N°1
— MAGAZIN DER BAYERISCHEN STAATSOPER
Verschwinden
I.
004 — Inhalt
40
48
die untoten der geschichte
Magazin
Zu Giuseppe Verdis »Macbeth«
98
28
Australien Ein Premier ging baden. Zurück kam er nicht
Vermisst! Wenn Regimekritiker verschwinden
102
34
Männerfantasie Bin mal kurz Zigaretten holen
WeiSSe Magie
106
Hausbesuch bei einer Zaunsitzerin
37
Tod und Verderben Interview mit »Macbeth«-Regisseur Martin Kušej
8
Die Versenkung
David Hughes illustriert Busonis »Doktor Faust«
113
Zu Albans Bergs »Wozzeck«
38
Auftakt
Bildergeschichte
Die welt war verloren
44
Primadonnen
Wir müssen reden!
»Ich möchte, dass die Lady nicht singt«
Und das permanent. Ein bisschen Stille täte gut
40
Kulturtipps Bücher & Co.
115
47
Was bleibt?
Verschwindet die Oper?
Gedanken der Sängerin Nadja Michael
Interview mit »Wozzeck«-Dirigent Kent Nagano
Spielplan
120
au revoir!
48
Was darin verschwinden soll
10
Wolf Wondratschek spricht mit Max I. Joseph
Kindheit ohne Chance Kaspar, der Partisan. Eine Geschichte aus Sibirien
Vorhang zu!
56
Der letzte Ton verklingt. Und dann?
13
Vergeudete Biografien Gespräch mit Regisseur Andreas Kriegenburg
Weg ist weg Was alles verloren ist. Kleines nostalgisches Lexikon
14
Irrende SeeleN
Die inszenierung des heiligen
Düfte — nur ein flüchtiger Hauch
16
Zu Hans Pfitzners »Palestrina«
62
Fotoessay »Little Dreamers « von Daniel Josefsohn
Das leben ein tanz
Kirchenmusik Cage-Konzert in Halberstadt. Es endet in 632 Jahren
68
Geht die Kunst nach Brot ? Ja, sagt der Komponist Peter Eötvös im Interview
70
6
Oberammergau
autoren & Fotografen
Hollywood oder heilige Stadt? Wo der Glaube alles ist
7
80
Rudolf Nurejew Der Tag, an dem er in den Westen verschwand
86
Cartoon
Paul Davis illustriert »Romeo und Julia«
88
Impressum
ballerinen-dämmerung Adieu, Giselle! Adieu, Primaballerina!
94
Augenblicke Tänzer fotografieren, was sich verflüchtigt
62
80
98
004 — Inhalt
40
48
die untoten der geschichte
Magazin
Zu Giuseppe Verdis »Macbeth«
98
28
Australien Ein Premier ging baden. Zurück kam er nicht
Vermisst! Wenn Regimekritiker verschwinden
102
34
Männerfantasie Bin mal kurz Zigaretten holen
WeiSSe Magie
106
Hausbesuch bei einer Zaunsitzerin
37
Tod und Verderben Interview mit »Macbeth«-Regisseur Martin Kušej
8
Die Versenkung
David Hughes illustriert Busonis »Doktor Faust«
113
Zu Albans Bergs »Wozzeck«
38
Auftakt
Bildergeschichte
Die welt war verloren
44
Primadonnen
Wir müssen reden!
»Ich möchte, dass die Lady nicht singt«
Und das permanent. Ein bisschen Stille täte gut
40
Kulturtipps Bücher & Co.
115
47
Was bleibt?
Verschwindet die Oper?
Gedanken der Sängerin Nadja Michael
Interview mit »Wozzeck«-Dirigent Kent Nagano
Spielplan
120
au revoir!
48
Was darin verschwinden soll
10
Wolf Wondratschek spricht mit Max I. Joseph
Kindheit ohne Chance Kaspar, der Partisan. Eine Geschichte aus Sibirien
Vorhang zu!
56
Der letzte Ton verklingt. Und dann?
13
Vergeudete Biografien Gespräch mit Regisseur Andreas Kriegenburg
Weg ist weg Was alles verloren ist. Kleines nostalgisches Lexikon
14
Irrende SeeleN
Die inszenierung des heiligen
Düfte — nur ein flüchtiger Hauch
16
Zu Hans Pfitzners »Palestrina«
62
Fotoessay »Little Dreamers « von Daniel Josefsohn
Das leben ein tanz
Kirchenmusik Cage-Konzert in Halberstadt. Es endet in 632 Jahren
68
Geht die Kunst nach Brot ? Ja, sagt der Komponist Peter Eötvös im Interview
70
6
Oberammergau
autoren & Fotografen
Hollywood oder heilige Stadt? Wo der Glaube alles ist
7
80
Rudolf Nurejew Der Tag, an dem er in den Westen verschwand
86
Cartoon
Paul Davis illustriert »Romeo und Julia«
88
Impressum
ballerinen-dämmerung Adieu, Giselle! Adieu, Primaballerina!
94
Augenblicke Tänzer fotografieren, was sich verflüchtigt
62
80
98
012 — auftakt
chesters, bäumt sich auf im dramatischen Fortissimo, erfüllt den Raum mit Todesschrecken und Bestürzung oder zeigt ein letztes überirdisches Leuchten. Es ist so weit. Wenn der letzte Ton verschwunden ist, beginnt das Ringen um das Schweigen — um den Moment der Stille, in der das Werk verhallt. Der Dirigent hält den Riesen am Boden, indem er den Stab oben lässt. Die Streicher legen die Bogen nicht beiseite, die Bläser setzen ihre Instrumente nicht ab. Eine Panto mime als Sekundenphänomen. Ein Kraftakt für die Kunst. Ein Plädoyer für das Innehalten. Natürlich funktioniert es besser, wenn das Orchester auf dem Podium sitzt und den Saal beherrscht — und nicht im Graben. Dort wird es, gerade in den spannends ten, den aufwühlendsten Momenten, glatt übersehen. Der Regisseur weiß das. Auch er kann die Zeit anhalten, indem er das Bild stehen lässt, das Bühnenlicht als letzte Momentauf nahme des Tatorts. Oder er lässt den Vorhang schließen, unterbricht gleichsam den Kontakt zwischen den zwei Welten, lässt das Publikum zurück im erwachenden Saallicht. Theatermacher kämpfen um die Sekunden danach, verfügen bisweilen, dass der eiserne Vorhang geschlossen wird, das scheinbar endgültige Aus und Vorbei. Manche bevorzugen eine Schalldecke aus schwarzem Samt, die sich von oben senkt wie die Nacht des Todes und Totenstille mit sich zieht, vielleicht für ein paar Sekunden. Oder sie wählen den Schock, das totale Blackout, das ein paar Sekunden elektrisierender, gespannter Ruhe nach sich zieht. Aber es ist immer nur die Ruhe vor dem Sturm. Kein Publikum, das mehrere Stunden stillsitzen musste, lässt sich das Recht nehmen, zu applaudieren und aus dem Häuschen zu sein. Dem Verschwinden des letzten Tons folgt das Verschwinden der Stille. Garantiert.
Schlusston
Manchmal kommt es zögernd, das Klatschen — es muss kein schlechtes Zeichen sein, wenn die Opernliebhaber, ergriffen und aufgewühlt, ihre Erschütterung noch nicht in motorische Bewegung umsetzen wollen. Manchmal kommt der Applaus wie ein donnernder Schuss, wenn die Begeisterung überwiegt. Die Buhs verlangen ihr Recht. Sie sind die Gegenstimme, die sich Gehör verschafft: manchmal mehrstimmig, niemals schüchtern und gern kunstvoll und bewusst in die Betroffenheitslücke gesetzt, in der sich der Applaus noch sammelt. Wenn Senta explodiert, statt in Wagners Meereswogen zu ertrinken, gibt es Ordnungsrufe. Kleindarsteller machen sich Luft, selten haben sie so viel Publikum, f undamentalistische Kritiker des Regietheaters leisten Trauerarbeit in Buh, weil nichts mehr so schön ist, wie es einmal war. Der Applaus rauscht erfahrungsgemäß darüber hinweg. Täte er es nicht, hätte das Theater einen Skandal. Applaus hat viele Stimmen, die enthusiastischen Bravos, gern auch an Einzelne verteilt, das Grundrauschen der klatschenden Hände, das noch hochgestimmter klingt, wenn die Claqueure sich erheben, das Stampfen mit den Füßen, das den Saal erzittern lässt, das vor nehme, zurückhaltende Klatschen, das Bewegung sichtbar, aber nicht unbedingt hörbar macht, das Klatschen, das langsam ermüdet, abebbt, enden will, aber noch nicht kann. Dankbarkeit sucht ihr Ventil. Auf beiden Seiten. Blumen, Verbeugungen, Hand aufs Herz. Vorhänge, die Rituale des Kommens und Gehens, die einstudierten und doch spontan wirkenden Auftritte der Protagonisten. Erschöpft und glücklich treten sie ans Licht: der Held, die Primadonna, der Dirigent und als besondere Premierengäste der Regisseur und sein Team. Abgänge, Wieder holungen, irgendwann ist Schluss. Dem Sturm folgt der Drang. Zu den Garderoben, nach draußen, zurück ins Leben.
013 — auftakt
Kleines nostalgisches Lexikon
012 — auftakt
chesters, bäumt sich auf im dramatischen Fortissimo, erfüllt den Raum mit Todesschrecken und Bestürzung oder zeigt ein letztes überirdisches Leuchten. Es ist so weit. Wenn der letzte Ton verschwunden ist, beginnt das Ringen um das Schweigen — um den Moment der Stille, in der das Werk verhallt. Der Dirigent hält den Riesen am Boden, indem er den Stab oben lässt. Die Streicher legen die Bogen nicht beiseite, die Bläser setzen ihre Instrumente nicht ab. Eine Panto mime als Sekundenphänomen. Ein Kraftakt für die Kunst. Ein Plädoyer für das Innehalten. Natürlich funktioniert es besser, wenn das Orchester auf dem Podium sitzt und den Saal beherrscht — und nicht im Graben. Dort wird es, gerade in den spannends ten, den aufwühlendsten Momenten, glatt übersehen. Der Regisseur weiß das. Auch er kann die Zeit anhalten, indem er das Bild stehen lässt, das Bühnenlicht als letzte Momentauf nahme des Tatorts. Oder er lässt den Vorhang schließen, unterbricht gleichsam den Kontakt zwischen den zwei Welten, lässt das Publikum zurück im erwachenden Saallicht. Theatermacher kämpfen um die Sekunden danach, verfügen bisweilen, dass der eiserne Vorhang geschlossen wird, das scheinbar endgültige Aus und Vorbei. Manche bevorzugen eine Schalldecke aus schwarzem Samt, die sich von oben senkt wie die Nacht des Todes und Totenstille mit sich zieht, vielleicht für ein paar Sekunden. Oder sie wählen den Schock, das totale Blackout, das ein paar Sekunden elektrisierender, gespannter Ruhe nach sich zieht. Aber es ist immer nur die Ruhe vor dem Sturm. Kein Publikum, das mehrere Stunden stillsitzen musste, lässt sich das Recht nehmen, zu applaudieren und aus dem Häuschen zu sein. Dem Verschwinden des letzten Tons folgt das Verschwinden der Stille. Garantiert.
Schlusston
Manchmal kommt es zögernd, das Klatschen — es muss kein schlechtes Zeichen sein, wenn die Opernliebhaber, ergriffen und aufgewühlt, ihre Erschütterung noch nicht in motorische Bewegung umsetzen wollen. Manchmal kommt der Applaus wie ein donnernder Schuss, wenn die Begeisterung überwiegt. Die Buhs verlangen ihr Recht. Sie sind die Gegenstimme, die sich Gehör verschafft: manchmal mehrstimmig, niemals schüchtern und gern kunstvoll und bewusst in die Betroffenheitslücke gesetzt, in der sich der Applaus noch sammelt. Wenn Senta explodiert, statt in Wagners Meereswogen zu ertrinken, gibt es Ordnungsrufe. Kleindarsteller machen sich Luft, selten haben sie so viel Publikum, f undamentalistische Kritiker des Regietheaters leisten Trauerarbeit in Buh, weil nichts mehr so schön ist, wie es einmal war. Der Applaus rauscht erfahrungsgemäß darüber hinweg. Täte er es nicht, hätte das Theater einen Skandal. Applaus hat viele Stimmen, die enthusiastischen Bravos, gern auch an Einzelne verteilt, das Grundrauschen der klatschenden Hände, das noch hochgestimmter klingt, wenn die Claqueure sich erheben, das Stampfen mit den Füßen, das den Saal erzittern lässt, das vor nehme, zurückhaltende Klatschen, das Bewegung sichtbar, aber nicht unbedingt hörbar macht, das Klatschen, das langsam ermüdet, abebbt, enden will, aber noch nicht kann. Dankbarkeit sucht ihr Ventil. Auf beiden Seiten. Blumen, Verbeugungen, Hand aufs Herz. Vorhänge, die Rituale des Kommens und Gehens, die einstudierten und doch spontan wirkenden Auftritte der Protagonisten. Erschöpft und glücklich treten sie ans Licht: der Held, die Primadonna, der Dirigent und als besondere Premierengäste der Regisseur und sein Team. Abgänge, Wieder holungen, irgendwann ist Schluss. Dem Sturm folgt der Drang. Zu den Garderoben, nach draußen, zurück ins Leben.
013 — auftakt
Kleines nostalgisches Lexikon
016 — Auftakt
»Little Dreamers«
Fotoessay — Daniel Josefsohn
Dank an Sabrina Dehoff, Nicolette Krebitz und Susanne Raupach
016 — Auftakt
»Little Dreamers«
Fotoessay — Daniel Josefsohn
Dank an Sabrina Dehoff, Nicolette Krebitz und Susanne Raupach
042 — wozzeck
DIe welt war verloren Zu Alban Bergs »Wozzeck«
Schrei, der m Der Schrei ist so elementar wie vielschichtig. Sieglinde fällt vor Glück taumelnd »mit einem Schrei« an Siegmunds Brust. Als sie dessen Todesseufzer vernimmt, sinkt sie »mit einem Schrei wie leblos zusammen«. Kundry erwacht schreiend. Brangänes Schrei bereitet der Liebesnacht von Tristan und Isolde ein jähes Ende. Schreie von Lulu und Marie versetzen zurück in die Eingeweide der Angst, zerreißen den Schleier der Schönheit. Elvira und Leporello stoßen beim Anblick des Komturs einen angstvollen Schrei aus. Ganz anders Don Giovannis Schrei vor der Höllenfahrt: entsetzt und zugleich lustvoll.
042 — wozzeck
DIe welt war verloren Zu Alban Bergs »Wozzeck«
Schrei, der m Der Schrei ist so elementar wie vielschichtig. Sieglinde fällt vor Glück taumelnd »mit einem Schrei« an Siegmunds Brust. Als sie dessen Todesseufzer vernimmt, sinkt sie »mit einem Schrei wie leblos zusammen«. Kundry erwacht schreiend. Brangänes Schrei bereitet der Liebesnacht von Tristan und Isolde ein jähes Ende. Schreie von Lulu und Marie versetzen zurück in die Eingeweide der Angst, zerreißen den Schleier der Schönheit. Elvira und Leporello stoßen beim Anblick des Komturs einen angstvollen Schrei aus. Ganz anders Don Giovannis Schrei vor der Höllenfahrt: entsetzt und zugleich lustvoll.
044 — wozzeck
Das Verschwinden der Stille
045 — wozzeck
Das Verschwinden der Stille
wir müssen reden! und zwar permanent Wir leben in einem Kokon aus Krach. Susanne Frömel geht die Geschwätzigkeit unserer Gesellschaft ziemlich auf die Nerven Performance — Aernout Mik, Territorium
Es war Montag früh, die Nacht war unruhig und schwül, wie gut täte jetzt ein wenig er frischende Ruhe. Die Bahn glitt freundlich geräuscharm über die Schienen und die Sitzplätze gegenüber blieben frei, jedenfalls für drei, sogar vier Stationen. Dann, an der fünften, stiegen zwei junge Frauen ein. Sie ließen sich mit schweren Gesäßen auf die Sitzpolster fallen und öffneten ihre Münder. Viel mehr mussten sie gar nicht tun, denn die Worte sprudelten nur so aus ihnen heraus. Sinnloses reihte sich an Nutzloses, um dann Gedankenlosem Platz zu machen. Als die beiden fünf Stationen später wieder ausstiegen, fühlte sich mein Gehirn an, als hätte es zu lange in der Sonne gelegen. Ich musste an Wozzeck denken, diesen armen Kerl, und an seinen Hauptmann, der ebenfalls ohne Unterlass redet, quasselt, plappert, ein Mann, der die Stille so wenig schätzt wie das Nachdenken. Reflexartig öffnet er den Mund, sobald
sich ein Augenblick der Erkenntnisnähert, und der dann folgende Wortschwall wischt alle Gedanken fort. So lebt es sich natürlich angenehm. »Red’ Er doch was!«, verlangt der Hauptmann an einer Stelle, als ihm die aufkeimende Stille bedrohlich zu werden scheint, und dann wieder: »Aber Er denkt zuviel, das zehrt. Er sieht immer so verhetzt aus.« Und Wozzeck, vergeistigt, ständig in tieferen Gedanken versunken, muss diese inhaltsarme Geräuschkulisse ertragen, einfach weil es nun mal so ist. Da geht es uns natürlich nicht besser. Stille, die grüblerische, zum Nachdenken animierende Ruhe ist ein Luxusgut geworden. Heutzutage kann man nicht einmal mehr einkaufen, ohne berieselt zu werden, der Rhythmus der Musik ist an den menschlichen Herzschlag angepasst, auf dass dieser mehr und länger einkaufen möge. Wir sind in einen Kokon aus Krach verpackt. Nicht einmal die gute alte Mittagspause gibt es mehr. Sie heißt jetzt Lunch und ist mit Geschnatter, Networking und Diätgerichten gefüllt. Das Verschwinden der Stille betrachtet man ebenso atemlos wie das Aussterben von Tierarten. Man verharrt wie ein Reh im Scheinwerferlicht — in der bangen Ahnung, dass irgendetwas grundlegend falsch läuft. Was es ist, tja, das bleibt meist unbeantwortet, denn leider kommt man vor lauter Berieselung gar nicht mehr
zum Nachdenken. Nur so ist es zu er klären, dass niemand auf den Tisch haut und ruft: »Ruhe jetzt!«, sich anschließend zurücklehnt und das süße Nichts genießt, das sich wie eine frische Brise im Kopf ausbreitet, um Platz für Gedanken zu schaffen. Offenbar wird Stille heute allenthalben als Gefahr angesehen. In dem fabelhaften Science-Fiction-Roman »Per Anhalter durch die Galaxis« des Briten Douglas Adams äußert der Autor den Verdacht, dass die meisten Wesen vor allem deshalb ständig vor sich hin plappern, weil sie Angst vor klaren Gedanken hätten. Ruhe ist etwas Unzumutbares geworden. Ob in der Umkleidekabine, auf dem Flughafen, auf der Straße, im Restaurant, sogar beim sommerlichen Parkbesuch schwillt der Lärmpegel zu einem nicht enden wollenden Crescendo an, dessen man sich nur erwehren kann, indem man immer noch lauter ist als der Rest. Nur: Vergnüglich ist das nicht. Darum fahren am Wochenende alle in den Wald, wo sie mit bimmelnden Handys zwischen den Bäumen herumlaufen und sich beklagen, dass die Vögel so laut trällern. Allein Sonntagspredigten oder Theatervorstellungen scheinen noch das Potenzial zu haben, ein kollektives Ruhe-Erlebnis erzeugen zu können. Nein, die Stille gibt es nicht mehr. Wozzeck, der Arme, findet sie am Ende
im mondbeschienenen Teich, nachdem er zum Mörder aus Verzweiflung wurde. So weit möchte man natürlich nicht gehen. Ein paar gute Ohrenstöpsel tun es auch. Man kann sie täglich tragen und dabei erstaunt feststellen, dass die meisten Menschen, die zu einem sprechen, auf Antworten gar keinen Wert legen. Ein freundliches Lächeln und gelegentliches Nicken genügen vollkommen. Dann sitzt man da, ganz allein mit sich und seinen Gedanken. Und die Welt läuft auch ohne einen weiter wie ein Stummfilm, den man jederzeit auf Dolby Surround schaltenkann. Die Wahl zu haben, das ist doch das, was einen Menschen glücklich macht.
044 — wozzeck
Das Verschwinden der Stille
045 — wozzeck
Das Verschwinden der Stille
wir müssen reden! und zwar permanent Wir leben in einem Kokon aus Krach. Susanne Frömel geht die Geschwätzigkeit unserer Gesellschaft ziemlich auf die Nerven Performance — Aernout Mik, Territorium
Es war Montag früh, die Nacht war unruhig und schwül, wie gut täte jetzt ein wenig er frischende Ruhe. Die Bahn glitt freundlich geräuscharm über die Schienen und die Sitzplätze gegenüber blieben frei, jedenfalls für drei, sogar vier Stationen. Dann, an der fünften, stiegen zwei junge Frauen ein. Sie ließen sich mit schweren Gesäßen auf die Sitzpolster fallen und öffneten ihre Münder. Viel mehr mussten sie gar nicht tun, denn die Worte sprudelten nur so aus ihnen heraus. Sinnloses reihte sich an Nutzloses, um dann Gedankenlosem Platz zu machen. Als die beiden fünf Stationen später wieder ausstiegen, fühlte sich mein Gehirn an, als hätte es zu lange in der Sonne gelegen. Ich musste an Wozzeck denken, diesen armen Kerl, und an seinen Hauptmann, der ebenfalls ohne Unterlass redet, quasselt, plappert, ein Mann, der die Stille so wenig schätzt wie das Nachdenken. Reflexartig öffnet er den Mund, sobald
sich ein Augenblick der Erkenntnisnähert, und der dann folgende Wortschwall wischt alle Gedanken fort. So lebt es sich natürlich angenehm. »Red’ Er doch was!«, verlangt der Hauptmann an einer Stelle, als ihm die aufkeimende Stille bedrohlich zu werden scheint, und dann wieder: »Aber Er denkt zuviel, das zehrt. Er sieht immer so verhetzt aus.« Und Wozzeck, vergeistigt, ständig in tieferen Gedanken versunken, muss diese inhaltsarme Geräuschkulisse ertragen, einfach weil es nun mal so ist. Da geht es uns natürlich nicht besser. Stille, die grüblerische, zum Nachdenken animierende Ruhe ist ein Luxusgut geworden. Heutzutage kann man nicht einmal mehr einkaufen, ohne berieselt zu werden, der Rhythmus der Musik ist an den menschlichen Herzschlag angepasst, auf dass dieser mehr und länger einkaufen möge. Wir sind in einen Kokon aus Krach verpackt. Nicht einmal die gute alte Mittagspause gibt es mehr. Sie heißt jetzt Lunch und ist mit Geschnatter, Networking und Diätgerichten gefüllt. Das Verschwinden der Stille betrachtet man ebenso atemlos wie das Aussterben von Tierarten. Man verharrt wie ein Reh im Scheinwerferlicht — in der bangen Ahnung, dass irgendetwas grundlegend falsch läuft. Was es ist, tja, das bleibt meist unbeantwortet, denn leider kommt man vor lauter Berieselung gar nicht mehr
zum Nachdenken. Nur so ist es zu er klären, dass niemand auf den Tisch haut und ruft: »Ruhe jetzt!«, sich anschließend zurücklehnt und das süße Nichts genießt, das sich wie eine frische Brise im Kopf ausbreitet, um Platz für Gedanken zu schaffen. Offenbar wird Stille heute allenthalben als Gefahr angesehen. In dem fabelhaften Science-Fiction-Roman »Per Anhalter durch die Galaxis« des Briten Douglas Adams äußert der Autor den Verdacht, dass die meisten Wesen vor allem deshalb ständig vor sich hin plappern, weil sie Angst vor klaren Gedanken hätten. Ruhe ist etwas Unzumutbares geworden. Ob in der Umkleidekabine, auf dem Flughafen, auf der Straße, im Restaurant, sogar beim sommerlichen Parkbesuch schwillt der Lärmpegel zu einem nicht enden wollenden Crescendo an, dessen man sich nur erwehren kann, indem man immer noch lauter ist als der Rest. Nur: Vergnüglich ist das nicht. Darum fahren am Wochenende alle in den Wald, wo sie mit bimmelnden Handys zwischen den Bäumen herumlaufen und sich beklagen, dass die Vögel so laut trällern. Allein Sonntagspredigten oder Theatervorstellungen scheinen noch das Potenzial zu haben, ein kollektives Ruhe-Erlebnis erzeugen zu können. Nein, die Stille gibt es nicht mehr. Wozzeck, der Arme, findet sie am Ende
im mondbeschienenen Teich, nachdem er zum Mörder aus Verzweiflung wurde. So weit möchte man natürlich nicht gehen. Ein paar gute Ohrenstöpsel tun es auch. Man kann sie täglich tragen und dabei erstaunt feststellen, dass die meisten Menschen, die zu einem sprechen, auf Antworten gar keinen Wert legen. Ein freundliches Lächeln und gelegentliches Nicken genügen vollkommen. Dann sitzt man da, ganz allein mit sich und seinen Gedanken. Und die Welt läuft auch ohne einen weiter wie ein Stummfilm, den man jederzeit auf Dolby Surround schaltenkann. Die Wahl zu haben, das ist doch das, was einen Menschen glücklich macht.
048 — wozzeck
Problemkind
kaspar, der partisan eine geschichte aus sibirien Text — Stefan Scholl FotoS — Heinz Tesarek
048 — wozzeck
Problemkind
kaspar, der partisan eine geschichte aus sibirien Text — Stefan Scholl FotoS — Heinz Tesarek
050 — Wozzeck
Problemkind
051 — Wozzeck
Problemkind
Von der Familie abgeschoben, aus den Heimen geflohen, nach Sibirien verbannt, wieder davongerannt: Kaspar, 13, aus Köln verschwand überall. Immer wieder
Der sibirische April schaukelte zwischen 8 Grad Nachtfrost und 14 Grad gleißendem Sonnenschein. Kaspar sprang in riesigen Leinengummistiefeln durch die Schmelzwasserpfützen im Hof. »Kaspar«, rief ich, »holst du Wasser oder Holz?« Keine Antwort, ich drehte mich um die eigene Achse, der Junge hatte sich plötzlich in blau lodernde sibirische Luft aufgelöst. »Kaspar?« Keine Antwort. »Kaaaspaaar!« Die Spatzen lärmten. Sollte ich mich ärgern? Ich hatte mir diese Frage noch nicht beantwortet, da hörte ich Gekicher von oben. »Kuckuck, Stefan, hier bin ich!« Kaspar — er heißt in Wirklichkeit anders; wir haben seinen Namen geändert — saß auf dem Stalldach, baumelte mit den Beinen und grinste auf mich herab.
Aber gerade darum war Kaspar ja in Sibirien gelandet. Verbannt nach Oni, 330 Kilometer nördlich von Krasnojarsk. In ein Dorf, belagert von der Taiga, die im Winter in Gestalt von Vielfraßen bis in die Schweineställe vordrang. 11 Straßen, 402 hölzerne Haushalte, dazu Kai, Kaspars deutscher Einzelbetreuer, Sascha, der Berufssibirier, ich, Berichterstatter und Hilfspädagoge. Eingekreist von dieser Übermacht, war Kaspar auf einen fremden Planeten geraten. Ein Kind gewordenes Problem, das das Jugendamt für ein Jahr auf sibirisches Eis gelegt hatte. Aus deutscher Sicht ein verschwindend winziger menschlicher Punkt im weißen Nichts jenseits des Urals. Verschwunden auf Zeit, »zwischengelagert«, wie Kai einmal räsonierte.
Das war eines der ersten harmlosen Löcher in Kaspars sibirischer Anwesenheit. Noch dachte ich mir nichts dabei. Obwohl wir alle wussten, dass Kaspar in Deutschland ein passionierter Ausreißer gewesen war. Er war aus Pflegefamilien geflohen, aus Wohngruppen, aus offenen und geschlossenen Kinderheimen. »Rausgeboxt«, erzählte er mir, »immer wieder rausgeboxt.« Das war Angeberei. Kaspar, 13, so schmächtig wie ein Neunjähriger, verschwand nicht prügelnd, sondern schleichend. Und schauspielernd: ein verloren gegangenes Kind im Interregio, blass, mit Tränen in großen himmelblauen Augen. Das Mitleid der Passagiere war ihm sicher. Er verschwand wochenlang, und wenn er wieder auftauchte, dann heftig. An der holländischen Nordseeküste, wo er mit anderen Kids versuchte, eine Segeljacht zu stehlen. Oder auf den Gleisen der ICEStrecke Köln-Berlin, wo er eifrig winkend einen Zug stoppte.
Und Kaspar tobte sich aus, als wolle er jeden Tag ein Stück Kindheit nachholen. Natürlich verschwand er, tagtäglich. Aber er verschwand, um mit Ruslan, dem tschetschenischen, und Wanja, dem russischen Nachbarjungen, rodeln zu gehen. Oder zum Basketball in die Sporthalle. Oder um sich die Katzenbabys der kleinen Sonja aus Ruslans Klasse anzugucken.
Sibirien war 30 Grad kalte Fremde und doch voller Hundewelpen, Pferde und Schneebälle. Und voller Kinder, die mit dem kleinen Außerirdischen spielen wollten.
Alle zwei Stunden stürmte er ins Haus zurück. »Mann, Kai«, jubelte er dann, »ich hab den Tschetschenen geholfen, eine Kuh zu schlachten.« »Zieh die Stiefel aus«, pflegte Kai geduldig zu antworten. »Ach, hab ich glatt vergessen«, staunte Kaspar. »Krieg ich jetzt meine Ziggi?« Kaspar war latenter Asthmatiker und doch Kettenraucher. Kai versuchte nicht, ihm dieses Laster abzugewöhnen, er konditionierte es: Sieben Zigaretten täglich hatten sie ausgehandelt,
von 10 Uhr morgens bis 10 Uhr abends, alle zwei Stunden eine. Sieben Zigaretten, diese Kontrollpunkte markierten Kaspars Alltag und verhinderten nebenher jede Flucht, die länger als zwei Stunden währte. Und die sieben Zigaretten waren ein Ritual. Oft zündete sich auch Kai eine an, wenn Kaspar rauchte. Sie rauchten Friedensoder zumindest Waffenstillstandspfeife. Denn Kai war ein Feind, ein Pädagoge. Einer, der berufsmäßig an Kaspar herankommen wollte, Nähe, eine Beziehung schaffen. Genau vor solchen Leuten lief Kaspar immer wieder davon, ihnen galt sein Hass. »Einmal hat mich ein Betreuer so genervt«, erzählte er Kai, »da habe ich denen vom Jugendamt solche Lügen erzählt, dass die ihn gefeuert haben.« Eine Drohung. Aber Kai hielt sich auch so zurück, organisierte Kaspars Alltag, nötigte ihn zum Schulunter richt. Doch er begann keine innigen Gespräche über Kaspars Vergangenheit, über seine Zukunft oder den Sinn des Lebens. »Soll er besser raus, spielen.« Am intimsten waren noch die paar Seiten »Harry Potter«, die Kai Kaspar abends vorlas. Trotzdem verschwand Kaspar immer wieder. Nachts in eine schreckliche Welt, die Welt seiner Albträume. Er schrie im Schlaf, schrie vor Angst oder Wut: »Hau ab, hau endlich ab, du!« Kai rüttelte ihn wach: »Wer soll denn abhauen?« »Na der, der da sitzt auf dem Bett, siehst du!« Morgens hatte Kaspar dann das eigene Bett vollgepinkelt. Irgendwann wurde auch der wache Kaspar unstet. Er spielte weiter mit den sibirischen Kindern. Aber Sascha sah ihn häufiger allein im Dorf, Kaspar zog durch fremde Gemüsegärten, guckte bei fremden Tanten russisches Fernsehen, ließ manchmal sogar eine Zigarette sausen. Und dann verschwand er.
Er blieb über Nacht weg, vielleicht schlief er bei gutmütigen Russen, vielleicht im Stroh. Kai sah ihn, wie er tagsüber ums Haus schlich. Aber er rannte davon, als er bemerkte, dass Kai ihn bemerkt hatte. Er klaute Lucky, den Hofhund, stieg mit ihm in den Bus nach Partisansk, das 30 Kilometer entfernte Rayonszentrum. Dort versuchte er, Lucky zu verkaufen. Kaspar wurde zurückgebracht, zu Hausarrest verurteilt, aber abends floh er wieder. Er war im Dorf, einmal sahen Sascha und ich ihn vor dem Laden, sprangen aus dem Auto, um ihn einzufangen, Kaspar sprintete Richtung Schule, sah sich um, mit vor Panik und Wonne aufgerissenen Augen. Hinter einem Bretterzaun verschluckte ihn der Erdboden. Als hätte Kaspar den monatelangen Frieden nur genutzt, um spielend das nächste Schlachtfeld zu erkunden, jedes lose Zaunbrett, jedes Schlupfloch, jeden möglichen Verbündeten. Obwohl wir den Busfahrern verboten hatten, ihn mitzu nehmen, schmuggelte er sich wieder in den Bus nach Partisansk. Aber diesmal war ich schon da, erwartete ihn an der Haltestelle. Der Bus kam, ein paar Leute stiegen aus, nur kein Kaspar. Ich stieg hinein, von Kaspar keine Spur. »Euer Kind?«, fragte der Fahrer. »Siehst du es nicht? Da geht es!« Ich sprang aus dem Bus, erblickte eine kleine Gestalt in einem grauen Kapuzenumhang. Kaspar, gekleidet in Unscheinbarkeit, schlich davon. »Pack mich nicht an!« Er versuchte, sich meinem wachtmeister lichen Griff zu entwinden. »Kommst du freiwillig mit oder im Schwitzkasten?« »Freiwillig«, raunzte er. Auf dem Rückweg im Auto grinste Kaspar schon wieder. »Mann, Stefan, hat mein kleines Herz gebummert, als ich an dir
050 — Wozzeck
Problemkind
051 — Wozzeck
Problemkind
Von der Familie abgeschoben, aus den Heimen geflohen, nach Sibirien verbannt, wieder davongerannt: Kaspar, 13, aus Köln verschwand überall. Immer wieder
Der sibirische April schaukelte zwischen 8 Grad Nachtfrost und 14 Grad gleißendem Sonnenschein. Kaspar sprang in riesigen Leinengummistiefeln durch die Schmelzwasserpfützen im Hof. »Kaspar«, rief ich, »holst du Wasser oder Holz?« Keine Antwort, ich drehte mich um die eigene Achse, der Junge hatte sich plötzlich in blau lodernde sibirische Luft aufgelöst. »Kaspar?« Keine Antwort. »Kaaaspaaar!« Die Spatzen lärmten. Sollte ich mich ärgern? Ich hatte mir diese Frage noch nicht beantwortet, da hörte ich Gekicher von oben. »Kuckuck, Stefan, hier bin ich!« Kaspar — er heißt in Wirklichkeit anders; wir haben seinen Namen geändert — saß auf dem Stalldach, baumelte mit den Beinen und grinste auf mich herab.
Aber gerade darum war Kaspar ja in Sibirien gelandet. Verbannt nach Oni, 330 Kilometer nördlich von Krasnojarsk. In ein Dorf, belagert von der Taiga, die im Winter in Gestalt von Vielfraßen bis in die Schweineställe vordrang. 11 Straßen, 402 hölzerne Haushalte, dazu Kai, Kaspars deutscher Einzelbetreuer, Sascha, der Berufssibirier, ich, Berichterstatter und Hilfspädagoge. Eingekreist von dieser Übermacht, war Kaspar auf einen fremden Planeten geraten. Ein Kind gewordenes Problem, das das Jugendamt für ein Jahr auf sibirisches Eis gelegt hatte. Aus deutscher Sicht ein verschwindend winziger menschlicher Punkt im weißen Nichts jenseits des Urals. Verschwunden auf Zeit, »zwischengelagert«, wie Kai einmal räsonierte.
Das war eines der ersten harmlosen Löcher in Kaspars sibirischer Anwesenheit. Noch dachte ich mir nichts dabei. Obwohl wir alle wussten, dass Kaspar in Deutschland ein passionierter Ausreißer gewesen war. Er war aus Pflegefamilien geflohen, aus Wohngruppen, aus offenen und geschlossenen Kinderheimen. »Rausgeboxt«, erzählte er mir, »immer wieder rausgeboxt.« Das war Angeberei. Kaspar, 13, so schmächtig wie ein Neunjähriger, verschwand nicht prügelnd, sondern schleichend. Und schauspielernd: ein verloren gegangenes Kind im Interregio, blass, mit Tränen in großen himmelblauen Augen. Das Mitleid der Passagiere war ihm sicher. Er verschwand wochenlang, und wenn er wieder auftauchte, dann heftig. An der holländischen Nordseeküste, wo er mit anderen Kids versuchte, eine Segeljacht zu stehlen. Oder auf den Gleisen der ICEStrecke Köln-Berlin, wo er eifrig winkend einen Zug stoppte.
Und Kaspar tobte sich aus, als wolle er jeden Tag ein Stück Kindheit nachholen. Natürlich verschwand er, tagtäglich. Aber er verschwand, um mit Ruslan, dem tschetschenischen, und Wanja, dem russischen Nachbarjungen, rodeln zu gehen. Oder zum Basketball in die Sporthalle. Oder um sich die Katzenbabys der kleinen Sonja aus Ruslans Klasse anzugucken.
Sibirien war 30 Grad kalte Fremde und doch voller Hundewelpen, Pferde und Schneebälle. Und voller Kinder, die mit dem kleinen Außerirdischen spielen wollten.
Alle zwei Stunden stürmte er ins Haus zurück. »Mann, Kai«, jubelte er dann, »ich hab den Tschetschenen geholfen, eine Kuh zu schlachten.« »Zieh die Stiefel aus«, pflegte Kai geduldig zu antworten. »Ach, hab ich glatt vergessen«, staunte Kaspar. »Krieg ich jetzt meine Ziggi?« Kaspar war latenter Asthmatiker und doch Kettenraucher. Kai versuchte nicht, ihm dieses Laster abzugewöhnen, er konditionierte es: Sieben Zigaretten täglich hatten sie ausgehandelt,
von 10 Uhr morgens bis 10 Uhr abends, alle zwei Stunden eine. Sieben Zigaretten, diese Kontrollpunkte markierten Kaspars Alltag und verhinderten nebenher jede Flucht, die länger als zwei Stunden währte. Und die sieben Zigaretten waren ein Ritual. Oft zündete sich auch Kai eine an, wenn Kaspar rauchte. Sie rauchten Friedensoder zumindest Waffenstillstandspfeife. Denn Kai war ein Feind, ein Pädagoge. Einer, der berufsmäßig an Kaspar herankommen wollte, Nähe, eine Beziehung schaffen. Genau vor solchen Leuten lief Kaspar immer wieder davon, ihnen galt sein Hass. »Einmal hat mich ein Betreuer so genervt«, erzählte er Kai, »da habe ich denen vom Jugendamt solche Lügen erzählt, dass die ihn gefeuert haben.« Eine Drohung. Aber Kai hielt sich auch so zurück, organisierte Kaspars Alltag, nötigte ihn zum Schulunter richt. Doch er begann keine innigen Gespräche über Kaspars Vergangenheit, über seine Zukunft oder den Sinn des Lebens. »Soll er besser raus, spielen.« Am intimsten waren noch die paar Seiten »Harry Potter«, die Kai Kaspar abends vorlas. Trotzdem verschwand Kaspar immer wieder. Nachts in eine schreckliche Welt, die Welt seiner Albträume. Er schrie im Schlaf, schrie vor Angst oder Wut: »Hau ab, hau endlich ab, du!« Kai rüttelte ihn wach: »Wer soll denn abhauen?« »Na der, der da sitzt auf dem Bett, siehst du!« Morgens hatte Kaspar dann das eigene Bett vollgepinkelt. Irgendwann wurde auch der wache Kaspar unstet. Er spielte weiter mit den sibirischen Kindern. Aber Sascha sah ihn häufiger allein im Dorf, Kaspar zog durch fremde Gemüsegärten, guckte bei fremden Tanten russisches Fernsehen, ließ manchmal sogar eine Zigarette sausen. Und dann verschwand er.
Er blieb über Nacht weg, vielleicht schlief er bei gutmütigen Russen, vielleicht im Stroh. Kai sah ihn, wie er tagsüber ums Haus schlich. Aber er rannte davon, als er bemerkte, dass Kai ihn bemerkt hatte. Er klaute Lucky, den Hofhund, stieg mit ihm in den Bus nach Partisansk, das 30 Kilometer entfernte Rayonszentrum. Dort versuchte er, Lucky zu verkaufen. Kaspar wurde zurückgebracht, zu Hausarrest verurteilt, aber abends floh er wieder. Er war im Dorf, einmal sahen Sascha und ich ihn vor dem Laden, sprangen aus dem Auto, um ihn einzufangen, Kaspar sprintete Richtung Schule, sah sich um, mit vor Panik und Wonne aufgerissenen Augen. Hinter einem Bretterzaun verschluckte ihn der Erdboden. Als hätte Kaspar den monatelangen Frieden nur genutzt, um spielend das nächste Schlachtfeld zu erkunden, jedes lose Zaunbrett, jedes Schlupfloch, jeden möglichen Verbündeten. Obwohl wir den Busfahrern verboten hatten, ihn mitzu nehmen, schmuggelte er sich wieder in den Bus nach Partisansk. Aber diesmal war ich schon da, erwartete ihn an der Haltestelle. Der Bus kam, ein paar Leute stiegen aus, nur kein Kaspar. Ich stieg hinein, von Kaspar keine Spur. »Euer Kind?«, fragte der Fahrer. »Siehst du es nicht? Da geht es!« Ich sprang aus dem Bus, erblickte eine kleine Gestalt in einem grauen Kapuzenumhang. Kaspar, gekleidet in Unscheinbarkeit, schlich davon. »Pack mich nicht an!« Er versuchte, sich meinem wachtmeister lichen Griff zu entwinden. »Kommst du freiwillig mit oder im Schwitzkasten?« »Freiwillig«, raunzte er. Auf dem Rückweg im Auto grinste Kaspar schon wieder. »Mann, Stefan, hat mein kleines Herz gebummert, als ich an dir
052 — Wozzeck
Keine Angst vor Konfrontation: Kaspar, rechts, mit Kai, seinem deutschen Einzelbetreuer —
Problemkind
053 — Wozzeck
Kaspar in der Kälte: Minus 30 Grad sind es im Winter in Oni, 330 Kilometer nördlich von Krasnojarsk —
Problemkind
052 — Wozzeck
Keine Angst vor Konfrontation: Kaspar, rechts, mit Kai, seinem deutschen Einzelbetreuer —
Problemkind
053 — Wozzeck
Kaspar in der Kälte: Minus 30 Grad sind es im Winter in Oni, 330 Kilometer nördlich von Krasnojarsk —
Problemkind
054 — Wozzeck
vorbei aus dem Bus bin.« Flucht war für ihn auch Adrenalin. Zurück in Oni verkündigte er Kai: »Du kannst machen, was du willst! Ich hau wieder ab!« Aber Kai hatte ein neues Argument: »Wenn du weiter stiften gehst, ziehen wir in ein anderes Dorf. 30 Kilometer von der nächsten Autostraße. Ganz klein, da wohnen nur noch alte Leute.« Kaspar beruhigte sich noch einmal. Sich suchen und jagen lassen, es war Kaspars liebstes Spiel. Aber er schien auch vor der Nähe zu fliehen, vor Kai. Davor, dass er anfing, beim Rauchen genauso wie Kai mit gekreuzten Beinen auf der Ofenbank zu sitzen. Dass Kai begann, ihn zu beeinflussen.Im Herbst brach Kaspar wieder aus. Er war tagelang weg, kam wieder. »Ich hol nur mein Kopf kissen.« Kai hielt ihn auf, Kaspar zertrümmerte nachts das Fenster und floh erneut. Und als er wieder auftauchte, verschwanden Dinge. Eine Flasche »Danziger Goldregen«, die ich den tschetschenischen Nachbarn mitgebracht hatte. Und dann 8000 Rubel, über 250 Euro, für die Landsibirier eine Menge Geld. Achmed, der Tschetschene, hatte dafür in Krasnojarsk einen Anhänger voll Rinderhälften verkauft. Ausgerechnet die Tschetschenen! Bei ihnen war Kaspar am häufigsten. Sohn Ruslan war sein bester Freund, offenbar hatte sich auch hier zu viel Nähe entwickelt. Kaspar verteilte jetzt im Dorf teure Marlboro. Aber den Rubeldiebstahl leugnete er so erbittert, dass Kai vermutete, vielleicht habe eines der Tschetschenenkinder das Geld genommen. Und Sascha, der die Tschetschenen nicht leiden konnte, schimpfte: »Das sind Schlitzohren! Die behaupten, Kaspar hätte Geld geklaut, um bei euch eine Entschädigung zu kassieren.« Kaspar verschwand nicht nur selbst, er ließ außer unseren Flaschen und unserem Geld auch unsere Wahrheit verschwinden.
Problemkind
Russen und Tschetschenen, auch Kai und ich trauten einander nicht mehr recht: Kai glaubte an Kaspars Unschuld, ich wollte Kaspar überführen, um die verdächtigten Tschetschenenkinder zu rechtfertigen. Dann übernachtete Kaspar wieder zu Hause. Und morgens war der angerissene Hundertdollarschein aus meiner Brieftasche verschwunden, den ich seit Monaten mit mir herumtrug, weil ihn keine sibirische Wechselstube nehmen wollte. Diesmal heuchelte Kaspar nicht mal Unschuld: »Stefan ist ein Scheißkerl«, erklärte er Kai. Er verschwand wieder, diesmal spurlos. Zwei Tage später fuhr ich durchs Dorf und sah ein Kind, das in gelben Boxershorts und Unterhemd durch den Neuschnee hüpfte. Kaspar. Sein Lachen erlosch, als er mich sah, er floh in ein Holzhaus. Drinnen stieß ich auf einen jungen Mann ohne Schneidezähne. Und auf eine holzgesichtige Frau, die gerade K aspars zerfetzte Jeans flickte. Auch die Dorfalkoholiker kannten Mitleid — in ihrem Rahmen. Erst behaupteten sie, Kaspar sei längst weg, lieferten ihn dann aber für 50 Rubel — einen Liter Selbstgebrannten — an mich aus. »Bloß«, baten die Säufer zum Abschied, »schlagt ihn nicht mehr!« Sie glaubten Kaspar, dass er auf der Flucht vor seinen gewalttätigen Betreuern sei. Kaspar drohte mit dem nächsten Ausbruch. Aber zuerst ging er mal zu den Tschetschenen. Nach zwei Stunden kam er zurück, um seine nächste Ziggi zu inhalieren. »Ich hab gerade Sonja im Teich ertränkt«, prahlte er. Dabei war er heimlich in Sonja verknallt. Kaspar verneinte, verleugnete, bekämpfte alle, zu denen er wirkliche Nähe spürte. Je vertrauter das Leben um ihn herum wurde, umso weniger wollte er es wahrhaben. Die Welt war ver-
055 — Wozzeck
loren für Kaspar. Und er für sie. Einmal zeigte er mir eine lange weiße Narbe auf dem Oberarm. »Da hat mir Mama mit so einem Teil, das man fürs Kochen braucht, draufgehauen.« Von anderen hörte ich, der eigene Vater habe ihn an einen pädophilen Kumpel verliehen, sein großer Bruder habe ihn gezwungen, gemeinsam die kleine Schwester sexuell zu missbrauchen. Schlimme Geschichten, sein Amtsvormund wiegelte ab, verbot mir schriftlich, über Kaspar und seine Familie zu schreiben. Erst Jahre später bestätigte mir Kaspars ältere Schwester, dass die Geschichten nicht schlimmer als die Wirklichkeit gewesen waren. »Kaspar war das zweitjüngste Kind. Und das ungeliebteste. Vater und Mutter brüllten ihn schon als Baby an.« Kaspars ä ltere Schwester hatte als Teenager ihren Vater angezeigt, nachdem er sie vergewaltigt hatte. Der Vater kam mit einer Bewährungsstrafe davon. Es war Kaspar, der Sündenbock der Familie, der nach Sibirien geschickt wurde. Abends torkelte er völlig betrunken durch die Tür, begann zu randalieren. Kai musste ihn zu Boden ringen, kniete eine halbe Stunde über dem tobenden Kind und versuchte, es zu beruhigen: »Warum hasst du mich?«, fragte er Kaspar. »Weil du an allem schuld bist. Dass ich nicht mehr zu meinen Eltern kann. Dass alles kaputt ist.« Ein paar Tage später raubte Kaspar einer Russin den Pferdeschlitten und raste auf der Dorfstraße Amok. Jetzt drohte er auch, den Russen das Dach über dem Kopf anzuzünden. Kai gab auf. Er brachte Kaspar wieder nach Deutschland, die Amtspädagogen hatten beschlossen, ihn zunächst bei seinem Vater in Köln abzuladen. Zwei Wochen später kam auch ich nach Deutschland, zufälligerweise ebenfalls nach Köln. Ich war erstaunt, als das
Problemkind
elefon klingelte und ich Kaspars helle Stimme hörte: »Hi, Alter, T Kai hat mir deine Nummer gegeben. Lass uns doch einen Kaffee trinken gehen.« Ich erklärte Kaspar, für ihn sei bestenfalls ein Milchshake drin, und verabredete mich mit ihm vor dem Dom. Ich stand auf dem Domplatz. Kaspar war nicht da. Ich wartete, drehte mich um die eigene Achse. Es hätte mich nicht gewundert, wenn es plötzlich vom Turm herunter gejubelt hätte: »Kuckuck, Stefan, hier bin ich.« Aber diesmal blieb Kaspar verschwunden. Sein letzter Streich, seine letzte Botschaft: Siehst du, ich verschwinde und tauche auf, wie ich will, ich habe diesen Krieg gewonnen! Kaspar kam nicht, rief auch nicht mehr an. Ich flog nach Russland zurück, hörte später von Kai, K aspar sei in einem geschlossenen Heim gelandet. Ich habe ein Buch über ihn geschrieben, habe noch jahrelang von ihm geträumt, aber ich habe nie mehr nach ihm gesucht. Wie allen anderen ist Kaspar auch mir verloren gegangen.
054 — Wozzeck
vorbei aus dem Bus bin.« Flucht war für ihn auch Adrenalin. Zurück in Oni verkündigte er Kai: »Du kannst machen, was du willst! Ich hau wieder ab!« Aber Kai hatte ein neues Argument: »Wenn du weiter stiften gehst, ziehen wir in ein anderes Dorf. 30 Kilometer von der nächsten Autostraße. Ganz klein, da wohnen nur noch alte Leute.« Kaspar beruhigte sich noch einmal. Sich suchen und jagen lassen, es war Kaspars liebstes Spiel. Aber er schien auch vor der Nähe zu fliehen, vor Kai. Davor, dass er anfing, beim Rauchen genauso wie Kai mit gekreuzten Beinen auf der Ofenbank zu sitzen. Dass Kai begann, ihn zu beeinflussen.Im Herbst brach Kaspar wieder aus. Er war tagelang weg, kam wieder. »Ich hol nur mein Kopf kissen.« Kai hielt ihn auf, Kaspar zertrümmerte nachts das Fenster und floh erneut. Und als er wieder auftauchte, verschwanden Dinge. Eine Flasche »Danziger Goldregen«, die ich den tschetschenischen Nachbarn mitgebracht hatte. Und dann 8000 Rubel, über 250 Euro, für die Landsibirier eine Menge Geld. Achmed, der Tschetschene, hatte dafür in Krasnojarsk einen Anhänger voll Rinderhälften verkauft. Ausgerechnet die Tschetschenen! Bei ihnen war Kaspar am häufigsten. Sohn Ruslan war sein bester Freund, offenbar hatte sich auch hier zu viel Nähe entwickelt. Kaspar verteilte jetzt im Dorf teure Marlboro. Aber den Rubeldiebstahl leugnete er so erbittert, dass Kai vermutete, vielleicht habe eines der Tschetschenenkinder das Geld genommen. Und Sascha, der die Tschetschenen nicht leiden konnte, schimpfte: »Das sind Schlitzohren! Die behaupten, Kaspar hätte Geld geklaut, um bei euch eine Entschädigung zu kassieren.« Kaspar verschwand nicht nur selbst, er ließ außer unseren Flaschen und unserem Geld auch unsere Wahrheit verschwinden.
Problemkind
Russen und Tschetschenen, auch Kai und ich trauten einander nicht mehr recht: Kai glaubte an Kaspars Unschuld, ich wollte Kaspar überführen, um die verdächtigten Tschetschenenkinder zu rechtfertigen. Dann übernachtete Kaspar wieder zu Hause. Und morgens war der angerissene Hundertdollarschein aus meiner Brieftasche verschwunden, den ich seit Monaten mit mir herumtrug, weil ihn keine sibirische Wechselstube nehmen wollte. Diesmal heuchelte Kaspar nicht mal Unschuld: »Stefan ist ein Scheißkerl«, erklärte er Kai. Er verschwand wieder, diesmal spurlos. Zwei Tage später fuhr ich durchs Dorf und sah ein Kind, das in gelben Boxershorts und Unterhemd durch den Neuschnee hüpfte. Kaspar. Sein Lachen erlosch, als er mich sah, er floh in ein Holzhaus. Drinnen stieß ich auf einen jungen Mann ohne Schneidezähne. Und auf eine holzgesichtige Frau, die gerade K aspars zerfetzte Jeans flickte. Auch die Dorfalkoholiker kannten Mitleid — in ihrem Rahmen. Erst behaupteten sie, Kaspar sei längst weg, lieferten ihn dann aber für 50 Rubel — einen Liter Selbstgebrannten — an mich aus. »Bloß«, baten die Säufer zum Abschied, »schlagt ihn nicht mehr!« Sie glaubten Kaspar, dass er auf der Flucht vor seinen gewalttätigen Betreuern sei. Kaspar drohte mit dem nächsten Ausbruch. Aber zuerst ging er mal zu den Tschetschenen. Nach zwei Stunden kam er zurück, um seine nächste Ziggi zu inhalieren. »Ich hab gerade Sonja im Teich ertränkt«, prahlte er. Dabei war er heimlich in Sonja verknallt. Kaspar verneinte, verleugnete, bekämpfte alle, zu denen er wirkliche Nähe spürte. Je vertrauter das Leben um ihn herum wurde, umso weniger wollte er es wahrhaben. Die Welt war ver-
055 — Wozzeck
loren für Kaspar. Und er für sie. Einmal zeigte er mir eine lange weiße Narbe auf dem Oberarm. »Da hat mir Mama mit so einem Teil, das man fürs Kochen braucht, draufgehauen.« Von anderen hörte ich, der eigene Vater habe ihn an einen pädophilen Kumpel verliehen, sein großer Bruder habe ihn gezwungen, gemeinsam die kleine Schwester sexuell zu missbrauchen. Schlimme Geschichten, sein Amtsvormund wiegelte ab, verbot mir schriftlich, über Kaspar und seine Familie zu schreiben. Erst Jahre später bestätigte mir Kaspars ältere Schwester, dass die Geschichten nicht schlimmer als die Wirklichkeit gewesen waren. »Kaspar war das zweitjüngste Kind. Und das ungeliebteste. Vater und Mutter brüllten ihn schon als Baby an.« Kaspars ä ltere Schwester hatte als Teenager ihren Vater angezeigt, nachdem er sie vergewaltigt hatte. Der Vater kam mit einer Bewährungsstrafe davon. Es war Kaspar, der Sündenbock der Familie, der nach Sibirien geschickt wurde. Abends torkelte er völlig betrunken durch die Tür, begann zu randalieren. Kai musste ihn zu Boden ringen, kniete eine halbe Stunde über dem tobenden Kind und versuchte, es zu beruhigen: »Warum hasst du mich?«, fragte er Kaspar. »Weil du an allem schuld bist. Dass ich nicht mehr zu meinen Eltern kann. Dass alles kaputt ist.« Ein paar Tage später raubte Kaspar einer Russin den Pferdeschlitten und raste auf der Dorfstraße Amok. Jetzt drohte er auch, den Russen das Dach über dem Kopf anzuzünden. Kai gab auf. Er brachte Kaspar wieder nach Deutschland, die Amtspädagogen hatten beschlossen, ihn zunächst bei seinem Vater in Köln abzuladen. Zwei Wochen später kam auch ich nach Deutschland, zufälligerweise ebenfalls nach Köln. Ich war erstaunt, als das
Problemkind
elefon klingelte und ich Kaspars helle Stimme hörte: »Hi, Alter, T Kai hat mir deine Nummer gegeben. Lass uns doch einen Kaffee trinken gehen.« Ich erklärte Kaspar, für ihn sei bestenfalls ein Milchshake drin, und verabredete mich mit ihm vor dem Dom. Ich stand auf dem Domplatz. Kaspar war nicht da. Ich wartete, drehte mich um die eigene Achse. Es hätte mich nicht gewundert, wenn es plötzlich vom Turm herunter gejubelt hätte: »Kuckuck, Stefan, hier bin ich.« Aber diesmal blieb Kaspar verschwunden. Sein letzter Streich, seine letzte Botschaft: Siehst du, ich verschwinde und tauche auf, wie ich will, ich habe diesen Krieg gewonnen! Kaspar kam nicht, rief auch nicht mehr an. Ich flog nach Russland zurück, hörte später von Kai, K aspar sei in einem geschlossenen Heim gelandet. Ich habe ein Buch über ihn geschrieben, habe noch jahrelang von ihm geträumt, aber ich habe nie mehr nach ihm gesucht. Wie allen anderen ist Kaspar auch mir verloren gegangen.
060 — palestrina
Die Inszenierung Des Heiligen Zu Hans Pfitzners »Palestrina«
Erscheinung, die f Die Oper tut sich oft leichter als die Religion: Die Götter bei Monteverdi verhandeln noch immer direkt mit den Menschen, etwa mit Ulisse. Auch der Deus ex Machina ist real: In »Idomeneo« wendet Neptuns Erscheinung die Katastrophe im letzten Moment ab. Bei Wagner tarnt sich Brünnhilde nurmehr hinter einer Erscheinung, um Siegmund seinen Tod anzukündigen. 1900 behauptet Sigmund Freud, die Erscheinung von Hamlets Vater sei reine psychische Introspektion. Somit wird Wozzecks Erscheinung des Narren zum pathologischen Wahn. Pfitzner bewegte das nicht: Alte Meister und Engelschor legen Palestrina die Messe direkt in die Feder.
060 — palestrina
Die Inszenierung Des Heiligen Zu Hans Pfitzners »Palestrina«
Erscheinung, die f Die Oper tut sich oft leichter als die Religion: Die Götter bei Monteverdi verhandeln noch immer direkt mit den Menschen, etwa mit Ulisse. Auch der Deus ex Machina ist real: In »Idomeneo« wendet Neptuns Erscheinung die Katastrophe im letzten Moment ab. Bei Wagner tarnt sich Brünnhilde nurmehr hinter einer Erscheinung, um Siegmund seinen Tod anzukündigen. 1900 behauptet Sigmund Freud, die Erscheinung von Hamlets Vater sei reine psychische Introspektion. Somit wird Wozzecks Erscheinung des Narren zum pathologischen Wahn. Pfitzner bewegte das nicht: Alte Meister und Engelschor legen Palestrina die Messe direkt in die Feder.
063 — Palestrina
Orgelprojekt
Der Nahe KlanG Text — Judka Strittmatter Fotos — Oliver Helbig
Der Innenraum der Burchardikirche im sachsen-anhaltinischen Halberstadt: Seit sieben Jahren klingt hier ein Dauerton, dem viele folgen werden. Experiment und Kunstprojekt: Eine Vier-Seiten-Partitur von John Cage wird in die Ewigkeit gedehnt. Musik, die nicht verschwinden soll. Das Konzert dauert noch 632 Jahre
063 — Palestrina
Orgelprojekt
Der Nahe KlanG Text — Judka Strittmatter Fotos — Oliver Helbig
Der Innenraum der Burchardikirche im sachsen-anhaltinischen Halberstadt: Seit sieben Jahren klingt hier ein Dauerton, dem viele folgen werden. Experiment und Kunstprojekt: Eine Vier-Seiten-Partitur von John Cage wird in die Ewigkeit gedehnt. Musik, die nicht verschwinden soll. Das Konzert dauert noch 632 Jahre
064 — Palestrina
Orgelprojekt
065 — Palestrina
Orgelprojekt Zeitzerfurchte Wände und morsche Strebebalken. Hier spielt die Musik: Innenraum der Burchardikirche —
Verwunschener Ort: der Innenhof des einstigen Klosters St. Burchardi (o.). 90 Gedenksteine entlang der Kirchenwände, 90 Namen von Stiftern: Dort wird verewigt, wer ein Klangjahr gekauft hat (l.) —
Zukunftsvision, beispielsweise das Jahr 2330: Was, wenn sich die Halberstädter dann nicht mehr retten können und die Burchardikirche überquillt vor Leuten? Weil Hunderte, ach Tausende auf einmal wissen wollen, wie so etwas geht: ein 29-Minuten-Stück ausdehnen auf 639 Jahre. Vor Kurzem sind die ersten Japaner auf dem Domplatz gesichtet worden. Vielleicht sind nicht alle, die dann kommen könnten, Freunde atonaler Musik und auch die bloße Nennung seines Namens zaubert noch keinen verzückten Blick in ihr Gesicht: John Cage. Aber staunen werden sie schon: zu welch verrückten Sachen andereeinst fähig waren. Und dann? Es ist nicht einfach, dieses »Und dann?«. Nicht einfach, das Ende eines Experiments nicht erleben zu können, nur weil man sterblich ist. Wenn sie Glück haben, werden die derzeitigen Mitglieder der John-Cage-Orgel-Stiftung noch 30, 40 Jahre Einfluss nehmen können auf ihr Projekt, dann geht der Staffelstab an andere. Aber darf man überhaupt planen mit den Zeitläuften? Was wird sein, wenn im Jahr 2640 der finale Ton verklungen ist? Was wird dann sein mit der Burchardikirche, was mit ihrer Akademie, die jetzt noch bloßer Wunschtraum ist? Die »Süddeutsche Zeitung« schrieb vor fünf Jahren von einer Stadt, die es sich leiste, »über den Tellerrand ins 27. Jahrhundert hinauszudenken, wo andere sich fragen, ob der Teller morgen noch ausreichend gefüllt sein wird«. Die Frage ist: Sind die Halberstädter nun visionär oder durchgeknallt? Immerhin, sie sind im Jahr sieben ihres Coups und es geht weiter. Tonwechsel war erst neulich wieder: am 5. Juli, Cages Geburtstag, um 15.33 Uhr. Es gab Orgelkonzerte zum Jubiläum und Gäste von überall her. Halberstadt ist nun nicht länger nur
die Stadt des Domschatzes, sondern auch die der Musikwissenschaftler, Theologen, Architekten und Organisten. »New York Times«, Titelseite — die Halberstädter waren schon drauf. Trotzdem fehlen noch Sponsoren, ist die Orgel noch immer ein Provisorium. 200 000 Euro müssen her. Aus dem Stadtsäckel will man nichts haben, das gebe böses Blut, sowieso wird ab und an gezischelt, die Millionäre da vom Domplatz, die aus dem Westen, machen Hupkonzert bei uns. Und deshalb gehen Kampf gegen rechts und Kindergartenplätze vor Orgelglück. Aber heißt das, dieses Kunstprojekt darf nicht sein, nur weil die Welt rundherum auch Geld braucht? »Die Welt braucht so etwas auch«, sagt Christof Hallegger. Und Halberstadt erst recht. Spinnerte Intellektuelle, die an Rädern drehen. Hallegger sitzt dem Förderverein der Stiftung vor, ist Architekt, er hat halb Halberstadt saniert, seit 15 Jahren ist er da. Norddeutscher von links der Elbe. »Burchardi-was?«, fragt eine Halberstädterin, von einer Kirche dieses Namens hat sie nie gehört. Sie ist nicht zugezogen, sie lebt schon immer hier. Die meisten hier fragen so. Wer frotzeln will, sagt: In St. Burchardi summt der Tinnitus von Halberstadt. Wer ernsthaft bleibt, erklärt: Man hört dort ein Konzert. Aufführungsdauer: eine Ewigkeit. Dafür schließt Margot Dannenberg, die Hüterin vor Ort, rund 27 Mal am Tag die Tür auf, führt jeden Einzelnen durchs Kirchenrund. Aufs Jahr verteilt kommen 10 000 Besucher. Schlüpfen hinein ins alte Zisterzienserkloster und stehen zunächst vor nicht mehr als einem Dauerton. Momentan zu hören: a, c, fis und gis. Gleichzeitig. Schön klingt das nicht und ist somit im Sinne des Erfinders Cage. Der Ton: Er steigt und fällt, er duckt sich oder bläht sich auf, je nachdem wo man sich hinbegibt im Raum. Klangbeigaben je nachdem: knirschender Kunststoffkies unter Besucherschuhen immer, tschilpender Spatz — hereingesegelt durch die Tür — nur ab und zu. Zu schön, wenn sich die Abendsonne herunterwirft von hoch-
gelegenen Fenstern, die zeitzerfurchten Wände retuschiert und morschen Holzstreben die Falten glättet. Erhaben sinnlich dann ein Kirchenraum, der noch vor 20 Jahren Saustall war, volkseigener Schweinezuchtbetrieb. Davor auch Scheune und Schnapsbrennerei. Finales Schicksal eines säkularisierten Klosters. Im heißen Sommer 2003 dünstet es noch einmal streng aus jauchevollen Pfeilerbasen, fünf Jahre später hat weltweiter Kirchenduft obsiegt. Die Ingredienzien: Wasser, Kälte, Stein. Dieser Geruch liegt nun über den Schwingungen fixierter Töne, die sich die Orgel selber macht. Pro Ton braucht es nur eine Pfeife, Lufteinzug gewähren angehängte Säckchen, gefüllt mit Sand, weil hier ja keiner sitzen und ewig die Tasten drücken kann. Und Cage, der Schönberg-Schüler und Avantgardist, der Schrauben und Radiergummi zwischen die Saiten seines Pianos streuselte, weil er der Feind des Wohlklangs war, wie kam der nun nach Halberstadt mit seinem Werk »ORGAN2/ASLSP« von 1985? In der Musikstadt Trossingen, wo die Idee 1997 geboren wird, denkt einer der Gründungsväter des Projekts an eine Orgel, die man zu Recht die Mutter aller Orgeln nennt. Die stand seit 1361 in Halberstadt. Ein guter Platz für den Versuch herauszufinden, was Zeit bedeutet, eingebunden in Musik. Was jetzt kommt, ergibt sich über Bande: Einer kennt jemanden dort in Sachsen-Anhalt, man redet, man schlägt ein. Und, welch ein Glück: St. Burchardi stand damals leer. Und war noch zu haben von der Stadt, sogar umsonst. Wenn das nicht Fügung war. Also die nächste Frage: Wie lange des Meisters Werk spielen, der die Anweisung dafür bereits im Titel gab: ASLSP — »as slow as possible«? Bis der Organist Hunger hat? Die Orgel schlappmacht? Die Gründungsväter finden tausend Jahre prima, doch diese Zeitspanne weckt ungute Assoziationen in Deutschland. So spiegeln sie die Zeit seit dem Aufstellen der ersten Orgel vom Jahr 2000 aus: 1361 — 2000 — 2640. In 632 Jahren wird also das Konzert beendet sein.
064 — Palestrina
Orgelprojekt
065 — Palestrina
Orgelprojekt Zeitzerfurchte Wände und morsche Strebebalken. Hier spielt die Musik: Innenraum der Burchardikirche —
Verwunschener Ort: der Innenhof des einstigen Klosters St. Burchardi (o.). 90 Gedenksteine entlang der Kirchenwände, 90 Namen von Stiftern: Dort wird verewigt, wer ein Klangjahr gekauft hat (l.) —
Zukunftsvision, beispielsweise das Jahr 2330: Was, wenn sich die Halberstädter dann nicht mehr retten können und die Burchardikirche überquillt vor Leuten? Weil Hunderte, ach Tausende auf einmal wissen wollen, wie so etwas geht: ein 29-Minuten-Stück ausdehnen auf 639 Jahre. Vor Kurzem sind die ersten Japaner auf dem Domplatz gesichtet worden. Vielleicht sind nicht alle, die dann kommen könnten, Freunde atonaler Musik und auch die bloße Nennung seines Namens zaubert noch keinen verzückten Blick in ihr Gesicht: John Cage. Aber staunen werden sie schon: zu welch verrückten Sachen andereeinst fähig waren. Und dann? Es ist nicht einfach, dieses »Und dann?«. Nicht einfach, das Ende eines Experiments nicht erleben zu können, nur weil man sterblich ist. Wenn sie Glück haben, werden die derzeitigen Mitglieder der John-Cage-Orgel-Stiftung noch 30, 40 Jahre Einfluss nehmen können auf ihr Projekt, dann geht der Staffelstab an andere. Aber darf man überhaupt planen mit den Zeitläuften? Was wird sein, wenn im Jahr 2640 der finale Ton verklungen ist? Was wird dann sein mit der Burchardikirche, was mit ihrer Akademie, die jetzt noch bloßer Wunschtraum ist? Die »Süddeutsche Zeitung« schrieb vor fünf Jahren von einer Stadt, die es sich leiste, »über den Tellerrand ins 27. Jahrhundert hinauszudenken, wo andere sich fragen, ob der Teller morgen noch ausreichend gefüllt sein wird«. Die Frage ist: Sind die Halberstädter nun visionär oder durchgeknallt? Immerhin, sie sind im Jahr sieben ihres Coups und es geht weiter. Tonwechsel war erst neulich wieder: am 5. Juli, Cages Geburtstag, um 15.33 Uhr. Es gab Orgelkonzerte zum Jubiläum und Gäste von überall her. Halberstadt ist nun nicht länger nur
die Stadt des Domschatzes, sondern auch die der Musikwissenschaftler, Theologen, Architekten und Organisten. »New York Times«, Titelseite — die Halberstädter waren schon drauf. Trotzdem fehlen noch Sponsoren, ist die Orgel noch immer ein Provisorium. 200 000 Euro müssen her. Aus dem Stadtsäckel will man nichts haben, das gebe böses Blut, sowieso wird ab und an gezischelt, die Millionäre da vom Domplatz, die aus dem Westen, machen Hupkonzert bei uns. Und deshalb gehen Kampf gegen rechts und Kindergartenplätze vor Orgelglück. Aber heißt das, dieses Kunstprojekt darf nicht sein, nur weil die Welt rundherum auch Geld braucht? »Die Welt braucht so etwas auch«, sagt Christof Hallegger. Und Halberstadt erst recht. Spinnerte Intellektuelle, die an Rädern drehen. Hallegger sitzt dem Förderverein der Stiftung vor, ist Architekt, er hat halb Halberstadt saniert, seit 15 Jahren ist er da. Norddeutscher von links der Elbe. »Burchardi-was?«, fragt eine Halberstädterin, von einer Kirche dieses Namens hat sie nie gehört. Sie ist nicht zugezogen, sie lebt schon immer hier. Die meisten hier fragen so. Wer frotzeln will, sagt: In St. Burchardi summt der Tinnitus von Halberstadt. Wer ernsthaft bleibt, erklärt: Man hört dort ein Konzert. Aufführungsdauer: eine Ewigkeit. Dafür schließt Margot Dannenberg, die Hüterin vor Ort, rund 27 Mal am Tag die Tür auf, führt jeden Einzelnen durchs Kirchenrund. Aufs Jahr verteilt kommen 10 000 Besucher. Schlüpfen hinein ins alte Zisterzienserkloster und stehen zunächst vor nicht mehr als einem Dauerton. Momentan zu hören: a, c, fis und gis. Gleichzeitig. Schön klingt das nicht und ist somit im Sinne des Erfinders Cage. Der Ton: Er steigt und fällt, er duckt sich oder bläht sich auf, je nachdem wo man sich hinbegibt im Raum. Klangbeigaben je nachdem: knirschender Kunststoffkies unter Besucherschuhen immer, tschilpender Spatz — hereingesegelt durch die Tür — nur ab und zu. Zu schön, wenn sich die Abendsonne herunterwirft von hoch-
gelegenen Fenstern, die zeitzerfurchten Wände retuschiert und morschen Holzstreben die Falten glättet. Erhaben sinnlich dann ein Kirchenraum, der noch vor 20 Jahren Saustall war, volkseigener Schweinezuchtbetrieb. Davor auch Scheune und Schnapsbrennerei. Finales Schicksal eines säkularisierten Klosters. Im heißen Sommer 2003 dünstet es noch einmal streng aus jauchevollen Pfeilerbasen, fünf Jahre später hat weltweiter Kirchenduft obsiegt. Die Ingredienzien: Wasser, Kälte, Stein. Dieser Geruch liegt nun über den Schwingungen fixierter Töne, die sich die Orgel selber macht. Pro Ton braucht es nur eine Pfeife, Lufteinzug gewähren angehängte Säckchen, gefüllt mit Sand, weil hier ja keiner sitzen und ewig die Tasten drücken kann. Und Cage, der Schönberg-Schüler und Avantgardist, der Schrauben und Radiergummi zwischen die Saiten seines Pianos streuselte, weil er der Feind des Wohlklangs war, wie kam der nun nach Halberstadt mit seinem Werk »ORGAN2/ASLSP« von 1985? In der Musikstadt Trossingen, wo die Idee 1997 geboren wird, denkt einer der Gründungsväter des Projekts an eine Orgel, die man zu Recht die Mutter aller Orgeln nennt. Die stand seit 1361 in Halberstadt. Ein guter Platz für den Versuch herauszufinden, was Zeit bedeutet, eingebunden in Musik. Was jetzt kommt, ergibt sich über Bande: Einer kennt jemanden dort in Sachsen-Anhalt, man redet, man schlägt ein. Und, welch ein Glück: St. Burchardi stand damals leer. Und war noch zu haben von der Stadt, sogar umsonst. Wenn das nicht Fügung war. Also die nächste Frage: Wie lange des Meisters Werk spielen, der die Anweisung dafür bereits im Titel gab: ASLSP — »as slow as possible«? Bis der Organist Hunger hat? Die Orgel schlappmacht? Die Gründungsväter finden tausend Jahre prima, doch diese Zeitspanne weckt ungute Assoziationen in Deutschland. So spiegeln sie die Zeit seit dem Aufstellen der ersten Orgel vom Jahr 2000 aus: 1361 — 2000 — 2640. In 632 Jahren wird also das Konzert beendet sein.
068 — palestrina
069 — palestrina
Auftragskompositionen
Auftragskompositionen
Geht die Kunst nach Brot? Die Oper am Verschwinden zu hindern, ist nicht leicht, sagt der ungarische Komponist Peter Eötvös. Wie es klappen kann? Mit der Hinwendung zum Publikum Illustration — Gesine Grotrian-Steinweg
Herr Eötvös, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts waren die Künstler unmittelbar abhängig von einer Macht: der Staatsmacht, dem Adel, der Kirche. Das sind sie heute nicht mehr. Sind sie jetzt frei? Nein, aber natürlich ist die Abhängigkeit heute eine andere. Nehmen Sie beispielsweise die russischen Künstlerder Stalin-Ära. Der Pianist Swjatoslaw Richter etwa hatte vollkommene Freiheit. Er bekam a lles, was er sich wünschte — aber er musste alles abgeben, was er verdiente. Das war ein Spiel zwischen Macht und Künstlertum, das es nur in jener Zeit und jener merkwürdigen Form des Sowjetkommunismus gab. Warum wir Künstler heute hingegen immer noch nicht frei sind, liegt daran, dass wir in der westlichen Welt eine Form des Künstlertums erschaffen haben, in der jeder von uns seine ihm zugedachte Rolle zu spielen hat. Was meinen Sie damit, beispielsweise auf Deutschland bezogen? Die Orchester in Deutschland werden zum Teil vom Staat finanziert — etwa die Rundfunkorchester — und ich glaube, diese Abhängigkeit ist für sie genauso bestimmend, wie es früher diejenige
des Komponisten von der Kirche war. Da hat sich nicht viel verändert. Einst hat ein Fürst oder Erzbischof ein Werk in Auftrag gegeben, heute sind es die Opernhäuser oder Rundfunkanstalten. In Lessings »Emilia Galotti« heißt es: »Die Kunst geht nach Brot.« Ist auch heute noch mit einem Kompositionsauftrag eine Erwartung des Auftraggebers verbunden? Ja, aber natürlich wird nichts mehr nur noch von einer Person diktiert. Als ich meine erste Oper komponierte, »Drei Schwestern«, ein Auftragswerk für Lyon, bin ich bewusst zwei Jahre vorher dorthin gefahren, um mit meinen Auftraggebern zu sprechen. Ich musste doch das Haus kennenlernen. Aber dass ich das getan habe, hat natürlich auch mit meiner persönlichen Art des Arbeitens zu tun: Zum einen brauche ich immer eine literarische Vorlage. Und dann frage ich mich: Ist dieser Text denn auch für das Opernhaus geeignet, das mir den Auftrag gegeben hat? Die »Drei Schwestern« habe ich bewusst für Lyon komponiert. Für ein anderes Haus hätte ich etwas anderes gemacht. Gibt es einen Komponisten, den Sie als Bezugspunkt empfinden? Ja, Monteverdi. Aber er ist der Einzige. Dass ich immer alles noch einfacher machen möchte, liegt daran, dass mich Monteverdi ständig anmahnt. Monteverdi ist unbeschreiblich schön. Es ist ein
aturphänomen, dass etwas so Schönes — N puff! — auf einmal in der Welt war. Die Sauberkeit der Monteverdi-Welt ist es, die mir eine ästhetische Grenze baut. Heißt das, Sie verlangen sich bewusst eine reine, klare musikalische Sprache ab, die jeder Hörer verstehen kann? Ganz genau. Ich beobachte mich ständig — und das sehr selbstkritisch: Wie weit darf ich gehen? Wie allgemein verständlich muss ich bleiben? Warum, denken Sie, steht das Publikum heute großen Teilen der Musik des 20. Jahrhunderts so skeptisch gegenüber? Nun, zunächst einmal liegt das an dieser doch sehr europäischen Überbewertung des Intellekts. Definitiv schwierig fürs Publikum wurde es mit der Zwölftonmusik, aber auch Busoni war ja schon hart. Begonnen hat diese gegenseitige Entfremdung allerdings schon früher: Beet hoven war der Erste, der von der Erde abgehoben hat. Ich kann das wirklich nur mit einem Bild aus der Fliegersprache vergleichen: Beethoven — das war das Take-off. Und nach Richard Wagner ging es plötzlich enorm steil in die Höhe, zu steil für manche. Ein Teil der Passagiere kam in diese Sphären einfach nicht mehr mit. Heute nun kämpfen wir damit, dass durch die demokratische Verbreiterung des Publikums die Masse der Mitflieger gleichzeitig leichter und größer geworden
ist — aber andererseits unsere Produkte intellektueller geworden sind. Das passt nicht mehr zusammen. Ihnen persönlich ist es wichtig, nicht nur in Ihrer Musik, sondern auch in Ihren Geschichten verständlich zu bleiben. »Drei Schwestern«, »Angels in America« — in Ihren Opern passiert noch richtig altmodisch etwas, gibt es Konflikte, Liebesdramen, Katastrophen. Aufführungen, in denen es keine Geschichte gibt, mag ich nicht. Ich persönlich mag Opern, in die ich mich im Publikum vom ersten Ton an einschalten kann und ständig auf der Bühne dabei sein kann. Ich möchte kein Beobachter bleiben, ich möchte mitkommen. Die Beziehungen zwischen den einzelnen Personen, die Konfliktmöglichkeiten — wenn die nicht da sind, ist eine Oper für mich uninte ressant. Konfliktsituationen, die finde ich spannend. Mozart war Österreicher, aber er hätte Italiener sein können. Janácˇek und Dvořák hätten nur Tschechen sein können. Wie ist das bei Peter Eötvös mit Ungarn? Oh, ich fühle mich sehr ungarisch! Ich habe zwar sehr viele Erfahrungen in der westeuropäischen Kultur gemacht, aber selbst damit bin ich ein typischer Vertreter der intellektuellen ungarischen Kunst: Seit dem frühen 19. Jahrhundert ist die ungarische Kultur dem Westen verbunden.
ndererseits war für mich ebenfalls vorA teilhaft, dass besonders in meiner Jugendzeit die russische Kultur für uns selbstverständlich war: diese unglaubliche emotionale Wucht, die Tschechow, Tolstoi, Puschkin haben! Wie wichtig ist Ihnen der Zuspruch des Publikums? Ich bin sehr selbstkritisch: Ich beob achte immer, ob meine Oper auch a nkommt. Ich besuche die Aufführungen und schaue, ob das Publikum mitgeht. Die erste große Macht ist das Publikum. Wenn es meine Sache nicht aufnimmt, habe ich umsonst gearbeitet. Theater und Oper sind Künste, die für das Publikum gemacht werden. Ein Flugzeug braucht die Luft, ein Schiff das Wasser, ein Theater das Publikum. Ist etwas für das Publikum gemacht, wird es bleiben. Die Verpflichtungen, die ein Künstler eingeht, die Verträge, die er unterschreibt, die Aufträge, die er annimmt — hilft ihm das oder behindert es ihn in seiner Kunst? Mir persönlich hilft es. Wenn ich beobachte, wie mein Leben läuft und wie meine Entscheidungen stattfinden: Ohne Zwang könnte ich viele Entscheidungen nicht treffen. Er ist die Voraussetzung dafür, dass ich mich für oder gegen etwas stellen kann. Für mich ist der Zwang, der mit einem unterschriebenen Vertrag einhergeht, nichts Negatives. Er fordert mich.
068 — palestrina
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Auftragskompositionen
Auftragskompositionen
Geht die Kunst nach Brot? Die Oper am Verschwinden zu hindern, ist nicht leicht, sagt der ungarische Komponist Peter Eötvös. Wie es klappen kann? Mit der Hinwendung zum Publikum Illustration — Gesine Grotrian-Steinweg
Herr Eötvös, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts waren die Künstler unmittelbar abhängig von einer Macht: der Staatsmacht, dem Adel, der Kirche. Das sind sie heute nicht mehr. Sind sie jetzt frei? Nein, aber natürlich ist die Abhängigkeit heute eine andere. Nehmen Sie beispielsweise die russischen Künstlerder Stalin-Ära. Der Pianist Swjatoslaw Richter etwa hatte vollkommene Freiheit. Er bekam a lles, was er sich wünschte — aber er musste alles abgeben, was er verdiente. Das war ein Spiel zwischen Macht und Künstlertum, das es nur in jener Zeit und jener merkwürdigen Form des Sowjetkommunismus gab. Warum wir Künstler heute hingegen immer noch nicht frei sind, liegt daran, dass wir in der westlichen Welt eine Form des Künstlertums erschaffen haben, in der jeder von uns seine ihm zugedachte Rolle zu spielen hat. Was meinen Sie damit, beispielsweise auf Deutschland bezogen? Die Orchester in Deutschland werden zum Teil vom Staat finanziert — etwa die Rundfunkorchester — und ich glaube, diese Abhängigkeit ist für sie genauso bestimmend, wie es früher diejenige
des Komponisten von der Kirche war. Da hat sich nicht viel verändert. Einst hat ein Fürst oder Erzbischof ein Werk in Auftrag gegeben, heute sind es die Opernhäuser oder Rundfunkanstalten. In Lessings »Emilia Galotti« heißt es: »Die Kunst geht nach Brot.« Ist auch heute noch mit einem Kompositionsauftrag eine Erwartung des Auftraggebers verbunden? Ja, aber natürlich wird nichts mehr nur noch von einer Person diktiert. Als ich meine erste Oper komponierte, »Drei Schwestern«, ein Auftragswerk für Lyon, bin ich bewusst zwei Jahre vorher dorthin gefahren, um mit meinen Auftraggebern zu sprechen. Ich musste doch das Haus kennenlernen. Aber dass ich das getan habe, hat natürlich auch mit meiner persönlichen Art des Arbeitens zu tun: Zum einen brauche ich immer eine literarische Vorlage. Und dann frage ich mich: Ist dieser Text denn auch für das Opernhaus geeignet, das mir den Auftrag gegeben hat? Die »Drei Schwestern« habe ich bewusst für Lyon komponiert. Für ein anderes Haus hätte ich etwas anderes gemacht. Gibt es einen Komponisten, den Sie als Bezugspunkt empfinden? Ja, Monteverdi. Aber er ist der Einzige. Dass ich immer alles noch einfacher machen möchte, liegt daran, dass mich Monteverdi ständig anmahnt. Monteverdi ist unbeschreiblich schön. Es ist ein
aturphänomen, dass etwas so Schönes — N puff! — auf einmal in der Welt war. Die Sauberkeit der Monteverdi-Welt ist es, die mir eine ästhetische Grenze baut. Heißt das, Sie verlangen sich bewusst eine reine, klare musikalische Sprache ab, die jeder Hörer verstehen kann? Ganz genau. Ich beobachte mich ständig — und das sehr selbstkritisch: Wie weit darf ich gehen? Wie allgemein verständlich muss ich bleiben? Warum, denken Sie, steht das Publikum heute großen Teilen der Musik des 20. Jahrhunderts so skeptisch gegenüber? Nun, zunächst einmal liegt das an dieser doch sehr europäischen Überbewertung des Intellekts. Definitiv schwierig fürs Publikum wurde es mit der Zwölftonmusik, aber auch Busoni war ja schon hart. Begonnen hat diese gegenseitige Entfremdung allerdings schon früher: Beet hoven war der Erste, der von der Erde abgehoben hat. Ich kann das wirklich nur mit einem Bild aus der Fliegersprache vergleichen: Beethoven — das war das Take-off. Und nach Richard Wagner ging es plötzlich enorm steil in die Höhe, zu steil für manche. Ein Teil der Passagiere kam in diese Sphären einfach nicht mehr mit. Heute nun kämpfen wir damit, dass durch die demokratische Verbreiterung des Publikums die Masse der Mitflieger gleichzeitig leichter und größer geworden
ist — aber andererseits unsere Produkte intellektueller geworden sind. Das passt nicht mehr zusammen. Ihnen persönlich ist es wichtig, nicht nur in Ihrer Musik, sondern auch in Ihren Geschichten verständlich zu bleiben. »Drei Schwestern«, »Angels in America« — in Ihren Opern passiert noch richtig altmodisch etwas, gibt es Konflikte, Liebesdramen, Katastrophen. Aufführungen, in denen es keine Geschichte gibt, mag ich nicht. Ich persönlich mag Opern, in die ich mich im Publikum vom ersten Ton an einschalten kann und ständig auf der Bühne dabei sein kann. Ich möchte kein Beobachter bleiben, ich möchte mitkommen. Die Beziehungen zwischen den einzelnen Personen, die Konfliktmöglichkeiten — wenn die nicht da sind, ist eine Oper für mich uninte ressant. Konfliktsituationen, die finde ich spannend. Mozart war Österreicher, aber er hätte Italiener sein können. Janácˇek und Dvořák hätten nur Tschechen sein können. Wie ist das bei Peter Eötvös mit Ungarn? Oh, ich fühle mich sehr ungarisch! Ich habe zwar sehr viele Erfahrungen in der westeuropäischen Kultur gemacht, aber selbst damit bin ich ein typischer Vertreter der intellektuellen ungarischen Kunst: Seit dem frühen 19. Jahrhundert ist die ungarische Kultur dem Westen verbunden.
ndererseits war für mich ebenfalls vorA teilhaft, dass besonders in meiner Jugendzeit die russische Kultur für uns selbstverständlich war: diese unglaubliche emotionale Wucht, die Tschechow, Tolstoi, Puschkin haben! Wie wichtig ist Ihnen der Zuspruch des Publikums? Ich bin sehr selbstkritisch: Ich beob achte immer, ob meine Oper auch a nkommt. Ich besuche die Aufführungen und schaue, ob das Publikum mitgeht. Die erste große Macht ist das Publikum. Wenn es meine Sache nicht aufnimmt, habe ich umsonst gearbeitet. Theater und Oper sind Künste, die für das Publikum gemacht werden. Ein Flugzeug braucht die Luft, ein Schiff das Wasser, ein Theater das Publikum. Ist etwas für das Publikum gemacht, wird es bleiben. Die Verpflichtungen, die ein Künstler eingeht, die Verträge, die er unterschreibt, die Aufträge, die er annimmt — hilft ihm das oder behindert es ihn in seiner Kunst? Mir persönlich hilft es. Wenn ich beobachte, wie mein Leben läuft und wie meine Entscheidungen stattfinden: Ohne Zwang könnte ich viele Entscheidungen nicht treffen. Er ist die Voraussetzung dafür, dass ich mich für oder gegen etwas stellen kann. Für mich ist der Zwang, der mit einem unterschriebenen Vertrag einhergeht, nichts Negatives. Er fordert mich.
071 — Palestrina
Glaube, Liebe, Hoffnung
heidenlärm im Pfaffenwinkel Text — Tom Dauer FotoS — Julian Baumann
Die Stille verflüchtigt sich leicht in Oberammergau, die Religion übertönt alles. Eine Wallfahrt an einen Ort, in dem selbst der Makler himmlische Wohnungen im Angebot hat
Beliebtes Fotomotiv bei den Bus-Touristen: Christus-Statue auf dem örtlichen Friedhof —
ja als Fachmann für alles Katholische«. Nur helfe ihm das nicht weiter, sagt der 46-Jährige. »Das Stück ist mir noch nicht begreiflich. Was will es? Was verbirgt sich dahinter?« Stückl kneift die Augen zusammen, vergräbt sein Gesicht in den Händen. Er ringt mit dem Stoff und mit sich selbst.
Wie zum Beispiel soll er diesen zweiten Akt inszenieren? Das Konzil von Trient, bei dem die Renaissance-Kirche Antworten sucht auf die Reformation. In einer »großen, hohen, saalartigen Vorhalle« lässt Komponist Hans Pfitzner die KarErmattet suchen die Touristen den Schatten der dinallegaten, Bischöfe und Fürsten diskutieren. Lässt sie verKastanien. Die Gebirgssonne hat ihre Schultern handeln, intrigieren, schimpfen und streiten. Auch über die und Arme verbrannt, schweißnass kleben T-Shirts Frage, ob die Kirchenmusik zu öffnen sei für irdische Eitelkeiund Tops an den Leibern. Im Talkessel schwirrt ten, für verspielte Melodie, Mehrstimmigkeit, Harmonie und die Hitze des Tages, zur Schwüle verdichtet, Dissonanz. Oder ob nur der altehrwürdige gregorianische Choeingefangen vom Gipfel des Kofel, des Hausbergs ral die katholische Liturgie begleiten dürfe. Lange schwelt der von Oberammergau, und einem fahlen Himmel. Streit, bis Kardinal Carlo Borromeo den Vorschlag macht, GioL eise ist es, als verschlucke die dicke Luft a lle vanni Pierluigi da Palestrina mit dem Schreiben einer Messe Geräusche. Mensch und Natur halten still, hoffend, zu beauftragen. Einer Messe, die die alte Kirchenmusik ein wenig, dass Gewitter, Sturm und Regen Erlösung bringen kaum merklich erneuere. mögen. Christian Stückl allerdings wäre auch mit einem Wettersturz nicht geholfen: Er glüht von innen heraus. Palestrina, der Organist gewesen war, dann Lehrer der Singknaben an der Sixtinischen Kapelle, Chorleiter und Komponist, Am Ansatz seines schwarzen Haares haben sich werde sich, so glaubt man, vom kirchlichen Auftrag geehrt fühSchweißperlen gebildet. Sein Trachtenhemd ist aufge- len, auserkoren. Aber er weigert sich. Denn Palestrina hadert mit knöpft, die Ärmel hat er über die Ellenbogen gekrempelt. sich, glaubt selbst nicht mehr an sein großes Können. Bis ihm in Er habe das Werk nicht gekannt, sagt er auf der Terrasse des albtraumhafter Stille die alten Meister der Musik erscheinen, ihn Theater-Cafés Oberammergau, als Nikolaus Bachler, Inten- anstacheln, beschwören, aufmuntern. Und der Musicae princeps, dant der Bayerischen Staatsoper, ihn gefragt habe, ob er »Pa- der Fürst der Musik, eine Messe schafft, die sowohl katholische lestrina« inszenieren wolle. Während des Studiums von Text Würdenträger als auch den Papst zufriedenstellen wird. In einer und Partitur sei er dann immer skeptischer geworden. »›Palest- Nacht geschieht dies, in einem Rausch, einem ekstatischen Akt, rina‹, das ist ein Stück ohne Frauen, ohne Liebe, ohne Sex, eine der den Regisseur Stückl vor die Frage stellt, »wie das jetzt alles kirchendurchwirkte Geschichte.« Aber »anscheinend gelte ich zusammenpasst«.
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Glaube, Liebe, Hoffnung
heidenlärm im Pfaffenwinkel Text — Tom Dauer FotoS — Julian Baumann
Die Stille verflüchtigt sich leicht in Oberammergau, die Religion übertönt alles. Eine Wallfahrt an einen Ort, in dem selbst der Makler himmlische Wohnungen im Angebot hat
Beliebtes Fotomotiv bei den Bus-Touristen: Christus-Statue auf dem örtlichen Friedhof —
ja als Fachmann für alles Katholische«. Nur helfe ihm das nicht weiter, sagt der 46-Jährige. »Das Stück ist mir noch nicht begreiflich. Was will es? Was verbirgt sich dahinter?« Stückl kneift die Augen zusammen, vergräbt sein Gesicht in den Händen. Er ringt mit dem Stoff und mit sich selbst.
Wie zum Beispiel soll er diesen zweiten Akt inszenieren? Das Konzil von Trient, bei dem die Renaissance-Kirche Antworten sucht auf die Reformation. In einer »großen, hohen, saalartigen Vorhalle« lässt Komponist Hans Pfitzner die KarErmattet suchen die Touristen den Schatten der dinallegaten, Bischöfe und Fürsten diskutieren. Lässt sie verKastanien. Die Gebirgssonne hat ihre Schultern handeln, intrigieren, schimpfen und streiten. Auch über die und Arme verbrannt, schweißnass kleben T-Shirts Frage, ob die Kirchenmusik zu öffnen sei für irdische Eitelkeiund Tops an den Leibern. Im Talkessel schwirrt ten, für verspielte Melodie, Mehrstimmigkeit, Harmonie und die Hitze des Tages, zur Schwüle verdichtet, Dissonanz. Oder ob nur der altehrwürdige gregorianische Choeingefangen vom Gipfel des Kofel, des Hausbergs ral die katholische Liturgie begleiten dürfe. Lange schwelt der von Oberammergau, und einem fahlen Himmel. Streit, bis Kardinal Carlo Borromeo den Vorschlag macht, GioL eise ist es, als verschlucke die dicke Luft a lle vanni Pierluigi da Palestrina mit dem Schreiben einer Messe Geräusche. Mensch und Natur halten still, hoffend, zu beauftragen. Einer Messe, die die alte Kirchenmusik ein wenig, dass Gewitter, Sturm und Regen Erlösung bringen kaum merklich erneuere. mögen. Christian Stückl allerdings wäre auch mit einem Wettersturz nicht geholfen: Er glüht von innen heraus. Palestrina, der Organist gewesen war, dann Lehrer der Singknaben an der Sixtinischen Kapelle, Chorleiter und Komponist, Am Ansatz seines schwarzen Haares haben sich werde sich, so glaubt man, vom kirchlichen Auftrag geehrt fühSchweißperlen gebildet. Sein Trachtenhemd ist aufge- len, auserkoren. Aber er weigert sich. Denn Palestrina hadert mit knöpft, die Ärmel hat er über die Ellenbogen gekrempelt. sich, glaubt selbst nicht mehr an sein großes Können. Bis ihm in Er habe das Werk nicht gekannt, sagt er auf der Terrasse des albtraumhafter Stille die alten Meister der Musik erscheinen, ihn Theater-Cafés Oberammergau, als Nikolaus Bachler, Inten- anstacheln, beschwören, aufmuntern. Und der Musicae princeps, dant der Bayerischen Staatsoper, ihn gefragt habe, ob er »Pa- der Fürst der Musik, eine Messe schafft, die sowohl katholische lestrina« inszenieren wolle. Während des Studiums von Text Würdenträger als auch den Papst zufriedenstellen wird. In einer und Partitur sei er dann immer skeptischer geworden. »›Palest- Nacht geschieht dies, in einem Rausch, einem ekstatischen Akt, rina‹, das ist ein Stück ohne Frauen, ohne Liebe, ohne Sex, eine der den Regisseur Stückl vor die Frage stellt, »wie das jetzt alles kirchendurchwirkte Geschichte.« Aber »anscheinend gelte ich zusammenpasst«.
072 — Palestrina
Glaube, Liebe, Hoffnung
Und wie es darstellbar ist in einer Zeit, die lebenden Bildern wird die christliche Glaubensim künstlerischen Schöpfungsakt alles andere geschichte dargestellt werden. Eindrucksvolle als die Manifestation höherer Eingebung sieht. Massenszenen wird es geben: Die Bewohner Der Bischof ist zu Besuch, die Ministranten müssen Genialische Kreativität, orgiastische SchaffensJerusalems werden den Einzug des Messias beSpalier stehen. Und wer nicht wut, eine politische Botschaft, wohldosierte jubeln, Tempelhändler ihn beschimpfen, Hohespurt, bekommt die Ohren lang gezogen Ironie oder schlicht ökonomisches Kalkül: Das priester ihn verurteilen, römische Soldaten ihn — alles mag die Kunst befördern. Aber der gött verspotten und schänden. Es wird Freude geben, liche Funke? »Hierophanie, dass etwas Heiliges Hoffnung, Verrat, Leid und Glückseligkeit. All sich uns zeigt«, so nannte der Religionswissenschaftler Mircea das also, was eine große Geschichte ausmacht — über hundert Eliade dieses Phänomen, dessen Vielschichtigkeit der »profane Mal vor ausverkauftem Haus. Mensch« kaum noch zu entschlüsseln imstande sei. »Das Passionsspiel«, sagt Stückl, »war eben schon immer ein Stückl legt den Kopf in den Nacken, führt seine Zigarette Event.« Damit unterscheidet es sich nicht allzu sehr von einem zum Mund, zieht mit der ganzen Kraft seiner Lungen. Dann praktizierten Katholizismus mit seinen Bräuchen, Ritualen, drückt er sie aus, um sich sofort eine neue anzuzünden. Er hat Prozessionen, Gebeten und Gesängen. Mit all den Gerüchen, ja genug Erfahrung darin, Ereignisse, die über das Begreifbare Klängen und Darbietungen — deren sonntäglicher Genuss hinausgehen, mit begreifbaren Mitteln zu inszenieren. 2010 wird meist beim Dorfwirt endet. Nirgends, sagt man, sei die Relier zum dritten Mal hintereinander die Oberammergauer Passi- gion so bequem und die Andacht so lustig wie in Bayern mit onsspiele leiten. Und damit die Geschichte vom Leben und Lei- seiner barocken Interpretation der Heilsgeschichte. den des Jesus von Nazareth erzählen, den Einzug in Jerusalem, 1987 wurde Stückl, da war er gerade 26, zum jüngsten Oberdas Abendmahl, den Kuss auf dem Ölberg, die Gefangennahme, ammergauer Spielleiter gewählt. In seinem Drang, die Auffühdie Kreuzigung, die Auferstehung. rung den Zeitläuften anzupassen, wäre er damals fast gescheiNachdem Oberammergau 1633 von der Pest befallen wor- tert. Ebenso wie 2000, als er den Text des Passionsspiels von den war, gelobten die Einwohner, zum Beweis ihrer Reue alle allen antijüdischen Tönen reinigte. Er hätte gar nicht anders zehn Jahre die Passionsgeschichte aufzuführen. Ab 1680 geschah gekonnt, glaubt Stückl, denn »die Tradition unserer Festspiele dies immer in den Zehnerjahren; 2010 wird es das 41. Mal sein. liegt in ihrer Reform«. Dann werden 1850 Erwachsene und 650 Kinder, in OberamDas ist mehr als eine Phrase — Stückl kennt sich aus in mergau geboren oder seit 20 Jahren dort lebend, auf der Bühne des Passionstheaters stehen. In prächtigen Kostümen, die Haare Oberammergau: Er ist dort geboren. Nach dem Abitur lernte seit einem Jahr nicht mehr geschnitten, Alte und Junge, Män- er Holzbildhauer. Beim Trachtenverein plattelte er. Er ging nie ner und Frauen, Katholiken, Evangelische und seit 2000 sogar weg aus seinem Dorf. Seit 30 Jahren spielt er für die OberamMuslime. Das Orchester wird spielen, der Chor wird singen. In mergauer Kinder den Nikolaus. Und während er im Theater-
073 — Palestrina
Café seine zweite Packung Zigaretten raucht, grüßt er Vorbeigehende mit Vornamen. Auf dem Tisch liegt die Lokalzeitung, denn Stückl ist Mitglied des Gemeinderats. Er ist auch Intendant des Münchner Volkstheaters — und fährt doch jeden Abend heim ins Werdenfelser Land, »weil ich kein Münchner mehr werde«.
Glaube, Liebe, Hoffnung
weil es biblisches Geschehen rituell gegenwärtig macht. Die daran teilnehmen, als Schauspieler oder als Zuschauer, erleben nicht nur ein Fest»Herrgottsschnitzer« heißen die Holzbildhauer hier. spiel. Sie werden zu Zeitgenossen des überlieferKreuz und quer stehen ihre ten Ereignisses. Oder mit den Worten Mircea hölzernen Päpste, Engel und Putten in der Auslage Eliades: »Sie treten aus ihrer Zeit heraus und fin— den zurück in die Zeit, die zur Ewigkeit gehört.« Denn während der Passionsspiele ist »nicht mehr Man erwartet diese Verbundenheit nicht unbedingt bei einem die jetzige historische Zeit gegenwärtig, sondern die Zeit der hisMann, der Dieter Dorn assistierte und später selbst an den Münch- torischen Existenz Christi, die Zeit, die geheiligt ist durch seine ner Kammerspielen Regisseur wurde. Der an Theaterhäusern Predigt, sein Leiden, seinen Tod und seine Auferstehung«. Nicht zwischen Hannover und Wien arbeitete, der die Eröffnungsfeier umsonst sprach der damalige Erzbischof des Bistums München der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 inszenierte und sich jedes Jahr und Freising, Michael Kardinal von Faulhaber, den Passionseine Auszeit in Indien gönnt. So jemanden hält es üblicherweise spielen 1934 die Missio canonica, den kirchlichen Verkündigungs nicht an einem Ort, in dem aus Lüftlmalereien kitschige Fassaden- auftrag, zu. bilder wurden, Betonblumenkästen die Fußgängerzone verunstalten, die »Alte Post« ihr Menü auf Plastikfolien statt auf SpeisekarStückl rauft sich die Haare. »Selbstgefällig und töricht« wäre ten anbietet und ein Immobilienmakler »himmlische Wohnungen, es, würden seine Schauspieler als Missionare auftreten. Theater Häuser und Grundstücke« verkaufen will. wolle er machen — und doch trägt er als Spielleiter der Passion eine große Verantwortung. Es liegt an ihm zu verhindern, dass Nein, schön ist es nicht in der hoch verschuldeten Gemeinde das Bewusstsein der Hierophanie, der Manifestation des Heiligen, Oberammergau. Da muss die Heimatliebe, der Wille zu gestalten, sich von seiner spielerischen Darbietung abkoppelt. Denn sobald den Ort zu bewohnen, auch noch einen anderen Quell haben: die das Sakrale profan wird, sobald das Gefühl für die Verbindung Sozialisation durch die Kirche und die Rettung durch das Theater. mit einer anderen Wirklichkeit abstumpft, werden katholische Als Kind, sagt Stückl, sei er mit seiner evangelischen Großmutter Riten zu Tourismus-Attraktionen, bar jeder Sinnhaftigkeit. einmal zum Gottesdienst gegangen. Danach nie wieder, »das war so langweilig«. Da trieb er sich lieber im Speicher von St. Peter und Dann aber ginge »die Berührtheit der Seele«, Stückls eigene, Paul herum, seinem Lieblingsspielplatz. »Die katholische Kirche«, die der Darsteller, die der Zuschauer, verloren. Die Oberammer habe er damals verstanden, »ist ein großes Theater.« Viel fehlte gauer Passion würde zu einer Art Ersatzreligion. Die zyklische nicht, und Stückl wäre Pfarrer statt Regisseur geworden. Zeit erhielte einen schrecklichen Aspekt. Mircea Eliade: »Sie wird zum Kreis, der sich unentwegt um sich selbst dreht, sich ewig Vielleicht ist das in Oberammergau kein großer Unterschied. wiederholt.« Und dem Theaterspiel drohte das Verschwinden im Schließlich ist das Passionsspiel eine Inszenierung des Heiligen, monotonen Rauschen der Beliebigkeit.
072 — Palestrina
Glaube, Liebe, Hoffnung
Und wie es darstellbar ist in einer Zeit, die lebenden Bildern wird die christliche Glaubensim künstlerischen Schöpfungsakt alles andere geschichte dargestellt werden. Eindrucksvolle als die Manifestation höherer Eingebung sieht. Massenszenen wird es geben: Die Bewohner Der Bischof ist zu Besuch, die Ministranten müssen Genialische Kreativität, orgiastische SchaffensJerusalems werden den Einzug des Messias beSpalier stehen. Und wer nicht wut, eine politische Botschaft, wohldosierte jubeln, Tempelhändler ihn beschimpfen, Hohespurt, bekommt die Ohren lang gezogen Ironie oder schlicht ökonomisches Kalkül: Das priester ihn verurteilen, römische Soldaten ihn — alles mag die Kunst befördern. Aber der gött verspotten und schänden. Es wird Freude geben, liche Funke? »Hierophanie, dass etwas Heiliges Hoffnung, Verrat, Leid und Glückseligkeit. All sich uns zeigt«, so nannte der Religionswissenschaftler Mircea das also, was eine große Geschichte ausmacht — über hundert Eliade dieses Phänomen, dessen Vielschichtigkeit der »profane Mal vor ausverkauftem Haus. Mensch« kaum noch zu entschlüsseln imstande sei. »Das Passionsspiel«, sagt Stückl, »war eben schon immer ein Stückl legt den Kopf in den Nacken, führt seine Zigarette Event.« Damit unterscheidet es sich nicht allzu sehr von einem zum Mund, zieht mit der ganzen Kraft seiner Lungen. Dann praktizierten Katholizismus mit seinen Bräuchen, Ritualen, drückt er sie aus, um sich sofort eine neue anzuzünden. Er hat Prozessionen, Gebeten und Gesängen. Mit all den Gerüchen, ja genug Erfahrung darin, Ereignisse, die über das Begreifbare Klängen und Darbietungen — deren sonntäglicher Genuss hinausgehen, mit begreifbaren Mitteln zu inszenieren. 2010 wird meist beim Dorfwirt endet. Nirgends, sagt man, sei die Relier zum dritten Mal hintereinander die Oberammergauer Passi- gion so bequem und die Andacht so lustig wie in Bayern mit onsspiele leiten. Und damit die Geschichte vom Leben und Lei- seiner barocken Interpretation der Heilsgeschichte. den des Jesus von Nazareth erzählen, den Einzug in Jerusalem, 1987 wurde Stückl, da war er gerade 26, zum jüngsten Oberdas Abendmahl, den Kuss auf dem Ölberg, die Gefangennahme, ammergauer Spielleiter gewählt. In seinem Drang, die Auffühdie Kreuzigung, die Auferstehung. rung den Zeitläuften anzupassen, wäre er damals fast gescheiNachdem Oberammergau 1633 von der Pest befallen wor- tert. Ebenso wie 2000, als er den Text des Passionsspiels von den war, gelobten die Einwohner, zum Beweis ihrer Reue alle allen antijüdischen Tönen reinigte. Er hätte gar nicht anders zehn Jahre die Passionsgeschichte aufzuführen. Ab 1680 geschah gekonnt, glaubt Stückl, denn »die Tradition unserer Festspiele dies immer in den Zehnerjahren; 2010 wird es das 41. Mal sein. liegt in ihrer Reform«. Dann werden 1850 Erwachsene und 650 Kinder, in OberamDas ist mehr als eine Phrase — Stückl kennt sich aus in mergau geboren oder seit 20 Jahren dort lebend, auf der Bühne des Passionstheaters stehen. In prächtigen Kostümen, die Haare Oberammergau: Er ist dort geboren. Nach dem Abitur lernte seit einem Jahr nicht mehr geschnitten, Alte und Junge, Män- er Holzbildhauer. Beim Trachtenverein plattelte er. Er ging nie ner und Frauen, Katholiken, Evangelische und seit 2000 sogar weg aus seinem Dorf. Seit 30 Jahren spielt er für die OberamMuslime. Das Orchester wird spielen, der Chor wird singen. In mergauer Kinder den Nikolaus. Und während er im Theater-
073 — Palestrina
Café seine zweite Packung Zigaretten raucht, grüßt er Vorbeigehende mit Vornamen. Auf dem Tisch liegt die Lokalzeitung, denn Stückl ist Mitglied des Gemeinderats. Er ist auch Intendant des Münchner Volkstheaters — und fährt doch jeden Abend heim ins Werdenfelser Land, »weil ich kein Münchner mehr werde«.
Glaube, Liebe, Hoffnung
weil es biblisches Geschehen rituell gegenwärtig macht. Die daran teilnehmen, als Schauspieler oder als Zuschauer, erleben nicht nur ein Fest»Herrgottsschnitzer« heißen die Holzbildhauer hier. spiel. Sie werden zu Zeitgenossen des überlieferKreuz und quer stehen ihre ten Ereignisses. Oder mit den Worten Mircea hölzernen Päpste, Engel und Putten in der Auslage Eliades: »Sie treten aus ihrer Zeit heraus und fin— den zurück in die Zeit, die zur Ewigkeit gehört.« Denn während der Passionsspiele ist »nicht mehr Man erwartet diese Verbundenheit nicht unbedingt bei einem die jetzige historische Zeit gegenwärtig, sondern die Zeit der hisMann, der Dieter Dorn assistierte und später selbst an den Münch- torischen Existenz Christi, die Zeit, die geheiligt ist durch seine ner Kammerspielen Regisseur wurde. Der an Theaterhäusern Predigt, sein Leiden, seinen Tod und seine Auferstehung«. Nicht zwischen Hannover und Wien arbeitete, der die Eröffnungsfeier umsonst sprach der damalige Erzbischof des Bistums München der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 inszenierte und sich jedes Jahr und Freising, Michael Kardinal von Faulhaber, den Passionseine Auszeit in Indien gönnt. So jemanden hält es üblicherweise spielen 1934 die Missio canonica, den kirchlichen Verkündigungs nicht an einem Ort, in dem aus Lüftlmalereien kitschige Fassaden- auftrag, zu. bilder wurden, Betonblumenkästen die Fußgängerzone verunstalten, die »Alte Post« ihr Menü auf Plastikfolien statt auf SpeisekarStückl rauft sich die Haare. »Selbstgefällig und töricht« wäre ten anbietet und ein Immobilienmakler »himmlische Wohnungen, es, würden seine Schauspieler als Missionare auftreten. Theater Häuser und Grundstücke« verkaufen will. wolle er machen — und doch trägt er als Spielleiter der Passion eine große Verantwortung. Es liegt an ihm zu verhindern, dass Nein, schön ist es nicht in der hoch verschuldeten Gemeinde das Bewusstsein der Hierophanie, der Manifestation des Heiligen, Oberammergau. Da muss die Heimatliebe, der Wille zu gestalten, sich von seiner spielerischen Darbietung abkoppelt. Denn sobald den Ort zu bewohnen, auch noch einen anderen Quell haben: die das Sakrale profan wird, sobald das Gefühl für die Verbindung Sozialisation durch die Kirche und die Rettung durch das Theater. mit einer anderen Wirklichkeit abstumpft, werden katholische Als Kind, sagt Stückl, sei er mit seiner evangelischen Großmutter Riten zu Tourismus-Attraktionen, bar jeder Sinnhaftigkeit. einmal zum Gottesdienst gegangen. Danach nie wieder, »das war so langweilig«. Da trieb er sich lieber im Speicher von St. Peter und Dann aber ginge »die Berührtheit der Seele«, Stückls eigene, Paul herum, seinem Lieblingsspielplatz. »Die katholische Kirche«, die der Darsteller, die der Zuschauer, verloren. Die Oberammer habe er damals verstanden, »ist ein großes Theater.« Viel fehlte gauer Passion würde zu einer Art Ersatzreligion. Die zyklische nicht, und Stückl wäre Pfarrer statt Regisseur geworden. Zeit erhielte einen schrecklichen Aspekt. Mircea Eliade: »Sie wird zum Kreis, der sich unentwegt um sich selbst dreht, sich ewig Vielleicht ist das in Oberammergau kein großer Unterschied. wiederholt.« Und dem Theaterspiel drohte das Verschwinden im Schließlich ist das Passionsspiel eine Inszenierung des Heiligen, monotonen Rauschen der Beliebigkeit.
Salutschüsse für den Bischof: Zu Ehren des hohen Gastes greifen die Bürgerschützen vor dem Frühschoppen zum Gewehr —
Mancher hier pflegt auch andere Passionen: Im Forstamt mit seiner prächtigen Lüftlmalerei-Fassade ist ein Ferrari-Liebhaber zu Besuch —
Salutschüsse für den Bischof: Zu Ehren des hohen Gastes greifen die Bürgerschützen vor dem Frühschoppen zum Gewehr —
Mancher hier pflegt auch andere Passionen: Im Forstamt mit seiner prächtigen Lüftlmalerei-Fassade ist ein Ferrari-Liebhaber zu Besuch —
076 — Palestrina
Glaube, Liebe, Hoffnung
Stückl spielt mit seinem Feuerzeug, zündet Das Gewitter, das Oberammergau Kühlung Christian Stückl, Regisseur sich eine Zigarette an. Einen kurzen Moment zu bringen versprach, hat sich am Kamm des in Oberammergau und an hält er inne, dann fragt er: »Was kann uns Jesus Wettersteingebirges aufgelöst. Stückl bemerkt der Bayerischen Staatsoper, heute mitgeben?« Das beschäftige ihn, seitdem er es nicht. Selbstvergessen zerbricht er sich den inspiziert die Hinterbühne am Max-Joseph-Platz erneut mit der Leitung der Passionsspiele betraut Kopf, martert sich, weil sich ihm die Geschichte — wurde. Er sei an dieser Frage fast verzweifelt. Palestrinas noch immer nicht vollständig erWas für ein gutgläubiger Mensch dieser Mann schließt: die Geschichte eines geschwundenen nur gewesen sei, bricht es aus Stückl heraus: eine naive Figur, die Glaubens, der sich im Schaffen neu entfaltet. Aber auch die Gean ihren eigenen Ansprüchen zerbrach. Und an der herkulischen schichte vom Streben eines Künstlers, der zunächst zu scheitern Aufgabe, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Und trotz- drohte und der schließlich durch eine göttliche Erscheinung sein dem sei es Gottes Sohn — und damit Gott — gelungen, in so Happy End gewinnt. Ob Hans Pfitzner vielleicht »ein Werk über vielen Menschen Hoffnung zu säen. sich selbst geschrieben hat«, fragt Stückl sich. Und ob dieses Werk heute überhaupt noch funktionieren könne? Eine Hoffnung, die Palestrina, der müde alte Mann, längst fahren lassen hat. Stattdessen quält den Kapellmeister »des »Alle, die zu diesem Schauspiel herbeigeströmt waren und Bewusstseins Licht, das tödlich grelle, / Das störend aufsteigt wie sahen, was sich ereignet hatte«, schreibt der Evangelist Lukas am der freche Tag / Ist feind dem süßen Traumgewirk, dem Künste Ende seiner Erzählung der Leidensgeschichte, »schlugen sich an schaffen; / Der Stärkste streckt vor solcher Macht die Waffen«. die Brust und gingen betroffen weg.« Dem Publikum, das sich Der Kraft seines katholischen Glaubens beraubt, tritt Palestrina von Christian Stückl die Oberammergauer Passion erzählen ließ, dem Gesandten Borromeo entgegen, der entgeistert schlussfolgert: erging es ähnlich. Es ist zu erwarten, dass auch sein »Palestrina« »So spricht denn Gott nicht mehr in Eurer Seele!« »Ich glaube — eine ähnliche Wirkung zeitigen wird: handelt es sich dabei doch nein!«, antwortet Palestrina, das Ansinnen der Kirche ablehnend, um die Inszenierung einer Erlösung, die vielleicht auch Stückl die einen Einzelnen mit einer so übermenschlich großen Aufgabe erfahren wird. belasten will. Die Aussöhnung innerhalb der Kirche, die die Musik bewirken soll, muss an Palestrinas Verweigerung scheitern. Erst später wird Palestrina »laut nach oben« rufen. Sich sehnend nach einem Zeichen, das ihm tatsächlich in Gestalt dreier Engel zuteil wird. Noch einmal rafft Palestrina all seine Kräfte zusammen — und binnen einer Nacht schafft Giovanni Pierluigi da Palestrina eine Messe, die den Papst begeistert, Borromeo zur Buße zwingt und ihn selbst »guter Dinge / Und friedvoll« stimmt.
Es ist vollbracht ... Reinhard Marx, der Erzbischof von München und Freising, hat seinen Besuch in Oberammergau beendet —
076 — Palestrina
Glaube, Liebe, Hoffnung
Stückl spielt mit seinem Feuerzeug, zündet Das Gewitter, das Oberammergau Kühlung Christian Stückl, Regisseur sich eine Zigarette an. Einen kurzen Moment zu bringen versprach, hat sich am Kamm des in Oberammergau und an hält er inne, dann fragt er: »Was kann uns Jesus Wettersteingebirges aufgelöst. Stückl bemerkt der Bayerischen Staatsoper, heute mitgeben?« Das beschäftige ihn, seitdem er es nicht. Selbstvergessen zerbricht er sich den inspiziert die Hinterbühne am Max-Joseph-Platz erneut mit der Leitung der Passionsspiele betraut Kopf, martert sich, weil sich ihm die Geschichte — wurde. Er sei an dieser Frage fast verzweifelt. Palestrinas noch immer nicht vollständig erWas für ein gutgläubiger Mensch dieser Mann schließt: die Geschichte eines geschwundenen nur gewesen sei, bricht es aus Stückl heraus: eine naive Figur, die Glaubens, der sich im Schaffen neu entfaltet. Aber auch die Gean ihren eigenen Ansprüchen zerbrach. Und an der herkulischen schichte vom Streben eines Künstlers, der zunächst zu scheitern Aufgabe, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Und trotz- drohte und der schließlich durch eine göttliche Erscheinung sein dem sei es Gottes Sohn — und damit Gott — gelungen, in so Happy End gewinnt. Ob Hans Pfitzner vielleicht »ein Werk über vielen Menschen Hoffnung zu säen. sich selbst geschrieben hat«, fragt Stückl sich. Und ob dieses Werk heute überhaupt noch funktionieren könne? Eine Hoffnung, die Palestrina, der müde alte Mann, längst fahren lassen hat. Stattdessen quält den Kapellmeister »des »Alle, die zu diesem Schauspiel herbeigeströmt waren und Bewusstseins Licht, das tödlich grelle, / Das störend aufsteigt wie sahen, was sich ereignet hatte«, schreibt der Evangelist Lukas am der freche Tag / Ist feind dem süßen Traumgewirk, dem Künste Ende seiner Erzählung der Leidensgeschichte, »schlugen sich an schaffen; / Der Stärkste streckt vor solcher Macht die Waffen«. die Brust und gingen betroffen weg.« Dem Publikum, das sich Der Kraft seines katholischen Glaubens beraubt, tritt Palestrina von Christian Stückl die Oberammergauer Passion erzählen ließ, dem Gesandten Borromeo entgegen, der entgeistert schlussfolgert: erging es ähnlich. Es ist zu erwarten, dass auch sein »Palestrina« »So spricht denn Gott nicht mehr in Eurer Seele!« »Ich glaube — eine ähnliche Wirkung zeitigen wird: handelt es sich dabei doch nein!«, antwortet Palestrina, das Ansinnen der Kirche ablehnend, um die Inszenierung einer Erlösung, die vielleicht auch Stückl die einen Einzelnen mit einer so übermenschlich großen Aufgabe erfahren wird. belasten will. Die Aussöhnung innerhalb der Kirche, die die Musik bewirken soll, muss an Palestrinas Verweigerung scheitern. Erst später wird Palestrina »laut nach oben« rufen. Sich sehnend nach einem Zeichen, das ihm tatsächlich in Gestalt dreier Engel zuteil wird. Noch einmal rafft Palestrina all seine Kräfte zusammen — und binnen einer Nacht schafft Giovanni Pierluigi da Palestrina eine Messe, die den Papst begeistert, Borromeo zur Buße zwingt und ihn selbst »guter Dinge / Und friedvoll« stimmt.
Es ist vollbracht ... Reinhard Marx, der Erzbischof von München und Freising, hat seinen Besuch in Oberammergau beendet —
078 — balLett
78 84 90
Epaulement m (frz.) Schulterwehr Ein junges Mädchen betritt die Bühne, läuft eine Treppe hinunter in den Garten ihres Schlosses und breitet ihre Arme aus — in klassischer Ballerinenhaltung. Die Schultern in schönster Harmonie oder in Spannung zu ihren Fußbewegungen, wendet sie den Kopf nach links und rechts, schaut dabei in die Runde, sieht jeden Einzelnen ihrer Gäste an, die ihren Bewegungen bewundernd folgen. Ihr Spiel mit dem Epaulement zieht alle in Bann: die klassische Haltung ihrer Schultern, ihres Kopfes, die Biegung des Nackens, die leichte Öffnung der Hand, der Finger in Richtung ihres Publikums, ihr Wegschauen, ihr Hinsehen, während sich ihr Oberkörper schon in die Gegenrichtung bewegt. Die Zuschauer spüren ihre Aufregung und ihre Angst, atemlos folgen sie den winzigen Nuancen ihrer Körpersprache, die darüber entscheiden werden, ob sie von jetzt an Dornröschens Schicksal folgen oder sich gelangweilt in ihre Sessel zurücklehnen werden.
das leben ein tanz
078 — balLett
78 84 90
Epaulement m (frz.) Schulterwehr Ein junges Mädchen betritt die Bühne, läuft eine Treppe hinunter in den Garten ihres Schlosses und breitet ihre Arme aus — in klassischer Ballerinenhaltung. Die Schultern in schönster Harmonie oder in Spannung zu ihren Fußbewegungen, wendet sie den Kopf nach links und rechts, schaut dabei in die Runde, sieht jeden Einzelnen ihrer Gäste an, die ihren Bewegungen bewundernd folgen. Ihr Spiel mit dem Epaulement zieht alle in Bann: die klassische Haltung ihrer Schultern, ihres Kopfes, die Biegung des Nackens, die leichte Öffnung der Hand, der Finger in Richtung ihres Publikums, ihr Wegschauen, ihr Hinsehen, während sich ihr Oberkörper schon in die Gegenrichtung bewegt. Die Zuschauer spüren ihre Aufregung und ihre Angst, atemlos folgen sie den winzigen Nuancen ihrer Körpersprache, die darüber entscheiden werden, ob sie von jetzt an Dornröschens Schicksal folgen oder sich gelangweilt in ihre Sessel zurücklehnen werden.
das leben ein tanz
084 — Ballett
Traumtänzer
Popstar, Narziss und Ästhet: Nurejew 1965 im Haus seiner persönlichen Assistentin Joan Thring in London —
Im Juni tanzt er in Paris den Blauen Vogel in »Dornröschen«. Vor der Aufführung erhält er drei Briefe über die sowjetische Botschaft: einen von seinem Lehrer Alexander Puschkin, der um die moralische Integrität seines Schülers fürchtet; einen von seinem Vater, der seinen Landesverrat nicht verzeihen will; und einen von seiner Mutter, die ihn anfleht heimzukehren. Im Publikum sitzen fünfzig Kommunisten, rufen »Nach Moskau, Verräter!«, pfeifen, johlen, schreien und werfen Stinkbomben, Bananenschalen und Münzen auf die Bühne. Er tanzt. Einen Vogel, der mit aller Kraft versucht zu fliegen. Und dann beginnt das Popzeitalter mit Rudolf Nurejew. Neben Mick Jagger, den Beatles, den Kennedys wird er einer der größten Stars des neuen Paradigmas: Me, Myself and I. Der Tänzer eignet sich perfekt zum Popstar: Er ist, wie der Choreograf Frederick A shton sagt, »rebellisch, charismatisch, sensationell und doch auch ein Mensch von großer Gelassenheit und Würde«. Wild und besessen, zart und schön. Ein Ästhet, ein Stilfetischist. Und sexy und geil. Er tobt durch die Nächte der Welt. Manhattan, San Francisco, London, Paris, Sydney, Toronto, São Paulo, Monaco. Alle begehren ihn, Frauen, Männer, Junge, Alte. Und er sich selbst, er ist ein gnadenlos selbstverliebter Individualist. In London hat am 21. Februar 1962 »Giselle« mit seiner Traumpartnerin Margot Fonteyn Premiere. Die Stadt ist plakatiert mit einem Bild von einem Mann. Es gibt 70 000 Kartenvorbestellungen. Nicht mal die Königin kommt rein. Menschen, die noch nie ein Ballett gesehen haben, verfallen der Rudimanie. In seiner Heimat wird Rudolf Nurejew zu Tode geschwiegen. Teja Kremke, Blutsbruder aus Leningrader Tagen, schrieb: »In
Traumtänzer
Me, Myself and I: Nurejew 1967 nach einem Bad im Meer vor der Küste von Monte Carlo. Er verbringt einen Urlaub an der Côte d’Azur —
den Theatern, in den Schulen und in den Schlafsälen der Ballettschulen wurde eine Menge getuschelt. Jemand sagte, er sei nach England gegangen, ein anderer: nach Paris; wieder ein anderer sagte, er sei tot oder dass er sich in Amerika der Kirow-Truppe anschließen wolle und mit ihr zusammen zurückkäme. Ein anderer sagte, sie hätten ihn schon zum Tode verurteilt.« Rudolf Nurejew hat sich nicht nur bei Teja Kremke nie wieder gemeldet. Der durfte nicht ins Ausland reisen, auch nicht um seine eigenen Ballett-Inszenierungen zu sehen. Seine Tochter durfte keine Ballerina-Ausbildung machen, das Telefon seiner Schwester wurde abgehört, sein Neffe wurde zum Militärdienst nach Sibirien geschickt. Er wurde depressiv, trank und ertrank 1979 unter ungeklärten Umständen. Jahrelang hatte Rudolf Nurejew das Gefühl, er würde verfolgt. Nachdem der Geheimdienstagent Wassili Mitrochin übergelaufen war, berichtete er von Plänen des KGB, nach denen man »eines oder beide Beine von Nurejew brechen« wollte. Er wurde in Abwesenheit zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt, Freunde versuchten, dagegen zu klagen. Nurejew verließ den Ostblock, als die Mauer gebaut wurde, und besuchte ihn zum ersten Mal wieder, als die Mauer fiel. 1989 liegt seine Mutter im Sterben und er darf für 48 Stunden in die Sowjetunion einreisen. Sie kann nicht mehr mit ihm sprechen. Im Kirow-Museum hing bis 1991 kein Foto von seinem weltberühmten Schüler. Die Zeitungen berichteten nicht über ihn. Für die Sowjetunion war er gestorben. Der Westen hatte ihr Flugobjekt geraubt.
084 — Ballett
Traumtänzer
Popstar, Narziss und Ästhet: Nurejew 1965 im Haus seiner persönlichen Assistentin Joan Thring in London —
Im Juni tanzt er in Paris den Blauen Vogel in »Dornröschen«. Vor der Aufführung erhält er drei Briefe über die sowjetische Botschaft: einen von seinem Lehrer Alexander Puschkin, der um die moralische Integrität seines Schülers fürchtet; einen von seinem Vater, der seinen Landesverrat nicht verzeihen will; und einen von seiner Mutter, die ihn anfleht heimzukehren. Im Publikum sitzen fünfzig Kommunisten, rufen »Nach Moskau, Verräter!«, pfeifen, johlen, schreien und werfen Stinkbomben, Bananenschalen und Münzen auf die Bühne. Er tanzt. Einen Vogel, der mit aller Kraft versucht zu fliegen. Und dann beginnt das Popzeitalter mit Rudolf Nurejew. Neben Mick Jagger, den Beatles, den Kennedys wird er einer der größten Stars des neuen Paradigmas: Me, Myself and I. Der Tänzer eignet sich perfekt zum Popstar: Er ist, wie der Choreograf Frederick A shton sagt, »rebellisch, charismatisch, sensationell und doch auch ein Mensch von großer Gelassenheit und Würde«. Wild und besessen, zart und schön. Ein Ästhet, ein Stilfetischist. Und sexy und geil. Er tobt durch die Nächte der Welt. Manhattan, San Francisco, London, Paris, Sydney, Toronto, São Paulo, Monaco. Alle begehren ihn, Frauen, Männer, Junge, Alte. Und er sich selbst, er ist ein gnadenlos selbstverliebter Individualist. In London hat am 21. Februar 1962 »Giselle« mit seiner Traumpartnerin Margot Fonteyn Premiere. Die Stadt ist plakatiert mit einem Bild von einem Mann. Es gibt 70 000 Kartenvorbestellungen. Nicht mal die Königin kommt rein. Menschen, die noch nie ein Ballett gesehen haben, verfallen der Rudimanie. In seiner Heimat wird Rudolf Nurejew zu Tode geschwiegen. Teja Kremke, Blutsbruder aus Leningrader Tagen, schrieb: »In
Traumtänzer
Me, Myself and I: Nurejew 1967 nach einem Bad im Meer vor der Küste von Monte Carlo. Er verbringt einen Urlaub an der Côte d’Azur —
den Theatern, in den Schulen und in den Schlafsälen der Ballettschulen wurde eine Menge getuschelt. Jemand sagte, er sei nach England gegangen, ein anderer: nach Paris; wieder ein anderer sagte, er sei tot oder dass er sich in Amerika der Kirow-Truppe anschließen wolle und mit ihr zusammen zurückkäme. Ein anderer sagte, sie hätten ihn schon zum Tode verurteilt.« Rudolf Nurejew hat sich nicht nur bei Teja Kremke nie wieder gemeldet. Der durfte nicht ins Ausland reisen, auch nicht um seine eigenen Ballett-Inszenierungen zu sehen. Seine Tochter durfte keine Ballerina-Ausbildung machen, das Telefon seiner Schwester wurde abgehört, sein Neffe wurde zum Militärdienst nach Sibirien geschickt. Er wurde depressiv, trank und ertrank 1979 unter ungeklärten Umständen. Jahrelang hatte Rudolf Nurejew das Gefühl, er würde verfolgt. Nachdem der Geheimdienstagent Wassili Mitrochin übergelaufen war, berichtete er von Plänen des KGB, nach denen man »eines oder beide Beine von Nurejew brechen« wollte. Er wurde in Abwesenheit zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt, Freunde versuchten, dagegen zu klagen. Nurejew verließ den Ostblock, als die Mauer gebaut wurde, und besuchte ihn zum ersten Mal wieder, als die Mauer fiel. 1989 liegt seine Mutter im Sterben und er darf für 48 Stunden in die Sowjetunion einreisen. Sie kann nicht mehr mit ihm sprechen. Im Kirow-Museum hing bis 1991 kein Foto von seinem weltberühmten Schüler. Die Zeitungen berichteten nicht über ihn. Für die Sowjetunion war er gestorben. Der Westen hatte ihr Flugobjekt geraubt.
086 — ballett
»Romeo und Julia« — illustriert von Paul Davis
AU K T I O N MODERNE | DESIGN 13. November 2008 Besichtigung 6. bis 11. November 2008
S O N D E R AU K T I O N AFRIKA SAMMLUNG WALTER BAREISS 13. November 2008, 19.00 Uhr Besichtigung 22. Oktober bis 11. November 2008
AU K T I O N ALTE KUNST | VARIA 3. | 4. Dezember 2008 Besichtigung 24. November bis 1. Dezember 2008
MASKE kifwebe | Songye, Südost-Kongo (Zaïre) | Holz, Pigment | Höhe 33 cm
NEUMEISTER ALTE KUNST MODERNE DESIGN AFRIKA VARIA Barer Str. 37 | 80799 München | T + 49 (0)89 23 17 10 - 0 | F + 49 (0)89 23 17 10 - 55 | info@neumeister.com | www.neumeister.com | Katalog auf Anfrage
086 — ballett
»Romeo und Julia« — illustriert von Paul Davis
AU K T I O N MODERNE | DESIGN 13. November 2008 Besichtigung 6. bis 11. November 2008
S O N D E R AU K T I O N AFRIKA SAMMLUNG WALTER BAREISS 13. November 2008, 19.00 Uhr Besichtigung 22. Oktober bis 11. November 2008
AU K T I O N ALTE KUNST | VARIA 3. | 4. Dezember 2008 Besichtigung 24. November bis 1. Dezember 2008
MASKE kifwebe | Songye, Südost-Kongo (Zaïre) | Holz, Pigment | Höhe 33 cm
NEUMEISTER ALTE KUNST MODERNE DESIGN AFRIKA VARIA Barer Str. 37 | 80799 München | T + 49 (0)89 23 17 10 - 0 | F + 49 (0)89 23 17 10 - 55 | info@neumeister.com | www.neumeister.com | Katalog auf Anfrage
099 — Magazin
Ungelöste Rätsel
Harold Holt geht baden Und kommt nicht zurück. Am 17. Dezember 1967 verschwand der damalige australische Premierminister südlich von Melbourne im Meer. War es Flucht? Mord? Selbstmord?
Text — Julica Jungehülsing FotoS — National Archives of Australia
Harold Holt an Land mit Speer und Schnorchel (gr. Bild); der Premier 1966 beim Speerfischen vor der Küste von Portsea (kl. Bild) —
Regierungschefs lassen sich auf manche Art loswerden. In einigen Staaten werden sie aufs Altenteil geschoben oder, in Ausnahmefällen, erschossen. Westliche Nationen wählen Oberhäupter oft simpel ab. Russland entledigte sich seiner Zaren gern durch Gift oder Intrigen, in anderen Regionen sind Staatsstreiche beliebt. Australien ist jedoch vermutlich die einzige Nation, die je einen Regierungschef beim Baden verlor: Harold Holt, 17. Premierminister des Landes und als Wasserratte bekannt, ging vor 41 Jahren schwimmen und kam nie zurück. Eine Leiche wurde nicht gefunden. Dafür häuften sich die Spekulationen: War es Selbstmord? Hatte der amerikanische Geheimdienst die Hände im Spiel? Tauchte Frauenfreund Holt unter und anderswo bei einer Geliebten wieder auf? Der verschrobensten Verschwörungstheorie widmete der Brite Anthony Grey ein komplettes Buch: Hobbyschnorchler Holt, so der Autor, sprang ins Meer und hielt die Luft an. Dann schwamm der 59-Jährige zu einem chinesischen U-Boot. Per Yellow Submarine, so Grey, entschwand der vermeintliche Spion Holt auf Nimmerwiedersehen ins Reich der Mitte. »Harry ein Agent für Peking?« Holts Witwe Zara hob ob dieser Version skeptisch die Brauen und winkte ab. »Niemals. Er konnte ja nicht mal chinesisches Essen leiden.« Cheviot Beach ist nicht der idyllischste von Australiens 11 011 Stränden. Eher rau als romantisch, liegt er am Ende der Mornington Peninsula, jener Halbinsel, die südlich von Melbourne die weite Port Phillip-Bucht begrenzt. Weinberge, Wanderwege und Naturschutzgebiete machen die Gegend zum
b eliebten Naherholungsziel für Victorias Metropole. Das war schon vor hundert Jahren so, nur fehlten in jener Zeit die Winzer. Per Schaufelraddampfer reisten damals die Städter zur Sommerfrische, bauten zwischen Sand, Felsen und hügeligem Hinterland ihre Strandhäuser. Traditionsbewusste mochten das historische Örtchen Sorrento, Portsea nebenan zog vor allem Melbournes Prominenz an. Auch der junge Anwalt Harold Holt, damals einer der jüngsten Labour-Abgeordneten, liebte die Halbinsel schon in den Vierzigerjahren. In Portsea entdeckte er seine Leidenschaft fürs Speerfischen und Schnorcheln. Während langweiliger Sitzungen übte er heimlich, wie lange er die Luft anhalten konnte. »Sobald ich den Kopf unter Wasser stecke«, gestand der spätere Premierminister, »bin ich wie berauscht.« 1957 bauten die Holts ihr Ferienhaus im luftigen Portsea. Hierher flohen sie an Sommerwochenenden aus der heißen Regierungsstadt Canberra. Die geschützte Seite zur Port Phillip-Bucht zog Familien an. Dank langer Riffs ist die Meerseite an ruhigen Tagen ein ideales Tauchrevier. Bei hohem Seegang indes peitscht starke Brandung die front beaches von Portsea und Cheviot. Holt liebte die einsame Bucht zwischen zerzausten Dünen und hellen Klippen. Er besorgte sich eine Sondererlaubnis und genoss Cheviot als eine Art Privatstrand, an dem er ungestört war. So war es auch am 17. Dezember 1967. Es war das letzte Wochenende vor Weihnachten, Hochsommer in Australien und heiß. Ehefrau Zara war in Canberra geblieben, Harold zog es ans Wasser. Mit Freunden unternahm er einen Ausflug zum Ende der Landzunge. Sie wollten Weltumsegler Alec Rose auf seinem Weg in die Port Phillip-Bay sehen. Auf dem Rückweg parkte Holt seinen Pontiac auf den Klippen über Cheviot. Die Luft flirrte, Zeit für eine Erfrischung im Meer. Am Nachbarstrand in Portsea stellen die Life-Saver an diesem Sonntag Schilder auf: Baden verboten. Zu hoch ist die Brandung, zu tückisch die Strömung. Holt beeindruckt das wenig,
099 — Magazin
Ungelöste Rätsel
Harold Holt geht baden Und kommt nicht zurück. Am 17. Dezember 1967 verschwand der damalige australische Premierminister südlich von Melbourne im Meer. War es Flucht? Mord? Selbstmord?
Text — Julica Jungehülsing FotoS — National Archives of Australia
Harold Holt an Land mit Speer und Schnorchel (gr. Bild); der Premier 1966 beim Speerfischen vor der Küste von Portsea (kl. Bild) —
Regierungschefs lassen sich auf manche Art loswerden. In einigen Staaten werden sie aufs Altenteil geschoben oder, in Ausnahmefällen, erschossen. Westliche Nationen wählen Oberhäupter oft simpel ab. Russland entledigte sich seiner Zaren gern durch Gift oder Intrigen, in anderen Regionen sind Staatsstreiche beliebt. Australien ist jedoch vermutlich die einzige Nation, die je einen Regierungschef beim Baden verlor: Harold Holt, 17. Premierminister des Landes und als Wasserratte bekannt, ging vor 41 Jahren schwimmen und kam nie zurück. Eine Leiche wurde nicht gefunden. Dafür häuften sich die Spekulationen: War es Selbstmord? Hatte der amerikanische Geheimdienst die Hände im Spiel? Tauchte Frauenfreund Holt unter und anderswo bei einer Geliebten wieder auf? Der verschrobensten Verschwörungstheorie widmete der Brite Anthony Grey ein komplettes Buch: Hobbyschnorchler Holt, so der Autor, sprang ins Meer und hielt die Luft an. Dann schwamm der 59-Jährige zu einem chinesischen U-Boot. Per Yellow Submarine, so Grey, entschwand der vermeintliche Spion Holt auf Nimmerwiedersehen ins Reich der Mitte. »Harry ein Agent für Peking?« Holts Witwe Zara hob ob dieser Version skeptisch die Brauen und winkte ab. »Niemals. Er konnte ja nicht mal chinesisches Essen leiden.« Cheviot Beach ist nicht der idyllischste von Australiens 11 011 Stränden. Eher rau als romantisch, liegt er am Ende der Mornington Peninsula, jener Halbinsel, die südlich von Melbourne die weite Port Phillip-Bucht begrenzt. Weinberge, Wanderwege und Naturschutzgebiete machen die Gegend zum
b eliebten Naherholungsziel für Victorias Metropole. Das war schon vor hundert Jahren so, nur fehlten in jener Zeit die Winzer. Per Schaufelraddampfer reisten damals die Städter zur Sommerfrische, bauten zwischen Sand, Felsen und hügeligem Hinterland ihre Strandhäuser. Traditionsbewusste mochten das historische Örtchen Sorrento, Portsea nebenan zog vor allem Melbournes Prominenz an. Auch der junge Anwalt Harold Holt, damals einer der jüngsten Labour-Abgeordneten, liebte die Halbinsel schon in den Vierzigerjahren. In Portsea entdeckte er seine Leidenschaft fürs Speerfischen und Schnorcheln. Während langweiliger Sitzungen übte er heimlich, wie lange er die Luft anhalten konnte. »Sobald ich den Kopf unter Wasser stecke«, gestand der spätere Premierminister, »bin ich wie berauscht.« 1957 bauten die Holts ihr Ferienhaus im luftigen Portsea. Hierher flohen sie an Sommerwochenenden aus der heißen Regierungsstadt Canberra. Die geschützte Seite zur Port Phillip-Bucht zog Familien an. Dank langer Riffs ist die Meerseite an ruhigen Tagen ein ideales Tauchrevier. Bei hohem Seegang indes peitscht starke Brandung die front beaches von Portsea und Cheviot. Holt liebte die einsame Bucht zwischen zerzausten Dünen und hellen Klippen. Er besorgte sich eine Sondererlaubnis und genoss Cheviot als eine Art Privatstrand, an dem er ungestört war. So war es auch am 17. Dezember 1967. Es war das letzte Wochenende vor Weihnachten, Hochsommer in Australien und heiß. Ehefrau Zara war in Canberra geblieben, Harold zog es ans Wasser. Mit Freunden unternahm er einen Ausflug zum Ende der Landzunge. Sie wollten Weltumsegler Alec Rose auf seinem Weg in die Port Phillip-Bay sehen. Auf dem Rückweg parkte Holt seinen Pontiac auf den Klippen über Cheviot. Die Luft flirrte, Zeit für eine Erfrischung im Meer. Am Nachbarstrand in Portsea stellen die Life-Saver an diesem Sonntag Schilder auf: Baden verboten. Zu hoch ist die Brandung, zu tückisch die Strömung. Holt beeindruckt das wenig,
100 — Magazin
101 — Magazin
Ungelöste Rätsel
Ungelöste Rätsel
17. Dezember 1967: Das Meer ist aufgewühlt. Mit Booten suchen Taucher nach ihrem verschwundenen Premier —
Es ist die größte Suchaktion in der Geschichte Australiens: Hubschrauber werden eingesetzt, ganze Hundertschaften sind aktiv —
Wo ist Harold Holt? Land- und Seekarten werden studiert, aber es ist alles vergebens. Australiens Premier bleibt unauffindbar —
schließlich ist auch Marjorie Gillespie dabei, seine heimliche Geliebte aus Portsea. Die Wellen tosen, die Dünung ist wild. Die Freunde warnen, doch Holt winkt ab: »Diesen Strand kenn ich so gut wie mich selbst.« Alan Stewart, ein Freund der Familie, folgt ihm ins Wasser, wagt sich aber nicht weit hinaus. Kurz darauf verliert die am Strand spazierende Marjorie Holt aus den Augen. Das Meer wirkt mit jeder Minute aufgewühlter. Dann verschwand der Staatschef, so die Augenzeugin später im Protokoll, »wie ein Laubblatt von der Oberfläche«. Kurz danach startete die größte Suchaktion in der Geschichte Australiens: Hubschrauber kreisten über der Landzunge, Taucher und Bootsbesatzungen wurden zu Wasser gelassen, Hundertschaften durchkämmten die Ufer, Freiwillige halfen. Ohne Erfolg. Premierminister Holt, gerade einmal 22 Monate im Amt, blieb verschwunden. Zwar wurde er schon am nächsten Tag offiziell für tot erklärt, ein abschließendes Gerichtsverfahren zur Feststellung der Todesursache konnte jedoch nicht stattfinden. Um die Akte zu schließen, benötigte man damals eine Leiche. Der Staatschef war immerhin fast 60, hatte eine schmerzende Schulterverletzung — und die See war an jenem Tag wild genug, um Nachbarstrände sperren zu lassen. Jedes Jahr unterschätzten Hunderte von Freizeitschwimmern und -seglern auf dem fünften Kontinent die Risiken des Meeres. Doch viele Australier konnten oder wollten einfach nicht glauben, dass ihr athletischer Premier minister schlicht und einfach ertrunken sein könnte. Dass die Wassermassen stärker waren als er und seinen Körper später womöglich ein Hai verspeiste. Die Klatschpresse liebte die romantische Version: Holt sei zum Nachbarstrand geschwommen und von dort zu einer Geliebten nach Südfrankreich geflohen. In der Tat war das Privatleben des gut aussehenden Politikers bunt: Marjorie war Holts Witwe zufolge nur eine von vielen Freundinnen gewesen. Anhänger der Op-
position raunten, Holt habe Selbstmord verübt, weil er eine politische Niederlage fürchtete. Andere Theorien sahen ihn inmitten der Querelen des Kalten Krieges. Die Regierung Holt hatte den Aborigines erstmals Staatsbürgerrechte zuerkannt. Auch sorgte sie mit dafür, Australiens rassistische whites only-Einwanderungspolitik zu lockern. Dennoch galt Holt als Konservativer und befürwortete den Vietnamkrieg. Zunehmender Druck im Land ließ ihn jedoch zweifeln: Es hieß, er wolle Australiens Kriegseinsatz beenden. Dieser Plan, so die Mord-Theoretiker, hätte dem CIA genügt, Holt umbringen zu lassen. Bis heute behauptet ein einstiger Marinetaucher von der Gold Coast, er selbst habe bei der Beseitigung der Leiche geholfen. Seine Website »Der Harold-Holt-Mord« muss zwar zuweilen die Domain wechseln, wird aber gepflegt und aktualisiert. Ein Medien- und Regierungskomplott habe ihn totgeschwiegen, klagte der Ex-Taucher. Ernst nimmt ihn allerdings niemand. 2005 beschäftigten sich Victorias Gerichte erneut mit Down Unders berühmtestem Verschollenen. Dank einer Gesetzes änderung konnten nun erstmals auch Fälle abgeschlossen werden, in denen die Leiche fehlte. Viel Neues fanden die Ermittler aber auch 38 Jahre später nicht. Die abschließende Erklärung sah seinen Tod durch Ertrinken als erwiesen an. Heute erinnert auf den Felsen am Cheviot Beach eine Gedenktafel an den verschwundenen Premierminister. Ein Marinereservat südlich von Port Phillip trägt seinen Namen, ebenso eine Funkstation in Westaustralien und ein US-Navy-Zerstörer. Vom australischen Sinn für Humor zeugt eine zivile Einrichtung, die nach dem Verschollenen benannt wurde: eine Badeanstalt in Melbournes Vorort Malvern. Der Schwimmkomplex mit beheiztem 50-Meter-Außenbecken sollte eigentlich »New Aquatic Centre« heißen. Ende der 1960er wurde er zu Ehren des verlorenen Staatschefs feierlich auf »Harold Holt Swim Centre« getauft. So heißt der Pool bis heute.
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Ungelöste Rätsel
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17. Dezember 1967: Das Meer ist aufgewühlt. Mit Booten suchen Taucher nach ihrem verschwundenen Premier —
Es ist die größte Suchaktion in der Geschichte Australiens: Hubschrauber werden eingesetzt, ganze Hundertschaften sind aktiv —
Wo ist Harold Holt? Land- und Seekarten werden studiert, aber es ist alles vergebens. Australiens Premier bleibt unauffindbar —
schließlich ist auch Marjorie Gillespie dabei, seine heimliche Geliebte aus Portsea. Die Wellen tosen, die Dünung ist wild. Die Freunde warnen, doch Holt winkt ab: »Diesen Strand kenn ich so gut wie mich selbst.« Alan Stewart, ein Freund der Familie, folgt ihm ins Wasser, wagt sich aber nicht weit hinaus. Kurz darauf verliert die am Strand spazierende Marjorie Holt aus den Augen. Das Meer wirkt mit jeder Minute aufgewühlter. Dann verschwand der Staatschef, so die Augenzeugin später im Protokoll, »wie ein Laubblatt von der Oberfläche«. Kurz danach startete die größte Suchaktion in der Geschichte Australiens: Hubschrauber kreisten über der Landzunge, Taucher und Bootsbesatzungen wurden zu Wasser gelassen, Hundertschaften durchkämmten die Ufer, Freiwillige halfen. Ohne Erfolg. Premierminister Holt, gerade einmal 22 Monate im Amt, blieb verschwunden. Zwar wurde er schon am nächsten Tag offiziell für tot erklärt, ein abschließendes Gerichtsverfahren zur Feststellung der Todesursache konnte jedoch nicht stattfinden. Um die Akte zu schließen, benötigte man damals eine Leiche. Der Staatschef war immerhin fast 60, hatte eine schmerzende Schulterverletzung — und die See war an jenem Tag wild genug, um Nachbarstrände sperren zu lassen. Jedes Jahr unterschätzten Hunderte von Freizeitschwimmern und -seglern auf dem fünften Kontinent die Risiken des Meeres. Doch viele Australier konnten oder wollten einfach nicht glauben, dass ihr athletischer Premier minister schlicht und einfach ertrunken sein könnte. Dass die Wassermassen stärker waren als er und seinen Körper später womöglich ein Hai verspeiste. Die Klatschpresse liebte die romantische Version: Holt sei zum Nachbarstrand geschwommen und von dort zu einer Geliebten nach Südfrankreich geflohen. In der Tat war das Privatleben des gut aussehenden Politikers bunt: Marjorie war Holts Witwe zufolge nur eine von vielen Freundinnen gewesen. Anhänger der Op-
position raunten, Holt habe Selbstmord verübt, weil er eine politische Niederlage fürchtete. Andere Theorien sahen ihn inmitten der Querelen des Kalten Krieges. Die Regierung Holt hatte den Aborigines erstmals Staatsbürgerrechte zuerkannt. Auch sorgte sie mit dafür, Australiens rassistische whites only-Einwanderungspolitik zu lockern. Dennoch galt Holt als Konservativer und befürwortete den Vietnamkrieg. Zunehmender Druck im Land ließ ihn jedoch zweifeln: Es hieß, er wolle Australiens Kriegseinsatz beenden. Dieser Plan, so die Mord-Theoretiker, hätte dem CIA genügt, Holt umbringen zu lassen. Bis heute behauptet ein einstiger Marinetaucher von der Gold Coast, er selbst habe bei der Beseitigung der Leiche geholfen. Seine Website »Der Harold-Holt-Mord« muss zwar zuweilen die Domain wechseln, wird aber gepflegt und aktualisiert. Ein Medien- und Regierungskomplott habe ihn totgeschwiegen, klagte der Ex-Taucher. Ernst nimmt ihn allerdings niemand. 2005 beschäftigten sich Victorias Gerichte erneut mit Down Unders berühmtestem Verschollenen. Dank einer Gesetzes änderung konnten nun erstmals auch Fälle abgeschlossen werden, in denen die Leiche fehlte. Viel Neues fanden die Ermittler aber auch 38 Jahre später nicht. Die abschließende Erklärung sah seinen Tod durch Ertrinken als erwiesen an. Heute erinnert auf den Felsen am Cheviot Beach eine Gedenktafel an den verschwundenen Premierminister. Ein Marinereservat südlich von Port Phillip trägt seinen Namen, ebenso eine Funkstation in Westaustralien und ein US-Navy-Zerstörer. Vom australischen Sinn für Humor zeugt eine zivile Einrichtung, die nach dem Verschollenen benannt wurde: eine Badeanstalt in Melbournes Vorort Malvern. Der Schwimmkomplex mit beheiztem 50-Meter-Außenbecken sollte eigentlich »New Aquatic Centre« heißen. Ende der 1960er wurde er zu Ehren des verlorenen Staatschefs feierlich auf »Harold Holt Swim Centre« getauft. So heißt der Pool bis heute.
106 — MaGazin
Ferruccio Busoni, »Doktor Faust« — illustriert von David Hughes
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108 — MaGazin
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110 — MaGazin
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