindheitserfahrungen bewegten Imhoof dazu, nach seiner Assistenz bei Leopold Lindtberg am Schauspielhaus und seinem Abschluss der Kunstgewerbeschule das Filmhandwerk nicht nur als «l’art pour l’art» einzusetzen. «Sein zweiter Schulfilm (Rondo) bestätigte nicht nur seine formale Begabung, sondern auch einen aussergewöhnlichen Ernst, ein Engagement in unserer Zeit, einen kritischen jungen Menschen», wie Martin Schaub 1970 im «Tages-Anzeiger Magazin» schrieb. Immer wieder legte sich Imhoof mit heiligen Kühen der Vätergeneration an: mit dem Karrieredenken (Happy Birthday, 1968), mit dem Strafvollzug (Rondo, 1968; Fluchtgefahr, 1974), mit der Armee (Ormenis 199+69, 1969), mit dem Mythos der Schweiz als Hort für Flüchtlinge (Das Boot ist voll, 1981; Eldorado, 2018); er brachte die verschwiegenen Langzeitfolgen des Nazitums ebenso aufs Tapet (Die Reise, 1986) wie die zerstörerischen Auswirkungen der globalisierten Wirtschaft (More Than Honey, 2012). Er war kein «Nestbeschmutzer», wie man seinesgleichen schimpfte sondern ein «Whistleblower», wie das heute heisst, eine systemrelevante Berufsgattung; er selbst zählt sich zum «Sauerteig» des Lebens, nicht zur «Patisserie». Zwischen seinen aufklärerischen Filmen drehte Imhoof kleinere und intimere Dramen (Tauwetter, 1977; Der Berg, 1990; Flammen im Paradies, 1996), inszenierte am Theater und an der Oper. Sein grösster Impetus bleibt jedoch das soziale und politische Engagement. Den Ehrenpreis der Schweizer Filmakademie Anfang 2021 wollte er nicht als Ehrung für ein abgeschlossenes Gesamtwerk verstanden wissen: «Mit dem schwierigsten Projekt habe ich nämlich gerade begonnen: Es geht um drei Frauen in drei Jahrhunderten auf drei Kontinenten und die Frage, ob sie Schicksal, Zufall oder der freie Wille anleitet und miteinander verbindet.» Man darf also weiter gespannt sein.
Michel Bodmer
> Fluchtgefahr.
> Die Reise.
KURZFILMPROGRAMM:
HAPPY BIRTHDAY
Schweiz 1968
Just an seinem 16. Geburtstag fährt Röbi Keller den Wagen seines Vaters zu Schrott. Der Polizei erzählt er, wie es dazu kam.
Markus Imhoof schildert exemplarisch, wie 1967 die Jugend aus den von der Elterngeneration besungenen «goldenen Mittelwegen» ausschert, die in die Maschinerie des kapitalistischen Bürgertums führen.
RONDO
Schweiz 1968
In seinem Dokumentarfilm über die Strafanstalt Regensdorf konfrontiert Imhoof die gesetzlichen Grundlagen des Strafvollzugs und die hehren Worte des Anstaltspersonals über Erziehung und Wiedereingliederung samt kulturellen Angeboten mit Aussagen der Häftlinge, deren realer Zuchthausalltag ganz anders aussieht. Diese unerbittliche Entlarvung war dem Direktor der Strafanstalt so zuwider, dass er ein Aufführungsverbot für Rondo erwirkte. Erst 1975 konnte der Film mit einem vorgeschalteten mündlichen «Disclaimer», wonach das alles nicht mehr aktuell sei, gezeigt werden.
ORMENIS 199+69
Schweiz 1969
Die rückwärtsgewandte Romantisierung der Kavallerie steht im Gegensatz zu deren Realität: Für die Pferde ist der Einsatz im Kriegsdienst psychisch und körperlich sehr belastend, und wie in der Landwirtschaft wird auch beim Militär das Pferd zunehmend durch die Technik verdrängt.
Ormenis 199+69, benannt nach Markus Imhoofs eigenem Kavalleriepferd, wurde von den Kavallerieverbänden finanziell unterstützt, dann aber auf deren Vorstoss hin mit einem Aufführungsverbot belegt.
HAPPY BIRTHDAY
9 Min / sw / Digital HD / Dialekt // DREHBUCH, REGIE, SCHNITT Markus Imhoof // KAMERA Christine Raymann // MIT Lukas Strebel (Röbi Keller), Inigo Gallo (Polizist), Walter Imhoof (Physiklehrer), Kurt Früh (Stimme des Turnlehrers).
RONDO
42 Min / sw / Digital HD / Dialekt+D // DREHBUCH, REGIE, SCHNITT Markus Imhoof // KAMERA Lucius Lehnherr.
ORMENIS 199+69
SCHNITT Markus Imhoof // KAMERA Otmar Schmid, Clemens Klopfenstein // MUSIK Düde Dürst, Walti Anselmo.
FLUCHTGEFAHR
Schweiz 1974
Der 23-jährige Bruno landet wegen eines kleinen Vergehens im Gefängnis. Dort lernt er sich in der Hackordnung zu behaupten und nimmt sich seinen abgebrühten Zellengenossen Winarski zum Vorbild. Als Winarski türmen will, will Bruno mitgehen. Draussen winkt ihm allerdings höchstens eine kriminelle Laufbahn.
Mit Undercover-Recherchen als Gefängniswärter hat Imhoof diesen Spielfilmerstling vorbereitet, der sowohl bezüglich der Milieubeobachtung und der Figurenzeichnung als auch in der Dialoggestaltung einen quasidokumentarischen Hyperrealismus beweist, wie er im Schweizer Kino damals neu war. (mb)
101 Min / Farbe / DCP / Dialekt/d // DREHBUCH UND REGIE Markus Imhoof // KAMERA Eduard Winiger, Hans Liechti // MUSIK Bruno Spoerri // SCHNITT Marianne Jäggi // MIT Wolfram Berger (Bruno Kuhn), Matthias Habich (Winarski), Maja Stolle (Edith Schläpfer), Sigfrit Steiner (Hausbursche Stotz), Roger Jendly (der Welsche), Heinz Menzel (Wachtmeister Wegmann), Alfred Lohner (Untersuchungsrichter), Hans Gaugler (Trottel).
DAS BOOT IST VOLL
Schweiz/BRD/Österreich 1981
Aufgrund des gleichnamigen Buchs von Alfred A. Häsler und eines Berichts über eine zusammengewürfelte Gruppe Flüchtlinge, die sich als Familie ausgab, weil sie hoffte, als solche aufgenommen zu werden, schildert Das Boot ist voll ungeschönt, wie die Schweiz mit denen umging, die es aus Nazi-Deutschland über die Grenze schafften. Die Flüchtlinge ‹retten sich ins Verderben› (Friedrich Dürrenmatt); Imhoof verleiht seinem Film jenen pechschwarzen Schluss, den sein Mentor Lindtberg für Die letzte Chance wegen der Zensur 1945 nicht drehen konnte. In Eldorado (2018) zeigt er: Die Schweiz hat kaum dazugelernt.» (Michel Bodmer, filmo.ch, 2018)
Silberner Bär Berlin 1981, Filmpreis der Stadt Zürich 1981, Oscarnomination 1982
100 Min / Farbe / DCP / Dialekt+D/f // REGIE Markus Imhoof // DREHBUCH Markus Imhoof, nach dem Buch von Alfred A.
Häsler // KAMERA Hans Liechti // SCHNITT Helena Gerber, Fee Liechti // MIT Tina Engel (Judith Krüger), Curt Bois (Lazar Ostrowskij), Hans Diehl (Hannes Krüger), Martin Walz (Olaf Landau), Gerd David (Karl Schneider), Ilse Bahrs (Frau Ostrowskij), Mathias Gnädinger (Franz Flückiger), Renate Steiger (Anna Flückiger), Michael Gempart (Bigler).
DIE REISE
BRD/Schweiz 1986
«Nach Motiven aus dem gleichnamigen Buch von Bernward Vesper, Sohn des NS-Dichters Will Vesper und Freund Gudrun Ensslins, die später mit Andreas Baader zusammentraf und in den Untergrund ging. Bertram Voss und Dagmar Wegener heisst das Paar im Film, der auf mehreren Zeitebenen erzählt ist (…). Am Anfang steht Dagmars Schwangerschaft; sechs Jahre später entführt Bertram seinen Sohn aus dem Lager einer Guerilla-Truppe in Italien und reist mit ihm zurück nach Deutschland. Rückblenden schildern seine eigene, autoritär geprägte Kindheit und seinen Weg in die gemässigte Rebellion. Die Ereignisse rund um Studentenrevolte und RAF werden schlaglichtartig angedeutet, und der Konflikt mit den Eltern der NS-Generation, ähnlich wie in Trottas Die bleierne Zeit, als wesentliche Triebfeder betont.» (filmportal.de)
110 Min / Farbe / DCP / D // REGIE Markus Imhoof // DREHBUCH Markus Imhoof, Martin Wiebel, nach dem Roman von Bernward Vesper // KAMERA Hans Liechti // MUSIK Franco Ambrosetti // SCHNITT Ursula West // MIT Markus Boysen (Bertram Voss), Corinna Kirchhoff (Dagmar Wegener), Will Quadflieg (Vater Jost Voss), Christa Berndl (Mutter Voss), Alexander Mehner (Florian), Claude-Oliver Rudolph (Rolf Schröder), Gero Prenn (Bertram als Kind).
ELDORADO
Schweiz/Deutschland 2018
Aufgrund seiner Erinnerungen an das italienische Flüchtlingsmädchen, das seine Eltern 1945 aufpäppelten, erkundet Imhoof zeitlose Fragen der Solidarität und der Menschlichkeit. Die heutigen Migrationsströme in Richtung Europa sind eine Folge des vom Westen verursachten Wohlstandsgefälles, aber die vollen Boote auf dem Mittelmeer werden möglichst nicht an Land gelassen. Migranten, die dennoch ankommen, werden zumeist diskriminiert, vernachlässigt und/oder ausgebeutet. Und die Produkte ihrer Fronarbeit werden gewinnbringend in ihre Heimat exportiert. (mb)
Zürcher Filmpreis 2018, Schweizer Filmpreis 2019
92 Min / Farbe / DCP / OV/d // DREHBUCH UND REGIE Markus Imhoof // KAMERA Peter Indergand // MUSIK Peter Scherer // SCHNITT Beatrice Babin, Thomas Bachmann.