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WAS REALITÄT IST
Autor: Renate Hammer
Der Wettbewerb ist gewonnen – mit umfänglichen Ansprüchen an Nachhaltigkeit, Innovation und Ästhetik ausgeschrieben, mit höchster Ambition durch ein interdisziplinäres Team bearbeitet. Man trifft das erste Mal zusammen, digital – aber doch. Eine große Runde, sogar der Juryvorsitz ist dabei, um nochmals die wesentlichen Qualitäten des Beitrags zu unterstreichen. Architekt*in, Fachplaner*innen, Nutzer*innen, alle beschreiben Absichten und Ziele. Das wird ein großartiges Projekt. Schließlich meldet sich ein bisher unauffällig Gebliebener, „er wolle die Euphorie ja sicher nicht bremsen, aber schon weniger engagiertere Projekte lägen deutlich über Budget. Die Realität sei doch, Derartiges könne man sich in der aktuellen Situation definitiv nicht leisten.“
Der Gedanke, der sich an dieser Stelle bei etlichen in der Runde aufdrängt, ist der nach der Realität. Während es völlig real ist, dass wir selbst gesteckte Emissionsreduktionen nicht erreichen, dass wir dem Artensterben nichts entgegenzusetzen haben, dass wir Ressourcen und Flächen wider besseres Wissen und mannigfachen Absichtserklärungen übermäßig verbrauchen, folgt die Beurteilung dessen, was wir für eine notwendige Investition oder eine nicht leistbare Ausgabe halten, einer wirtschaftlichen Konvention, die wir vor langer Zeit selbst definiert haben. Was Adam Smith 1767 oder auch Marx 1867 legitimerweise postulieren konnte, bietet für eine Vielzahl der prekären Aspekte unserer gegenwärtigen Lebensrealität keinerlei Lösung. Wie sollte es auch? Und dennoch basiert eine Vielzahl langfristiger, für unsere Zukunft ausschlaggebender Entscheidungen immer noch auf historischen wirtschaftlichen Theorien. Es ist unabdingbar notwendig, dass die Erhaltung unserer aller natürlichen Lebensgrundlagen, wie Wasser, Boden, Klima, Biodiversität, jene Berücksichtigung in unserer Wirtschaftstheorie und damit unserer wirtschaftlichen Praxis und Entscheidungsfindung erfährt, die ihrer umfassenden Bedeutung entspricht. Dass das höchst selten der Fall ist, erscheint geradezu absurd – ist aber Teil eben jener prekären Realität, die wir im Alltag gewohnt sind zu ignorieren. Auch aus Mangel an klaren alternativen Erzählungen und Bildern, die uns den nötigen Mut geben könnten, aus gewohnten Entscheidungsmustern auszuscheren. Wir brauchen Innovation nicht nur auf der technischen Ebene, sondern auch auf der wirtschaftlichen und, damit aufs engste verbunden, der sozialen. Um nachhaltig handeln zu können, brauchen wir Alternativen in unseren Wirtschaftstheorien, die es endlich schaffen, aus Polemik und der Polarisierung von links und rechts, oben und unten herauszutreten, um den Blick darauf zu wenden, dass die Menschheit sich in einer globalen ökologischen Notlage befindet, deren Auswirkungen eine rasch wachsende Gruppe vornehmlich sozial und wirtschaftlich Benachteiligter bereits akut betrifft, und deren Lösung keinen Aufschub mehr erlaubt.
Realität ist – wir müssen anders wirtschaften lernen und die Muster, nach denen wirtschaftliche Entscheidungen gefällt werden, kritisch hinterfragen und umgestalten, um die Belastungsgrenzen unserer Erde nicht unumkehrbar zu überschreiten. Dazu böte sich an, das in der Ökologie eingeführte Betrachtungssystem der Planetary Boundaries auch auf die soziokulturelle und die ökonomische Säule der Nachhaltigkeit anzuwenden. Ansätze dazu gibt es bereits, etwa im Donut-Modell von Kate Raworth, ein breiter inhaltlicher Diskurs, der Grundlage für eine nötige Verbindlichkeit schafft, fehlt aber noch.
Arch. DI Dr. techn. Renate Hammer, MAS - die Nachhaltige
Sie moderiert das Team um den österreichischen Baukulturreport, ist eine Kämpferin in Wissenschaft und Praxis für unsere Gedanken, direkt und auf den Punkt, verständnislos für „laissez faire“. Ihre Sichtweisen pendeln zwischen dem übergeordnet philosophischen Ansatz hinüber zur kulturellen, zur architektonischen letztlich zur gesamtgesellschaftlichen Frage.
Wichtige Wegmarken:
• Lehrgangsleiterin am Zentrum für Bauen und Umwelt der
Donau-Universität Krems bis 2004 • Dekanin der Fakultät für Kunst, Kultur und Bau bis 2012 • Dekanin der Fakultät für Bildung, Kunst und Architektur bis 2013 • 2009 Gründung, Geschäftsführung und wissenschaftliche Leitung des
COMET Kompetenzzentrums Future Building GmbH • dato Geschäftsführende Gesellschafterin der Institute of Building
Research & Innovation GmbH, seit 2015 ZT-GmbH • dato Lektorin an der Fachhochschule Campus Wien mit Vorlesungen zur „Einführung in das Entwerfen“ und „Tageslichtarchitektur“ • dato Ziviltechnikerin mit Befugnis Architektur Eine Stärke des Planetary Boundaries-Modells liegt darin, dass es quantifizierbare Grenzen zwischen drei Sicherheitsstufen von Handlungsspielräumen zieht und damit Klarheit verschafft, wo wir in einem ökologischen Prozess stehen. Die erste Grenze trennt den sogenannten sicheren Handlungsspielraum von der Zone der Unsicherheit. In dieser Zone können Kippmomente innerhalb von Prozessen auftreten, was abrupte und unumkehrbare Veränderungen hervorruft. Unsere Handlungsfähigkeit und die Möglichkeit, Wirkungen unseres Handelns einzuschätzen, wird dadurch eingeschränkt. Zu den Kippelementen im Klimasystem gehören etwa die auftauenden Permafrostböden in Russland oder die sich erwärmenden Methanhydrate auf dem Meeresboden. Wenn der Klimawandel bis zu einem gewissen Punkt fortgeschritten ist, reicht eine kleine Veränderung, um durch das Kippen eines Elements eine ganze Kaskade an problematischen Vorgängen auszulösen.
An die Zone der Unsicherheit grenzt die sogenannte gefährliche Zone. Die Wahrscheinlichkeit, dass abrupte und unumkehrbare Veränderungen eintreten, nimmt deutlich zu, während gleichzeitig unsere Möglichkeiten wirksam zu steuern sinken. Die Überschreitung einer planetaren Grenze beschreibt somit nicht das Eintreten einer konkreten Zustandsveränderung, sondern die Höhe des Risikos des Eintretens folgenschwerer Beeinträchtigungen der vernetzten ökologischen Systeme auf der Erde.1
In zwei von den derzeit neun definierten ökologischen Prozessen befinden wir uns bereits in der gefährlichen Zone, das betrifft das Artensterben und die biogeochemischen Kreisläufe. Bauwesen, Raumordnung und Immobilienwirtschaft haben vor allem im Prozess des Klimawandels, der Unversehrtheit der Biosphäre und der Landnutzungsänderung Hebel zur Entlastung der Systeme in der Hand. Welche Konkretheit und Verbindlichkeit die Anwendung des Planetary Boundaries-Modells entwickeln kann, erleben wir alle in Bezug auf den ökologischen Prozess des Klimawandels, der aktuell in der unsicheren Zone abläuft. Hier wurde Übereinstimmung zwischen dem Übereinkommen von Paris und dem Modell erzielt. So wurden die planetaren Grenzen und die Ziele des Pariser Abkommens übereinstimmend durch die CO 2 -Konzentration in der Atmosphäre in ppm und den Strahlungsantrieb in W/m² definiert.2 Schlüssig und sinnfällig lässt sich so das übergeordnete Ziel des Klimaschutzes bis auf konkrete Handlungsebenen etwa im Gebäudebereich herunterbrechen:
Um die weltweite mittlere Erderwärmung, wie im Pariser Abkommen festgelegt, deutlich unter 2° Celsius zu halten, sind die weltweiten Emissionen an Treibhausgasen bis 2050 um 80 % zu senken, bezogen auf die Emissionen im Jahr 1990. Die globalen Treibhausgasemissionen sind zwischen 1990 und 2016 von etwa 37 Gt CO2,äqu auf 53 Gt CO2,äqu, also um rund 43 % gestiegen. Seit dem Jahr 2010 bremst sich der Anstieg zwar ein, das Klimaziel von Paris 2015, die globale Erwärmung deutlich unter 2°C zu halten, ist aber nur zu erreichen, wenn es gelingt, bis 2050 annähernd treibhausgasneutral zu werden. Dabei gilt es, den Löwenanteil der nötigen Reduktionen bis 2030 zu schaffen, um das Eintreten von Kippvorgängen zu verhindern.
Im Kontext der Entwicklung zur klimaneutralen Gesellschaft in Österreich bis 2050 wurde einerseits eine Langfriststrategie bis 2050 beschlossen, andererseits gibt es ein klares Bild für die Umsetzung im nationalen Energie- und Klimaplan für die Periode 2021 bis 2030. Dieser Plan sieht bis 2030 eine Reduktion der Treibhausgasemissionen um 36 Prozent gegenüber 2005 vor, sowie eine Anhebung des Anteils erneuerbarer Energie am Brutto-Endenergieverbrauch auf 46 bis 50 Prozent.
Vor diesem Hintergrund wird der Begriff der Klimaneutralität heute für jene Qualität von Handlungsweisen und Prozessen verwendet, welche zur Erreichung dieser Emissionsziele eingehalten werden müssen. Klimaneutralität für Österreich bedeutet somit eine maximal zulässige Emission von Treibhausgasen äquivalent zu 1,5 t CO2 pro Person und Jahr. Derzeit werden in Österreich im Durchschnitt jedoch Treibhausgase äquivalent zu 8,9 t CO2/Person und Jahr emittiert.
Klimaneutrale Gebäude sind demnach solche Gebäude, deren Treibhausgasemissionen auf ein Niveau beschränkt sind, welches die Erreichung der Emissionsziele ermöglicht. In diese Betrachtung einzubeziehen sind die Treibhausgasemissionen aus der Gebäudeerrichtung, dem Gebäudebetrieb und der Gebäude-induzierten Alltagsmobilität. Hierfür ergibt sich in Österreich eine maximal zulässige Emission von Treibhausgasen von 0,69 t CO2,äqu pro Person und Jahr beziehungsweise von 15,0 kg CO2,äqu pro m² Nutzfläche und Jahr.
Wie hilfreich wäre es, wenn wir uns auch für die wirtschaftliche und damit verbunden die soziokulturelle Säule der Nachhaltigkeit auf derart stringente und klar argumentierbare Vorgaben etwa für das Bauen, die Raumplanung und die Immobilienwirtschaft verständigen würden und zu verbindlichen Übereinkommen wie dem von Paris kommen könnten. Dazu bräuchte es dringend den eingeforderten berufeneren Diskurs und wirtschaftstheoretischen Innovationsschub, der die abschließende Skizze von einer ersten holprigen Idee zur Grundlage für unser aller Aufenthalt in einem globalen sicheren Handlungsspielraum macht, in dem wir uns entfalten können.3 Das ist die Realität, die wir brauchen.
1: Vgl.: Steffen W. et al.: Planetary boundaries: Guiding human development on a changing planet. In: Science. Band 347, Nr. 6223, 2015. 2: Planetary Boundaries – Ökologische Belastungsgrenzen der Erde nach Will Steffen, Stockholm Resilience Centre et al. 2015 https://de.wikipedia.org/wiki/Planetare_Grenzen#/media/Datei:Planetary_ Boundaries_2015.svg; Monthly mean carbon dioxide measured at Mauna Loa Observatory, Hawaii, August 2019; https://www.esrl.noaa.gov/gmd/ ccgg/trends/; UNO-Weltklimarat – Intergovernmental Panel on Climate Change, 5. IPCC Sachstandsbericht, 2013; http://www.climatechange2013. org/images/report/WG1AR5_SPM_FINAL.pdf. 3: Steffen, W., Richardson, K., Rockström, J., Cornell, S. E., et al. (2015) Planetary boundaries: Guiding human development on a changing planet. Science 347 (6223). doi: 10.1126/science.1259855.