Filmpodium 6. 10. - 15.11.2014 / Programme issue october 6 - november 15, 2014

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6. Oktober –15. November 2014

Alexander Sokurow Human Rights Watch @ Filmpodium


AB 23. OKTOBER IM KINO

Levan Koguashvili, Georgien

«Ein langsam glimmendes Entzücken mit einem gefühlvollen Nachleuchten.» Variet y

www.trigon-film.org Die Film-Homepage, die Cinéphile gerne besuchen – im Oktober mit besonders attraktiven Angeboten.


01 Editorial

Danke für den schönen Sommer Stimmt, in meteorologischer Hinsicht war der Sommer ein Reinfall. Des Strandbads Leid ist jedoch des Kinos Freud, und das Filmpodium tat gut daran, dieses Jahr auf eine Spielpause zu verzichten. Unser Sommerprogramm verzeichnete bis Anfang September im Schnitt 44 Eintritte pro Vorstellung. Das lässt sich sehen, erst recht, wenn man bedenkt, dass die Schweizer Kinobesucherzahlen im ersten Halbjahr 2014 gegenüber dem schlechten Vorjahr nochmals zurückgegangen sind. Der Grund ist nicht eindeutig. Fehlten die Blockbuster? Verschwinden die Jungen ins Internet? Wie dem auch sei, erlebt die Zürcher Kinolandschaft derzeit einen kuriosen Umbruch. Während die Besucherzahlen stagnieren oder schwinden, entstehen laufend neue Säle. Das Multiplex Arena wird zum Megaplex ausgebaut; im Arthouse-Bereich entstand das Miniplex Houdini mit seinen fast schon wohnzimmerhaften Vorführräumen. Samir und Bruno Deckert planen einen Kulturpalast, der dem Publikum gestattet, sich spontan zwischen Essen, Büchern, Konzert und Kino zu entscheiden. Edi Stöckli hat das Stüssihof vom Pornokino zum familientauglichen Duplex umgebaut, in dem Schweizer Filme einen Stammplatz haben sollen, dessen Säle aber auch gemietet werden können. Auch andere Kinos bieten an, künftig Wunschfilme zu zeigen, die von Zuschauergruppen nominiert werden können. Ungeachtet dieser Umwälzungen bleibt sich das Filmpodium treu und bietet weiterhin ein kuratiertes Programm, das vom Markt unabhängig ist. Unser Stammpublikum weiss dies zu schätzen. Freilich findet nicht alles gleich viel Anklang und mitunter gibt es Überraschungen. So hatten die japanischen Filmklassiker im Frühjahr mehr Publikum als die San-Francisco-Reihe. Weniger erstaunlich ist, dass die Pre-Code-Filme dieses Sommers den meisten Inselfilmen den Rang abgelaufen haben; Frische und Frechheit dieser rund 80-jährigen Werke aus der Zeit, bevor Hollywoods Zensoren die Schraube anzogen, suchen heute ihresgleichen. Der Herbst nun wird etwas seriöser: Alexander Sokurow lotet die Tiefen der menschlichen Existenz aus, und die Filme, die wir in Zusammenarbeit mit Human Rights Watch zeigen, werden ebenfalls zu denken geben. Wir sind aber zuversichtlich, dass Sie sich auch für die Auseinandersetzung mit diesen ernsteren Werken begeistern lassen.

Titelbild: Vater und Sohn von Alexander Sokurow

Michel Bodmer


02 INHALT

Alexander Sokurow

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Spätestens mit Russian Ark, seinem technisch bahnbrechenden Panorama von 300 Jahren russischer Geschichte in einer einzigen 99-minütigen Einstellung, gedreht im Winterpalais der St. Petersburger Eremitage, ist Alexander Sokurow im Jahr 2002 ins Bewusstsein des cinéphilen Publikums getreten. Dass er in seinen rund 50 höchst eigenwilligen Dokumentar- und Spielfilmen auch anderes zu bieten hat als opulente Geschichtslektionen, wird unser langjähriger Referent Fred van der Kooij in seiner neuen Vorlesungsreihe aufzeigen. Diese wird bereichert mit einem Dutzend bekannter und weniger bekannter Titel des russischen Regie-Aussenseiters. Dazu zählt auch die Premiere von Faust, der 2011 in Venedig den Goldenen Löwen gewann. Bild: Russian Ark

Human Rights Watch @ Filmpodium

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Wenn irgendwo auf der Welt Menschenrechte verletzt werden, häufig im Namen eines Regimes, sind Nichtregierungsorganisationen oft als einzige Instanzen bereit, solche Missstände aufzudecken. Um die Öffentlichkeit zu sensibilisieren, veranstaltet Human Rights Watch eigene Festivals mit Spiel- und Dokumentarfilmen zum Thema, die mit Podiumsdiskussionen ergänzt werden. In Zusammenarbeit mit dem Filmpodium zeigt HRW vier Filme – darunter The Unknown Known, Errol Morris’ sarkastisches Porträt des wortverdrehenden Ex-USVerteidigungsministers Donald Rumsfeld – sowie ein Programm von Kurzfilmen des Abounaddara-Kollektivs, das sich mitten im syrischen Bürgerkrieg mit Hilfe eines «emergency cinema» Ausdruck verschaffen will. Bild: Before Snowfall


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Das erste Jh. des Films: 1984

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Zwei Roadmovies (Paris, Texas und Stranger Than Paradise), eine höchst erfolgreiche fiktive Filmbiografie (Amadeus), eine Fantasy-Komödie (Ghostbusters), ein Kultfilm der Kunstszene (Mein Freund Iwan Lapschin) und eine Liebeserklärung an die Oper (Il bacio di Tosca): ein Jahr voller filmischer Höhepunkte. Bild: Amadeus

Reedition: Once Upon a Time in America

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Als das Filmpodium im Frühjahr eine Retrospektive zum 25. Todestag von Sergio Leone zeigte, fehlte sein Opus magnum: Once Upon a Time in America, ein ausuferndes Fresko über Machtgier, Freundschaft und Verblendung in den Kreisen der jüdischen Mafia von New York, war lange nur in einer verstümmelten Fassung zu ­sehen. Nun kann es in restaurierter Form wiederentdeckt werden.

Premiere: A Simple Life

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Die Grande Dame des Hongkonger Kinos, Ann Hui, erzählt nicht mehr, aber auch nicht weniger, als was der Titel des Films verspricht: von einem einfachen Leben. Ein leiser Film, der mit seiner erfrischend nüchternen und humorvollen Art überzeugt.

Filmpodium für Kinder: The Piano Forest

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Ein berührender Anime über zwei Jungs aus verschiedenen Welten, die durch ihre Leidenschaft für die Musik zu Freunden fürs Leben werden. Bild: The Piano Forest

Einzelvorstellungen Buchvernissage: Desert Fury 29 Stummfilmprogramm: Segundo de Chomón 34 Vorpremiere: Memories on Stone 35 Sélection Lumière: Der Mann mit der Kamera 36



05 Alexander Sokurow

Vom Nachglühen der Leinwände Alexander Sokurow, 1951 in Ostsibirien geboren, erlernte das Film­ handwerk beim Fernsehen und an der Moskauer Filmhochschule WGIK, die er nicht zuletzt dank der Fürsprache von Andrej Tarkowskij abschliessen konnte. Sokurows fast fünfzig Filme zählendes Werk ist nach seinem eigenen Bekunden weniger von anderen Filmschaffenden als von der Malerei und der Musik geprägt, was auch mit langen Spital­ aufenthalten in seiner Kindheit zusammenhängt. Unser Filmdozent Fred van der Kooij hat aus dem Gesamtwerk eine persönliche Auswahl getroffen. Wie setzt sich Qualität in einer Kultur wie der unseren durch? Die Antwort ist einfach: oft ausserordentlich mühsam. Das kann Jahrzehnte, ja mitunter Jahrhunderte dauern, und selbst dann ist nicht unbedingt klar, ob das wirklich Bedeutende tatsächlich erkannt worden ist. Der Gemeinplatz, wonach sich Qualität am Ende sowieso durchsetze, unterschlägt die Frage, wie diese Auswahl überhaupt zustande kommt. Denn eines Tages scheinen sie einfach da zu sein, die Meisterwerke – fremdbestimmt von irgendeiner dunklen Instanz und hereingeschmuggelt durch die Hintertür. Warum ich das alles hier erzähle? Weil mit Alexander Sokurow, dem «Star» meiner diesjährigen Herbstvorlesungen, wohl ganz Ähnliches geschehen wird. Seine knapp fünfzig Filme sind beileibe nicht alle Meisterwerke, doch mehrere würde ich eindeutig als solche bezeichnen. Wie aber soll man dies als Zuschauer herausfinden? Sich durch alle 49 Werke hindurchkämpfen, um am Ende jene zehn, die zu sehen sich (mehr als) lohnt, im Herzen und ­Gedächtnis aufzubewahren? Die Mühe kann ich Ihnen abnehmen, weil ich mich – mal fluchend, mal vor Begeisterung aufjauchzend – bereits durch ­Sokurows Gesamtwerk gearbeitet habe. Das Resultat sind zwölf handverlesene Filme und wie immer fünf Vorlesungen, in denen diesmal nicht nur filmische Qualitäten im Mittelpunkt stehen werden, sondern auch die Kriterien, mit denen sie eruiert wurden. Streng genommen gibt es nur ein einziges Qualitätskriterium in der Kunst: Ausnahmslos das, was unsere Augen und Ohren schärft, wird unsere erste, noch skeptische Neugierde dauerhaft überleben. Doch zurück zu Alexander Sokurow. Wer ist er überhaupt? Bekannt wurde er einem breiteren Publikum mit seinem Film Russkij kowtscheg (2002). Und weil wir nun mal eine kulturelle Kolonie sind, lief er in unseren < >

Bravouröse Kamerafahrt durch die russische Geschichte in Russian Ark Faust, Sokurows vierte Parabel über Macht und das Böse


06 Kinos konsequenterweise unter seinem englischen Titel Russian Ark und erntete begeisterte Kritiken. Im Werk des russischen Cineasten ist dieser Film allerdings eher ein Sonderfall, bestaunt als virtuoser Kraftakt einer einzigen, 99 Minuten dauernden Einstellung. Sie führt zeitlich quer durch verschiedene Epochen und zugleich räumlich durch die St. Petersburger Eremitage. Delikate Gebilde von höchster Intensität Fast alle anderen Filme Sokurows sind aber, obwohl technisch oft genauso einfallsreich, deutlich weniger auf Spektakel ausgelegt. Ganz im Gegenteil, es sind sehr private Erlebnisberichte, des Öfteren höchst delikate Gebilde, die uns eine Bilder- und Klangwelt eröffnen, welche wir sonst nur aus unseren Träumen kennen – gleichermassen rätselhaft wie emotional aufgeladen und irgendwo zwischen Bericht und malerischen Tableaux vivants herumtreibend. Verschlüsselt und zugleich von höchster Intensität. Eine filmische Welt, die ihre Herkunft aus den bildmächtigen Epen Andrej Tarkowskijs zwar nie verleugnet, aber mittlerweile einen durchaus unverwechselbaren Stil aufweist. Wie aber soll man sich solch merkwürdigen Gebilden nähern? Ich glaube, wir sollten zunächst auf Fragen nach dem Was und Warum verzichten und uns ganz auf das Wie konzentrieren. Zu bedenken ist zudem, dass jede Erklärung sprachlicher Natur ist. Es ist schon fast ein Glücksfall, wenn man einmal einen fremdsprachigen Film ohne Untertitel vorgesetzt bekommt. Mir passierte das vor einigen Jahren mit Sokurows Elegie einer Reise (Elegia dorogi, 2001). Der ganze Film steckt voller ebenso geheimnisträchtiger wie hypnotisierender Bilder. Stürme, Schnee­ gestöber, Ströme von Regen scheinen jederzeit ganze Städte von der Leinwand wegschwemmen zu wollen. Dieses Endzeitwunder wird vom relativ monotonen Erklärungsgemurmel des Regisseurs begleitet, von dem ich damals aber natürlich kein Wort verstand. Vor Kurzem fiel mir jedoch eine ordentlich untertitelte Kopie in die Hände, und verblüfft bemerkte ich: Der Regisseur tapst durch seinen eigenen Film und wirkt dabei so verwirrt und erstaunt wie der naivste Zuschauer! «Da fand ich mich selbst an einem vollkommen anderen Ort wieder!», wundert er sich etwa. «Alte Mauern rundherum. Ein Leuchtturm. Ist es eine Insel?» Nein, nein, Herr Sokurow, Sie stehen im nächtlichen Rotterdam direkt vor dem Museum Boijmans Van Beuningen, das Ihnen den Auftrag für diesen Film gab! Und schon rutschen wir ins Finale dieses erstaunlichen Werks, in einen nächtlichen Museumsbesuch bei Vollmondbeleuchtung. Ich muss künftige Zuschauer schon jetzt warnen: Sie werden sich danach in einer ordentlich beleuchteten Ausstellung kaum mehr zurechtfinden. Das wenige Licht, das auf die Werke fällt, spielt dem Regisseur natürlich umgehend wieder einen Streich, als er eines der Gemälde als sein eigenes zu erkennen glaubt: «Ein Platz in einer alten Stadt. Die Ruhe des Sommers. Ein unendliches Leben. – Hab ich dieses Bild nicht selbst gemalt?» Da muss erneut korrigierend


07 ALEXANDER SOKUROW GESEHEN VON FRED VAN DER KOOIJ

VORLESUNGSREIHE AB MI, 15. OKT. | 18.30 UHR

Bereits zum achten Mal wird uns der holländisch-zürcherische Filmdozent Fred van der Kooij an seinem Blick auf einen ausgewählten Aspekt der Filmgeschichte teilhaben lassen. Diesmal richtet er ihn auf den russischen Filmautor Alexander Sokurow. Zu Sowjetzeiten oft weggesperrt (woran nicht einmal Sokurows Mentor Andrej Tarkowskij etwas ändern konnte), ist sein Dokumentar- und Spielfilme umfassendes Werk inzwischen auf rund fünf­ zig Titel angewachsen, aus denen Fred van der Kooij eine persönliche Auswahl von einem Dutzend Filmen getroffen hat. Ergänzend zeigen wir als Premiere Sokurows Faust-Ver­ sion, für die er 2011 in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde. Auf die 90-minütige Vorlesung folgt nach einer Verpflegungspause, wie stets, ein Film­ programm mit speziellem Bezug zum vorher Erläuterten. Tickets für Vorlesung und Film sind separat erhältlich.

eingegriffen werden: Es stammt vom alten Pieter S­ aenredam. Woran man sehen kann, wie das Dogma des Dokumentarfilms, jenes der absolut vertrauenswürdigen Information, von Sokurow leichthin über Bord geworfen wird. Wie muss es dann erst in seinen Spielfilmen zu- und hergehen? Zum Beispiel so: Sie gehören vielleicht zu jenen, die Dostojewskis «Verbrechen und Strafe» seit Langem nicht mehr gelesen haben. Dann versuchen Sie sich doch mal so genau wie möglich daran zu erinnern, und wenn Sie anschliessend Sokurows Verborgene Seiten (Tichije stranizy, 1993) anschauen, werden Sie feststellen: Genau wie dieser Film funktioniert auch Ihr Gedächtnis. Einzelne Szenen tauchen darin auf, aber natürlich sehr fragmentarisch. Geschehnisse erscheinen, aber ohne grosse logische Verankerung. Und das meiste treibt sowieso verführerisch im Vagen. Doch was die intensive Atmosphäre angeht, glaubt man, das Buch gerade erst aus der Hand gelegt zu haben, und dies allein schon wegen der Art, wie bereits in der ersten Einstellung der Raum geformt wird! Bei Sokurow bleibt im Gegensatz zur aktuellen Mode des 3D-Kinos die Leinwand immer als Fläche spürbar. Wenn seine Kamera in langsamer Bewegung die Orte des Geschehens abtastet, entsteht eine ganz eigenartige Spannung. Eine merkwürdig flächige Tiefe tut sich auf, sodass sich der Zuschauer zugleich an- und abwesend fühlt. Und dies angesichts von Ereignissen, die erst noch den Anschein machen, als wären alte Sepiazeichnungen zum Leben erweckt worden. Was den Bildern dabei mutwillig an Präsenz genommen wird, wird umgehend auf ungewöhnliche Weise kompensiert: Es ist, als hauche das Projektionslicht die Leinwand sanft an, welche darob in leichte Schwingung gerät. So als flüstere der Film, frei nach Goethe, seinen Zuschauern zu: «Warte nur, balde atmest du auch.» Fred van der Kooij


> Tage der Finsternis .

> Die einsame Stimme des Menschen.

> Gramvolle Gef端hllosigkeit.

> Verborgene Seiten.


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Alexander Sokurow.

DIE EINSAME STIMME DES MENSCHEN (Odinokij golos tscheloweka) UdSSR 1987

Bereits 1978 gedreht, wurde Die einsame Stimme des Menschen – nach Motiven des verfemten sow­ jetischen Schriftstellers Andrej Platonow – als Di­ plomarbeit abgelehnt und von der Zensur verbo­ ten. Als Fürsprecher der ersten Stunde zeichnete sich Andrej Tarkowskij aus. Sokurow selber sagte dazu: «Als der Film fertig war, gab es nur einen Menschen, der ihn konsequent und offen vertei­ digt hatte, ihn sogar höher einschätzte, als meine Arbeit es verdiente. Das war Tarkowskij. (…) Und trotz aller Anstrengungen konnte er für die Ret­ tung des Films nichts tun. (…) Ich weiss nicht, ob meine Kräfte ausgereicht hätten für die unzähli­ gen Versteckspiele mit Filmbüchsen während dieser langen Zeit, wenn ich nicht den Schatten dieses Vertrauens im Rücken verspürt hätte.» (Katalog Int. Forum des Jungen Films, Berlin 1989). Erst 1987 wurde der Film freigegeben. «Der Film spielt in den zwanziger Jahren, ei­ ner Epoche, in der das Volk in der Sowjetunion un­ ter enormen physischen und psychischen Opfern vom Bürgerkrieg in ein friedliches Leben zurück­ zufinden sucht. Die Geschichte von zwei jungen Menschen, Nikita und Ljubow, dient dazu, sich der inneren Welt des Menschen zu nähern. Die einsame Stimme des Menschen ist keine traditionelle Verfilmung einer Erzählung; der Regisseur ver­ sucht vielmehr, den Stil von Platonows Prosa zu vermitteln.» (Katalog Filmfestival Locarno, 1987) 88 Min / Farbe / 35 mm / Russ/d // REGIE Alexander Sokurow // DREHBUCH Juri Arabow, nach zwei Erzählungen von ­Andrej Platonow // KAMERA Sergej Jurisdizki // MUSIK A. Burdow, Otmar Nussio, Krzysztof Penderecki // SCHNITT Leda Semjonowa // MIT Tatjana Gerjatschewa (Ljubow), Andrej Gradow (Nikita), Wladimir Degtiarew, Wladimir ­ ­Gladyschew, Nikolai Kotschegarow, Iwan Neganow, Sergej Shukailo, Jewgenia Wolkowa, Ljudmila Jakowlewa, Wiktoria Jurisdizkaja, Irina Zhurawliowa.

GRAMVOLLE GEFÜHLLOSIGKEIT (Skorbnoje bestschuwstwije) UdSSR 1987

geradezu dekadenter Lust, mit einer Mischung aus Sadismus und Masochismus egozentrischen Problemen und Fantasien widmet. Solange, bis dann eine Bombe ihre ‹Arche Noah› zerstört.» (Katalog Int. Filmfestspiele Berlin, 1987) 96 Min / Farbe / 35 mm / Russ/d // REGIE Alexander Sokurow // DREHBUCH Juri Arabow, nach Motiven aus dem Theater­ stück «Heartbreak House» von George Bernard Shaw // ­KAMERA Sergej Jurisdizki // SCHNITT Leda Semjonowa // MIT Ramas Tschikwadse (Shotover), Alla Osipenko (Adriana), Tatjana Jegorewa (Hesione), Dimitri Briantschew (Hector), Wladimir Samanski (Mazzini), Wiktoria Amitowa (Ellie), Irina Sokolowa (Guinness).

TAGE DER FINSTERNIS (Dni Satmenija) UdSSR 1988

Tage der Finsternis, Alexander Sokurows dritter langer Spielfilm, erzählt die Geschichte des jun­ gen Arztes Dmitri Maljanow, der nach seinem ­Medizinstudium in einem Dorf als Kinderarzt ar­ beitet und gleichzeitig an einer Forschungsarbeit schreibt. Der Handlungsort wirkt dabei «wie ein hermetischer Raum mit eigenen Gesetzen, den man etwas euphemistisch Planet Sokurow taufen könnte. Denn der Regisseur kreiert sein Filmsetting als einen eigenen, facettenreichen Miniaturkos­ mos, ein verzweigtes Mosaik aus soziokulturellen Räumen, Symbolen und Strukturen, welches sich aus grösstenteils semidokumentarisch wirken­ den Aufnahmen zusammensetzt: Mal hebt die Ka­ mera die vom Wahn gezeichneten Gesichter der Patienten einer Nervenheilanstalt hervor, nur um im nächsten Moment das Innere einer orthodoxen Kirche zu besichtigen. (…) Wie die Bilder zeichnet sich auch der Klangraum durch eine heterogene Vielfalt aus. Stets sind verschiedene Sprachfet­ zen zu vernehmen (…). Klassische Musik wechselt sich mit Folkloreliedern ab. Sämtliche dieser ­Motive, auf der Bild- als auch auf der Tonebene, scheinen gleichberechtigt nebeneinander zu existieren und trotz ihrer Unterschiedlichkeit ein homogenes Kontinuum zu bilden.» (Michael Brodski, Negativ, 30.4.2012) 137 Min / Farbe / 35 mm / Russ/d // REGIE Alexander ­Sokurow // DREHBUCH Juri Arabow, Arkadi Strugazki, Boris S ­ trugazki,

Eine «Fantasie nach Motiven von George Bernard Shaws Theaterstück ‹Heartbreak House›: In der Zeit des 1. Weltkriegs, an den in Dokumentarauf­ nahmen erinnert wird, hat sich in der wie eine groteske Arche Noah anmutenden Villa des skur­ rilen, greisen Kapitäns Shotover eine Gesell­ schaft versammelt, die das Weltgeschehen völlig ignoriert und sich ausschliesslich, teilweise mit

Piotr Kadochnikow, nach einer Erzählung von Arkadi und ­Boris Strugazki // KAMERA Sergej Jurisdizki // MUSIK Juri Tschanin // SCHNITT Leda Semjonowa // MIT Alexej ­Ananischnow (Dmitri Maljanow), Iskander Umarow (Alexan­ der Wetscherowski), Irina Sokolowa (Maljanows Schwester), Wladimir Samanski (Snegowoj), Kirill Dudkin (Gluchow), Wiktor Belowolski (Gubar), Alexej Jankowski (Snegowojs ­ ­Vater), Sergej Krilow (kleiner Junge).


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Alexander Sokurow.

DER ZWEITE KREIS (Krug wtoroj) UdSSR 1990 «Ein junger Mann verbringt eine Nacht am Leich­ nam seines Vaters, eines ehemaligen Lagerkom­ mandanten, der in Armut und Einsamkeit starb. Er will ihn bestatten, kennt aber die Rituale des Todes nicht, muss sie erlernen und begreift nur, dass sie einmal Bedeutung hatten. Auch die An­ gestellte des Bestattungsunternehmens, seine einzige Gesprächspartnerin, kann ihm nur die notwendigsten Handgriffe beibringen, was auf makabre Weise deren Absurdität betont. Alexander Sokurow erklärte vor einigen Jah­ ren, dass er die Aufgabe der Kunst darin sähe, den Menschen auf schwierige Lebensumstände vor­ zubereiten. Mit Der zweite Kreis fand er einen Stoff, der ihm dies ermöglichte. Doch es geht dem Regisseur nicht nur um den Tod, sondern darüber hinaus um den Zustand der Gesellschaft. Er meint, die letzte Stufe der Degenerierung sei er­ reicht, wenn der Tod nichts mehr bedeutet. ‹Erst wenn wir uns seiner bewusst bleiben, erhält das Leben, die Entwicklung, die Menschlichkeit ihren Sinn. Sonst droht die Grenze zwischen Leben und Tod zu verschwinden.›» (Katalog Int. Forum des Jungen Films, Berlin 1991) 94 Min / Farbe / 35 mm / Russ/d // REGIE Alexander Sokurow // DREHBUCH Juri Arabow // KAMERA Alexander Burow // ­MUSIK Otmar Nussio // SCHNITT Raissa Lissowa // MIT Pjotr

«Vor allem ist da die aussergewöhnliche Fotogra­ fie, eine Palette von staubigen Grautönen, die an Fotos aus dem 19. Jahrhundert erinnert. (...) ­Sokurows Kamera bewegt sich sehnsüchtig, wie wenn sie jedes Gebäude, jede Statue, jede Person auf ihrem Weg streichelte.» (Caryn James, The New York Times, 28.9.1994) 77 Min / Farbe + sw / 35 mm / Russ/d // REGIE Alexander ­Sokurow // DREHBUCH Alexander Sokurow, nach Motiven russischer Prosa des 19. Jahrhunderts // KAMERA Alexan­ der Burow // MUSIK Gustav Mahler («Kindertotenlieder»), Otmar Nussio // SCHNITT Leda Semjonowa // MIT Alexander Tscherednik (Held), Jelisaweta Korolewa (Mädchen), Sergej Barkowski (Beamter), G. Nikulina.

ORIENTALISCHE ELEGIE (Wostotschnaja elegia) Russland 1996

«Orientalische Elegie zeigt Sokurows meditative Reise in ein kleines japanisches Inseldorf, wo durch den Nebel Landschaft, Häuser, Gegen­ stände und Menschen wie in einem Traum un­ scharf scheinen. Seine einfühlsamen und zurück­ haltenden Begegnungen mit einsamen älteren Menschen, die das Ende ihres Lebens vor Auge haben, werden ergänzt mit der inneren Reise des Regisseurs, in der aurale Affinitäten Erinnerun­ gen an sein eigenes Land, Russland, wecken.» (Harvard Film Archive, 2002)

Alexandrow (Sohn), Nadeshda Rodnowa (Angestellte des Beer­ digungsinstituts), Tamara Timofejewa, Alexander Bistriakow.

45 Min / Farbe / Digital SD / Russ/e // REGIE Alexander Sokurow.

VERBORGENE SEITEN (Tichije stranizy)

EIN LEBEN IN DEMUT (Smirennaja zhisn)

Russland/Deutschland 1993

Russland/Japan 1997

«Langsame, meditative Kamerafahrten bringen Hafenviertel, Gewölbe, ärmliche Wohnungen, eine Amtsstube und auch eine kurze Strassen­ szene mit plötzlich ausbrechender Gewalt, ­lärmende Menschengruppen, vor allem aber ver­ einzelte, stumm in sich gekehrte Menschen – Kleinbürger, Amtsschreiber, Bettler, Prostitu­ ierte und Mörder – ins Bild: Aus Motivzitaten russischer Prosa des 19. Jahrhunderts (...) ent­ steht eine assoziative Bilderwelt, die aus einer in­ neren Dramaturgie und Evokationskraft lebt. Der bewusst dunkle Farbduktus des Films, der an Pi­ ranesi und Rembrandt erinnert, und seine durch­ dachte Tonregie führen zu einer Meditation über die für die russische Prosa des 19. Jahrhunderts, aber sicher auch für die Gegenwart zentrale Frage nach den ‹Erniedrigten und Beleidigten›, nach Schuld und Sühne, nach Gott und dem reli­ giösen Sinn der menschlichen Existenz.» (Kata­ log Int. Filmfestspiele Berlin, 1994)

«Porträt einer alten japanischen Bergbewohne­ rin, die zurückgezogen und bescheiden in ihrem Haus lebt, für ihren Lebensunterhalt Kimonos herstellt und gelegentlich Pilger bei sich auf­ nimmt. Die Atmosphäre ist von Meditation und Andacht geprägt. Eines Tages trägt die Frau dem Regisseur eigene Gedichte vor und offenbart ihr Inneres. Der spielfilmartig wirkende Dokumen­ tarfilm erinnert an russische Malerei oder japani­ sche Grafiken und vermittelt in schwebenden Ka­ merafahrten die Langsamkeit, die Ewigkeit in der ­Gegenwart erahnen lässt. Ein betörend schöner Film im stilvollen Wechsel von Farb- und Schwarzweiss-Aufnahmen, der sich zur Hom­ mage auf das Leben und seine traditionellen Werte verdichtet.» (Lexikon des int. Films) 76 Min / Farbe / Digital SD / Russ/e // DREHBUCH UND REGIE Alexander Sokurow // KAMERA Alexej Fiodorow // SCHNITT Leda Semjonowa.


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Alexander Sokurow.

TAURUS (Telez) Russland 2001 «Wladimir Iljitsch Uljanow, besser bekannt als Lenin, wird im zweiten Teil von Alexander Soku­ rows Tetralogie über die Macht und das Böse (ne­ ben Die Sonne und Faust auch Moloch über Hitler, der hier leider nicht gezeigt werden kann; Anm. d. Red.) von einer selten beachteten Seite beleuch­ tet. Im Fokus steht nicht sein Wirken als histori­ sche Persönlichkeit, als begnadeter politischer Anführer und Theoretiker, vielmehr wird von sei­ nen letzten Tagen erzählt, an denen der Revoluti­ onär von Alter und Krankheit gezeichnet auf ei­ nem Landsitz unweit von Moskau über sein Leben reflektiert. Lenin liegt nach einem Schlaganfall im Bett oder sitzt im Rollstuhl, er stöhnt vor Schmerzen und freut sich, wenn sein geschunde­ ner Körper gebadet wird. (…) Sokurow hat wieder­ holt betont, dass er diesen Film nicht als politi­ sches Statement verstanden wissen will. Taurus demontiert Lenin nicht, eher ist es ein neutrales Porträt eines alten Mannes, der im Angesicht des Todes wie jeder andere Mensch auch ist, etwa wenn er sich mürrisch mit menschlichem Schei­ tern sowie persönlichen Enttäuschungen ausein­ andersetzt. (…) Um Lenins Zustand zu verdeutli­ chen, wurden durch spezielle Plastikfilter eine Trübung und eine gewisse Unschärfe erzielt, die dem Film ein ganz besonderes Flair geben.» (Pro­ gramm Filmfestival Let’s CEE, Wien 2013)

gen, den geisterhaften Tumult, wenn am Morgen der Verkehr losbricht –, wohin auch immer er seine Kamera richtet.» (Nick ­Rutigliano, The Vil­ lage Voice, 3.12.2002) 48 Min / Farbe / Digital SD / Russ/e // REGIE Alexander Sokurow.

RUSSIAN ARK (Russkij kowtscheg) Deutschland/Russland 2002 «Ein Gang durch die 35 Säle der St. Petersburger Eremitage, bei dem die fantastische Kunstsamm­ lung vorgestellt und 300 Jahre russischer Ge­ schichte lebendig werden. Opulenter Bilderbo­ gen, der die Erinnerung an eine grosse Vergangenheit mit der Hoffnung auf die Zukunft verknüpft. Eigentlicher Star des Films ist eine 90-minütige Steadycam-Aufnahme, die ohne ei­ nen einzigen Zwischenschnitt eine Vergegenwär­ tigung von Kunst und Historie ermöglicht.» (Lexi­ kon des int. Films) «Der Film ist eine grossartige Erfahrung, nicht zuletzt, weil wir im Wissen um die Technik und da­ rum, wie viel von jedem Moment abhängt, fast den Atem anhalten. Wie tragisch, wenn ein Schau­ spieler seinen Einsatz verpatzt hätte oder Kame­ ramann Tilmann Büttner fünf Minuten vor dem Schluss gestolpert wäre! (…) Wenn Film manch­ mal traumartig ist, dann ist jeder Schnitt ein Er­ wachen. Russian Ark spinnt einen Tagtraum, der aus Jahrhunderten gemacht ist.» (Roger Ebert, Chicago Sun-Times, 31.1.2003)

104 Min / Farbe / 35 mm / Russ/e // REGIE Alexander ­Sokurow // DREHBUCH Juri Arabow // KAMERA Alexander Sokurow,

99 Min / Farbe / 35 mm / Russ/d/f // REGIE Alexander Soku­

Anatoli Rodionow // MUSIK Andrej Sigle // SCHNITT Leda

row // DREHBUCH Alexander Sokurow, Anatoli Nikiforow,

Semjonowa // MIT Leonid Mosgowoj (kranker Mann), Marija

Boris Chaimski, Swetlana Proskurina // KAMERA Tilman

Kusnezowa (Frau), Sergej Razhuk (Gast), Natalia Nikulenko

Büttner // MUSIK Sergej Jewtuschenko // SCHNITT Stefan

(Schwester), Lew Jelissejew (Doktor), Nikolai Ustinow

Ciupek, Betina Kuntzsch, Sergej Iwanow // MIT Sergej Drei­

­(Pacoli).

den (Marquis de Custine), Marija Kuznezowa (Katharina die Grosse), Leonid Mosgowoj (der Spion), Michail Piotrowski

ELEGIE EINER REISE (Elegia dorogi) Frankreich 2001 In Alexander Sokurows Elegie einer Reise folgt die Kamera der nicht näher vorgestellten Silhouette eines Mannes, die sich als die des Regisseurs he­ rausstellt. «Mit einem winterlichen Wald als Ausgangsund einem 300-jährigen Gemälde als Schluss­ punkt, wunderbar in digitalem Video gefilmt, glaubt diese Reise durch ein ansonsten vertrau­ tes Terrain von Krieg und Religion, Gesellschaft und Einsamkeit, Kunst und Leben allem voran an die Kraft des Sehens und damit an die des Kinos. Auf der Suche nach dem Sinn seiner philosophi­ schen Reisen, erhascht der unsichtbare Erzähler Blicke – die unergründlichen Augen eines Jun­

(Direktor der Eremitage), David Giorgobiani (Orbeli), Alexan­ der Tschaban (Boris Piotowski), Maksim Sergejew (Peter der Grosse), Natalja Nikulenko (Katharina die Erste).

VATER UND SOHN (Otez i syn) Russland/Deutschland/Niederlande 2003 Im zweiten Teil seiner Trilogie über das Drama menschlicher Beziehungen (Mutter und Sohn kam 1997 heraus, der letzte Teil ist noch ausstehend) beschäftigt sich Alexander Sokurow mit der inni­ gen Beziehung zwischen einem Vater und seinem Sohn Alexej, die in St. Petersburg ohne Frau und Mutter in den Tag hineinleben. Die Themen und Konflikte werden dabei nur angedeutet. «Der Film hat eine sich steigernde Kraft. Das ist teilweise seinem digital betonten Look ge­


> Vater und Sohn .

> Taurus .

> Die Sonne .


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Alexander Sokurow. schuldet: die herbstliche, rötliche Farbpalette, das diffuse Licht, die weichgezeichneten Bilder, die gespensterhaften Wegschnitte zu scheinbar irrelevanten Details während Alexejs Tramfahrt. (...) Der Schlüssel allerdings ist der unbarmher­ zige Akzent auf den Gesichtern der nicht-profes­ sionellen Schauspieler. Vater und Sohn ist ver­ mutlich der am dichtesten geschnittene Film, den Sokurow je realisiert hat. Gespräche (etwa das von Alexej mit seiner Ex-Freundin) werden als feuergefechtsartige Schuss-Gegenschuss-Mon­ tage präsentiert, und sogar Momente dramati­ schen Stillstands (wie die ausgedehnte Umar­ mung) werden drei- oder viermal neu kadriert. All das dient dazu, dass wir die Gesichter genauer er­ gründen können, um ihre Geheimnisse zu ent­ schlüsseln.» (Tony Rayns, Sight&Sound, 6/2012) 84 Min / Farbe / Digital SD / Russ/e // REGIE Alexander Soku­ row // DREHBUCH Sergej Potepalow // KAMERA Alexander Burow // MUSIK Andrej Sigle // SCHNITT Ruy Diaz // MIT ­Andrej Schtschetinin (Vater), Alexej Nejmyschew (Alexej, der Sohn), Alexander Rasbasch (Sascha), Fjodor Lawrow ­(Fjodor), Marina Sassuchina (Mädchen).

DIE SONNE (Solnze) Russland/Italien/Frankreich 2004 Wie bereits in den ersten beiden Teilen seiner Macht-Tetralogie (Moloch, der hier leider nicht gezeigt werden kann, und Taurus), setzt sich Ale­ xander Sokurow in Die Sonne mit einer histori­ schen Figur auseinander, hier mit Kaiser Hirohito von Japan. Dieser steht 1945 vor der Entschei­ dung, seinen göttlichen Status abzulegen, um sich nicht vor einem amerikanischen Kriegsge­ richt verantworten zu müssen. «Mir scheint, Sokurow ist viel weniger an japa­ nischer Geschichte interessiert als daran, eine Welt zu erschaffen, die in ihrer perversen und in sich geschlossenen Logik die Psychologie der Macht vermittelt – für einen unter dem sowjeti­ schen Totalitarismus geborenen Filmemacher eine begründete Absicht. Das Gefühl des imperi­ alen Zerfalls wird auf exquisite Art vermittelt durch die unheimliche und einzigartige Schönheit von Sokurows Bildern – hier ist er sein eigener Kameramann –, die gelegentlich an den Weich­ zeichner-Stil gewisser Fotografien aus dem 19. Jahrhundert erinnern. An anderen Stellen jedoch könnte man ebenso gut eine vernachlässigte Aus­ stellung in einem naturhistorischen Museum an­ starren, eine Vision des Lebens, in Staub und Spinnweben gehüllt.» (Manohla Dargis, The New York Times, 17.11.2009) 110 Min / Farbe / Digital SD / OV/e // REGIE Alexander Soku­ row // DREHBUCH Juri Arabow, Jeremy Noble // KAMERA

Alexander Sokurow // MUSIK Andrej Sigle // SCHNITT Sergej Iwanow // MIT Taijiro Tamura (Wissenschaftler), Shiro Sano (Kämmerer), Shinmei Tsuji (alter Diener), Issey Ogata (Kaiser Shouwa-Tennou Hirohito), Robert Dawson (General Douglas MacArthur), Kaori Momoi (Kaiserin Kojun), Georgi Pitskhe­ lauri (MacArthurs Obertsabsfeldwebel), Hiroya Morita (Pre­ mierminister Suzuki).

FAUST Russland 2011 «Sokurow ist ein Zerstörer jeder Konvention, der aus den Trümmern des Überlieferten sein ganz eigenes, artifizielles Weltenwerk neu zusammen­ setzt. Seinen Faust versteht er als Abschlussfilm einer Tetralogie, in der es ihm keineswegs um das sattsam bekannte Heroische, sondern – im Ge­ genteil! – um die moralische Verkommenheit des Menschen geht, die Stafette des Bösen, die Ein­ samkeit der von allen guten Geistern verlassenen Herrscherfiguren. Fausts filmische Vorgänger hiessen Hitler (Moloch), Lenin (Taurus) und Hiro­ hito, der japanische Kaiser (Die Sonne). Jetzt hat sich der Kreis geschlossen. (…) Der Film, meist in graugrünen Tönen gehalten und teils zu monströsen, fratzenhaften Zerrbil­ dern wie aus einem Spiegelkabinett geronnen, ist eine atemlose, nur von wenigen Ruhemomenten unterbrochene Hatz über eine schaurig bewegte Spielwiese der Larven und Lemuren. Auf seiner bildermächtigen, sinfonisch strukturierten, fast durchweg auch musikalisch grundierten Reise ins Labyrinth des Verderbens lässt sich Sokurow keine Zeit für längere Monologe oder Dialoge. Er zerstückelt Goethes Vorlage, birgt aus den Rui­ nen des Textes nur einzelne Sätze, die er oft an­ deren Figuren in den Mund legt als der Dichter.» (Ralf Schenk, film-dienst, 2/2012) Faust wurde 2011 am Filmfestival von Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. 140 Min / Farbe / DCP / D/f // REGIE Alexander Sokurow // DREHBUCH Alexander Sokurow, Marina Korenewa, Juri ­Arabow, nach dem Drama «Faust» von Johann Wolfgang von Goethe // KAMERA Bruno Delbonnel // MUSIK Andrej Sigle // SCHNITT Jörg Hauschild // MIT Johannes Zeiler (Faust), ­Anton Adassinski (Wucherer), Isolda Dychauk (Margarete), Georg Friedrich (Wagner), Hanna Schygulla (Wucherers «Ehefrau»), Antje Lewald (Margaretes Mutter), Florian Brückner (Valentin), Sigurdur Skulasson (Fausts Vater), ­Maxim Mehmet (Valentins Freund), Andreas Schmidt (Valen­ tins Freund), Oliver Bootz (Valentins Freund).



15 Human Rights Watch @ Filmpodium

Filme im Einsatz für die Menschenrechte Rund um die Welt werden Menschenrechte verletzt, ohne dass dies pub­ lik wird oder die Schuldigen, die häufig im Namen der Regierung han­ deln, bestraft werden. Nichtregierungsorganisationen sind oft als einzige Instanzen gewillt und imstande, solche Missstände aufzudecken. Zu ­diesem Zweck und um bei der Öffentlichkeit Verständnis für die Betrof­ fenen zu fördern, veranstaltet Human Rights Watch eigene Filmfesti­ vals, an denen Filme über Menschenrechtsverletzungen gezeigt und mit Podiumsdiskussionen ergänzt werden. Ende Oktober findet ein solcher Anlass erstmals in Zusammenarbeit mit dem Filmpodium statt. Gerade in instabilen Zeiten wie heute kommen manche Regierungen ihrer Pflicht, die Bevölkerung vor Missbrauch und Willkür zu schützen, nicht nach; sie verüben ihrerseits Übergriffe auf die eigenen Bürger und verletzen deren grundlegende Menschenrechte. In solchen Situationen sind Nichtregierungsorganisationen als unparteiische Überwachungsinstanzen wichtiger denn je. Human Rights Watch ist eine führende internationale und unabhängige Organisation, die sich seit über 35 Jahren für Schutz und Verteidigung der Menschenrechte einsetzt. Sie weist weltweit auf Missstände hin und hilft mit, gravierenden Menschenrechtsverletzungen ein Ende zu setzen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, indem sie die Öffentlichkeit sensibilisiert und auf Politiker und andere Entscheidungsträger Einfluss nimmt. Im Rahmen ihrer Aufklärungstätigkeit hat Human Rights Watch auch ein Filmfestival geschaffen, das an verschiedenen Orten auf der Welt stattfindet und sich stets am aktuellen Filmschaffen orientiert. Vorführungen von Spielfilmen und Dokumentationen, die sich mit Verstössen gegen die Menschenrechte in diversen kulturellen, religiösen und politischen Kontexten befassen, tragen dazu bei, in der Öffentlichkeit das Bewusstsein für solche Missstände zu fördern. Solche Anlässe verleihen den Opfern eine Stimme und bieten ein Forum, in dem sich Filmschaffende und Publikum austauschen können. Bei begleitenden Podiumsdiskussionen mit Sachverständigen werden die Themen vertieft. Der filmische Fokus auf Geschichten erzeugt Anteilnahme und trägt dazu bei, dass die Forderung nach Gerechtigkeit für alle Menschen breitere Unterstützung erhält. < >

Parabel über Geschlechterrollen in der kurdischen Gesellschaft: Before Snowfall Religiös-politische Beschränkung der Selbstbestimmung: A Quiet Inquisition


16 Bei der Auswahl des Programms aus rund 500 gesichteten Filmen lässt sich Human Rights Watch nicht nur von Inhalt und Gesinnung der Werke leiten; künstlerischer Anspruch ist als Kriterium ebenso wichtig. So umfasst das Human Rights Watch Film Festival, das heuer in Zürich zum ersten Mal in Zusammenarbeit mit dem Filmpodium veranstaltet wird, das neueste Werk von Errol Morris, einem Altmeister des aufklärerischen Dokumentarfilms, aber auch eindrucksvolle Arbeiten weniger etablierter Cineastinnen und Cineasten. Einzigartig sind in der aktuellen Auswahl die Beiträge des AbounaddaraKollektivs: Diese Kurz- und Kürzestfilme sind Manifestationen eines «emergency cinema», der einzigen Produktionsform, die den nichtprofessionellen Autorinnen und Autoren mitten im syrischen Bürgerkrieg zur Verfügung steht. Der Abounaddara-Film Of God and Dogs gewann dieses Jahr in Sundance den Kurzfilmpreis. Michel Bodmer

HUMAN RIGHTS WATCH @ FILMPODIUM WATCHERS OF THE SKY

FILMGESPRÄCHE

DO, 30. OKT. | 18.15 UHR

Die anschliessende Diskussion über den Kampf für die Menschenrechte leitet Elizabeth Evenson (Senior Counsel, International Justice Program, Human Rights Watch). A QUIET INQUISITION

FR, 31. OKT. | 18.15 UHR

Zum Thema Menschenrechte und sexuelle Selbstbestimmung spricht Gauri van Gulik (Global Advocate, Women’s Rights Division, Human Rights Watch); Brida von Castelberg (ehem. Chefärztin der Frauenklinik am Stadtspital Triemli) moderiert das Gespräch. FILME DES ABOUNADDARA-KOLLEKTIVS

SA, 1. NOV. | 18.15 UHR

Auskunft über das Projekt des Abounaddara-Kollektivs in Syrien gibt der Produzent, Charif Kiwan; die Diskussion leitet Lama Fakih (Syria Researcher, Human Rights Watch). THE UNKNOWN KNOWN

SO, 2. NOV. | 15.00 UHR

In Errol Morris’ Film versucht Donald Rumsfeld die Fakten zum Irakkrieg und den Folter­ praktiken der US-Regierung zu vernebeln. Für Aufklärung sorgt Reed Brody (Counsel and Spokesperson, Human Rights Watch), live zugeschaltet via Skype. APÉRO IM KINOFOYER

SO, 2. NOV. | 17.15 UHR

BEFORE SNOWFALL

SO, 2. NOV. | 18.15 UHR

Auch Hisham Zamans Drama um die Tradition des Ehrenmords wird nach Möglichkeit mit einer Diskussion begleitet. Die Gästeliste findet sich unter www.filmpodium.ch

In Zusammenarbeit mit Human Rights Watch


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Human Rights Watch.

FILME DES ABOUNADDARAKOLLEKTIVS Syrien 2012–2014 «Diese bemerkenswerte Gruppe verwendet Iro­ nie und schwarzen Humor, um die Spuren der ­Gewalt zu enthüllen, die den Alltag des heutigen Syrien prägen, das von der eigenen Regierung be­ lagert wird. Dieses Werk hat kein Ende und ver­ langt eine fortlaufende Betrachtung. Seit Mai 2011 hat die Gruppe jede Woche ein kurzes Video auf ihren Vimeo-Kanal geladen, ‹als Tribut und Beitrag an die Proteste in den Strassen›, wie ein Al-Jazeera-Artikel festhielt. Der Name ‹Abou Naddara› (übersetzt: der Mann mit der Brille) war im 19. Jahrhundert das Pseudonym des ägypti­ schen Bühnenautors und Journalisten Yacub Sanu. Sanus satirische Zeitung, ebenfalls ‹Abou Naddara› genannt, wurde aufgrund ihres frei­ geistigen und revolutionären Inhalts verboten, doch geschmuggelte Ausgaben fanden in allen Gesellschaftsschichten Ägyptens Anklang. Der Name des Kollektivs erinnert aber nicht nur an die Geschichte der arabischen Freidenker im 19. Jahrhundert, sondern auch an den Film Der Mann mit der Kamera von Dsiga Wertow, ‹ein Film, der uns wichtig ist›, wie Gruppenmitglieder betonen. Wie Wertows Filme werden auch die Videos von Abounaddara mit tragbaren Kameras gedreht, ohne Kunstlicht, und zeichnen eher spontane ­Ereignisse auf als ausgeklügelte Szenarien. Aus dem Material des Alltags schöpft die Gruppe den Antrieb zum Widerstand und malt sich eine ge­ waltfreie Zukunft aus – egal, wie fern eine solche Zukunft aus heutiger Sicht anmuten mag.» ­(Edward Ziter, The Drama Review, Frühjahr 2013) Filme: The Pans of the Revolution (2012); Zeina (2012); I Will Cross Tomorrow (2012); Apocalypse Here (2012); After the Image (2012); Media Kill (2012); Save Citizen Osama (2012), The Unknown Soldier, Parts 1–4 (2012); Of God and Dogs (2013) u. a. ca. 80 Min / Farbe / Digital HD / Arab/e // REGIE Abounad­ dara-Kollektiv.

BEFORE SNOWFALL (Før snøen faller) Norwegen/Deutschland/Irak 2013 «In seinem Regieerstling verfolgt der begabte norwegisch-irakische Filmemacher Hisham Za­ man die Geschichte eines Teenagers aus dem ira­ kischen Teil von Kurdistan bis nach Istanbul, Ber­ lin und Oslo. Der Junge will seine Schwester zur Strecke bringen, weil sie mit ihrem Liebsten durchgebrannt ist, statt sich einer arrangierten Ehe zu unterwerfen. Obgleich dem Film einiges

von der erlesenen Ironie mancher Kulturkonflikte abgeht, zehrt er unbestreitbar von der Kraft jener mythischen Suche, die schon John Wayne in The Searchers hinter der jungen Natalie Wood herja­ gen liess, mit ähnlichen Absichten. Der kompro­ misslose Filmschluss ist ganz schön heftig. Marius Matzow Gulbrandsens Kamera schafft nachklingende Bilder der kurdischen Berge, die einen schönen Widerhall finden in den schneebe­ deckten Hügeln von Norwegen, wo der Showdown stattfindet.» (Deborah Young, The Hollywood Re­ porter, 27.10.2013) Hisham Zaman, der als Jugendlicher selbst aus dem Irak geflohen ist und in Norwegen Film studiert hat, legt mit seinem Regiedebüt ein ein­ fühlsames Drama um einen 16-Jährigen vor, der vorzeitig gezwungen wird, in seiner Familie die Vaterrolle zu übernehmen und frauenfeindlichen Traditionen wie Ehrenmord nachzuleben, deren Sinn er durch die Konfrontation mit einem Mäd­ chen und mit anderen Kulturen auf seiner Reise durch Europa zu hinterfragen lernt. Before Snowfall wurde mehrfach ausgezeichnet, in Göteborg ebenso wie in Abu Dhabi. 96 Min / Farbe / DCP / OV/d // REGIE Hisham Zaman // DREHBUCH Kjell Ola Dahl, Hisham Zaman // KAMERA Marius Matzow Gulbrandsen // MUSIK David Reyes // SCHNITT ­Sverrir Kristjánsson // MIT Taher Abdullah Taher (Siyar), ­Suzan Ilir (Evin), Bahar Özen (Nermin), Nazmi Kirik (Karzan), Ahmet Zirek (Miro), Muafaq Rushdie (Sherzad).

THE UNKNOWN KNOWN USA 2013 In seinem Oscar-gekrönten Film The Fog of War liess Errol Morris 2003 den ehemaligen US-Ver­ teidigungsminister McNamara über den Viet­ namkrieg und seine eigene Rolle bei diesem Fi­ asko grübeln. Nun befragt er in The Unknown Known Donald Rumsfeld über dessen Karriere als Pentagon-Chef zur Zeit von 9/11 und dem Irak­ krieg. «The Fog of War und The Unknown Known sind ein verblüffendes Gespann, Ersterer ein moder­ nes Meisterwerk, Letzterer ein schwindelerre­ gend postmodernes. Robert McNamaras Aussa­ gen im ersten Film bieten die Befriedigung einer wahrhaft tiefschürfenden und durchdringenden Selbstanalyse, was offensichtlich daher rührt, dass er aus einer Welt kommt, die klare Unter­ schiede kannte zwischen Recht und Unrecht, Gut und Böse, Erfolg und Versagen – Wörtern, die einst wirklich einen Sinn hatten und echte per­ sönliche Konsequenzen. Rumsfeld hingegen ge­ hört einer Welt an, in der es keine richtige Verant­ wortlichkeit mehr gibt, weder im Öffentlichen


> The Unknown Known .

> Watchers of the Sky .

> Filme des Abounaddara-Kollektivs .


Human Rights Watch. noch im Privaten, hauptsächlich weil sich Wörter derart verdrehen lassen, bis sie etwas Beliebiges bedeuten oder gar nichts. Der Beweis dafür in The Unknown Known ergibt einen wertvollen, wenn auch vernichtenden Kommentar zu unserer ­heutigen politischen Kultur.» (Godfrey Cheshire, rogerebert.com, 4.4.2014) «Instruktiv ist The Unknown Known trotzdem – vor allem dann, wenn der Film zu analysieren ver­ sucht, wie sich die Sprache während der Präsi­ dentschaft von George W. Bush verändert hat. Einmal erläutert Rumsfeld die zahlreichen Be­ griffsverschiebungen jener Jahre, dass man nicht mehr von Kriegsgefangenen spreche, sondern von irregulären Kombattanten, und er erklärt die Begriffsliste, mit der die Verhörmethoden in Gu­ antánamo oder Abu Ghraib beschrieben werden. Eingriffe in die Sprache, das legen diese Szenen nahe, haben Konsequenzen im politischen und militärischen Handeln. Je euphemistischer man über Folter spricht, umso besser sind die Voraus­ setzungen dafür, dass sie sich zutragen kann. Oder, in leichter Abwandlung Rumsfelds eigener Worte: Wenn man etwas nicht als Folter bezeich­ net, so bedeutet dies nicht, dass keine Folter stattfindet.» (Cristina Nord, TAZ, 3.7.2014) 103 Min / Farbe / DCP / E/d // DREHBUCH UND REGIE Errol Morris // KAMERA Robert Chappell // MUSIK Danny Elfman // SCHNITT Steven Hathaway // MIT Donald Rumsfeld, Errol Morris.

A QUIET INQUISITION USA 2014 In einem öffentlichen Krankenhaus in Managua, Nicaragua, steht die Gynäkologin Dr. Carla Cer­ rato seit 2007 immer wieder vor einer schwieri­ gen Wahl: Soll sie einem Gesetz gehorchen, das jegliche Abtreibungen verbietet und ihre Patien­ tinnen gefährdet, oder soll sie das Risiko der Ge­ setzwidrigkeit eingehen und jene ärztliche Pflege praktizieren, die einer Frau das Leben retten kann? Die vor sieben Jahren eingesetzte Regierung des ehemaligen Revolutionärs Daniel Ortega, der sich aus wahltaktischen Gründen zum Katholizis­ mus bekehrt hat, schaffte ein 130 Jahre altes Ge­ setz ab, das die Abtreibung aus therapeutischen Gründen schützte. Neu ist Abtreibung in jedem Fall untersagt, selbst wenn die Schwangerschaft die Folge von Vergewaltigung oder Inzest ist oder das Leben der Mutter auf dem Spiel steht. Dr. Cerrato und ihre Kolleginnen werden mit immer neuen Einzelschicksalen konfrontiert, die vor Au­ gen führen, welche fatalen Folgen diese Ein­ schränkung der Frauenrechte zeitigt, angesichts

der politischen, religiösen und komplexen histo­ rischen Faktoren, die Nicaragua prägen. Die Er­ fahrungen und Lebenssituationen der Frauen und Mädchen, die bei Dr. Cerrato Hilfe suchen, veran­ schaulichen die ethischen Implikationen der Ent­ scheidungen dieser Ärztin. Der Dokumentarfilm von Alessandra Zeka und Holen Sabrina Kahn, der an diesem Festival als spezielle Vorpremiere ge­ zeigt wird, zerstört manche Illusion über den einstigen Sandinisten-Staat. (mb) 66 Min / Farbe / DCP / Sp/e // DREHBUCH UND REGIE ­Alessandra Zeka, Holen Sabrina Kahn // KAMERA A ­ lessandra Zeka // MUSIK Gaby Vaughan // SCHNITT Holen Sabrina Kahn // MIT Carla Cerrato.

WATCHERS OF THE SKY USA/Niederlande/Frankreich 2014 Frei nach «A Problem from Hell: America and the Age of Genocide», dem Pulitzer-Preis-gekrönten Buch der heutigen UNO-Botschafterin der USA, Samantha Power, hat die Oscar-nominierte Cine­ astin Edet Belzberg ihren Dokumentarfilm Watchers of the Sky gedreht. Im Cinéma-vérité-Stil verwebt Belzberg die Geschichten von fünf aus­ sergewöhnlichen Persönlichkeiten, die sich für die Menschlichkeit eingesetzt haben: Benjamin Ferencz, Raphael Lemkin, Luis Moreno-Ocampo, Samantha Power und Emmanuel Uwurukundo. Deren Leben und Werk findet einen gemeinsa­ men Nenner in der anhaltenden Krise in Darfur. Indem sie den Lebensgeschichten dieser fünf Personen nachspürt, arbeitet Belzberg auch die vergessene Geschichte der Genozid-Konvention und ihres Gründers Lemkin auf. Dieser legendäre weltweit tätige Jurist widmete sein Leben dem Kampf gegen den Völkermord. Watchers of the Sky schildert konkrete Beispiele, wie heute versucht wird, Gewaltspiralen zu stoppen und künftige Kriegsgräuel zu verhindern. Belzbergs Film gewann am diesjährigen Sundance Film Festival den Preis für den besten Schnitt (Dokumentarfilm) und einen Sonderpreis der Jury für den «äusserst kunstvollen Einsatz von Animation, der das Verständnis der Figuren und der Geschichten vertieft». (mb) 120 Min / Farbe / Digital HD / E // REGIE Edet Belzberg // DREHBUCH E. B. Michele, frei nach dem Buch «A Problem from Hell» von Samantha Power // KAMERA Mai Iskander // MUSIK Claudio Ragazzi // SCHNITT Jenny Golden, Karen Sim // MIT Samantha Power, Benjamin Ferencz, Luis MorenoOcampo, Raphael Lemkin, Emmanuel Uwurukundo.

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20 Das erste Jahrhundert des Films

1984 Unvergleichlich verloren stolpert Harry Dean Stanton in Paris, Texas durch die texanische Wüste – mit diesem berührenden Roadmovie resümierte Wim Wenders seine Erfahrungen mit dem amerikanischen Traum und schuf einen archetypischen Film der achtziger Jahre. Ein etwas anderes Roadmovie drehte Jim Jarmusch: Mit seinem lakonischen Stranger Than Paradise, dieser Parodie auf den amerikanischen Traum, avancierte er zur Ikone des US-Independent-Kinos. Einer der grossen Kassenschlager des ganzen Jahrzehnts war Miloš Formans fiktive Filmbiografie Amadeus, während das Fantasy-Abenteuer Ghostbusters als eine der erfolgreichsten Komödien selbst ein Stück der achtziger Jahre wurde. In der Sowjetunion drehte Alexej German am Vorabend der Perestrojka Mein Freund Iwan Lapschin, der sogleich verboten, später aber zu einem Kultfilm der Kunstszene wurde. Daniel Schmid liess derweil in Il bacio di Tosca längst vergessene Sängerinnen, Musiker und Komponisten nochmals aufleben – eine betörende Liebeserklärung an die Künstler und an die Oper. Tanja Hanhart Das erste Jahrhundert des Films In dieser Dauerreihe zeigen wir im Lauf von zehn Jahren rund 500 wegweisende Werke der ­Filmgeschichte. Die A ­ uswahl jedes Programmblocks ist gruppiert nach Jahrgängen, woraus sich schliesslich 100 Momentaufnahmen des Weltkinos von 1900 bis 1999 ergeben. Referenzzahl ist jeweils der aktuelle Jahrgang, d. h. im Jahr 2014 sind Filme von 1914, 1924, 1934 usw. zu sehen. Weitere wichtige Filme von 1984 1984 Michael Radford, GB A Nightmare on Elm Street Wes Craven, USA Blood Simple Ethan & Joel Coen, USA Desperately Seeking Susan Susan Seidelman, USA E la nave va Federico Fellini, Italien Heimat – Eine deutsche Chronik Edgar Reitz, BRD Klassenverhältnisse Danièle Huillet, Jean-Marie Straub, BRD/Frankreich Les nuits de la pleine lune Eric Rohmer, Frankreich Love Streams John Cassavetes, USA Monanieba Tengis Abuladse, Sowjetunion (Georgien) Nausicaä aus dem Tal der Winde (Kaze no tani no Naushika) Hayao Miyazaki, Japan Reise nach Kythera (Taxidi sta Kythira) Theo Angelopoulos, Griechenland The Home and the World (Ghare-Baire) Satyajit Ray, Indien The Karate Kid John G. Avildsen, USA The Killing Fields Roland Joffé, GB The Terminator James Cameron, USA The Times of Harvey Milk Rob Epstein, USA This is Spinal Tap Rob Reiner, USA


Das erste Jahrhundert des Films: 1984.

STRANGER THAN PARADISE USA/BRD 1984 Willie, der sich in New York gemeinsam mit sei­ nem Kumpel Eddie mit kleinen Betrügereien durchs Leben schlägt, ist nur wenig erfreut, als überraschend seine 16-jährige Cousine Eva aus Ungarn bei ihm aufkreuzt. Nach ein paar Tagen reist Eva weiter nach Cleveland zu ihrer Tante. Willie folgt ihr ein Jahr später zusammen mit Ed­ die; um der Langeweile zu entgehen, machen sich die drei auf nach Florida. Mit Stranger Than Paradise, seinem zweiten Spielfilm, avancierte Jim Jarmusch zu einer Ikone des US-Independent-Kinos. Sein einzigar­ tig minimalistisches, lakonisches Meisterwerk, eine Parodie auf den amerikanischen Traum, wurde zu einem Schlüsselfilm seiner Dekade. So wie Stranger Than Paradise zählen «nur sehr wenige Filme zu den wirklichen Meilenstei­ nen in der Entwicklung des US-Indie-Films im letzten Viertel des letzten Jahrhunderts. (…) Dies war ein Roadmovie der etwas anderen Art: Im Ge­ gensatz zu den meisten Beispielen des damals noch extrem populären Genres, schien Stranger Than Paradise ganz amerikanisch und sonderba­ rerweise europäisch zugleich. (…) Mag Stranger Than Paradise auch eine Komödie sein, ein Expe­

riment im filmischen Storytelling und ein höchst ironisches Märchen, so ist er auch ein Film über Amerika und die Menschen, die da wohnen, und über ihre Beziehungen zueinander, zu den Räu­ men, die sie behausen, zu den Strassen, den Sub­ urbs, Diners und Highways.» (Geoff Andrew, cri­ terion.com) 89 Min / sw / 35 mm / E/d/f // DREHBUCH UND REGIE Jim ­Jarmusch // KAMERA Tom DiCillo // MUSIK John Lurie // SCHNITT Jim Jarmusch, Melody London // MIT John Lurie (Willie), Eszter Bálint (Eva), Richard Edson (Eddie), Danny ­Rosen (Billy), Cecillia Stark (Aunt Lotte), Tom DiCillo (Airline Agent).

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Das erste Jahrhundert des Films: 1984.

AMADEUS USA 1984 Wien, 1823. Auf seinem Sterbebett legt der greise Antonio Salieri eine furchtbare Beichte ab: Er habe Mozart getötet – oder war er es doch nicht? In Rückblenden erzählt der Todgeweihte, wie er, der nur mässig begabte Hofkomponist, seinen Ruhm gefährdet sieht, als ein junger Mann nach Wien kommt, der das göttliche musikalische Ta­ lent besitzt, das er für sich selbst begehrt: Wolf­ gang Amadeus Mozart. «Filmbiografien über Mozart hat es schon viele gegeben; was Miloš Formans Version zu ei­ nem provokativen, aus dem Rahmen fallenden Werk macht, ist zum einen die Wahl der Thema­ tik: der verzweifelte Kampf des Mittelmässigen gegen die Unantastbarkeit des wahren Genies. Zum anderen die Besetzung: Salieri, in seiner verzweifelten Wut, seinem Selbsthader, seiner Häme einfühlsam und mit erstaunlicher mimi­ scher Bandbreite dargestellt von F. Murray Abra­ ham, bildet in seiner Verbissenheit den grösst­ möglichen Gegensatz zur flippig-schrägen Figur des Amadeus, der von Forman bewusst mit dem unbekannten Tom Hulce besetzt worden ist; auch er löst schauspielerisch überzeugend ein, was die

Rolle an Vielschichtigkeit von ihm abverlangt.» (Kerstin-Luise Neumann, Filmklassiker, Reclam 1995) «Die Oper hatte in Hollywood schon immer einen schweren Stand, und auch für Amadeus standen in den achtziger Jahren die Vorzeichen denkbar schlecht. Der Film strafte alle Skeptiker Lügen, avancierte zu einem der erfolgreichsten Filme des Jahrzehnts und wurde mit acht Oscars über­ häuft.» (Jörg Gerle, film-dienst, 5/2002) Im Rahmen unserer Reihe «Das erste Jahr­ hundert des Films» spielen wir die Fassung, die 1984 in der Schweiz zur Aufführung kam. Den «Director’s Cut» werden wir bei späterer Gele­ genheit wieder zeigen. 158 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Miloš Forman // DREHBUCH Peter Shaffer, nach seinem Theaterstück // ­KAMERA Miroslav Ondrícek // MUSIK Wolfgang Amadeus Mozart, Antonio Salieri, Giovanni Battista Pergolesi // SCHNITT Nena Danevic, Michael Chandler // MIT F. Murray Abraham (Antonio Salieri), Tom Hulce (Wolfgang Amadeus Mozart), Elizabeth Berridge (Constanze Mozart), Simon ­Callow (Emanuel Schikaneder), Roy Dotrice (Leopold M ­ ozart), Christine Ebersole (Katerina Cavalieri), Jeffrey Jones (Kaiser Joseph II.), Charles Kay (Graf Orsini-Rosenberg), Patrick ­Hines (Giuseppe Bonno), Roderick Cook (Graf Johann von Strack), Nicholas Kepros (Erzbischof Colloredo).


Das erste Jahrhundert des Films: 1984.

IL BACIO DI TOSCA Schweiz 1984 Aus Dankbarkeit gegenüber den Künstlerinnen und Künstlern auf der Bühne gründete Giuseppe Verdi in Mailand die «Casa Verdi», ein Altersheim für all jene, die mittellos ihren Lebensabend ver­ bringen. Auch wenn diese Musiker inzwischen längst vergessen in einem kleinen Zimmer leben, führen sie noch immer ein Dasein für die Kunst und begreifen das Leben als Bühne, auf der sie sich selbst inszenieren können. «Ästhet sein, das war für den Kino‑ und Opern­ regisseur Daniel Schmid zugleich Lebensgefühl und eine Frage der künstlerischen Moral, weil er wusste, dass Konstruktion und Künstlichkeit ver­ lässliche Verbündete einer tiefen Wahrheit sind. Deshalb liebte er die Diven des Alltags und des Ki­ nos, die Schausteller und Hochstapler, all jene, für die das Leben eine Vorstellung ist, bei der man selbst den Vorhang zieht. Am zärtlichsten brachte er sie in Il bacio di Tosca auf die Leinwand, seinem Dokumentarfilm über die Bewohner eines Alters­ heims für Opernsänger. Wenn ein greises Paar den zweiten Akt der Tosca singt, mit brüchigen Stimmen und zittrigen Händen, wenn der abge­ blätterte Anstaltsflur zur Bühne der Scala wird,

dann begreift man, dass diese Schmid’schen Hel­ den nie anders als im Modus des Auftritts gelebt haben.» (Katja Nicodemus, Die Zeit, 10.8.2006) «Daniel Schmid geht mit den alten Menschen so liebevoll zärtlich um, macht sich nicht lustig über zitternde Stimmen, über den Stolz und das Prahlerische; die alten Menschen sind nicht Schatten der Vergangenheit, sondern lebensvolle Menschen, die sich stolz erinnern, aber auch zu ihren Schwächen stehen. Ein faszinierender, rei­ cher und schöner Film.» (Süddeutsche Zeitung) Wir zeigen die 2013 von der Cinémathèque ­suisse gemeinsam mit dem Produzenten Marcel Hoehn restaurierte und digitalisierte Kopie. 87 Min / Farbe / DCP / I/d // DREHBUCH UND REGIE Daniel Schmid // KAMERA Renato Berta // MUSIK Giacomo Puccini («Tosca»), Giuseppe Verdi («Othello»), Gaetano Donizetti // SCHNITT Daniela Roderer // MIT Sara Scuderi, Della B ­ enning, Irma Colasanti, Giuseppina Sani, Giulia Scaramelli, Ida Bida, Giovanni Erminio Puligheddu, Leonida Bellon, Salvatore ­Locapo.

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Das erste Jahrhundert des Films: 1984.

PARIS, TEXAS BRD/GB/Frankreich/USA 1984 Vier Jahre nach seinem Verschwinden taucht der totgeglaubte Travis verstört und halb verdurstet in der texanischen Wüste nahe der mexikani­ schen Grenze wieder auf. Im Krankenhaus stellt sich heraus, dass ihm jede Erinnerung fehlt und er zusätzlich an einem Sprachverlust leidet. Bei seinem Bruder in L. A. trifft Travis auf seinen sie­ benjährigen Sohn. Die beiden nähern sich einan­ der langsam wieder an – und eines Tages brechen die beiden zu einer Reise auf, um Travis’ verschol­ lene Frau zu suchen. Wim Wenders’ in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnetes Meisterwerk, einer der archetypischen Filme der achtziger Jahre, ist eine vielschichtige Synthese von Wenders’ per­ sönlichen Erfahrungen mit dem amerikanischen Kino und dem amerikanischen Traum. Sein Ka­ meramann Robby Müller hat das harte Licht der Wüstenlandschaften in so atemberaubenden ­Panorama-Aufnahmen festgehalten, dass Paris, Texas zu einem Paradebeispiel des Roadmovies wurde. «In diesem Film sieht man die wahren Schau­ spielwunder von Harry Dean Stanton, Nastassja Kinski und Hunter Carson. Stanton, der lange die unbewohnten dunklen Ecken des amerikani­ schen Noirs bewohnt hat, schafft hier mit seinem

hageren Gesicht und den hungrigen Augen eine traurige Poesie. Kinski perfektioniert den fla­ chen, wenig gebildeten Akzent eines texanischen Mädchens, das wegen seiner schwierigen Kind­ heit einen etwas heruntergekommenen, älteren Mann heiratet. Und Carson, der über die Relativi­ tätstheorie und den Ursprung des Universums diskutiert, um dann noch schwierigere Fragen wie ‹why did she leave us?› zu stellen, ist in der Lage, die Wahrheit ohne jegliche Ausschmückung zu präsentieren. Diese Familie, umgeben von Ein­ samkeit und Verunsicherung inmitten einer gros­ sen Leere, geht uns ans Herz.» (Roger Ebert, Chi­ cago Sun-Times, 8.12.2002) 147 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Wim Wenders // DREHBUCH Sam Shepard, L. M. Kit Carson, nach einer Vor­ lage von Sam Shepard // KAMERA Robby Müller // MUSIK­ Ry Cooder // SCHNITT Peter Przygodda // MIT Harry Dean Stanton (Travis Clay Henderson), Nastassja Kinski (Jane), Hunter Carson (Hunter), Dean Stockwell (Walt Henderson), Aurore Clément (Anne), Bernhard Wicki (Dr. Ulmer), Socorro Valdez (Carmelita), John Lurie (Slater).


Das erste Jahrhundert des Films: 1984.

MEIN FREUND IWAN LAPSCHIN (Moi drug Iwan Lapschin) UdSSR 1984

In einem Provinznest versucht ein Polizeiinspek­ tor einen Bandenführer dingfest zu machen und damit seinen Beitrag zum Aufbau der Sowjetge­ sellschaft zu leisten. Dabei verliebt er sich in eine Schauspielerin, die ihrerseits unglücklich in ei­ nen Journalisten verliebt ist. «Der Film wurde zum Kultfilm der Kunst­ szene. (…) Der Stoff basiert auf einer Erzählung von Juri German, dem Vater des Regisseurs, der damals bei der Kriminalpolizei gearbeitet hatte. Die Dialoge stammen aber aus Protokollen von Verhören. Alexej German stellte im Atelier die vä­ terliche Wohnung nach, hängte Porträts der El­ tern an die Wand und gab dem Schauspieler die Tabakspfeife seines Vaters. Er inszenierte das Geschehen nicht als dokumentarische Rekonst­ ruktion, sondern als Traum, als Erinnerung eines Jungen, der inmitten dieser Erwachsenen gelebt hat und nun als erwachsener Erzähler seine Kind­ heitstage Revue passieren lässt. (…) Das visuelle Bild der Epoche wurde mithilfe von Amateurfotos rekonstruiert (…). Die merkwürdige Aufnahme­ qualität mit dunklen, kontrastreichen Einstellun­ gen, Grobkorn und seltsamen Bildkompositio­ nen, die durch die sich stets bewegende Kamera entstehen, ist als störender Reiz eingesetzt. Die

Hauptfiguren werden häufig von zufällig ins Bild geratenen Schultern, Rücken oder Möbelstücken verdeckt; verschiedene Tonspuren werden über­ einandergemischt, Sätze abgeschnitten. Dieser Stil erschwert absichtlich die Wahrnehmung. Der Zuschauer sucht, so wie er es gewohnt ist, nach dramatisch-symbolischen Klammern und Deu­ tungen. Gerade sie aber will der Regisseur elimi­ nieren. (…) Germans Stil, der einen Dokumenta­ rismus vortäuscht und gleichzeitig Stilisierung spüren lässt, wurde sofort aufgegriffen und prägte die Filme vieler jüngerer Lenfilm-Regis­ seure.» (Oksana Bulgakowa, in: Geschichte des sowjetischen und russischen Films, Metzler 1999) «Das Werk ist eine Hommage an die dreissiger Jahre und wirkt heute moderner denn je, dank seinem von Schemata und (Vor-)Urteilen befrei­ ten Herangehen an die Geschichte und einer Ka­ mera, die stellenweise an die Dogma-Filme erin­ nert.» (Alexander Mirimov, taz.de, 9.11.2000) 100 Min / Farbe + sw / 35 mm / Russ/f // REGIE Alexej German // DREHBUCH Eduard Wolodarski, Alexej German, basierend auf der Erzählung «Ein Jahr» von Juri German und auf au­ thentischen Akten // KAMERA Waleri Fedossow // MUSIK ­Arkadi Gagulaschwili // MIT Andrej Boltnew (Iwan Lapschin), Nina Ruslanowa (Natascha Adaschowa), Andrej Mironow (Chanin), Alexej Zharkow (Okoschkin), Sinaida Adamowitsch (Patrikejewa), Alexander Filipenko (Sanadworow).

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Das erste Jahrhundert des Films: 1984.

GHOSTBUSTERS

Neu restaurierte digitale Kopie USA 1984 Drei exzentrische Parapsychologen beschäftigen sich an der New York University mit übernatürli­ chen Phänomenen – doch nachdem ihre Experi­ mente als Schindluderei entlarvt worden sind, werden ihnen die Forschungsgelder gestrichen. Kurz entschlossen machen sie sich selbständig und gründen eine Firma zur Bekämpfung von Geistern. Just dann treiben unsichtbare wie halb sichtbare Geister und solche in Gestalt rasender Monster ihr Unwesen – New York erlebt eine re­ gelrechte Geisterinvasion und das Geschäft der drei «Ghost Busters» (etwa: «Geistervernichter») boomt. Ghostbusters wurde zu einer der erfolgreichs­ ten Komödien seiner Zeit: Nicht nur ein Film, son­ dern ein Phänomen und bald selbst ein Stück der achtziger Jahre. «Ghostbusters ist eine Frontalkollision zwi­ schen zwei Komödien-Ansätzen, die nur selten zusammen funktionieren – hier funktionieren sie wunderbar. Erstens ist er ein SpezialeffektBlockbuster und zweitens ein schlauer Dialog­ film. Dieser Film ist eine Ausnahme von der all­

gemeinen Regel, dass grosse Spezialeffekte eine Komödie ruinieren können, weil diese minuziöse Detailarbeit, Komödien hingegen Spontaneität und Improvisation verlangen. (…) In Ghostbusters stehen die Spezialeffekte im Dienst der Schau­ spieler, (…) und die sind lustig und fürchten sich nicht, ihre Schlagfertigkeit und Intelligenz unter Beweis zu stellen. Ihre Dialoge spielen mit ame­ rikanischen Klischees, verwenden Understate­ ment, Ironie, Insider-Witze, jede Menge Zynismus und unbeschwertes Geblödel. Selten hat ein so teurer Film so viele zitierbare Pointen hervorge­ bracht.» (Roger Ebert, Chicago Sun-Times, 1.1.1984) 105 Min / Farbe / DCP / E/d // REGIE Ivan Reitman // DREHBUCH Dan Aykroyd, Harold Ramis // KAMERA László Kovács // MUSIK Elmer Bernstein // SCHNITT David E. Blewitt, ­Sheldon Kahn // MIT Bill Murray (Dr. Peter Venkman), Dan Aykroyd (Dr. Raymond Stantz), Harold Ramis (Dr. Egon Spengler), Sigourney Weaver (Dana Barrett), Rick Moranis (Louis Tully), Annie Potts (Janine Melnitz), William Atherton (Walter Peck), Ernie Hudson (Winston Zeddmore), David Margulies (Bürgermeister), Slavitza Jovan (Gozer), Alice ­ Drummond (Bibliothekarin).


27 Reedition: Once Upon a Time in America von Sergio Leone

Ein «Moby Dick» der siebten Kunst Ein Monstrum in seiner Vorbereitung, ein Schwergewicht in der Her­ stellung, ein Gemetzel in der Verwertung, ein fortdauerndes Mysterium im Nachhall: Once Upon a Time in America ist ein (Alb)Traumfilm, der alle Dimensionen sprengt. Gleichwohl ist das letzte Werk Sergio Leones auch sein persönlichstes. Das Filmpodium zeigt dieses Epos als Re­edition in einer restaurierten Fassung, die so neu ist, dass sie zum Zeitpunkt der Leone-Retrospektive im Mai noch nicht verfügbar war. Bei seiner nie endenden Beschäftigung mit den Mythen Amerikas fiel Sergio Leone einmal das Buch «The Hoods» in die Hände. 1952 verfasst vom ExGangster Harry Grey, schildert das Werk kolportageartig das Leben jüdischer Mobster im New York der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Italiener war fasziniert und plante den Stoff zu verfilmen. 1969 gelang es Leone, Grey, der längst von der Bildfläche verschwunden war, aufzustöbern und in einem schäbigen New Yorker Diner zum Ideenaustausch zu treffen. Mehr als ein paar dürre «Yes» und «No» konnte der Römer Grey aber nicht abringen. Gleichwohl hatte die Begegnung mit der geisterhaften Erscheinung entscheidende Bedeutung für die Gestaltung von Noodles, der dereinst in Once Upon a Time in America sein vertanes Leben als Drogentraum resümieren würde. Anderthalb Dekaden später konnte der Dreh endlich beginnen. Acht Schreiber hatten über die Jahre zahlreiche Fassungen produziert; als 1983 in Cinecittà die erste Klappe fiel, zählte das ausufernde Script 317 Seiten. Zwar hatte man mit Robert De Niro einen der Stars von Coppolas Godfather II (1974) an der Hand, Leone aber wollte vermeiden, statt der Geschichte sizilianischer nun einfach jene von jüdischen Gangstern in New York zu erzählen, wie sich das sein Studio wohl erhoffte. Coppolas Godfather-Trilogie fokussierte auf einen Clan und darauf, wie archaische Familienstrukturen das Glücksversprechen des American Dream zersetzen. Leone dagegen stellte die Erinnerungen eines Mobsters ohne ethnische oder familiäre Bande in den Mittelpunkt. Sein Protagonist ist ein einsamer Mann in einer chaotischen Welt, der auf Freundschaft setzt und zuletzt erkennen muss, dass er gerade deshalb um sein ganzes Leben betrogen wurde. Vordergründig erzählt Once Upon a Time in America Episoden aus der über fünf Jahrzehnte dauernden Story einer jüdischen Gangsterbande in New York. Unerreicht ist dabei Leones detailversessene Rekonstruktion der jüdischen Lower East Side der 1920er Jahre. Hinter den schwelgerisch ausgestatteten Zeit-


28

ONCE UPON A TIME IN AMERICA – EXTENDED DIRECTOR’S CUT (2014) / USA 1984 250 Min / Farbe / DCP / E/d // REGIE Sergio Leone // DREHBUCH Sergio Leone, Leonardo Benvenuti, Piero de Bernardi, Enrico Medioli, nach dem Roman «The Hoods» von Harry Grey // KAMERA Tonino Delli Colli // MUSIK Ennio Morricone // SCHNITT Nino Baragli // MIT Robert De Niro (Noodles), James Woods (Max), Elizabeth McGovern (Deborah), Larry Rapp (Fat Moe), Tues­ day Weld (Carol), Treat Williams (Jimmy O’Donnell), Burt Young (Joe), Danny Aiello (Polizeichef), William Forsythe (Cockeye).

bildern enthüllt sich dann aber die Geschichte einer fatalen Dreiecksbeziehung zwischen den beiden seit ihrer Kindheit befreundeten Bandenchefs Noodles ­(Robert De Niro) und Max (James Woods) mit Deborah (Elizabeth McGovern); Letztere ist sowohl Objekt der Begierde als auch Realitätsprinzip. Die Rückschau auf Freundschaft, Liebe, Verrat, Schuld erzählt Leone als chronologisch ungeordnete Folge von Erinnerungsfragmenten, wobei er es mit Absicht unterlässt, zwischen Opiumfantasie, Nachtmahr, Wunschbild oder aber der Re-Inszenierung von Film-noir-Stereotypen zu unterscheiden. Die Synthese aus Pulp Fiction und europäischem Autorenkino wurde bei der Uraufführung 1984 in Cannes als Hommage an die Kinokunst schlechthin beklatscht. Allerdings kürzte danach das US-Studio die 229-Minuten-Fassung um 90 Minuten. Leones Meditation über Zeit und Erinnerung war zerstört. Nachdem von Once Upon a Time in America später die Urfassung auf Video wieder greifbar war, wurde der Film schliesslich doch noch als Meisterwerk entdeckt und fürs Kino restauriert. Er gilt heute als Klassiker, als eine Art «Moby Dick» der siebten Kunst, dessen fortdauernde Rätselhaftigkeit mittlerweile selbst zur Legende geworden ist. Benedikt Eppenberger


29 BUCHVERNISSAGE

DI, 11. NOV. | 18.15 UHR / DO, 13. NOV. | 20.45 UHR

FILM NOIR UM DER FARBE WILLEN Der Film noir Desert Fury ist einer der Titel,

Das Filmpodium freut sich, zusammen mit

den Christine Noll Brinckmann in ihrem

dem Seminar für Filmwissenschaft der Uni­

neuen Buch «Farbe, Licht, Empathie» als

versität Zürich diese Anthologie vorzustel­

Beispiel für den Umgang mit Farbe anführt.

len, und zeigt dazu den selten gespielten

Wir zeigen ihn im Rahmen der Buchvernis-

­Desert Fury, der Christine Noll Brinckmann

sage.

besonders am Herzen liegt und den sie im Buch behandelt. Nach der Vorführung wird

Dr. Christine Noll Brinckmann war von 1989

ein Apéro offeriert.

bis 2002 ordentliche Professorin für Film­ wissenschaft an der Universität Zürich und als Gründerin und Leiterin des Seminars für Filmwissenschaft auch Herausgeberin der Buchreihe «Zürcher Filmstudien», die sie nun an ihre Nachfolger am Seminar, Jörg Schweinitz und Margrit Tröhler, über­ gibt. In ihrer letzten Publikation «Farbe, Licht, Empathie», die an dieser Vernissage vorgestellt wird, widmet sie sich drei zent­ ralen

Bereichen

filmwissenschaftlicher

Forschung: «Als formale Elemente sorgen Farbe und Licht nicht allein für den Look ei­ nes Films, sondern heben hervor, (…) stel­ len Verbindungen her und fungieren als

DESERT FURY / USA 1947

Motive. Sie schaffen subtil Atmosphären,

96 Min / Farbe / 35 mm / E // REGIE Lewis Allen // DREHBUCH

setzen Akzente, gliedern die Komposition

Robert Rossen, nach einem Roman von Ramona Stewart //

und erzeugen Bildspannung.» (Ankündi­ gung Schüren-Verlag) Die Lektüre dieser Anthologie «ist in der Sache und im Stil ein Genuss, weil die Auto­ rin sich in keinem theoretischen Überbau verirrt, sondern konkret beschreibt, was sie in bestimmten Filmen sieht und für mittei­ lenswert hält. 16 Texte aus den Jahren 1995 bis 2012 hat sie (…) ausgewählt. Sie handeln von Farbe, Licht und Empathie. (…) Man wünscht sich noch viele Texte von Christine Noll Brinckmann, einzeln und gesammelt.» (Hans Helmut Prinzler, Filmbuch-Rezensi­ onen, hhprinzler.de, 7.3.2014)

KAMERA Charles B. Lang, Edward Cronjager // MUSIK ­Miklos Rozsa // SCHNITT Warren Low // MIT Lizabeth Scott (Paula Haller), Burt Lancaster (Tom Hanson), John Hodiak (Eddie Bendix), Mary Astor (Fritzie Haller), Wendell Corey (Johnny Ryan), Kristine Miller (Claire Lindquist), William Harrigan (Richter Lindquist).


30 Premiere: A Simple Life von Ann Hui

Was bleibt Hongkong-Kino einmal anders: Die Regisseurin Ann Hui besetzt Superstars nicht wie üblich in einem Genre-Kracher, sondern in einem leisen, feinen Film und erzielt dafür international viel Beachtung.

A SIMPLE LIFE (Tou ze) / Hongkong/China 2011 118 Min / Farbe / DCP / OV/d // REGIE Ann Hui // DREHBUCH Susan Chan, Roger Lee Yan-lam // KAMERA Nelson Yu Lik-wai // MUSIK Law Wing-fai // SCHNITT Kwong Chi-Leung, Manda Wai // MIT Andy Lau (Roger), Deannie Yip (Ah Tao), Hailu Qin (Frau Choi), Fuli Wang (Rogers Mutter), Paul Chun (Onkel Kin), Tin Leung (Vorsteher des Altersheims), Wendy Yu Man-sze (Sharon), Eman Lam (Carmen), Jason Chan Chi-san (Jason), Hui So-ying (Mui), Anthony Wong Chau-Sang (Grasshopper), Chapman To (Zahnarzt).

Ann Hui, Jahrgang 1947, ist dem westlichen Kinopublikum weitgehend unbekannt. Zu Unrecht, zählt die Grande Dame des Hongkong-Kinos doch zu den wichtigsten Mitstreitern der «Neuen Welle», die seit Ende der 1970er Jahre das Filmschaffen der damaligen britischen Kolonie bis heute prägt. Und eigentlich unverständlich, denn neben unabhängig produzierten ArthousePerlen wie Summer Snow (1995) oder Ordinary Heroes (1999), der an der Berlinale im Wettbewerb lief, bewies Hui auch ihr Können als Genre-Regisseurin. Vom Martial-Arts-Film The Romance of Book and Sword (1986) über das Historiendrama Eighteen Springs (1997), der Horrorkomödie Visible Secret (2001) bis zum Thriller Zodiac Killers (1991) hat sie ziemlich jede Gattung bedient. Ihre Handschrift hat sie darin gefunden, die Figuren ihrer Filme als Menschen statt Klischees zu zeichnen. Dabei stellt sie Frauen ins Zentrum. Sei es eine Polizistin in Goddess of Mercy (2003), eine Film-Stuntfrau in The Stunt Woman (1996, mit Michelle Yeoh) oder das lesbische (Familien-)Leben


31 in Hongkong in All About Love (2010) – und nun in ihrem fulminanten Erfolg A Simple Life das Leben einer Hausangestellten. Der Film feierte Premiere am Filmfestival von Venedig, wo die Hauptdarstellerin Deannie Yip als beste Schauspielerin mit der Coppa Volpi ausgezeichnet wurde. Um die von ihr dargestellte, im Original titelgebende Figur, das Fräulein Tao, dreht sich die Geschichte. Als Waisenkind kam sie mit zehn Jahren zur Familie Leung und arbeitete dort fortan als Haushälterin. Inzwischen sind sechzig Jahre vergangen, drei Generationen «ihrer» Familie hat sie bekocht, umsorgt und grossgezogen. Jetzt leben die Leungs verstreut in alle Welt. Nur der Mittvierziger Roger (Andy Lau) ist in Hongkong geblieben. Er arbeitet als Filmproduzent und nimmt, weil Junggeselle, noch immer ihre Dienste in Anspruch. Als Ah Tao eines Tages einen Schlaganfall erleidet, kehrt sich die Situation um. Sie möchte nicht mehr arbeiten und in ein Altersheim ziehen. Von nun an ist es Roger, der sich um sie kümmert. Er findet und bezahlt ihr einen Platz im Altersheim, besucht sie regelmässig und führt sie zum Essen aus. Langsam verändert sich die Beziehung der beiden, die Klassenschranken lösen sich auf. Die beiden Einzelgänger finden ein Stück Familienersatz. Das alles klingt nach einem sentimentalen Rührstück, ist es aber nicht. Wenn die einsetzende Klaviermusik mit Wehmut droht, setzt Hui auf Humor und Nüchternheit. Überhaupt bleibt der episodenhafte, mit vielen fein beobachteten Details angereicherte Handlungsverlauf erfrischend ruhig. Vor allem die Szenen im Altersheim sind oft hervorragend gelungen, zudem geben sie einen eindrücklichen Einblick in diesen Teil des Hongkonger Lebens. Ein einfacher Film, der nichts mehr will, als ein einfaches, gewöhnliches Leben beschreiben. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Nichts Besonderes, nichts Aufgesetztes, nichts Herausragendes – was bleibt, ist Menschlichkeit. Da der Produzent von A Simple Life, Roger Lee, die Geschichte beigesteuert und selbst erlebt hat, arbeitet auch die Filmfigur Roger im Filmbusiness. Dieser Umstand erlaubt es Ann Hui, ihrer «Familie» die Reverenz zu erweisen. So trifft man in A Simple Life bekannte Gesichter aus der Hongkonger Filmszene in Nebenrollen an, wie Chapman To, Anthony Wong oder Paul Chun. Hochkarätige Regisseure wie Tsui Hark, Sammo Hung und, als einziger Mainland-Chinese, Ning Hao (der kein Kantonesisch versteht) sowie das Cantopop-Sternchen Angelababy haben Cameo-Auftritte. Ganz wunderbar ist natürlich Andy Lau in der männlichen Hauptrolle (er ist im echten Leben Deannie Yips Göttibub). Seit seinem Durchbruch in Ann Huis Boat People (1982) ist er als Schauspieler, Produzent und Sänger zu einem der berühmtesten Hongkong-Stars geworden und spielt hier mit grossem Understatement gegen diese Starpersona an. Noch einmal versammelt Hui hier die Protagonisten eines Hongkong-Kinos, das langsam aber sicher im gross-chinesischen Film verschwinden wird. Primo Mazzoni


32 Filmpodium für Kinder

THE piano forest .

Ein Anime über zwei Jungs aus verschiedenen Welten, die durch ihre Leidenschaft für die Musik zu Freunden fürs Leben werden.

THE PIANO FOREST (Piano no mori) / Japan 2007 97 Min / Farbe / Digital HD / D / 8/6 J // REGIE Masayuki Kojima // DREHBUCH Ryuta Hourai, Makoto Isshiki, nach der Manga­ serie von Makoto Isshiki // MUSIK Keisuke Shinohara, Wladimir Dawidowitsch Aschkenasi // SCHNITT Yoshihiro Kasahara.

Weil sich seine Mutter um die Grossmutter kümmern muss, zieht der Junge Shuhei vorübergehend von Tokio in eine Kleinstadt. Shuhei nutzt jede freie Minute zum Klavierüben, um wie sein Vater ein grosser Pianist zu werden. In der neuen Schule haben die Mitschüler nicht viel für den Klavier spielenden Jungen aus reichem Haus übrig – er wird schikaniert und soll zur Mutprobe in der Nacht mitten im Wald auf einem geheimnisvollen Flügel spielen. Der


33

www.xenix.ch

Bus 32 und Tram 8 bis Helvetiaplatz Tram 2 und 3 bis Bezirksgebäude Telefonische Reservation: 044 242 04 11

SEPTEMBER 2014

FERTIG LUSTIG! 14 (UN)HEIMLICHE LIEBLINGSKOMÖDIEN

Einzige, der diesem Instrument aber Töne entlocken kann, ist Kai, ein Wildfang mit Strubbelkopf aus einfachen Verhältnissen, mit dem sich Shuhei bald anfreundet. Kai ist ein aussergewöhnlich begabtes Naturtalent und hat noch nie eine Klavierstunde besucht. Erst Shuhei überredet ihn, Unterricht bei Lehrer Ajino zu nehmen, der selbst bis zu einem Unfall Konzertpianist war. Ajino bringt Kai dazu, wie Shuhei am bevorstehenden Klavierwettbewerb teilzunehmen – durch die Konkurrenzsituation wird die Freundschaft der beiden Jungs auf eine harte Probe gestellt. Mit leisem Humor entfaltet Regisseur Masayuki Kojima in The Piano Forrest seine berührende Geschichte über die Freundschaft der beiden musikalisch hochbegabten, doch sehr ungleichen Jungen. Im Zentrum steht ihre unterschiedliche Herangehensweise an die Musik: Für den einen ist das Klavierspiel mit harter Arbeit und mit einem enormen Leistungsdruck verbunden, für den anderen ist es dagegen ein «Spiel», das ihm Spass bereitet. In stimmungsvollen Bildern zeigt Masayuki Kojima, wie die beiden Jungs voneinander lernen und wie ihre wunderbare Freundschaft dem Wettstreit trotzt. Ein feinfühliger Anime, der jüngere (wie ältere) Zuschauer ganz nebenbei an Bach, Beethoven, Chopin und allen voran Mozart heranführt. Tanja Hanhart


34 JORDI SABATÉS PRÄSENTIERT SEGUNDO DE CHOMÓN

SO, 19. OKT. | 18.15 UHR

DER KATALANISCHE MÉLIÈS tungen, Einblendungen, Stopptricks, Pyro­ technik und weitere Effekte einsetzte. Ein beliebtes Thema seiner Filme ist die Science Fiction; während Méliès seine Filmhelden zum Mond schickte, flogen Segundo de Chomóns Reisende zum Jupiter oder zum Mars. Daneben entstanden zauberhafte Me­ tamorphosen und Verwandlungen sowie animierte Postkartenbilder, die mit Schab­ lonen koloriert wurden – dies eine weitere seiner Spezialitäten. Während seiner Jahre Der Katalane Segundo de Chomón war einer

in Barcelona wirkte Segundo de Chomón

der bedeutendsten Kinopioniere; mit seinen

auch beim Aufbau einer spanischen Filmin­

Trickfilmen und Spezialeffekten hat er für

dustrie mit.

Entzücken, Verblüffung und Erstaunen ge-

Das Programm wird präsentiert und be­

sorgt. Wir zeigen eine Auswahl seiner

gleitet vom katalanischen Pianisten und Kom­

schönsten Filme, präsentiert und begleitet

ponisten Jordi Sabatés, der sich bereits mit

vom katalanischen Pianisten und Kompo-

seinen Begleitungen zu Filmen von Murnau,

nisten Jordi Sabatés.

Keaton und Méliès einen Namen gemacht hat.

Segundo de Chomón (1871–1929) war einer

H Stummfilme mit Jordi Sabatés am Flügel

der wegweisenden Cineasten in der Frühzeit des Films. In Barcelona, Paris und Turin ar­

Das Programm:

beitete der Katalane mit den wichtigsten

SEGUNDO DE CHOMÓN / Spanien 1905 –1912

Produzenten und Regisseuren seiner Zeit

Danses cosmopolites à transformation

zusammen und schuf Spezialeffekte u. a. für

Le Roi des Dollars Ah! la barbe La maison ensorcelée Création de la serpentine La valise de Barnum L´album merveilleux Electric Hôtel Métamorphoses Les œufs de Pâques Le spectre rouge Les ombres chinoises En avant la musique Symphonie bizarre

Albert Capellani, Giovanni Pastrone (Cabiria, 1914) oder Abel Gance (Napoleon, 1927). Als Tüftler, Erfinder, Innovator, Film-Magier und Genie des fantastischen Films ist er nur mit Georges Méliès zu vergleichen; damit sie mit diesem wetteifern konnte, wurde er von der bedeutendsten Produktionsgesellschaft seiner Zeit, Pathé Frères, unter Vertrag ge­ nommen. Als Kameramann und Regisseur hinter­ liess Segundo de Chomón rund 350 fantasti­ sche Geschichten und originelle Trickfilme, in denen er Kamerafahrten, Doppelbelich­

In Zusammenarbeit mit dem Spanischen Generalkonsulat, Zürich


35 VORPREMIERE

DO, 6. NOV. | 18.15 UHR

MEMORIES ON STONE Der Genozid an den Kurden als Film im

Nordirak zu drehen. Aber das Filmemachen

Film – das ist das Thema von Shawkat Amin

im Nachkriegs-Kurdistan ist nicht einfach;

Korkis neuestem Film Memories on Stone,

als besonders schwierig erweist sich die Su­

den wir in Anwesenheit des Regisseurs als

che nach einer Hauptdarstellerin. Doch plötz­

Vorpremiere zeigen.

lich taucht Sinur auf: jung, schön und vom Projekt begeistert. Aber Sinur kann nicht al­

Shawkat Amin Korki wurde 1973 im kurdi­

leine entscheiden: Cousin Hiwar und Onkel

schen Teil des Iraks geboren, hat aber viele

Hamid haben ihr Schicksal in der Hand. Die

Jugendjahre im Iran verbracht. In Kick Off

Probleme nehmen zu, das Geld geht aus,

(2010 im Filmpodium zu sehen) schilderte

doch Hussein und Alan opfern alles, um wei­

er den Alltag von Flüchtlingsfamilien, die in

terdrehen zu können.

einem Fussballstadion eine provisorische

H in Anwesenheit des Regisseurs

Bleibe fanden. Sein neuer Film Memories on Stone erzählt von den kurdischen Jugend­ freunden Hussein und Alan, die nach dem Sturz Saddam Husseins beschliessen, einen Film über den Genozid des irakischen Re­ gimes an der kurdischen Bevölkerung im

MEMORIES ON STONE / Irak 2014 97 Min / Farbe / DCP / OV/d/f // REGIE Shawkat Amin Korki // DREHBUCH Mehmet Aktaş, Shawkat Amin Korki // ­KAMERA Salim Salavati // MUSIK John Gürtler, Özgür Akgül // SCHNITT Ebrahim Saeedi // MIT Hussein Hassan ­(Hussein), Nazmi Kırık (Alan), Shima Molaei (Sinor), Rekesh Shahbaz (Bashir), Hishyar Ziro (Hajar), Bangin Ali (Hiwa)

Ein Fest fürs Kino. Ein fest für alle.

Filmpodium Kino corso Arthouse Le Paris Arena Cinemas

zff.com / starticket.ch Main Partner Co-Partner


36 SÉLECTION LUMIÈRE

DO, 13. NOV. | 18.15 UHR

DER MANN MIT DER KAMERA Dsiga Wertow hat 1929 mit Der Mann mit der

beitete. Dabei bediente Wertow sich beson­

Kamera (Tschelowjek s kinoapparatom) einen

ders der formalen Mittel des Films – er be­

Experimentalfilm geschaffen, der das Kino

nutzte die Grossaufnahme, die rhythmische

in jeder Hinsicht entfesselte: Nicht nur be-

Gliederung einzelner Sequenzen als Mittel

wegt sich die Kamera ungebunden in allen

der Aussage; Zwischentexte und Bild setzte

räumlichen Dimensionen; der Film selbst

er in kontrapunktische Beziehung. (...)

verzichtet auf ein Drehbuch und die assozi-

Tschelowjek s kinoapparatom wirkt wie die

ative Montage erreicht eine schwindelerre-

Verfilmung eines Wertowschen Manifestes.

gende Schnittkadenz, wie man sie sonst nur

Protagonist ist nicht mehr nur ein Mensch,

von heutigen Actionfilmen kennt.

sondern

der

Kameramann

und

das

‹Filmauge› selbst. Kurbelnd eilt der Opera­ teur mit seinem Gestell durch alle Bilder, rast auf Autos daher, erklettert schwin­ delnde Schornsteine, klebt an der Aussen­ seite eines fahrenden Zuges. Lokomotiven fahren über die Kamera hinweg oder haar­ scharf an ihr vorbei; Strassenbahnen über­ kreuzen sich in Doppelbelichtung. Dann wieder erstarrt die Bewegung zum Stand­ foto, und die Kamera holt einzelne Gesichter scharf und nah heran – auch hier wird Leben ‹überrumpelt›. Was den Mann mit der Ka­ mera, abgesehen von dem Tatsachenfana­ DER MANN MIT DER KAMERA (Tschelowjek s kinoapparatom) / UdSSR 1929 / Restaurierte Kopie

tismus und der rhythmischen Gliederung des Films, noch heute zu einem faszinieren­

86 Min / sw / 35 mm / Stummfilm ohne Zw’titel // DREHBUCH

den Werk macht, ist die Betonung der Film-

UND REGIE Dsiga Wertow // KAMERA Michail Kaufman //

Zuschauer-Relation: Wertows Film beginnt

SCHNITT Elisaweta Swilowa.

mit einem langsam sich füllenden Kinosaal, blendet zwischendurch ins Laboratorium

«Wertow arbeitete von 1922 bis 1925 an der

und an den Schneidetisch über, lässt das

von ihm gegründeten und geleiteten Film-

Kameraobjektiv nicht aus dem Auge, kurz,

Monatsschau

(Film-Wahr­

er orientiert den Zuschauer über den filmi­

heit), von der dreiundzwanzig Folgen er­

schen Entstehungsprozess und macht so

schienen. In der Kino-Prawda entwickelte

den Film als artifizielle Schöpfung be­

Wertow einen ganz neuen Typus Wochen­

wusst.» (Ulrich Gregor/Enno Patalas: Ge­

schau, der sich nicht mehr auf blosse Infor­

schichte des Films)

Kino-Prawda

mation beschränkte, sondern Aufnahmen aus allen Teilen der Sowjetunion zu einem

H Stummfilm mit Alexander Schiwow am

agitatorisch-publizistischen Ganzen verar­

Flügel; Einführung: Martin Walder


37 IMPRESSUM

DAS FILMPODIUM IST EIN ANGEBOT DES PRÄSIDIALDEPARTEMENTS

in Zusammenarbeit mit der Cinémathèque suisse, Lausanne/Zürich LEITUNG Corinne Siegrist-Oboussier (cs), STV. LEITUNG Michel Bodmer (mb) WISSENSCHAFTLICHE MITARBEIT Tanja Hanhart (th), Primo Mazzoni (pm) // PROGRAMM-MITARBEIT Liliane Hollinger // PRAKTIKANT Marius Kuhn // SEKRETARIAT Claudia Brändle BÜRO Postfach, 8022 Zürich, Telefon 044 412 31 28, Fax 044 212 13 77 WWW.FILMPODIUM.CH // E-MAIL info@filmpodium.ch // KINO Nüschelerstr. 11, 8001 Zürich, Tel. 044 211 66 66 UNSER DANK FÜR DAS ZUSTANDEKOMMEN DIESES PROGRAMMS GILT: Adrenaline Films, New York; Arkeion, Paris; Arsenal Distribution, Berlin; AV Visionen, Berlin; Doc and Film, Paris; Dualfilm GmbH, Stuttgart; EYE Film Institute Netherlands, Am­ sterdam; The Festival Agency, Paris; Filmcoopi, Zürich; Frenetic Films, Zürich; Fugu Filmverleih, Berlin; Andrea Holley, Human Rights Watch Film Festival, New York; Simone Nabholz, Human Rights Watch, Zürich; Charif Kiwan, Damaskus; Peter Langs/ Universal Studios Film Archive, Los Angeles; Neue Visionen Filmverleih, Berlin; New Regency Productions, Los Angeles; NFP, Berlin; Park Circus, Glasgow; Piffl Medien, Berlin; Propeller Films, Brooklyn; Jordi Sabatés, Barcelona; Salzgeber Medien, Berlin; Spanisches Generalkonsulat, Zürich; Tamasa Distribution, Paris; trigon-film, Ennetbaden; The Works International, London. DATABASE PUBLISHING BitBee Solutions GmbH, Zürich // KONZEPTIONELLE BERATUNG Esther Schmid, Zürich GESTALTUNG TBS & Partner, Zürich // KORREKTORAT N. Haueter, D. Däuber // DRUCK Ropress, Zürich // AUFLAGE 7000 ABONNEMENTE Filmpodium-Generalabonnement : CHF 400.– (freier Eintritt zu allen Vorstellungen; inkl. Abo Programmheft) // Filmpodium-Halb­ taxabonnement: CHF 80.– / U25: CHF 40.– (halber Eintrittspreis bei allen Vorstellungen; inkl. Abo Programmheft) // Abonnement Programmheft: CHF 20.– // Anmeldung an der Kinokasse, über www.filmpodium.ch oder Tel. 044 412 31 28

VORSCHAU Titanus

Kino der ČSSR

Seit über 100 Jahren prägt das Verleih- und

Vor 50 Jahren legte Miloš Forman mit Černý

Produktionshaus Titanus die italienische

Petr einen Schlüsselfilm jener Generation

Filmgeschichte. Neben Unterhaltungskino

vor, die kurz darauf den Prager Frühling ins

entstanden hier wichtige Werke von Visconti,

Leben rufen sollte. Das Filmschaffen der

Antonioni, Fellini, Rossellini und Zurlini. Zu

ČSSR ist reif für eine richtige Retrospektive,

den Stars, die nach Hollywood-Muster

die neben beliebten Klassikern von Menzel,

aufgebaut wurden, zählten Sophia Loren, ­

Chytilová u. a. allerlei Entdeckungen umfas­

­Claudia Cardinale, Alberto Sordi und Vittorio

sen wird. Im Januar folgen Filme aus Tsche­

Gassman, aber auch Alain Delon und Jean-

chien und der Slowakei, die seit der «samte­

Louis Trintignant glänzten bei Titanus.

nen Revolution» entstanden sind.

Filmbuff-Quiz is back! Freitag, 5. Dezember 2014, 20.30 Uhr Bild: SRF


Chadwick Boseman

OCTOBER 9

FB/UniversalPicturesSwitzerland GetOnUp.ch


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