¡Espectacular! – Mexikanisches Populärkino 1940–1970
Die Retrospektive des Locarno Film Festival verspricht stets aussergewöhnliche Entdeckungen und ist daher regelmässig auch im Filmpodium zu Gast. Gemeinsam mit Kurator Olaf Möller laden wir auf eine wilde Entdeckungsreise durch das mexikanische Populärkino ein, das nicht nur für Attraktionen und Verführung, sondern auch für dezidierte Gesellschaftskritik steht und keine Angst kennt vor heissen Themen.
Die Retrospektive zum populären Kino Mexikos des Locarno Film Festival 2023 war eine Sensation: Das Publikum staunte über politisch subversive Musicals (La corte de faraón, 1944; Julio Bracho), moderne Melodramen (Más fuerte que el amor, 1955; Tulio Demicheli), surrealistische Komödien (El caso de la mujer asesinadita, 1955; Tito Davison), verstörende Western (Los hermanos del Hierro, 1961; Ismael Rodríguez), knallbunt-fidele Superheldinnen-Extravaganzen (La mujer murciélago, 1968; René Cardona) und wunderte sich von Tag zu Tag mehr darüber, dass man von all diesen abenteuerlustigen, formal wie inhaltlich wieder und wieder bahnbrechenden Herrlichkeiten noch nie etwas gehört hatte.
Um es gleich vorwegzunehmen: Mexiko befindet sich auf demselben Niveau wie Italien oder Frankreich, was die Dichte an Meister:innen, das Stargepränge oder auch die Genrevielfalt der Produktion angeht, sprich: die künstlerische Bedeutung. Ganz zu schweigen von der schieren Masse an Filmen: In der Hochzeit der mexikanischen Filmindustrie während der 1950er- und 1960erJahre entstanden hier alljährlich mehr Arbeiten als in den beiden nächstgrösseren spanischsprachigen Produktionsländern Argentinien und Spanien zusammen. Mexiko war das Schlüsselland für das Kino dieses Sprachraums, ein kosmopolitischer Ort, welcher Filmschaffenden aus Ländern wie Chile (Tito Davison), Kuba (René Cardona) oder Argentinien (Tulio Demicheli) neue Arbeitsmöglichkeiten bot sowie politisch Verfolgten aus Europa und den USA zusätzlich auch Schutz. Zu sehen ist von diesen Abertausenden von Werken letztlich aber immer dasselbe Dutzend an Titeln: eine Handvoll Standardklassiker von Emilio Fernández, ein, vielleicht zwei als «symptomatisch» geltende Filme von Roberto Gavaldón, Alejandro Galindo und gegebenenfalls noch von Ismael Rodríguez plus Luis Buñuel, versteht sich. Und das wars.
Die Ausdünnung auf ein paar designierte Meisterwerke steht im krassen Widerspruch dazu, wie präsent das mexikanische Kino in den Nachkriegsdekaden international war – und zwar nicht nur im Festivalbetrieb mit exquisiter Repräsentationskunst vor allem der oben genannten Regisseure,
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sondern auch im Kinoalltag, und das genau mit jener Art von populären Filmen, die erst in Locarno und nun hier im Filmpodium gefeiert werden. Diese Werke wurden allerdings fast immer als Konfektionsware zweiter bis dritter Güteklasse behandelt und durch Kürzungen oder vergröbernde Synchronisationen oft auch vulgarisiert, banalisiert. Matilde Landetas abgründig-feministischer Versuch über soziale wie ökonomische Gewaltverhältnisse,Trotacalles (1951), wurde so z. B. in der Bundesrepublik zum Sexploiter im Nuttenmilieu uminterpretiert und entsprechend ausgewertet, dito Tulio Demichelis süffisant-pointiertes Pamphlet zum Klassendünkel Más fuerte que el amor, das unter dem moralisierend-hämischen Titel Kein Kopf für seidene Kissen in der BRD als saftiges Stück Exotik-Erotica in den einschlägigen Theatern zu sehen war. Das Gleiche gilt für Dutzende von Ringer- und Horrorfilmen des PopHandwerkers René Cardona, die in den USA zu Einstündern für den Autound Landkinomarkt heruntergehackt wurden. Populäres Kino ist immer auch Attraktion und Verführung, doch wenn man diese zum Selbstzweck macht und den Werken ihre Intelligenz und Würde nimmt, droht Gefahr.
Eine andere Sicht
¡Espectacular! lässt ganz bewusst die allseitig abgefeierten Meisterwerke aussen vor: Hier geht es nicht um grosse Filme, sondern um die Grösse der mexikanischen Filmkultur an sich. Und damit um eine interessante Frage, nämlich: Was kann mexikanische Filmgeschichte heute noch alles sein – was wirkt an ihr jetzt bezeichnend, wegweisend, zukunftsträchtig? Was wusste dieses Kino schon alles, was heute relevant ist?
Die Antwort darauf findet sich oft in Filmen herausragender Regisseur:innen, welche lange als Nebenwerke betrachtet wurden – wenn sie nicht von ihren Macher:innen gleich selber desavouiert wurden –, wie etwa das gestalterisch immer wieder überraschende, neurotisch-existenzialistische Rachedrama Los hermanos del Hierro, das Ismael Rodríguez hasste. Vielleicht war ihm klar, wie scharfkantig sich hier eine sinnfrei-soziopathische Seite seines ansonsten so gut gelaunten Macho-Humanismus offenbarte –dass ihm sozusagen etwas unwiderruflich herausgerutscht war.
Ein Paradebeispiel für einen solchen unterschätzten Film ist Roberto Gavaldóns Días de otoño (1963), die Adaption einer späten Kurzgeschichte von B. Traven, welche in den letzten Jahren eine jüngere Generation mexikanischer Cinephiler für sich entdeckte. Mit Recht: Die Geschichte der jungen Luisa, die in die Hauptstadt kommt und sich dort immer tiefer in eine kleinbürgerliche Glücksfantasie inklusive imaginierten Ehemann und Kind spielt und damit ihre Umgebung betrügt, offenbart elegant das Zwiespältige der frühen 1960er-Jahre mit ihrem neuen Wohlstand, der alten Armut und dem Lügengewebe, das diese beiden Seiten der Wirklichkeit Mexikos zusammenhielt. Die zentrale Frage des Films ist, wie bewusst sich Luisa der Farce ist, die
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sie da aufführt – was sie beabsichtigt, wenn sie erst die Jungverliebte, dann die Ehefrau, schliesslich die Mutter spielt, und ob sie das für sich oder für die anderen tut.
Grenzziehungen, Grenzüberschreitungen Soziale Maskeraden, Grenzgänge zwischen den Klassen und ihren Realitäten finden sich oft in diesem Kino. Speziell zu erwähnen ist in diesem Kontext das Diptychon aus Fernando Méndez’ Sozial-Noir El suavecito (1951) und Alejandro Galindos Exposé zur illegalen Arbeitsmigration in die USA, Espaldas mojadas (1955). Beide erzählen von den inneren wie äusseren Abhängigkeitsverhältnissen zwischen Mexiko und dem nördlichen Nachbarn. Bei Méndez verstrickt sich ein Kleinkrimineller mit US-Gangster-Allüren in ein Netz aus Lebenslügen – bis dann der Zahltag kommt. Dasselbe gilt für eine Nebenfigur in Espaldas mojadas (bezeichnenderweise gespielt vom selben Darsteller, Víctor Parra), deren Untergang Galindo den Selbstfindungsprozess einer Mexiko-US-Amerikanerin gegenüberstellt.
Was uns zu zwei der formal wie politisch erstaunlichsten Werke des Programms bringt. Julio Bracho nutzte das narrative Gerüst sowie einige der berühmtesten Lieder einer im faschistischen Spanien verbotenen Zarzuela (ein traditionelles Musiktheater) in La corte de faraón, um sich über die einheimische Korruption auszulassen. Doch damit nicht genug: Der Film mixt wie wild Elemente von Art déco, Brecht’schem Theater, klassischem Ballett und Hollywoodmusical-Konventionen, um über Sinn wie Unsinn der Moderne spielerisch nachzudenken. Alfredo Bolongaro-Crevenna schliesslich griff bei seiner Transposition von Christa Winsloes krass preussischem Lesbenklassiker Mädchen in Uniform (1930) in ein katholisches Milieu auf die Ästhetik des Expressionismus zurück, um seinem antipatriarchalen Traktat Muchachas de uniforme (1951) eine angemessen neurotisch-grausame Dichte und Härte zu verpassen. Damals eher mit Verwirrung zur Kenntnis genommen, wirkt Muchachas de uniforme heute politischer denn je. Was bei genauerer Betrachtung für die meisten Werke dieser Auswahl gilt.
Olaf Möller
Das Filmpodium dankt dem Locarno Film Festival und Olaf Möller, dem Kurator der Retrospektive «Espectáculo a diario – Las distintas temporadas del cine popular mexicano».
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Olaf Möller (Köln/Helsinki). Schreibt über und zeigt Filme.
→ Los
hermanos del Hierro
→ Días de otoño
© Les films du Camelia
© Courtesy of Filmoteca UNAM
LA CORTE DE FARAÓN
Mexiko 1944
Um einer Weissagung zu entsprechen und Unheil vom Palast fernzuhalten, muss der Pharao einen unbesiegbaren General an eine jungfräuliche Sklavin verheiraten. Die junge Dame nun hat aber schon einen Anbeter, während das Verhältnis des Heerführers zu seiner Ordonanz auch nicht rein militärischer Natur zu sein scheint ... Julio Bracho verwendete aus dem gleichnamigen (im FrancoSpanien verbotenen) Singspiel-Klassiker allein das Genesis-Geschichtsgrundgerüst und ein paar zweideutigkeitendichte Evergreens, um diese mit Art-déco-Sets und Brecht’schen Verfremdungseffekten, mit Ballettnummern, Striptease-Einlagen und Hollywoodmusical-Choreografien zu einem hysterisch-hybriden Spektakel ausgesprochen mexikanischer Art zu vermischen.
90 Min / sw / DCP / Sp/e // REGIE Julio Bracho // DREHBUCH
Julio Bracho, Neftali Beltrán // KAMERA Ignacio Torres // MUSIK Manuel Esperón, Rodolfo Halffter, Vicente Lleó // SCHNITT Gloria Schoemann // MIT Mapy Cortés (Lota), Roberto Soto (Pharao), Fernando Cortés (Putifar), Consuelo Guerrero de Luna (Pharaonin).
EL REY DEL BARRIO
Mexiko 1949
Tin Tan führt ein Doppelleben: Für seinen kleinen Sohn gibt der alleinerziehende Vater den stets hilfsbereiten Eisenbahner – für eine Bande von Verbrechern hingegen einen Pachuco-Gangster, der sein Handwerk in Chicago, Illinois, beim rücksichtslosesten Kriminellengesindel der Welt gelernt und deshalb immer einen gigantischen Coup im Kopf hat. Dummerweise gehen die Raubzüge dauernd schief. Und auch an der von ihm umschwärmten aparten Nachbarsfrau, die ihre kranke Mutter pflegt, beisst sich Tin Tan die Zähne aus. Einsamer Höhepunkt dieses extrem klugen Versuchs zur mexikanischen Identität ist das Duett-Duell der Komikerlegenden: Tin Tan vs. Vitola, welches Letztere mit ihren schlicht unerreichten Gesten und Fratzen nach Punkten gewinnt.
100 Min / sw / DCP / Sp/e // REGIE Gilberto Martínez Solares // DREHBUCH Juan García, Gilberto Martínez Solares // KAMERA Solares Agustín Martínez // MUSIK Luis Hernández Bretón // SCHNITT José W. Bustos // MIT Germán Valdés «Tin Tan» (Tin Tan), Famie Kaufman (La Nena), Silvia Pinal (Carmelita), Marcelo Chávez (Marcelo), Juan García (El Peralvillo).
EL GRAN CAMPEÓN
Mexiko 1949
Am 1. September 1929, im Alter von wahrscheinlich sechzehn, möglicherweise aber auch nur dreizehn Jahren, betrat der Amateur Luis Páramo zum ersten Mal einen Boxring für einen offiziellen Kampf – und verlor nach Punkten. Als er am 3. Februar 1961 seinen 255. und letzten Kampf per K. o. gewann, war er zu einer weltweiten Boxlegende namens Kid Azteca gereift. In seinem achtzehnten Profijahr spielte Villanueva für die Leinwand sich selbst, auch damit all jene seiner Fans, bei denen es für ein Ticket für einen Boxabend nie reichen würde, seinen Stil und seine Ausdauer wenigstens im Kino bewundern konnten. Die Krimigeschichte inklusive tränendrüsiger Romanze um den dokumentarischen Kern wiederum ist «extrapulpig» geraten – zur gesunden Kinofreude des Publikums.
Min / sw / DCP / Sp/e // REGIE
// DREH-
EL SUAVECITO
Mexiko 1951
Roberto ist ein Kleinkrimineller und MöchtegernLude mit Pachuco-Allüren: Er trägt weit geschnittene Anzüge und streut in sein Spanisch mit Vorliebe zum Teil absurde englische Wörter und Redewendungen. In Wirklichkeit aber ist er viel zu gutmütig für die härteren Ecken der Stadt, was ihm spätestens klar wird, als er sich mit El Nene anlegt. Ein düsterer Sozial-Noir, der den Zeitgeist so akut auf den Punkt brachte, dass offizielle Stellen das Werk zu gefährlich fanden und den Filmstart um rund ein Jahr verzögerten. Obwohl El suavecito fast komplett im Studio gedreht wurde, zeichnet der Film zudem ein hervorragendes Porträt des Unterschichts-Mexiko-City. Ein Lieblingsfilm von Guillermo del Toro, der sich an der Finanzierung dieser Restaurierung beteiligte.
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Chano Urueta
BUCH Eduardo Galindo, Joaquín Pita Cabrera, Chano Urueta // KAMERA Víctor Herrera // MUSIK Gonzalo Curiel // SCHNITT Jorge Bustos // MIT Luis Villanueva (Kid Azteca),
María Luisa Zea (Avelina), Tito Junco (El perfumes), Amalia Aguilar (Margarita).
89 Min / DCP / Sp/e // REGIE Fernando Méndez // DREHBUCH
Gabriel Ramírez Osante // KAMERA Manuel Gómez Urquiza
// MUSIK Gustavo César Carrión // SCHNITT Carlos Savage
// MIT Víctor Parra (El suavecito), Aurora Segura (Lupita), Dagoberto Rodríguez (Carlos Martínez), Jacqueline Evans (La Gringa), María Amelia de Torres (Doña Chole).
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MUCHACHAS DE UNIFORME
(Mädchen in Uniform)
Mexiko 1951
Die legendäre mexikanische Version von Leontine Sagans Klassiker des Weimarer Kinos Mädchen in Uniform (1931) und die einzige, welche so endet wie das dem Werk zugrunde liegende Theaterstück «Ritter Nérestan» (1930) von Christa Winsloe. Die individuell-lesbische Dimension des Dramas um eine Internatsschülerin, die sich in ihre Lehrerin verliebt, steht hier im Hintergrund –wichtiger war Bolongaro-Crevenna das Problem patriarchaler Strukturen und wie diese die Frauen sich selbst gegenüber entfremden lässt. Die im Stil des Expressionismus gehaltene Ausstattung unterstreicht den Zug zur Abstraktion. Die Heftigkeit, mit der hier am Ende die katholische Kirche verdammt wird, kommt dann allerdings etwas unerwartet, vor allem im Kontext des Mexiko der 1950er-Jahre.
83 Min / DCP / Sp/e // REGIE Alfredo Bolongaro-Crevenna // DREHBUCH Edmundo Báez, Egon Eis, Edward Fitzgerald, nach dem Bühnenstück und Drehbuch von Christa Winsloe // KAMERA Ignacio Torres // MUSIK Raúl Lavista // SCHNITT Rafael Portillo // MIT Marga López (Lucila), Rosaura Revueltas (Oberin), Irasema Dilián (Manuela Medina), Alicia Caro (Claudia).
kreuzen sich ihre Wege wieder – und die Geschichte wiederholt sich mit Variationen ... Ein brutal hellsichtiges Traktat in Melodramen-Gestalt zur Frage des Klassenantagonismus, bei dem sich zeigt, dass am Ende immer das Kapital gewinnt, weil seine Vorzeigevertreter in jeder und jedem erst einmal die Ware und deren exakten Wert sehen können. Zur Solidarität reichts immer erst zu spät.
101 Min / sw / DCP / Sp/e // REGIE Matilde Landeta // DREHBUCH José Águila // KAMERA Rosalío Solano // MUSIK
Gonzalo Curiel // SCHNITT Alfredo Rosas Priego // MIT
Miroslava (Elena), Ernesto Alonso (Rodolfo), Elda Peralta (María), Miguel Ángel Ferriz (Don Faustino Irigoyen).
EL RÍO Y LA MUERTE
Mexiko 1954
Ein Dorf irgendwo in der mexikanischen Einöde. Seit Generationen tragen hier zwei Familien eine tödliche Fehde aus. Eigentlich wäre der junge, moderne Arzt Felipe Anguiano an der Reihe, die Familienehre wiederherzustellen. Aber seine Mutter hat den Halbwaisen schon vor vielen Jahren nicht nur zum Studium in die Stadt geschickt, sondern auch um den Kreislauf der Gewalt zu brechen. Doch gebeugt vom Alter und unter dem Druck der gewaltlustigen Dorfgesellschaft, die den Pazifismus des Sohnes als Feigheit abtut, bittet sie Felipe zurückzukommen. Widerwillig und auch nur um dem altmodischen Treiben ein Ende zu setzen, willigt der Sohn schliesslich ein. Aber kaum ist er im Dorf angekommen, laufen die Ereignisse und auch seine eigenen Gefühle aus dem Ruder. Wie Ismael Rodríguez in seinem Meisterwerk Los hermanos del Hierro behandelt Buñuel mit diesem nonkonformistischen Rachewestern ein landespezifisches Thema und entlarvt so manchen Mythos von männlicher Ehre. Eine ganz eigene ironische Note bekommt der Film allerdings, wenn man weiss, dass Buñuel ein Waffenfanatiker war, der viele Stunden seiner Freizeit im Schiessstand verbrachte.
TROTACALLES (Mädchen der Strasse)
Mexiko 1951
Zwei Schwestern liebten vor vielen Jahren den gleichen Mann. Die eine bekam ihn und stürzte kurz darauf mit ihm in die Gosse ab, wo sie nun ihr Dasein als Prostituierte fristet; die andere schmiss sich aus Wut dem nächstbesten Millionär als Vorzeigegattin an den Hals. Eines Abends
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92 Min / sw / DCP / Sp/f // REGIE Luis Buñuel // DREHBUCH
Luis Buñuel, Luis Alcoriza, nach einem Roman von Miguel Álvarez Acosta // KAMERA Raúl Martínez Solares // MUSIK
Raúl Lavista // SCHNITT Jorge Bustos // MIT Columba Domínguez (Mercedes), Miguel Torruco (Felipe Anguiano), Joaquín Cordero (Gerardo Anguiano), Jaime Fernández (Rómulo Menchaca), Víctor Alcocer (Polo Menchaca).
LLÉVAME EN TUS BRAZOS
(Take Me in Your Arms)
Mexiko 1954
Um die Schulden ihres Vaters zu tilgen, sieht sich Rita gezwungen, für den reichen Zuckermühlenbesitzer zu arbeiten. Der verspricht sich von dem Deal nicht nur weitere persönliche Vorteile, sondern feuert auch noch gleich Ritas Geliebten José, weil er Rädelsführer eines Streiks war. Arbeitslos zieht José fort, statt wie geplant Rita zu heiraten ... Als Julio Bracho sein Drehbuch über die korrupten Zustände im mexikanischen Hinterland nirgends finanziert bekam, nahm sich Rumbera-Ikone Ninón Sevilla des Projekts an, arbeitete den Stoff mit ihm um, brachte Kamerasuperstar Gabriel Figueroa an Bord – tat kurz gesagt alles, damit der Film so stil- wie qualitätsvoll gemacht werden konnte. Das Resultat: eine formvollendete, visuell berauschende, perfekt austarierte Mischung von Melodram und Analyse politischer Missverhältnisse.
92 Min / sw / DCP / Sp/e // REGIE Julio Bracho // DREHBUCH
Julio Bracho, José Carbo // KAMERA Gabriel Figueroa // MUSIK Antonio Díaz Conde // SCHNITT Gloria Schoemann // MIT Ninón Sevilla (Rita Rosales), Armando Silvestre (José), Andrea Palma (Doña Eva), Carlos López Moctezuma (Don Gregorio), Andrés Soler (Don Pedro).
EL CASO DE LA MUJER ASESINADITA
Mexiko 1955
Wie jeden Abend fällt auch heute die Dame des Hauses auf der Wohnzimmercouch in einen tiefen Schlummer. Diesmal träumt sie davon, dass sie just in diesem Raum Besuch erhält, u. a. von einem Indianer inklusive üppigen Federornats. Bald darauf kommt der ihr bislang unbekannte Chef ihres Gatten vorbei – der sieht nicht nur exakt so aus wie der Indianer, sondern behauptet auch, ihr in einem Traum begegnet zu sein ... Was ist hier Wirklichkeit, was Traum, was Vision? Warum tauchen plötzlich Figuren aus der Zukunft im Hier und Jetzt auf? Kann das Verbrechen, das sich unweigerlich abzeichnet, noch verhindert werden? Ein aufregender Mix aus Boulevardkrimiko-
mödie und surrealistischer Fantasie, der seine wahre Natur erst im letzten Bild offenbart: die des Melodrams.
102 Min / sw / DCP / Sp/e // REGIE Tito Davison // DREHBUCH
Julio Alejandro, Tito Davison // KAMERA Solares Agustín
Martínez // MUSIK Antonio Díaz Conde // SCHNITT Gloria Schoemann // MIT Jorge Mistral (Francisco Payeiro), Gloria Marín (Mercedes), Salazar Abel (Lorenzo), Roth Martha (Raquel González), Grifell Prudencia (Sra. Llopis), Amparo Arozamena (Teresa), Jesús Valero (Sr. Arturo Llopis Jr.).
ESPALDAS MOJADAS (Wetbacks)
Mexiko 1955
Rafael will in den USA arbeiten, hat aber keine Ausweispapiere, weil er sich daheim mit den falschen Leuten angelegt hat und nun sehen muss, wo er bleibt. So vertraut er sich einem Schlepper an, der ihn auch tatsächlich durch den Rio Grande del Norte in die Staaten gelotst bekommt. Da allerdings erwartet ihn auch nicht mehr als Unterdrückung und Ausbeutung. Rafael steht zwar im Zentrum der Geschichte, doch die grosse Frage der kulturellen Zugehörigkeit wird anhand zweier Nebenfiguren diskutiert: derjenigen eines mexikanischen Unternehmers, der unbedingt (wie ein) US-Amerikaner sein will, und derjenigen einer Mexiko-US-Amerikanerin, die sich entwurzelt fühlt und ihr Glück in jenem Land sucht, aus dem ihre Familie stammt. Ein Meisterwerk von höchster politischer Aktualität!
115 Min / sw / DCP / Sp/e // DREHBUCH UND REGIE Alejandro Galindo // KAMERA Rosalío Solano // MUSIK Jorge Pérez H. // SCHNITT Carlos Savage // MIT David Silva (Rafael Améndola Campuzano), Víctor Parra (Mr. Sterling), Martha Valdés (María del Consuelo), Óscar Pulido (Luis Villarreal).
MÁS FUERTE QUE EL AMOR
(Kein Kopf für seidene Kissen)
Mexiko 1955
Carlos’ Familie stammt aus ärmsten Verhältnissen, hat sich aber hochgearbeitet und besitzt nun einen grossen Anteil an jener Zuckerplantage, bei der sie früher angestellt war. Alle Beteiligten aber schweigen in der Öffentlichkeit über die wahren
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→ El río y la muerte
→ El gran campeón.
→ Trotacalles
→ El rey del barrio
→ Muchachas de uniforme.
© Courtesy of Filmoteca UNAM
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© Archive of the Mexican Film Institute
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Besitzverhältnisse und deren Gründe. Gestichelt wird diskret: So hat Carlos z. B. seiner Geliebten eine Bar finanziert, deren Lärm die Bewohner des Herrenhaus nachts wach hält. Letztere schmieden ihrerseits bösartige Ränke, um den Emporkömmling auf seinen Platz zu verweisen. Als nun die Tochter des Hauses im Coupé vorfährt und Carlos wie ihr Eigentum behandelt, brennen bald sehr viele Sicherungen bei mehr als nur den beiden durch ... Ein Shakespeare’sch inspiriertes, erstaunlich modernes, weil immer wieder sardonisch-humorvolles Melodram über Besitzverhältnisse aller Art.
90 Min / sw / DCP / Sp/e // REGIE Tulio Demicheli // DREHBUCH Óscar García Dulzaides, Tulio Demicheli // KAMERA
Jack Draper, Max Liszt // MUSIK Pablo Ruiz Castellanos // SCHNITT Mario González // MIT Jorge Mistral (Carlos Andrade), Miroslava (Bárbara Peñafiel), Néstor de Barbosa (Armando), Enrique Santisteban (Don Rodolfo Peñafiel).
EL ESQUELETO DE LA SEÑORA MORALES
Mexiko 1960
Der arme Tierpräparator Pablo hat es nicht leicht mit seiner hinkenden, zänkischen, ganz generell misanthropisch-missgünstigen Gattin Gloria. Zu allem Elend aber gehören zu deren Entourage auch noch ihre brutale Familie sowie die Pfarrgemeindeblase aus bigotten Betschwestern, eitelvertrottelten Honoratioren und einem übertüchtigen Priester, der mit mies vorgespielten Skrupeln auch schon mal gestohlenes Geld von seinen Schäfchen annimmt zum Wohl und Lobe des Herrn. Als Gloria aber den Fotoapparat zerschmettert, den Pablo sich ewig zusammengespart hat, reisst sein Geduldsfaden endgültig ... Der beste Buñuel-Film, den Buñuel nicht selber inszeniert hat und der sich prächtig als Komödienbeistellwerk zu des Altmeisters Ensayo de un crimen (1955) schaut.
85 Min / sw / DCP / Sp/e // REGIE Rogelio Antonio González //
DREHBUCH Luis Alcoriza // KAMERA Víctor Herrera // SCHNITT Jorge Bustos, Raúl Lavista // MIT Arturo de Córdova (Dr. Pablo Morales), Amparo Rivelles (Gloria Morales), Elda
Peralta (Señorita Castro), Guillermo Orea (Professor), Rosenda Monteros (Meche).
LA MENTE Y EL CRIMEN Mexiko 1961
Mit dem Fund eines Frauentorsos in einem Kanal am Rande von Mexiko-City beginnt für die Kriminalpolizei eine systematische Suche nach der Identität von Opfer und Mörder. In den frühen 1960er-Jahren gehörte eine Sendung über wahre Verbrechen zu den beliebtesten Radioprogrammen des Landes. Alejandro Galindo liess sich davon für die Gestaltung dieser absolut einzigartigen Mischung aus Spiel- und Dokumentarfilm inspirieren: Auf der Tonspur wird nonstop in einem aufgeregt-nervös-mitreissenden Ton erzählt und erklärt, wie mit modernster Kriminaltechnik und Psychologie das schreckliche Verbrechen aufgeklärt werden kann, alldieweil die Bildebene ein kurioses Eigenleben aus surrealistisch inspirierten Collagen und dem schäbig anzuschauenden Strom anonymer Stadtbilder führt. Der Lehrfilm zur Forensik als Avantgardewerk!
105 Min / DCP / Sp/e // REGIE Alejandro Galindo // DREHBUCH Alejandro Galindo, Juan Alfonso Chavira // KAMERA
Sergio Véjar // MUSIK Francisco Argote // SCHNITT Juan José Marino, Carlos Savage, Alberto Valenzuela // MIT Palmira Arzubide, Alfredo Wally Barrón, Felipe del Castillo, Marcela Daviland, Roberto Ayala, Pedro D’Aguillón.
LOS HERMANOS DEL HIERRO Mexiko 1961
Der Vater reitet mit seinen Söhnen fröhlich durch die Landschaft, als ein Schuss ihn vom Pferd reisst. Die stolze, nun verwitwete Mutter zieht ihre Kinder zur Blutrache heran. Als dann eines Tages der Mörder ihres Vaters wieder auftaucht, beginnt für die nunmehr erwachsenen Söhne der Rest ihres Lebens: als Rächer und Mörder. Der eine hat sich zum Psychopathen entwickelt, der andere findet sich (auch wegen seines Bruders) immer wieder in brenzligen Situationen und muss sich als Killer verdingen, weil er keine andere Arbeit bekommt. Blutrache gehört zu den zentralen Motiven des mexikanischen Westerns. Dies hier ist die wahrscheinlich grimmigste Abhandlung zum Thema, vertieft durch Motive aus Ödipus und Medea.
96 Min / sw / 35 mm /
// REGIE
//
13 ¡Espectacular!
Sp/e
Ismael Rodríguez
DREHBUCH Ismael Rodríguez, Ricardo Garibay // KAMERA Rosalío Solano // MUSIK Raúl Lavista // SCHNITT Rafael Ceballos // MIT Antonio Aguilar (Reynaldo del Hierro), Julio
→
Más fuerte que el amor
→ La mente y el crimen
→ El caso de la mujer asesinadita
©
Voluntaria
→ El esqueleto de la señora Morales
Permanencia
Film Archive
© Archive of the Mexican Film Institute
© Archive of the Mexican Film Institute
DÍAS DE OTOÑO Mexiko 1963
Als die junge Luisa aus der Provinz in die Hauptstadt kommt, findet sie dank der Empfehlung ihrer Tante gleich eine Anstellung in einer modernen Bäckerei. Die Dinge nehmen eine eigenartige Wendung, als Luisa die Einladung ihrer Freundinnen, die sie zum Feierabend mit auf die Piste nehmen wollen, mit der Begründung ablehnt, dass sie in den nächsten Wochen heiraten wird. Ihre wohlmeinenden Kolleginnen aber haben sie noch nie mit einem Mann gesehen. Von nun an spielt ihnen Luisa dieses Leben (von dem ihre Kolleginnen wohl auch selber träumen) mit immer grösserem Fantasieaufwand inklusive imaginierter Ehe und Kind vor. Ein faszinierender, bis zum Schluss undurchschaubarer Psychotrip. Gleichzeitig bietet der Film ein perfektes Bild von Mexiko-City der frühen 60er-Jahre zwischen neuem Wohlstand und alter Armut.
LA MUJER MURCIÉLAGO
Mexiko 1968
Acapulco, im Olympiajahr 1968: Ringerleichen werden am Strand angeschwemmt. Nur ein Mensch kann diesen Fall lösen: Gloria, eine Dame aus bestem und reichstem Hause, die sich in ihrer Freizeit als Superheldin in lila Bikini, Umhang und Opernhandschuhen betätigt und eine ausgewachsene Phobie vor Mäusen hat. Gloria hat auch schon sehr bald einen Verdacht, wer hinter den merkwürdigen Morden stecken könnte ... Eine Pop-Art-für-die-Massen-Mixtur aus Lucha libre und Spionage-Action mit lieblichen Mad-Scientist-Monstergrusel-Anteilen! Hauptdarstellerin Maura Monti ist im Übrigen im wahren Leben auch eine Superheldin: Angewidert vom Luxusleben als Pulpkino-Star und Produzentengattin, liess sie sich scheiden und schloss sich den Zapatisten als Dorfschullehrerin an!
81 Min / Farbe / DCP / Sp/e // REGIE René Cardona // DREHBUCH Alfredo Salazar // KAMERA Agustín Jiménez // MUSIK Antonio Díaz Conde // SCHNITT Jorge Bustos // MIT Maura Monti (Gloria/Batwoman), Roberto Cañedo (Dr. Eric Williams), Héctor Godoy (Mario Robles), David Silva (José).
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95 Min / sw / DCP / Sp/e // REGIE Roberto Gavaldón // DREHBUCH Julio Alejandro, Emilio Carballido // KAMERA Gabriel Figueroa // MUSIK Raúl Lavista // SCHNITT Gloria Schoemann // MIT Pina Pellicer (Luisa), Ignacio López Tarso (Albino), Adriana Roel (Alicia), Luis Lomelí (Carlos).
Dienstag, 17. Oktober, 18:15 Uhr: in Anwesenheit von Kurator Olaf Möller
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Alemán (Martín del Hierro), Columba Domínguez (Mutter), Patricia Conde (Jacinta Cárdenas), Emilio Fernández (Pascual Velasco), Ignacio López Tarso (El pistolero).
→ Der Händler der vier Jahreszeiten
→ In einem Jahr mit 13 Monden
Rainer Werner Fassbinder: Irgendwo, eine Zärtlichkeit
Rainer Werner Fassbinder (1945–1982) schuf in gerade einmal 16 Jahren ein gigantisches Œuvre, das neben Spielfilmen auch Serien, Hörspiele und Theaterstücke umfasst. Dieses gleichermassen unterhaltsame wie herausfordernde Werk hat bis heute nichts von seiner Faszination eingebüsst. Das Filmpodium zeigt in Kooperation mit dem Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich 13 seiner Spielfilme sowie die engagierte und nur selten im Kino zu sehende Serie Acht Stunden sind kein Tag (1972).
Richtig still ist es nie um ihn geworden: Rainer Werner Fassbinder. Der Autorenfilmer, bekannt als «nicht repräsentativer Repräsentant» des Neuen Deutschen Films, hinterliess Spuren nicht nur im Kino, sondern auch in der Popkultur. So nahm beispielsweise die inzwischen verstorbene Françoise Cactus, Sängerin der Berliner Band Stereo Total, Fassbinder und Schygulla in ihren Song «Cinémania» (2005) auf. Der queere Regisseur John Waters inszenierte in seiner Trashkomödie Cecil B. Demented (2000) eine Gruppe von Rebellen, die das Kino radikal erneuern will – der eintätowierte Schriftzug Fassbinder ziert auffällig den Arm einer Hauptfigur. Pointiert brachte es Harun Farocki auf den Punkt, als er von Fassbinder nicht ohne Ironie als «Popstar mit Brille» schrieb. Die Marke «RWF» ist über Fassbinders kurzes Leben hinaus zur festen Bezugsgrösse in Kino, Theater, Kunst, Literatur und Popkultur geworden. Fassbinders kritische Gesellschaftsanalysen und seine radikale Ästhetik halten sein Werk bis in die Gegenwart frisch, so eng es auch an seine Entstehungszeit gebunden ist. Mit dem Neuen Deutschen Film, zu dessen bekanntesten Vertretern auch Werner Herzog, Volker Schlöndorff und Alexander Kluge zählen, entstand in den 1960er- und 1970er-Jahren ein international erfolgreiches, innovatives Autorenkino in Deutschland, zu dem Fassbinder erheblich beitrug: Zwischen 1966 und 1982 drehte er 45 Filme, darunter auch mehrteilige TV-Produktionen wie die im Arbeiter:innen-Milieu angesiedelte Familienserie Acht Stunden sind kein Tag (1972) oder den stylishen Science-Fiction-Zweiteiler Welt am Draht (1973).
Pop-Appeal und Provokation
Mit seinem Pop-Appeal und einem Hang zur Provokation lädt Fassbinders Œuvre immer wieder von Neuem dazu ein, Querverbindungen zu aktuellen künstlerischen und politischen Diskursen herzustellen. Die Filmreihe «Irgendwo, eine
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Zärtlichkeit», kuratiert von Studierenden des Seminars für Filmwissenschaft der Universität Zürich, nähert sich seinen Filmen aus einer dezidiert identitätspolitischen sowie genreästhetischen Perspektive. Zwar grenzte sich Fassbinder nach der gescheiterten Revolution von 68 scharf gegen die emanzipatorischen Bewegungen seiner Zeit ab und geriet häufiger in Konflikt mit Vertreter:innen der politischen Linken, dennoch leisten Fassbinders Filme aus heutiger Perspektive einen vielschichtigen Beitrag, sich mit der Sichtbarkeit gesellschaftlicher Minoritäten und unterdrückter Lebensformen auseinanderzusetzen. Denn auf sehr direkte, mitunter schockierende Weise führte Fassbinder der deutschen Gesellschaft Mechanismen der Ausgrenzung, Ausbeutung und die Einsamkeit von queeren Menschen, Migrant:innen, Arbeiter:innen oder Hausfrauen vor.
Genre politisieren
Fassbinders an Theater und Film gleichermassen geschulte Ästhetik wirkt bis heute fort in die Filme zeitgenössischer Auteur:innen wie Athina Rachel Tsangari, Radu Jude oder Max Linz. Ob Melodrama, Komödie, Gangsterfilm, Science-Fiction, Komödie oder Western: Fassbinder verband klassische Genrevorlagen mit einer Brecht’schen Ästhetik der Verfremdung und verlieh seinen Filmen einen klaren politischen Drive. Besonders stark beeinflusst zeigte er sich von den Hollywood-Melodramen Douglas Sirks, von denen er 1971 einige in München gesehen hatte. Sirks Melodramen seien, so Fassbinder, die «zärtlichsten» Filme, die er kenne, «Filme von einem, der die Menschen liebt und nicht so verachtet wie wir». Mit dem Melodrama Händler der vier Jahreszeiten (1971) beginnt Fassbinder seine Figuren, bei aller sozialen Kälte, die sie umgibt, mit einer Zärtlichkeit wie bei Sirk zu zeichnen. Mit seinem der Schriftstellerin Marieluise Fleisser gewidmeten Frühwerk Katzelmacher (1969) und dem an Sirk orientierten verfremdeten Melodrama Angst essen Seele auf (1973) konfrontierte Fassbinder die Kinozuschauer:innen mit ihren Rassismen und warf einen scharfsichtigen Blick sowohl auf die Klassenverhältnisse als auch auf die Geschlechterordnungen seiner Zeit. Besonders mit dem vom Melodrama beeinflussten Einsatz von Licht und Farbe, mit Grossaufnahmen und Musik arbeitet Fassbinder ästhetische Versatzstücke in die Filme ein, die die Zuschauer:innen nicht nur denken, sondern auch fühlen lassen, weshalb sich die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern müssen.
Beziehungsökonomien
Die Thematisierung von Paarbeziehungen zieht sich wie ein roter Faden durch die Filme Fassbinders. Das Schlachtfeld der heterosexuellen Ehe erzählt Fassbinder anhand einer sadomasochistischen Beziehung im melodramatisch überhöhten Film Martha (1973) oder spiegelbildlich dazu im Formenexperiment Fontane Effi Briest (1972–74). In beiden Filmen wird die Ehe den Männern zum Instrument, ihre jungen, unerfahrenen Frauen zu erziehen und sie
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von der Aussenwelt zu isolieren. Derart «toxische» Verhaltensweisen machen bei Fassbinder nicht vor homosexuellen Beziehungen halt. Einige seiner queeren Filme, wie das exaltierte Kammerspiel Petra von Kant (1972) oder das lehrstückhafte Sozialdrama Faustrecht der Freiheit (1974/75), setzen mit lesbischen und schwulen Paarkonstellationen Verhältnisse von sexueller und emotionaler Abhängigkeit ins Bild. Gleichzeitig erzählen die Filme ihre emotionalen Ausbeutungsgeschichten anhand von Klassenunterschieden zwischen den Figuren, sodass hier das Private einmal mehr politisch lesbar wird. Zum Politischen des Privaten gehört auch, dass Fassbinder seine eigene queere Sexualität nicht verbarg: In Faustrecht der Freiheit steht er selbst als schwuler Jahrmarktschausteller Fox nackt und verletzlich vor der Kamera.
Eine Ästhetik der Hoffnung
In Fassbinders Filmen stehen häufig scheiternde, buchstäblich an den Ökonomien der Beziehungen zugrunde gehende Figuren im Fokus. So enden die Filme meistens unversöhnlich wie das Leben. Eine überraschende Ausnahme bildet die Serie Acht Stunden sind kein Tag (1972): In einer 180-Grad-Wendung ändert Fassbinder sein pessimistisches Konzept und formuliert für das Massenpublikum des Fernsehens eine «Ästhetik der Hoffnung». Die Figuren der Serie können, anders als Fassbinders Kinofiguren, ihre Verhältnisse selbst durchschauen und Konflikte solidarisch miteinander lösen. Für kurze Zeit öffnet sich das Fernsehen hier für einen politischen Bildungsauftrag. Allerdings werden drei weitere Folgen, die bereits in Planung waren, nicht mehr realisiert. 1973 stellt der Sender die Fortsetzung der Serie ein.
Stefanie Schlüter
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Stefanie Schlüter ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich und arbeitet als Filmvermittlerin im Schnittfeld von Kino, Archiv, Schule und Hochschule.
→ Angst essen Seele auf
→ Acht Stunden sind kein Tag
→ Faustrecht der Freiheit
KATZELMACHER
BRD 1969
Fassbinders zweiter Langspielfilm porträtiert eine junge Clique in einem Münchner Vorstadtviertel. Ihr Alltag ist geprägt von Langeweile, Geldnot und Perspektivenlosigkeit. In ihrem «Kunst-Bayrisch» reden sie mehr aneinander vorbei als miteinander. Als ein griechischer Gastarbeiter, gespielt von Fassbinder selbst, in ihr Viertel zieht, vereinen sich die «Freunde» in ihrer Ablehnung gegenüber dem Neuankömmling.
Statische Aufnahmen in sich wiederholenden Kulissen und verfremdetes Schauspiel verweisen darauf, dass der Marieluise Fleisser gewidmete Film Katzelmacher auf dem gleichnamigen Theaterstück von RWF basiert. Nur vereinzelt unterbrechen Kamerabewegungen und Musik diesen betonten Stillstand, um so die Entfremdung spürbar zu machen, welche die Figuren und ihre Beziehungen untereinander prägt. (Dino Sedić)
88 Min / sw / 35 mm / D // DREHBUCH, REGIE, SCHNITT Rainer Werner Fassbinder // KAMERA Dietrich Lohmann // MUSIK Peer Raben, Franz Schubert // MIT Hanna Schygulla (Marie), Rainer Werner Fassbinder (Jorgos), Lilith Ungerer (Helga), Rudolf Waldemar Brem (Paul), Elga Sorbas (Rosy), Hans Hirschmüller
DER HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN
BRD 1971
Nach seiner Zeit in der Fremdenlegion und dem gescheiterten Versuch, sich mit einer Polizistenlaufbahn in die Bequemlichkeit des Beamtentums zurückzuziehen, wird Hans Epp Obst- und Gemüsehändler. Mit sonorer Stimme bietet er seine Waren in tristen Hinterhöfen feil. Den Ansprüchen der Mutter und seiner grossen Liebe kann Hans nicht gerecht werden. Seiner zänkischen Ehefrau mangelt es an Sensibilität. So findet der wortkarge Hans vermehrt Zuflucht im Alkohol.
Als erster Film, den Fassbinder unter dem Eindruck der Melodramen Douglas Sirks gedreht hat, besticht Händler der vier Jahreszeiten mit frappierender Einfachheit und Zärtlichkeit für die Figuren. In der Enge der Verhältnisse wird ihre Verletzlichkeit deutlich spürbar. (Harun Gradascevic)
89 Min / Farbe / 35mm / D // DREHBUCH UND REGIE Rainer
Werner Fassbinder // KAMERA Dietrich Lohmann // MUSIK
Rocco Granata, Rainer Werner Fassbinder // SCHNITT Thea Eymèsz // MIT Hans Hirschmüller (Hans Epp, der Obsthändler), Irm Hermann (Irmgard Epp), Hanna Schygulla (Anna Epp), Andrea Schober (Renate Epp), Gusti Kreissl (Hans’ Mutter), Kurt Raab (Kurt, Heides Mann), Klaus Löwitsch (Harry).
DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT
BRD 1972
Petra von Kant, eine bekannte Modeschöpferin, hat sich von ihrem Mann getrennt und lebt allein mit ihrer ergebenen Dienerin Marlene. Als ihr Karin, eine junge Frau aus der Arbeiterschicht, vorgestellt wird, verliebt sich Petra in sie. Die beiden Frauen beginnen eine Beziehung, die von sozialem Gefälle und gegenseitigem Unverständnis geprägt ist und in der sich die sonst so herrische Petra immer stärker in die Abhängigkeit von Karin begibt. Diese «Etüde über Machtverhältnisse» findet ausschliesslich im begrenzten Setting von Petras Apartment statt und ist mit seinen ausgedehnten Dialogen, dem auffälligen Kostüm und Make-up «eine Studie in Dekadenz, gegenseitiger Abhängigkeit, Leidenschaft, Raserei und Verzweiflung, in seinem Hang zum Exzess vielleicht das am weitesten vorgetriebene, in der Gestaltung virtuoseste Melodram Fassbinders» (Ulrich Gregor). (Anna Tschopp)
124 Min / Farbe / DCP / D // DREHBUCH UND REGIE Rainer Werner Fassbinder // KAMERA Michael Ballhaus // MUSIK
Giuseppe Verdi, Jerome Kern u. a. // SCHNITT Thea Eymèsz // MIT Margit Carstensen (Petra von Kant), Hanna Schygulla (Karin Thimm), Irm Hermann (Marlene), Eva Mattes (Gabriele von Kant), Katrin Schaake (Sidonie von Grasenabb).
Mittwoch, 1. November, 20:30 Uhr in Anwesenheit von Ming Wong
ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG –EINE FAMILIENSERIE
Der junge Werkzeugmacher Jochen wohnt mit seiner Oma und seinen Eltern in einer Wohnung und arbeitet in einer Fabrik in Köln. Die fünfteilige TV-Serie, die einem Millionenpublikum überraschend optimistische Einblicke ins Arbeitermilieu gewährt, behandelt in jeder Folge Konflikte und Probleme im Arbeits- und Privatleben von jeweils zwei Personen aus Jochens Umfeld. Für die Entwicklung des Stoffes hatte Fassbinder fast ein Jahr lang in einer Fabrik recherchiert; das populäre Format der Familienserie nutzt er, um politische Ideen wie Solidarität und Mitbestimmung am Arbeitsplatz beinahe instruktiv zu vermitteln. (Stefanie Schlüter)
ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG –
JOCHEN UND MARION
BRD 1972
Als Jochen an einem Verkaufsautomaten Marion kennenlernt, zögert er nicht, sie mit zu einem Fa-
21 Rainer Werner Fassbinder
(Erich), Harry Baer (Franz).
milienfest zu nehmen. Schnell sind die beiden ein Paar, das sich gegenseitig unterstützt: Jochen erzählt Marion von Problemen am Arbeitsplatz, und auch Marion ist nicht allein, wenn sie sich nach der Arbeit noch um ihren jüngeren Bruder kümmert. (Nicole Vengappallil)
101 Min / Farbe / DCP / D // DREHBUCH UND REGIE Rainer
Werner Fassbinder // KAMERA Dietrich Lohmann // MUSIK
Jens Wilhelm Petersen, Jean Gepoint // SCHNITT Marie Anne Gerhardt // MIT Gottfried John (Jochen), Hanna Schygulla (Marion).
ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG –
BRD 1972
Auf ihrer Wohnungssuche entdecken Oma und Gregor eine leer stehende, ehemalige Stadtbücherei. Sie beschliessen, diese zu besetzen, um einen Kinderladen für die auf der Strasse spielenden Kinder zu eröffnen: «Wenn die Stadt nichts tut, muss man sich selbst helfen.» (Nicole Vengappallil)
99 Min / Farbe / DCP / D // DREHBUCH UND REGIE Rainer
Werner Fassbinder // KAMERA Dietrich Lohmann // MUSIK
Jens Wilhelm Petersen, Jean Gepoint // SCHNITT Marie Anne Gerhardt // MIT Luise Ullrich (Oma), Werner Finck (Gregor).
ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG –
FRANZ UND ERNST
BRD 1973
Die Meisterstelle in der Fabrik ist vakant. In der Hoffnung, die Stelle zu bekommen, besucht der Arbeiter Franz die Meisterschule. Doch die Geschäftsführung beschliesst, den Posten mit einer Person von aussen zu besetzen. Franz’ Kollegen aber nehmen die «Entscheidung von oben» nicht einfach so hin. (Stefanie Schlüter)
91 Min / Farbe / DCP / D // DREHBUCH UND REGIE Rainer
Werner Fassbinder // KAMERA Dietrich Lohmann // MUSIK
Jens Wilhelm Petersen, Jean Gepoint // SCHNITT Marie Anne Gerhardt // MIT Wolfgang Schenck (Franz), Peter Gauhe (Ernst).
ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG –MONIKA UND HARALD
BRD 1973
Jochens Schwester Monika ist unglücklich mit Harald verheiratet. Während sie überlegt, sich scheiden zu lassen, denken Jochen und Marion über das Heiraten nach. Überraschend stossen
die beiden an Grenzen; plötzlich spielt sogar ihre unterschiedliche soziale Herkunft eine Rolle. (Stefanie Schlüter)
88 Min / Farbe / DCP / D // DREHBUCH UND REGIE Rainer
Werner Fassbinder // KAMERA Dietrich Lohmann // MUSIK
Jens Wilhelm Petersen, Jean Gepoint // SCHNITT Marie Anne Gerhardt // MIT Renate Roland (Monika), Kurt Raab (Harald).
ACHT
STUNDEN SIND KEIN TAG –IRMGARD UND ROLF BRD
1973
Als die Werksleitung beschliesst, die Fabrik ans andere Ende der Stadt zu verlegen, knüpfen die Arbeiter Bedingungen an den Umzug. Gemeinsam stellen sie ein 9-Punkte-Programm auf, das umfassende Veränderungen in der Arbeitsorganisation und eine Gewinnbeteiligung vorsieht. Ein Lehrstück in Selbstbestimmung und Solidarität –oder wie Marion es ausdrückt: «Dass man mehr Macht hat, als man denkt, haben wir dazugelernt.» (Stefanie Schlüter)
88 Min / Farbe / DCP / D // DREHBUCH UND REGIE Rainer
Werner Fassbinder // KAMERA Dietrich Lohmann // MUSIK
Jens Wilhelm Petersen, Jean Gepoint // SCHNITT Marie Anne Gerhardt // MIT Irm Hermann (Irmgard), Rudolf Waldemar Brem (Rolf).
WELT AM DRAHT
BRD 1973
Als der Leiter des Instituts für Kybernetik und Zukunftsforschung unter ungeklärten Umständen stirbt, wird seine Position durch Fred Stiller neu besetzt. Seiner Aufsicht untersteht eine zu wirtschaftlichen Prognosezwecken simulierte virtuelle Realität. Bald ist Stiller der Einzige, der sich noch an seinen Vorgänger erinnert. Als weitere Personen verschwinden, gerät er in Zweifel, wem er noch vertrauen kann.
Die TV-Produktion in zwei Teilen nach der Romanvorlage «Simulacron-3» von Daniel F. Galouye ist eine schwindelerregende Verfolgungsjagd über die Grenzen der Realität hinweg. Mit brillanter Kameraarbeit von Michael Ballhaus im verchromten und verspiegelten, futuristischen Setdesign schafft Fassbinder einen Science-Fiction-Klassiker mit nervenzerrüttender Spannung. (Urs Kamber)
210 Min / Farbe / DCP / D // REGIE Rainer Werner Fassbinder // DREHBUCH Fritz Müller-Scherz, Rainer Werner Fassbinder // KAMERA Michael Ballhaus // MUSIK Gottfried Hungs-
Rainer Werner
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Fassbinder
OMA UND GREGOR
berg // SCHNITT Marie Anne Gerhardt // MIT Klaus Löwitsch
(Fred Stiller), Mascha Rabben (Eva), Adrian Hoven (Vollmer), Ivan Desny (Lause), Barbara Valentin (Gloria), Karl-Heinz Vosgerau (Siskins), Günter Lamprecht (Wolfgang).
ANGST ESSEN SEELE AUF BRD 1974
Die 60-jährige Witwe Emmi beginnt eine Beziehung mit dem über 20 Jahre jüngeren marokkanischen Gastarbeiter Ali. Freunde, Kollegen und sogar Emmis Kinder stellen sich gegen das Paar. Ali und Emmi aber sind fest entschlossen, sich den rassistischen Vorurteilen ihres Umfelds nicht zu beugen. Doch auch die Ehe bringt ihnen nicht nur das erhoffte Glück.
Fassbinder verbindet in Angst essen Seele auf die Emotionalität des Melodramas mit einer distanzierenden Ästhetik und lässt das Publikum so denkend wie fühlend am Geschehen teilhaben. Der Filmemacher knüpft damit an Douglas Sirks Hollywood-Melodrama All That Heaven Allows (1955) an und ergänzt dessen sozialkritische Perspektive auf Klassenverhältnisse um die Rassismuskritik. In Far from Heaven (2002) aktualisiert der amerikanische Regisseur Todd Haynes den Stoff erneut, indem er eine homosexuelle Figur in die Erzählung einführt. (Dario Furlani)
93 Min / Farbe / DCP / D // DREHBUCH UND REGIE Rainer
Werner Fassbinder // KAMERA Jürgen Jürges // MUSIK
Archivmaterial // SCHNITT Thea Eymèsz // MIT Brigitte Mira (Emmi), El Hedi ben Salem (Ali), Irm Hermann (Krista), Barbara Valentin (Barbara, Wirtin), Rainer Werner Fassbinder (Eugen, Kristas Mann), Karl Scheydt (Albert Kurowski).
FONTANE EFFI BRIEST BRD 1974
«Ich will, dass man diesen Film liest»: So hat Fassbinder sein Melodrama beschrieben und entsprechend keine gewöhnliche Literaturverfilmung gedreht. Fassbinders Effi Briest ist ein formales Experiment. Inszeniert wird hier nicht nur eine in Rahmen, Spiegeln und langen Einstellungen gefangene Effi, die den deutlich älteren Baron von Instetten, einst Verehrer ihrer Mutter, heiratet und mit der Ehe ins Unglück stürzt. Fassbinders schwarz-weisser Kostümfilm setzt ausserdem den Rezeptionsakt des Romans ins Bild: Auszüge des Fontane-Texts als Schriftinserts oder von Fassbinder vorgelesen und Weissblenden erinnern an den Roman und das Umblättern der Seiten. (Stefanie Schlüter)
141 Min / sw / 35 mm / D // DREHBUCH UND REGIE Rainer
Werner Fassbinder // KAMERA Jürgen Jürges, Dietrich Lohmann // MUSIK Camille Saint-Saëns, Ludwig Spohr u.a. //
SCHNITT Thea Eymèsz // MIT Hanna Schygulla (Effi), Wolfgang Schenck (Baron Geert von Innstetten), Ulli Lommel (Major Crampas), Irm Hermann (Johanna), Karlheinz Böhm (Geheimrat Wüllersdorf), Ursula Strätz (Roswitha).
MARTHA
BRD 1974
Unmittelbar nachdem Marthas Vater auf der Spanischen Treppe in Rom tot zusammenbricht, kommt es vor dem deutschen Konsulat zu einer rätselhaften Begegnung der jungen Martha mit einem attraktiven Mann. Unverhofft trifft sie diesen Mann in ihrer Heimatstadt Konstanz wieder. Mit fasziniert-unterkühltem Begehren nähert sich Helmut der sexuell unerfahrenen Martha und macht sie zu seiner Frau. Spätestens auf der Hochzeitsreise aber zeigt sich, dass sie einen Sadisten geheiratet hat.
Der stilisierte Film nach der Erzählung «For the Rest of Her Life» des amerikanischen Drehbuchautors Cornell Woolrich gleicht einem «Genre-Mix aus Psychothriller, Hollywood-Melodram und sadomasochistischem Gruselfilm» (Nicole Colin). (Sanne Gruber)
112 Min / Farbe / 35 mm / D // REGIE Rainer Werner Fassbinder // DREHBUCH Rainer Werner Fassbinder, frei nach einer Erzählung von Cornell Woolrich // KAMERA Michael Ballhaus // MUSIK Archivmaterial // SCHNITT Liesgret SchmittKlink // MIT Margit Carstensen (Martha Heyer), Karlheinz Böhm (Helmut Salomon), Gisela Fackeldey (Marthas Mutter), Adrian Hoven (Marthas Vater), Barbara Valentin (Marianne).
FAUSTRECHT DER FREIHEIT BRD 1975
Franz Biberkopf arbeitet auf einem Rummelplatz, wo er als «Fox, der sprechende Kopf» auftritt. Vor einer Klappe lernt er Max kennen, der ihn ins bürgerliche Schwulenmilieu einführt, in dem auch der bankrotte Fabrikantensohn Eugen verkehrt.
Als Franz im Lotto gewinnt, weckt dies das Interesse von Eugen: Franz verliebt sich in Eugen, und Eugen nutzt das gnadenlos aus. Beinahe lehrstückhaft inszeniert Fassbinder die Beziehung zweier Männer über Klassengrenzen hinweg und legt die Mechaniken emotionaler und ökonomischer Ausbeutung frei. «Nach Douglas Sirks Filmen», schreibt Fassbinder 1971, «scheint mir die Liebe noch mehr das beste, hinterhältigste und wirksamste Instrument gesellschaftlicher Unterdrückung zu sein.» Fassbinders queerer Film ist wie In einem Jahr mit 13 Monden seinem damaligen Lebensgefährten Armin Meier gewidmet. (Laia Schmid Lamarty)
23 Rainer Werner Fassbinder
→ Martha.
→ Die bitteren Tränen der Petra von Kant.
→ Querelle – Ein Pakt mit dem Teufel
→ Die dritte Generation
→ Welt am Draht
123 Min / Farbe / DCP / D // DREHBUCH UND REGIE Rainer
Werner Fassbinder // KAMERA Michael Ballhaus // MUSIK
Peer Raben // SCHNITT Thea Eymèsz // MIT Rainer Werner Fassbinder (Franz Biberkopf), Peter Chatel (Eugen), Karlheinz Böhm (Max), Rudolf Lenz (Rechtsanwalt), Karl Scheydt (Klaus), Hans Zander (Springer), Kurt Raab (Wodka-Peter).
MUTTER KÜSTERS’ FAHRT ZUM HIMMEL
BRD 1975
Entlassungsmassnahmen in einer Fabrik führen dazu, dass der Arbeiter Küsters einen Vorgesetzten erschlägt und sich selbst das Leben nimmt. Seine Witwe, Mutter Küsters, muss daraufhin sowohl mit dem persönlichen Schock als auch mit der medialen Aufmerksamkeit umgehen, die der Fall generiert. Als ein Ehepaar, beide Mitglieder der kommunistischen Partei, an sie herantritt und ihr erklärt, Herr Küsters habe die Tat als Klassenkämpfer verübt, sieht sie eine Chance auf die öffentliche Rehabilitierung ihres Mannes. Doch wie kann sie den Namen ihres Mannes retten, ohne dabei ausgenützt zu werden?
Der Film, dessen Titel auf den proletarischen Stummfilm Mutter Krausens Fahrt ins Glück (1929) anspielt, geht kritisch mit der Linken ins Gericht und klagt «das menschenverachtende Element aller Ideologien an» (Christian Braad Thomsen). (Anna
Tschopp)
120 Min / Farbe / DCP / D // REGIE Rainer Werner Fassbinder // DREHBUCH Rainer Werner Fassbinder, Kurt Raab // KAMERA Michael Ballhaus // MUSIK Peer Raben // SCHNITT
Thea Eymèsz // MIT Brigitte Mira (Emma Küsters), Ingrid Caven (Corinna), Karlheinz Böhm (Thälmann), Margit Carstensen (Frau Thälmann), Armin Meier (Ernst Küsters), Irm Hermann (Helene), Gottfried John (Niemeyer, Reporter).
IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN BRD 1978
Die transsexuelle Elvira Weishaupt, gespielt von Volker Spengler, irrt auf der Suche nach Liebe und Menschlichkeit in einer Welt umher, in der ihr überall Abneigung und Brutalität entgegenschlagen. Konstant mit ihrer Vergangenheit konfrontiert, entrückt Elvira dieser Welt zusehends. Der Film rekapituliert Elviras Leben in Form einer radikal subjektiven Perspektive und gewährt Einblicke in die Psyche eines gebrochenen Menschen. Avantgardistische Tonmontage und drastische Ikonografie gehen in diesem Film Hand in Hand; In einem Jahr mit 13 Monden ist einer der persönlichsten Filme von Rainer Werner Fassbinder, denn er
verarbeitet hier in weiten Teilen den Suizid seines Liebhabers Armin Meier. (Joël Miguel Lädrach)
124 Min / Farbe / DCP / D // DREHBUCH, REGIE, KAMERA
Rainer Werner Fassbinder // MUSIK Peer Raben, Roxy Music, Georg Friedrich Händel // SCHNITT Rainer Werner Fassbinder, Juliane Lorenz // MIT Volker Spengler (Elvira Weishaupt), Ingrid Caven (Rote Zora), Gottfried John (Anton Seitz), Elisabeth Trissenaar (Irene Weishaupt), Eva Mattes (Marie-Ann Weishaupt), Günter Kaufmann (Chauffeur).
DIE DRITTE GENERATION BRD 1979
Westberlin in den späten 1970er-Jahren: Eine Gruppe junger Leute aus der Mittelschicht schliesst sich zu einer Untergrundzelle zusammen. Die Situation eskaliert jedoch, als einer von ihnen von der Polizei ermordet wird. Sie entführen den Direktor einer Computerfirma, merken dabei jedoch nicht, dass sie von diesem instrumentalisiert werden.
Ein Jahr nach den Ereignissen des Deutschen Herbsts 1977 beginnt Fassbinder den Dreh der Komödie über eine ins Leere gelaufene revolutionäre Utopie. Mit vielschichtigen Tonmontagen, Ausschnitten aus TV-Archiven und Sprüchen aus öffentlichen Toiletten fügt Fassbinder dokumentarische Spuren in den Film ein. Mit seiner Sicht auf die jüngsten politischen Ereignisse machte er sich keine Freunde: In verschiedenen westdeutschen Städten wurden die Kinovorführungen durch Säureangriffe gestört. (Laura Carluccio)
110 Min / Farbe / DCP / D // DREHBUCH, REGIE, KAMERA Rainer Werner Fassbinder // MUSIK Peer Raben // SCHNITT Juliane Lorenz // MIT Hanna Schygulla (Susanne Gast), Bulle Ogier (Hilde Krieger), Eddie Constantine (Peter Lurz), Volker Spengler (August Brem), Harry Baer (Rudolf Mann), Vitus Zeplichal (Bernhard von Stein), Udo Kier (Edgar Gast).
DIE EHE DER MARIA BRAUN BRD 1979
Turbulenter könnte eine Ehe kaum starten: Im Bombenhagel des 2. Weltkriegs unterzeichnen Maria und Hermann Braun, ein deutscher Soldat, ihre Ehepapiere. Als der Krieg zu Ende geht, erwartet Maria jeden Tag die Rückkehr ihres Mannes, obwohl dieser als gefallen gilt. Als Hermann tatsächlich zurückkehrt, trifft er seine Frau mit ihrem Liebhaber an.
Im ersten Teil von Fassbinders BRD-Trilogie, in der jeweils eine Frauenfigur im Zentrum der melodramatischen Handlung steht, analysiert
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Fassbinder die gesellschaftlichen Verhältnisse der Kriegs- und Nachkriegsjahre in Deutschland. Eine Porträtfotografie Hitlers im Bildpositiv sowie Fotografien der Nachkriegskanzler Adenauer, Erhard, Kiesinger und Schmidt im Negativ rahmen Die Ehe der Maria Braun und unterstreichen den politischen Charakter des Melodramas. (Rebecca Widrig)
120 Min / Farbe / DCP / D // REGIE Rainer Werner Fassbinder // DREHBUCH Peter Märthesheimer, Pea Fröhlich, nach einer Idee von Rainer Werner Fassbinder // KAMERA Michael Ballhaus // MUSIK Peer Raben // SCHNITT Juliane Lorenz, Rainer Werner Fassbinder // MIT Hanna Schygulla (Maria Braun), Klaus Löwitsch (Hermann Braun), Ivan Desny (Dr. Karl Oswald), Gottfried John (Willi), Gisela Uhlen (Marias Mutter), Günter Lamprecht (Wetzel).
QUERELLE – EIN PAKT MIT DEM TEUFEL
BRD/F 1982
Bei einem Landaufenthalt wickelt der Matrose Querelle illegale Opiumgeschäfte ab. Als er in die
Welt des Bordellbesitzers Nono und von dessen Frau Lysiane eintritt, wird er in ein homoerotisches Spiel aus Macht und Unterwerfung verstrickt.
Fassbinder übersetzt den Roman «Querelle de Brest» von Jean Genet in ein surreales StudioHafensetting, in dem Verrat, Mord und homosexuelles Begehren verhandelt werden. Das phallische Setdesign sowie die gelb-orange und blaue Ausleuchtung erzeugen eine queere Künstlichkeit, die mit Fassbinders früherem Realismus bricht. In seiner Zeit unverstanden, gilt Fassbinders letzter Film heute als Vorläufer des New Queer Cinema. Gewidmet ist Querelle dem verstorbenen Schauspieler El Hedi ben Salem. (Elisabeth Agethen)
106 Min / Farbe / 35 mm / D // REGIE Rainer Werner Fassbinder // DREHBUCH Rainer Werner Fassbinder, Burkhard Driest, nach dem Roman «Querelle de Brest» von Jean Genet // KAMERA Xaver Schwarzenberger // SCHNITT Juliane Lorenz, Rainer Werner Fassbinder // MIT Brad Davis (Querelle), Franco Nero (Leutnant Seblon), Jeanne Moreau (Lysiane), Hanno Pöschl (Robert/Gil), Günther Kaufmann (Nono).
Seinen ersten Auftritt als Schauspieler hatte Harry Baer in Rainer Werner Fassbinders Katzelmacher (1969). Es folgten ungemein produktive Jahre an der Seite Fassbinders vor und hinter der Kamera: als Schauspieler, Regieassistent, Produktionsleiter und künstlerischer Mitarbeiter. Zudem trat Harry Baer in zahlreichen weiteren Haupt- und Nebenrollen auf, u. a. in Filmen von Werner Schroeter, Hans-Jürgen Syberberg, Bernhard Sinkel, Doris Dörrie und in vielen TatortProduktionen. Wir freuen uns, Harry Baer in Zürich zu begrüssen. In zwei Filmgesprächen wird er mit dem Publikum über In einem Jahr mit 13 Monden sowie Die dritte Generation sprechen.
Im Frühlingssemester 2023 haben sich Bachelor- und Master-Studierende im Seminar «Fassbinder kuratieren» mit ihren Perspektiven auf das filmische Werk Fassbinders auseinandergesetzt und die Filme für dieses Programm ausgewählt.
Die Filmreihe entstand in Zusammenarbeit mit dem Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich im Rahmen des Projekts «Encounter RWF» des DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum und wird gefördert durch die Art Mentor Foundation Lucerne, den Kulturfonds Frankfurt RheinMain und die Rainer Werner Fassbinder Foundation.
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Rainer Werner Fassbinder
HARRY BAER DI, 10. OKT. | 18.00 UHR / MI, 11. OKT. | 18.15 UHR ZU GAST IM FILMPODIUM
DIE EHE DER MARIA BRAUN
Genau hinschauen, erneut hinschauen, anders hinschauen eröffnet manchmal unerwartete Perspektiven. In Kooperation mit der Volkshochschule und dem Publizisten Thomas Binotto lädt das Filmpodium bereits zur dritten Staffel der Vorlesungsserie «Re:vision».
15 Filme haben Rainer Werner Fassbinder und Michael Ballhaus gemeinsam gedreht. Die Ehe der Maria Braun war ihre letzte Zusammenarbeit. Die Produktionszeit war eine Katastrophe, der Erfolg an der Kasse und bei der Kritik durchschlagend. In der «Re:vision» macht Thomas Binotto sichtbar, wie sich Fassbinder und Ballhaus als ungleiches Duo gegenseitig zu künstlerischen Höchstleistungen angetrieben haben.
Bei der Volkshochschule (vhszh.ch) kann der dreiteilige Kurs als Ganzes gebucht werden (Daten: 25. Oktober, 13. Dezember und 7. Februar); beim Filmpodium sind Eintritte zu einzelnen Vorlesungen und/oder Filmvorführungen möglich.
Online sind Tickets zu Film und Vorlesung separat erhältlich, vergünstigte Kombitickets gibt es nur an der Kinokasse.
Eine Kooperation von Filmpodium und Volkshochschule Zürich.
27 RE:VISION MI, 25. OKT. | 18.30 UHR
Rainer Werner Fassbinder
→ Die Ehe der Maria Braun
DOUBLE BILL ON DOUBLE BILL
MI, 8. NOV. | 20.00 UHR
UNFAITHFULLY YOURS & MARTHA MIT ELISABETH BRONFEN & JOHANNES BINOTTO
Hier das Enfant terrible des neuen deutschen Films, dort der pointensichere Autor des klassischen Hollywoods, einmal grausiger Horrorfilm über eine sadistische Ehe, einmal absurde Komödie über einen neurotischen Künstlergatten.
Wohl niemand käme auf den verrückten Gedanken, Rainer Werner Fassbinders Martha und Preston Sturges Unfaithfully Yours im Doppelpack zu zeigen – und doch ist genau das die Idee von Double Bill on Double Bill: zwei Filme miteinander ins Gespräch zu bringen, die auf den ersten Blick nichts oder wenig miteinander zu tun haben. Im gemeinsamen Gespräch und anhand ausgewählter Filmausschnitte zeigen die Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen und der Medienwissenschaftler Johannes Binotto, wie beide Filme das Ideal der Ehe demontieren, welch heimliche und unheimliche Nähe zwischen ihren Machern bestehen und wieviel Slapstick eigentlich immer schon im theatralischen Fassbinder steckte und wieviel Abgründigkeit in der scheinbar leichten Komödie.
UNFAITHFULLY YOURS USA 1948
Der hitzige Dirigent Sir Alfred de Carter ist fest davon überzeugt, dass seine Frau ihn betrügt. Während eines Konzertabends spielt er in seiner Fantasie verschiedene Szenarien durch, wie er mit der vermeintlichen Untreue umgehen könnte – abhängig von der Stimmung der Musik reichen sie vom rachesüchtigen Mordplan bis zur grossmütigen Vergebung. Mal erklingt die Ouvertüre zu Rossinis «Semiramide», dann der Pilgerchor aus Wagners «Tannhäuser», gefolgt von Tschaikowskys «Francesca da Rimini». Nach dem Concerto versucht er, sein Kopfkino in die Tat umzusetzen, und ist damit hoffnungslos überfordert.
«Eine der raffiniertesten Slapstickkomödien, die je gedreht wurden. (…) In diesem Film gibt es zahlreiche grossartige Dialogzeilen und Situationen, die seit Jahren von Autor:innen und Regisseur:innen geklaut werden. Aber niemand ist je auch nur annähernd an die ungezügelte Teufelei der besten Preston-Sturges-Komödien herangekommen.» (Pauline Kael, The New Yorker)
105 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // DREHBUCH UND REGIE
Preston Sturges // KAMERA Victor Milner // MUSIK Alfred Newman, G. Rossini, R. Wagner, P. I. Tschaikowsky // SCHNITT Robert Fritch // MIT Rex Harrison (Sir Alfred de Carter), Linda Darnell (Daphne de Carter), Barbara Lawrence (Barbara Henshler), Rudy Vallee (August Henshler), Kurt Kreuger (Tony), Lionel Stander (Hugo Standoff), Edgar Kennedy (Sweeney, Privatdetektiv), Al Bridge (Hoteldetektiv), Julius Tannen (Schneider), Robert Greig (Jules).
28 Double Bill on Double Bill
→ Unfaithfully Yours
Der Meister des italienischen Kinos, Vittorio De Sica (1901–1974), ist vor allem für seine neorealistischen Filme aus der Nachkriegszeit bekannt. Doch sein Schaffen ist bemerkenswert vielseitig, was die Filmadaption von Eduardo De Filippos berührendem neapolitanischen Bühnenstück belegt.
Matrimonio all’italiana ist nicht nur eine klassische Farce über den Kampf der Geschlechter, sondern versprüht ausgelassen den verruchten, aber herzlichen Geist Neapels, der so sehr ein Teil von De Sica wie auch von seinen Stars Sophia Loren und Marcello Mastroianni war. «Mastroianni und Sophia Loren zementierten ihren Status als eines der grössten Leinwandpaare aller Zeiten (…). Er ist Domenico, ein ele-
ganter, bürgerlicher Geschäftsmann, sie ist Filumena, eine raue neapolitanische Prostituierte. In einer Rückblende entfaltet sich ihre stürmische 22-jährige Beziehung bis hin zu seiner bevorstehenden Heirat mit einer anderen Frau – aber Filumena heckt einen Plan aus, wie sie Domenico doch noch heiraten kann. Loren brilliert in einer oscarnominierten Darstellung, und niemand spielt den Schuft besser als Mastroianni. Ihre Chemie treibt einen Film voran, der als nahezu makellose Boudoir-Komödie beginnt, um sich dann zu etwas entwaffnend Bewegendem zu entwickeln.» (Film at Lincoln Center)
Mittwoch, 18. Oktober, 18.30 Uhr: Einführung: Martin Walder
MATRIMONIO ALL’ITALIANA / Italien/Frankreich 1964
102 Min / Farbe / 35 mm / I/e // REGIE Vittorio De Sica // DREHBUCH Renato Castellani, Tonino Guerra, Leo Benvenuti, Piero de Bernardi, nach dem gleichnamigen Bühnenstück von Eduardo de Filippo // KAMERA Roberto Gerardi // MUSIK Armando Trovaioli // SCHNITT Adriana Novelli // MIT Sophia Loren (Filumena Marturano), Marcello Mastroianni (Domenico Soriano), Aldo Puglisi (Alfredo, Diener), Marilù Tolo (Diana), Tecla Scarano (Rosalia, Dienstmädchen).
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SÉLECTION LUMIÈRE SO 1. OKT. | 15.00 UHR / FR 13. OKT. | MATRIMONIO ALL ’ ITALIANA 20.45 UHR / MI 18. OKT. | 18.30 UHR
→ Geister: Exodus
→ Geister I
→ Geister I
Vorlesungsreihe Landkarten für Wanderer der Kunst: Was ist «klassische Filmtheorie»?
Die Vorlesungsreihe «Positionen der klassischen Filmtheorie» am Seminar für Filmwissenschaft (Universität Zürich) findet in diesem Jahr als öffentliche Veranstaltung im Filmpodium statt. Daniel Wiegand, Professor am Seminar, behandelt von Ende September bis Mitte Dezember jeweils am Donnerstagnachmittag Filmtheorien von den Anfängen bis in die 1960er-Jahre.
Für und wider den Film: Kino-Debatte um 1910
DO, 05. OKT. | 16.15 Uhr (90 Min.), gefolgt von Wo ist Coletti?
Freeburg, Lindsay, Münsterberg: Amerikanische Filmkunsttheorie um 1920
DO, 12. OKT. | 16.15 Uhr (90 Min.), gefolgt von Carmen
Die Macht der Grossaufnahme: Béla Balázs und die «physiognomische Filmtheorie»
DO, 19. OKT. | 16.15 Uhr (90 Min.), gefolgt von La passion de Jeanne D’ Arc
«Photogénie»:
Französische Filmtheorie der 1920er-Jahre
DO, 26. OKT. | 16.15 Uhr (90 Min.), gefolgt von Finis Terrae Vorlesung von Prof. Dr. Volker Pantenburg und Simone Winkler
Das Kamera ist kein Auge: Rudolf Arnheim und «Film als Kunst»
DO, 02. NOV. | 16.15 Uhr (90 Min.), gefolgt von Varieté
Musik, Sprache, Geräusche: Die Tonfilm-Debatte um 1930
DO, 09. NOV. | 16.15 Uhr (90 Min.), gefolgt von Blackmail
Alle Vorlesungen von Prof. Dr. Daniel Wiegand, wo nicht anders angegeben
Eintritt frei
Eine Kooperation mit dem Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich
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→ Wo ist Coletti?
→ Carmen
©
Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung
Vorlesungsreihe: Landkarten für Wanderer der Kunst
KINO-KONZERT: WO IST COLETTI?
Deutschland 1913
Der Privatdetektiv Jean Coletti will beweisen, dass er für 48 Stunden in Berlin untertauchen kann, ohne gefunden zu werden – auch wenn die ganze Stadt, einschliesslich Polizei und Presse, nach ihm sucht. 100’000 Mark Belohnung hat er auf seine Entdeckung ausgesetzt – ein Medienspektakel sondergleichen. In Max Macks Krimikomödie verdichten sich Themen, die auch in den ersten filmtheoretischen Texten zur Sprache kamen: Tempo, Schaulust und die Grossstadt als filmischer Erfahrungsraum. Den vielen Kinogegner:innen und Kinoreformer:innen der Zeit war der Film mit seinem reisserischen Plot und seiner ironischen Haltung wohl eher ein Dorn im Auge: Cross-Dressing, Verfolgungsjagden im Zeppelin und eine Szene im verhassten Dunkel des Kinosaals selbst – zu viel für konservative Gemüter!
Ein Film aus dem Bestand der Friedrich-Wilhelm-MurnauStiftung in Wiesbaden.
79 Min / tinted / DCP / Stummfilm, d. Zw’titel // REGIE Max Mack // DREHBUCH Franz von Schönthan // KAMERA
Hermann Böttger // MIT Hans Junkermann (Jean Coletti), Max Laurence (alter Graf), Madge Lessing (Lolotte), Anna Müller-Lincke (resolute Dame), Heinrich Peer (Barbier Anton).
DO 5. OKTOBER | 18.30 UHR
LIVE-MUSIK: GÜNTER A. BUCHWALD (PIANO)
KINO-KONZERT: CARMEN
USA 1915
Die Fahrende Carmen verführt Sergeant Don José, damit er ihr beim Schmuggeln hilft. Blind vor Leidenschaft begeht er immer drastischere Verbrechen, um ihre Zuneigung nicht zu verlieren. 1915 nahm sich der Hollywoodregisseur Cecil B. DeMille dieses bekannten Opernstoffs an und schuf ein knackiges Melodrama um Liebe und obsessives Begehren (in direkter Konkurrenz zu Raoul Walsh, der zeitgleich eine eigene, heute nicht mehr erhaltene Carmen-Adaption realisierte).
Dabei legten DeMille und sein Filmteam besonderen Wert auf malerische Bildkompositionen, in denen die kalifornischen Landschaften als spanische Schauplätze herhalten mussten. Der Literaturwissenschaftler Victor O. Freeburg – einer der ersten amerikanischen Theoretiker des Films –
war begeistert und sah in Carmen die perfekte Umsetzung seiner Idee von Film als «piktoraler Schönheit in Bewegung».
From the collection of the George Eastman Museum.
59 Min / tinted / DCP / Stummfilm, e. Zw’titel // REGIE Cecil B. DeMille // DREHBUCH William C. de Mille // KAMERA Alvin Wyckoff // MIT Geraldine Farrar (Carmen), Wallace Reid (Don Jose), Pedro de Cordoba (Escamillo), Billy Elmer (Morales), Jeanie Macpherson (Frasquita).
DO 12. OKTOBER | 18.30 UHR
LIVE-MUSIK: ANDRÉ DESPONDS (PIANO)
KINO-KONZERT:
Jeanne d’Arc, die das französische Heer im Hundertjährigen Krieg zum Sieg von Orléans führte, wird verraten und wegen Ketzerei verurteilt. Dreyer inszeniert den historisch verbürgten Gerichtsprozess der französischen Nationalheiligen
Jeanne d’Arc als stummes «Seelendrama» mit expressiven Grossaufnahmen ungeschminkter Gesichter, unter denen vor allem das der Laiendarstellerin Maria Falconetti in der Titelrolle heraussticht. Von den Fangfragen und hinterhältigen Tricks ihrer Richter bis zu den Folterandrohungen und dem letztendlichen Tod auf dem Scheiterhaufen zeichnet der Film Jeannes Martyrium als kinematografisches Kammerspiel nach. Am Ende der Stummfilmzeit treibt der Film damit das, was der Filmtheoretiker Béla Balázs als die «Epik der Empfindungen» im stummen Mienenspiel des Films bezeichnet hatte, noch einmal auf die Spitze: Jedes noch so kleine Zucken der Augenbraue zählt! «Die Grossaufnahme ist die Poesie des Films.»
98 Min / sw / DCP / Stummfilm, frz. Zw’titel + d // REGIE Carl Theodor Dreyer // DREHBUCH Carl Theodor Dreyer, Joseph Delteil // KAMERA Rudolph Maté // SCHNITT Marguerite Beaugé, Carl Theodor Dreyer // MIT Maria Falconetti (Jeanne d’Arc), Eugène Silvain (Bischof Pierre Cauchon), Maurice Schutz (Nicolas Loyseleur), André Berley (Jean d’Estivet), Antonin Artaud (Jean Massieu), Gilbert Dalleu (Jean Lemaître).
DO 19. OKTOBER | 18.30 UHR
Live-Musik: Habitant – Mara Krastina, Coline Grosjean (Eletronik, Bass, Stimme)
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LA PASSION DE JEANNE D’ARC Frankreich 1928
KINO-KONZERT: FINIS TERRAE
Frankreich 1929
Vor der Kulisse des bretonischen Fischerdorfs Ouessant begleitet Finis Terrae vier Algensammler bis zur abgelegenen Insel Bannec. Eine Auseinandersetzung zwischen den Freunden führt zu lebensbedrohlichen Ereignissen und einer mutigen Rettungsaktion auf See.
Basierend auf einem lokalen Zeitungsbericht inszeniert Epstein eine Erzählung, die direkt der zerklüfteten Umgebung und dem authentischen Ausdruck der Laiendarsteller entspringt. Eindrucksvoll fängt er Impressionen von Wolken, Wogen, Nebel und Rauch ein, die die Intensität der Naturgewalten widerspiegeln. In seinen avantgardistischen Schriften zur «Photogénie» hatte Epstein dies bereits vorweggenommen: eine visuelle Steigerung der Ausdruckskraft durch rhythmisch orchestrierte Bewegungen und expressive Lichtdramaturgie, eine einzigartige Symbiose aus Mensch und bewegter Umgebung.
82 Min / sw / DCP / Stummfilm, frz. Zw’titel + d // DREHBUCH
UND REGIE Jean Epstein // KAMERA Louis Née, Gustavo Kotulla, Joseph Barthès // MIT Jean-Marie Laot (Jean-Marie), Ambroise Rouzic (Ambroise), Gibois (Arzt Lesenn), Malgorn (Leuchtturmwärter), François Morin (Kapitän der Pampero).
DO 26. OKTOBER | 18.30 UHR
Live-Musik: Hans Hassler (Akkordeon) und Saadet Türköz (Stimme)
KINO-KONZERT: VARIETÉ
Deutschland 1925
Ein Geständnis als Flashback wie in einem Film noir. Gefängnisinsasse Nr. 28 berichtet, wie es zu dem Mord kam, wegen dem er einsitzt. Es entspinnt sich eine Eifersuchtsgeschichte im Zirkusmilieu, mit Emil Jannings als ramponiertem Trapezkünstler, der sich nicht damit abfinden will, dass ihn seine junge Freundin Berta-Marie mit dem agilen Artisten Artinelli betrügt. Die drei treten schliesslich gemeinsam im Berliner Wintergarten mit einer riskanten Trapeznummer auf, bei der nichts schiefgehen darf …
Der Filmtheoretiker Rudolf Arnheim interessierte sich für den reisserischen Plot nur wenig, war aber beeindruckt von der Regie- und Kameraarbeit des Films, die über ihre filmischen Bildkompositionen immer mehr sagt, als in der Wirklichkeit zu sehen wäre. Denn: Die Kamera ist nicht einfach nur ein Auge, sondern verwandelt die sichtbare Welt in ein Filmbild.
Ein Film aus dem Bestand der Friedrich-Wilhelm-MurnauStiftung in Wiesbaden.
95 Min / tinted / DCP / Stummfilm, d. Zw’titel // REGIE Ewald André Dupont // DREHBUCH Leo Birinski, Ewald André Dupont, nach dem Roman «Der Eid des Stephan Huller» von Felix Hollaender // KAMERA Karl Freund, Carl Hoffmann // MIT Emil Jannings (Boss Huller), Lya De Putti (Berta-Marie ), Maly Delschaft (Frau Huller), Warwick Ward (Artinelli), Georg John (Seeman ), Kurt Gerron (Hafenarbeiter), Enrico Rastelli (Jongleur), Die drei Codonas (Akrobatik-Ensemble).
DO 2. NOVEMBER | 18.30 UHR
Live-Musik: Wieslaw Pipczynski (Piano, Theremin, Akkordeon)
BLACKMAIL
GB 1929
In einem Akt der Notwehr tötet Alice einen Mann, der sie sexuell bedrängt. Ihr Geliebter, Inspektor Frank Weber, versucht die Tat zu vertuschen. Doch der Kleinganove Tracy hat beobachtet, wie Alice den Tatort verliess, und sieht nun die Gelegenheit, Geld zu erpressen. Blackmail ist Hitchcocks erster Tonfilm und gleich ein Volltreffer –ein Beispiel dafür, wie man auch in der Frühphase schon innovativ mit Sprache, Musik, Geräuschen und Stille umging. Insbesondere eine Sequenz beweist Hitchcocks Bestreben, die Tontechnik originell einzusetzen: «Alice sitzt mit ihren Eltern am Frühstückstisch. Eine Nachbarin plaudert daneben unentwegt über den Mord und die ‹unbritische›, weil unsaubere Verwendung eines Messers. Jede Erwähnung des Wortes ‹Messer› fährt Alice wie eine Klinge in den Leib. Hitchcock manipuliert die Tonspur schliesslich so, dass in dem undeutlichen Gemurmel nur noch dieses eine Wort hervorsticht. Als der Vater die Tochter nach dem Brotmesser fragt, lässt sie es in Panik fallen. Der Engländer hatte offenbar Spass an solchen akustischen Einfällen.» (Paul Duncan, in: Alfred Hitchcock – Sämtliche Filme, 2019)
84 Min / sw / 35 mm / E/d // REGIE Alfred Hitchcock // DREHBUCH Alfred Hitchcock, Benn W. Levy, Charles Bennett, nach einem Theaterstück von Charles Bennett // KAMERA Jack E. Cox // SCHNITT Emile de Ruelle // MIT Anny Ondra (Alice White), Sara Allgood (Mrs. White), Charles Paton (Mr. White), John Longden (Frank Webber), Donald Calthrop (Tracy), Cyril Ritchard (Mr. Crewe, der Künstler), Hannah Jones (Mrs. Humphries, die Vermieterin), Harvey Braban (Oberinspektor), Alfred Hitchcock (Zeitung lesender Mann in U-Bahn).
Vorlesungsreihe: Landkarten für Wanderer der Kunst 36