Ordnung
Herlinde Koelbl General Klaus Reinhardt balĂ zs kovalik Nacho Duato Google John von DĂźffel armin nassehi Stephan Kimmig Nino Machaidze
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die welt ist eine Google
Suchmaschinen — Der Datenozean des Internet wurde erst mit Google & Co. navigierbar. Dabei finden Surfer vieles, wonach sie nie gesucht haben. Und lassen sich klaglos überwachen.
— Peter Glaser Fotos — Christoph Engel Text
Die neue Weltordnung zeigt sich in Gestalt von Listen. Präsentiert werden sie uns von Internet-Suchmaschinen, Google allen voran. In ihren Trefferlisten versuchen diese Maschinen, auf die täglich milliardenfach gestellten Anfragen aus dem amorphen Ozean der globalen Datenbestände möglichst sinnvoll angeordnete Auskünfte zu erteilen. Sinnvolle Kategorien zu finden, um große Wissensmengen übersichtlich zu machen, war immer schon eine Herausforderung. 180 Länder der Erde verwenden dazu in ihren Bibliotheken die 1873 von Melvil Dewey eingeführte »Dewey Decimal Classification« . Dieses Ordnungssystem strukturiert alles Wissen von 10 Hauptgruppen ausgehend, die sich in jeweils 10 Untergruppen verzweigen, und so weiter. Die amerikanische Kongressbibliothek — an die für die Nutzung von Deweys Erfindung Lizenzen zu bezahlen sind — hat bisher etwa 110.000 Kategorien für diesen einheitlichen Index des Weltwissens vergeben.
Finden, ohne gesucht zu haben Wer in den frühen neunziger Jahren, der Zeit vor den Suchmaschinen, im Internet etwas finden wollte, musste auf seine Neugierde oder auf ein paar verstreute, von Hand gepflegte Listen zurückgreifen. Sie wurden von Pionieren erstellt, die das noch unwegsame Netz durchstreiften und sammelten, was ihnen gefiel. So konnte man interessante
Dinge finden, von denen man viele gar nicht gesucht hatte. Für diese eigenartige, sehr menschliche Mischung aus interessiertem Streunen und der Bereitschaft, sich in kleine Geistesabenteuer und Zufälligkeiten hineintreiben zu lassen, gibt es im Deutschen keinen Begriff. Das Englische kennt ein Wort dafür: Serendipity. Serendipity bedeutet, etwas Interessantes zu finden, nach dem man eigentlich gar nicht Ausschau gehalten hat: Sich von dem Link-Füllhorn einer Trefferliste aus von Hölzchen auf Stöckchen zu klicken, ist ein typisches Suchmaschinenphänomen. Das Wort Serendipity benutzte der englischen Autor Horace Walpole erstmals im Jahre 1754 in einem Brief an einen Kollegen. Er habe, erläutert er darin, den Begriff in Anlehnung an ein persisches Märchen mit dem englischen Titel »The Three Princes of Serendip« geprägt (Serendip ist die alte persische Bezeichnung für Ceylon, das heutige Sri Lanka). In dem Märchen machen drei Prinzen auf Reisen jede Menge unerwarteter Entdeckungen. Innerhalb von 15 Jahren hat sich das Suchen von einem nützlichen Dienst zur zentralen Schnittstelle des Internets ent wickelt, und zu einem Motor weitreichender gesellschaftlicher Veränderungen. Aus der schlichten Fahndung nach Dokumenten ist eine überall verstandene Methode geworden, durch das Informations-Universum zu navigieren. Wenn man irgendwo auf der Welt jemandem am Bildschirm den Google-
Suchschlitz zeigt, weiß er wahrscheinlich, was man damit macht.
Die Coca Cola-Formel des Internet Vor der Suche kommt das Findbar machen der Datenbestände im Netz. Das ist die Grundleistung der Suchmaschinen, die ständig das Netz durchkämmen und ihren Index aktualisieren. Nach welchen Kriterien Google die Ergebnisse einer Suchanfrage auflistet, ist sozusagen die Coca Cola-Formel des Internetzeitalters. Einige Kriterien sind bekannt, so wird zum Beispiel eine Seite, auf die andere Websites verweisen, höher bewertet als eine mit weniger Links; die meisten der etwa 400 weiteren Einfluss möglichkeiten aber sind Firmengeheimnis. Parallel zum Siegeszug des Such schlitzes entwickelte sich eine neue Form der Weltwirtschaft: die Google-Ökonomie. Dabei geht es vor allem darum, auf den Google-Trefferlisten so weit vorne wie möglich zu landen. Um sich nach vorne durchzudrängeln, gibt es eine Menge sauberer und unsauberer Tricks. Inzwischen lebt eine ganze Industrie von dieser Art Schiebung, die Suchmaschinen-Optimierer. Also entschloss man sich bei Google zu einem Gegenschlag. Am 16. November 2003 änderten sich die Sortierungen der Trefferlisten zum ersten Mal dramatisch. Zahllose Websites, die zuvor unter den Top 100 zu finden gewesen waren, wurden degradiert oder
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Suchmaschinen — Der Datenozean des Internet wurde erst mit Google & Co. navigierbar. Dabei finden Surfer vieles, wonach sie nie gesucht haben. Und lassen sich klaglos überwachen.
— Peter Glaser Fotos — Christoph Engel Text
Die neue Weltordnung zeigt sich in Gestalt von Listen. Präsentiert werden sie uns von Internet-Suchmaschinen, Google allen voran. In ihren Trefferlisten versuchen diese Maschinen, auf die täglich milliardenfach gestellten Anfragen aus dem amorphen Ozean der globalen Datenbestände möglichst sinnvoll angeordnete Auskünfte zu erteilen. Sinnvolle Kategorien zu finden, um große Wissensmengen übersichtlich zu machen, war immer schon eine Herausforderung. 180 Länder der Erde verwenden dazu in ihren Bibliotheken die 1873 von Melvil Dewey eingeführte »Dewey Decimal Classification« . Dieses Ordnungssystem strukturiert alles Wissen von 10 Hauptgruppen ausgehend, die sich in jeweils 10 Untergruppen verzweigen, und so weiter. Die amerikanische Kongressbibliothek — an die für die Nutzung von Deweys Erfindung Lizenzen zu bezahlen sind — hat bisher etwa 110.000 Kategorien für diesen einheitlichen Index des Weltwissens vergeben.
Finden, ohne gesucht zu haben Wer in den frühen neunziger Jahren, der Zeit vor den Suchmaschinen, im Internet etwas finden wollte, musste auf seine Neugierde oder auf ein paar verstreute, von Hand gepflegte Listen zurückgreifen. Sie wurden von Pionieren erstellt, die das noch unwegsame Netz durchstreiften und sammelten, was ihnen gefiel. So konnte man interessante
Dinge finden, von denen man viele gar nicht gesucht hatte. Für diese eigenartige, sehr menschliche Mischung aus interessiertem Streunen und der Bereitschaft, sich in kleine Geistesabenteuer und Zufälligkeiten hineintreiben zu lassen, gibt es im Deutschen keinen Begriff. Das Englische kennt ein Wort dafür: Serendipity. Serendipity bedeutet, etwas Interessantes zu finden, nach dem man eigentlich gar nicht Ausschau gehalten hat: Sich von dem Link-Füllhorn einer Trefferliste aus von Hölzchen auf Stöckchen zu klicken, ist ein typisches Suchmaschinenphänomen. Das Wort Serendipity benutzte der englischen Autor Horace Walpole erstmals im Jahre 1754 in einem Brief an einen Kollegen. Er habe, erläutert er darin, den Begriff in Anlehnung an ein persisches Märchen mit dem englischen Titel »The Three Princes of Serendip« geprägt (Serendip ist die alte persische Bezeichnung für Ceylon, das heutige Sri Lanka). In dem Märchen machen drei Prinzen auf Reisen jede Menge unerwarteter Entdeckungen. Innerhalb von 15 Jahren hat sich das Suchen von einem nützlichen Dienst zur zentralen Schnittstelle des Internets ent wickelt, und zu einem Motor weitreichender gesellschaftlicher Veränderungen. Aus der schlichten Fahndung nach Dokumenten ist eine überall verstandene Methode geworden, durch das Informations-Universum zu navigieren. Wenn man irgendwo auf der Welt jemandem am Bildschirm den Google-
Suchschlitz zeigt, weiß er wahrscheinlich, was man damit macht.
Die Coca Cola-Formel des Internet Vor der Suche kommt das Findbar machen der Datenbestände im Netz. Das ist die Grundleistung der Suchmaschinen, die ständig das Netz durchkämmen und ihren Index aktualisieren. Nach welchen Kriterien Google die Ergebnisse einer Suchanfrage auflistet, ist sozusagen die Coca Cola-Formel des Internetzeitalters. Einige Kriterien sind bekannt, so wird zum Beispiel eine Seite, auf die andere Websites verweisen, höher bewertet als eine mit weniger Links; die meisten der etwa 400 weiteren Einfluss möglichkeiten aber sind Firmengeheimnis. Parallel zum Siegeszug des Such schlitzes entwickelte sich eine neue Form der Weltwirtschaft: die Google-Ökonomie. Dabei geht es vor allem darum, auf den Google-Trefferlisten so weit vorne wie möglich zu landen. Um sich nach vorne durchzudrängeln, gibt es eine Menge sauberer und unsauberer Tricks. Inzwischen lebt eine ganze Industrie von dieser Art Schiebung, die Suchmaschinen-Optimierer. Also entschloss man sich bei Google zu einem Gegenschlag. Am 16. November 2003 änderten sich die Sortierungen der Trefferlisten zum ersten Mal dramatisch. Zahllose Websites, die zuvor unter den Top 100 zu finden gewesen waren, wurden degradiert oder
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Vorige Seite: Ohne Titel (Stadt 090511), 2008 Diese Seite: Ohne Titel (Vorstadt 081003), 2008 Nächste Seite: Ohne Titel (Flughafen 080906), 2008 —
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waren überhaupt nicht mehr zu finden. Auf manchen Sites versiegte der Besucherstrom und damit die Umsätze. Die Existenz zahlloser kleiner und großer Unternehmen hängt heute am seidenen Faden ihrer Positionierung auf einem der vorderen Plätze einer Google-Antwort.
Was will die Welt? Und Google verändert nicht nur das Auffinden von Information und damit die Geschäftswelt. Leute zu googeln gehört längst zur modernen Lebensart. Beruflich und privat bereiten sich inzwischen viele auf eine Begegnung vor, indem sie routiniert nachsehen, was Google zu der Person alles auf Lager hat. Jeder, der im Internet vorhanden sein will, braucht Google. Erst Google verschafft ein digitales Dasein. Ungoogelbar zu sein bedeutet im Internetzeitalter, nicht zu existieren. Menschen fragen Google alles und schaffen damit, wie der Suchmaschinen experte John Batelle es nennt, eine gigan tische »Datenbank der Absichten« — eine Informationsgoldmine von nie dagewesenem Ausmaß. Was will die Welt? Ein Unternehmen, das diese Frage beantworten kann, hat Zugang zum Kern der menschlichen Kultur. In den gewaltigen digitalen Datenbeständen, mit denen nicht nur Suchmaschinen umgehen, lassen sich mit den geeigneten Mitteln völlig neue Muster und
Ordnungsstrukturen entdecken. Es geht nicht mehr darum, einen Bibliotheksindex für das Internet zu erstellen, sondern um die unerschlossenen Möglichkeiten, die der computerisierbare Datenozean bietet. Im September 2005 raste Hurricane Frances durch die Karibik auf die Küste Floridas zu. Während die Meteorologen ständig ihre Vorhersagen über seinen Weg aktualisierten, wurde in einem Rechenzentrum in Bentonville im US-Bundesstaat Arkansas ein anderes beeindruckendes Prognosewerkzeug in Betrieb genommen. Die IT-Spezialisten des weltgrößten Handelskonzerns Wal-Mart untersuchten, womit Umsatz gemacht worden war, als ein paar Wochen zuvor Hurricane Charly zugeschlagen hatte. Untersuchungsobjekt waren die Datenmengen über das Konsumverhalten der Kunden, mit denen die Rechner von Wal-Mart vollgestopft sind. Allein in den USA betreten jede Woche etwa 100 Millionen Käufer einen der 3600 Wal-Mart-Supermärkte der Firma. Die Goldsuche in den Datengebirgen (»Data Mining«) war erfolgreich: Es stellte sich heraus, dass nicht bloß die üblichen Taschenlampen in die Supermärkte an der Küste geliefert werden mussten. »Wir wussten zum Beispiel nicht, dass die Leute vor einem Hurricane siebenmal mehr Pop Tarts [eine Art Erdbeertäschchen] als sonst kaufen«, staunte die EDV-Leiterin Linda Dillman. Mit dem Buchdruck waren große Mengen alter Manuskripte vervielfältigt
worden und hatten die Renaissance mit dem ganzen Wissen des Altertums und des Mittelalters überflutet. In dieser Zeit wurde die Zukunft erfunden: Mit Hilfe von Büchern begann der menschliche Geist zum ersten Mal, sich frei in der Vergangenheit und den Möglichkeiten des Kommenden zu bewegen. Heute lässt die Vernetzung uns eintauchen in alle Kulturen, die je auf dieser Welt existierten. Jeder Netznutzer verfügt nun über Nachrichtenquellen, wie sie vor ein paar Jahren nur großen Zeitungsredaktionen zugänglich waren, dazu das Informationsrauschen von mehr als 130 Millionen Blogs und Unmengen von Spezialt hemen, die im Netz verfügbare Informationsströme speisen. Der kreative Anspruch der neuen Medien ist manchmal erdrückend. Immer mehr an Information tritt uns in fragmentierter Form entgegen. Was bisher Radio, Fernsehen, Zeitung, Bibliothek vorgeordnet und zusammengefügt haben, wird durch die Digitalisierung entbündelt. Das Wissen der Welt und ein bedeutender Teil unserer Kulturgüter wird durch das Netz mit einer neuen Leichtigkeit und Beweglichkeit ausgestattet. Texte, Bilder, Filme, Töne und Programme lassen sich mit einem Klick um die Welt bewegen, verändern und miteinander verbinden. Die digitale Welt entspricht nicht den Reihen ruhender Bücher einer Bibliothek, sondern den riesigen, rätselhaft wendigen Fischschwärmen der Ozeane. Vieles ist in Bewegung geraten, und alte Strukturen lösen sich auf, ohne dass
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waren überhaupt nicht mehr zu finden. Auf manchen Sites versiegte der Besucherstrom und damit die Umsätze. Die Existenz zahlloser kleiner und großer Unternehmen hängt heute am seidenen Faden ihrer Positionierung auf einem der vorderen Plätze einer Google-Antwort.
Was will die Welt? Und Google verändert nicht nur das Auffinden von Information und damit die Geschäftswelt. Leute zu googeln gehört längst zur modernen Lebensart. Beruflich und privat bereiten sich inzwischen viele auf eine Begegnung vor, indem sie routiniert nachsehen, was Google zu der Person alles auf Lager hat. Jeder, der im Internet vorhanden sein will, braucht Google. Erst Google verschafft ein digitales Dasein. Ungoogelbar zu sein bedeutet im Internetzeitalter, nicht zu existieren. Menschen fragen Google alles und schaffen damit, wie der Suchmaschinen experte John Batelle es nennt, eine gigan tische »Datenbank der Absichten« — eine Informationsgoldmine von nie dagewesenem Ausmaß. Was will die Welt? Ein Unternehmen, das diese Frage beantworten kann, hat Zugang zum Kern der menschlichen Kultur. In den gewaltigen digitalen Datenbeständen, mit denen nicht nur Suchmaschinen umgehen, lassen sich mit den geeigneten Mitteln völlig neue Muster und
Ordnungsstrukturen entdecken. Es geht nicht mehr darum, einen Bibliotheksindex für das Internet zu erstellen, sondern um die unerschlossenen Möglichkeiten, die der computerisierbare Datenozean bietet. Im September 2005 raste Hurricane Frances durch die Karibik auf die Küste Floridas zu. Während die Meteorologen ständig ihre Vorhersagen über seinen Weg aktualisierten, wurde in einem Rechenzentrum in Bentonville im US-Bundesstaat Arkansas ein anderes beeindruckendes Prognosewerkzeug in Betrieb genommen. Die IT-Spezialisten des weltgrößten Handelskonzerns Wal-Mart untersuchten, womit Umsatz gemacht worden war, als ein paar Wochen zuvor Hurricane Charly zugeschlagen hatte. Untersuchungsobjekt waren die Datenmengen über das Konsumverhalten der Kunden, mit denen die Rechner von Wal-Mart vollgestopft sind. Allein in den USA betreten jede Woche etwa 100 Millionen Käufer einen der 3600 Wal-Mart-Supermärkte der Firma. Die Goldsuche in den Datengebirgen (»Data Mining«) war erfolgreich: Es stellte sich heraus, dass nicht bloß die üblichen Taschenlampen in die Supermärkte an der Küste geliefert werden mussten. »Wir wussten zum Beispiel nicht, dass die Leute vor einem Hurricane siebenmal mehr Pop Tarts [eine Art Erdbeertäschchen] als sonst kaufen«, staunte die EDV-Leiterin Linda Dillman. Mit dem Buchdruck waren große Mengen alter Manuskripte vervielfältigt
worden und hatten die Renaissance mit dem ganzen Wissen des Altertums und des Mittelalters überflutet. In dieser Zeit wurde die Zukunft erfunden: Mit Hilfe von Büchern begann der menschliche Geist zum ersten Mal, sich frei in der Vergangenheit und den Möglichkeiten des Kommenden zu bewegen. Heute lässt die Vernetzung uns eintauchen in alle Kulturen, die je auf dieser Welt existierten. Jeder Netznutzer verfügt nun über Nachrichtenquellen, wie sie vor ein paar Jahren nur großen Zeitungsredaktionen zugänglich waren, dazu das Informationsrauschen von mehr als 130 Millionen Blogs und Unmengen von Spezialt hemen, die im Netz verfügbare Informationsströme speisen. Der kreative Anspruch der neuen Medien ist manchmal erdrückend. Immer mehr an Information tritt uns in fragmentierter Form entgegen. Was bisher Radio, Fernsehen, Zeitung, Bibliothek vorgeordnet und zusammengefügt haben, wird durch die Digitalisierung entbündelt. Das Wissen der Welt und ein bedeutender Teil unserer Kulturgüter wird durch das Netz mit einer neuen Leichtigkeit und Beweglichkeit ausgestattet. Texte, Bilder, Filme, Töne und Programme lassen sich mit einem Klick um die Welt bewegen, verändern und miteinander verbinden. Die digitale Welt entspricht nicht den Reihen ruhender Bücher einer Bibliothek, sondern den riesigen, rätselhaft wendigen Fischschwärmen der Ozeane. Vieles ist in Bewegung geraten, und alte Strukturen lösen sich auf, ohne dass
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neue bereits klar erkennbar wären. Musiker verkaufen keine Alben mehr, sondern einzelne Tracks. Die herkömmlichen Zeitungsrubriken verlieren im Netz ihre Ordnungskraft. Was jahrzehntelang gebündelt war in Nachrichten, Wirtschaft, Feuilleton, Sport, löst sich nun auch dank der Suchmaschinen in eine Wolke aus Stichwörtern auf. Die neue Freiheit verwirrt. Der Nutzer soll, kann, muss sich seine Zeitung, sein Programm nun selbst zusammensetzen. Überinformation ist der Smog des 21. Jahrhunderts. Je kompakter und intelligenter jemand heute Information aufbereitet, desto wertvoller wird sein Beitrag. Von großer Bedeutung sind deshalb Hilfsmittel gegen diese überbordenden Informationsströme, zu ihnen gehören die sogenannten Aggre gatoren. Das sind Programme und Webdienste, die vorhandene Information (wieder) zusammenfassen. Einer der prominentesten Aggregatoren ist »Google News«. Hier gibt es keine Redaktion mehr — ein Algorithmus wertet alle deutschsprachigen Zeitungen aus, die ihre Nachrichten online vorhalten und erstellt daraus eine ständig aktualisierte Nachrichtenübersicht. Es gibt solche Programme für jedermann. Sie heißen Newsreader, und man kann sich damit seinen eigenen Nachrichtendienst zusammenstellen, der nicht nur aus klassischen Zeitungs-News besteht, sondern zum Beispiel auch Neuigkeiten aus den Lieblingsblogs enthält. In der Forschung heißt die Zukunft des Suchens »Semantisches Web«. Derzeit
können nur Menschen das Web verstehen, aber bald soll die Bedeutung der Informationen im Netz auch für Computer verwertbar werden. Damit sollen sich die vielen losen Informationen nützlich miteinander verknüpfen lassen, und es können neue Zusammenhänge entdeckt werden, die zuvor nicht erkennbar waren.
Die Googles von morgen Die Dominanz von Google ist mit 80 Prozent Marktanteil erdrückend. Trotzdem gibt es tausende anderer Suchmaschinen, und immer neue gehen an den Start. Die aktuell ernsthafteste Google-Konkurrenz heißt Bing und stammt von Microsoft. Seit Juni hat sie in den USA bereits elf Prozent Marktanteil erobert. Wie Bing versuchen alle, in Spezialbereichen mehr oder Besseres zu bieten als Google. Manche verlegen sich zum Beispiel auf eine bestimmte Region. Die vor kurzem vorgestellte vielbeachtete Suchmaschine Wolfram Alpha ist ein mächtiges Werkzeug in der Hand von Menschen, die an miteinander zusammenhängenden Zahlen interessiert sind. Es gibt Suchmaschinen, die Musik aus der Filmplattform YouTube filtern, es gibt Clustering-Suchmaschinen, deren Suchergebnisse in Unterbegriffen übersichtlich gegliedert werden, Meta-Suchmaschinen, die über verschiedene Suchmaschinen hinweg erfolgte Suchen zusammenfassen, Suche an Zeitstrahlen ent-
lang. Irgendwo sind vielleicht schon die Googles von morgen im Heranwachsen. Welche Bedeutung das Suchen im Netz inzwischen hat, zeigt die Geschichte von Melanie McGuire. Im April 2007 wurde sie vor einem Gericht im US-Bundesstaat New Jersey wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Sie war angeklagt, ihren Mann William betäubt und erschossen zu haben. Drei Koffer mit den Leichenteilen wurden in einer fünf Autostunden entfernten Bucht gefunden. Zehn Tage vor der Tat, am 18. April 2004 um 5:45 Uhr und 34 Sekunden, war auf einem Laptop, den Melanie McGuire benutzt hatte, im Internet nach der Phrase »How To Commit Murder« gesucht worden (»Wie begeht man einen Mord«). Am selben Tag wurden von ihrem Rechner aus bei Google und MSN Search weitere Suchanfragen nach den Waffen gesetzen in New Jersey und Pennsylvania und zu Themen wie »sofortwirkende Gifte« durchgeführt. Daten-Forensiker der Polizei fanden die digitalen Spuren von Melanie McGuires Suchanf ragen ohne Schwierigkeiten.
Der Schriftsteller Peter Glaser ist IngeborgBachmann-Preisträger und Ehrenmitglied des Chaos Computer Club. Er lebt in Berlin.
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neue bereits klar erkennbar wären. Musiker verkaufen keine Alben mehr, sondern einzelne Tracks. Die herkömmlichen Zeitungsrubriken verlieren im Netz ihre Ordnungskraft. Was jahrzehntelang gebündelt war in Nachrichten, Wirtschaft, Feuilleton, Sport, löst sich nun auch dank der Suchmaschinen in eine Wolke aus Stichwörtern auf. Die neue Freiheit verwirrt. Der Nutzer soll, kann, muss sich seine Zeitung, sein Programm nun selbst zusammensetzen. Überinformation ist der Smog des 21. Jahrhunderts. Je kompakter und intelligenter jemand heute Information aufbereitet, desto wertvoller wird sein Beitrag. Von großer Bedeutung sind deshalb Hilfsmittel gegen diese überbordenden Informationsströme, zu ihnen gehören die sogenannten Aggre gatoren. Das sind Programme und Webdienste, die vorhandene Information (wieder) zusammenfassen. Einer der prominentesten Aggregatoren ist »Google News«. Hier gibt es keine Redaktion mehr — ein Algorithmus wertet alle deutschsprachigen Zeitungen aus, die ihre Nachrichten online vorhalten und erstellt daraus eine ständig aktualisierte Nachrichtenübersicht. Es gibt solche Programme für jedermann. Sie heißen Newsreader, und man kann sich damit seinen eigenen Nachrichtendienst zusammenstellen, der nicht nur aus klassischen Zeitungs-News besteht, sondern zum Beispiel auch Neuigkeiten aus den Lieblingsblogs enthält. In der Forschung heißt die Zukunft des Suchens »Semantisches Web«. Derzeit
können nur Menschen das Web verstehen, aber bald soll die Bedeutung der Informationen im Netz auch für Computer verwertbar werden. Damit sollen sich die vielen losen Informationen nützlich miteinander verknüpfen lassen, und es können neue Zusammenhänge entdeckt werden, die zuvor nicht erkennbar waren.
Die Googles von morgen Die Dominanz von Google ist mit 80 Prozent Marktanteil erdrückend. Trotzdem gibt es tausende anderer Suchmaschinen, und immer neue gehen an den Start. Die aktuell ernsthafteste Google-Konkurrenz heißt Bing und stammt von Microsoft. Seit Juni hat sie in den USA bereits elf Prozent Marktanteil erobert. Wie Bing versuchen alle, in Spezialbereichen mehr oder Besseres zu bieten als Google. Manche verlegen sich zum Beispiel auf eine bestimmte Region. Die vor kurzem vorgestellte vielbeachtete Suchmaschine Wolfram Alpha ist ein mächtiges Werkzeug in der Hand von Menschen, die an miteinander zusammenhängenden Zahlen interessiert sind. Es gibt Suchmaschinen, die Musik aus der Filmplattform YouTube filtern, es gibt Clustering-Suchmaschinen, deren Suchergebnisse in Unterbegriffen übersichtlich gegliedert werden, Meta-Suchmaschinen, die über verschiedene Suchmaschinen hinweg erfolgte Suchen zusammenfassen, Suche an Zeitstrahlen ent-
lang. Irgendwo sind vielleicht schon die Googles von morgen im Heranwachsen. Welche Bedeutung das Suchen im Netz inzwischen hat, zeigt die Geschichte von Melanie McGuire. Im April 2007 wurde sie vor einem Gericht im US-Bundesstaat New Jersey wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Sie war angeklagt, ihren Mann William betäubt und erschossen zu haben. Drei Koffer mit den Leichenteilen wurden in einer fünf Autostunden entfernten Bucht gefunden. Zehn Tage vor der Tat, am 18. April 2004 um 5:45 Uhr und 34 Sekunden, war auf einem Laptop, den Melanie McGuire benutzt hatte, im Internet nach der Phrase »How To Commit Murder« gesucht worden (»Wie begeht man einen Mord«). Am selben Tag wurden von ihrem Rechner aus bei Google und MSN Search weitere Suchanfragen nach den Waffen gesetzen in New Jersey und Pennsylvania und zu Themen wie »sofortwirkende Gifte« durchgeführt. Daten-Forensiker der Polizei fanden die digitalen Spuren von Melanie McGuires Suchanf ragen ohne Schwierigkeiten.
Der Schriftsteller Peter Glaser ist IngeborgBachmann-Preisträger und Ehrenmitglied des Chaos Computer Club. Er lebt in Berlin.
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fotoessay School Play — dies ist Blindtext von Julia Fullerton-Batten
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fotoessay School Play — dies ist Blindtext von Julia Fullerton-Batten
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denen es beides nicht mehr gibt. Vor 70 Jahren haben deutsche Soldaten Recht und Ordnung in Europa mit Füßen getreten und zerstört. Das ist richtig. Ich bin auch deshalb gern Soldat der Bundeswehr gewesen, weil wir bewiesen haben, dass man Soldaten auch anders führen kann als das in Deutschland vor 1945 getan wurde. Wir bauen auf das Konzept der Armee in der Demokratie, die Innere Führung ist die Corporate Identity der Bundeswehr und definiert ganz zwangsläufig den Charakter unserer Auslandseinsätze. Deshalb sollten wir auf Dauer keinen Staat unterstützen, in dem es so eklatant an der Achtung vor Recht und Ordnung fehlt. Umso wichtiger bleibt unser Bemühen, beim Aufbau eines Rechtsstaates mitzu wirken und dafür zu sorgen, dass die dafür verantwortlichen staat lichen Organe dem Recht verpflichtet sind. Ist die deutsche Gesellschaft wirklich bereit, noch mehr Tote zu ertragen? Erst recht dann, wenn die Bundeswehr wirklich an einem friedensschaffenden Einsatz, also einem Krieg teilnehmen würde, zum Beispiel als Teil einer UN-Truppe zum Stopp des Völkermordes in Darfur? Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch fordert das ja unverhohlen von Berlin. Ja, ich denke, die Gesellschaft wäre reif für solche Missionen. Wir sind die einzige Parlamentsarmee in Europa, die Einsätze sind an Mandate der Volksvertretung, des Bundestags gebunden. Es ist daher gut, wenn Einsätze der Bundeswehr breit diskutiert werden, breiter als dies bisher geschehen ist. Wenn die Bevölkerung überzeugt ist, dass ein Einsatz sinnvoll ist, etwa zur Verhinderung eines Völkermords, dann wird sie auch Verluste akzeptieren. Anderswo schafft die Bundeswehr innere Stabilität. Soll sie dann, wie Innenminister Schäuble nicht müde wird zu fordern, auch im Inneren der Bundesrepublik tätig werden können? Wir sind, wie etwa beim Oder-Hochwasser, gewillt und fähig, zivile Stellen im Notfall zu unterstützen. Das hat bis jetzt völlig genügt. Aber die Politik sollte darüber hinaus sicher deutlicher klären, wie die Bundeswehr im Krisenfall ganz pragmatisch andere staatliche Organisationen unterstützen und mit den Spezialkräften helfen kann, die im zivilen Bereich nicht vorhanden sind. Ich sehe
053
unter den herrschenden Mehrheitsverhältnissen im Bundestag auch keine Möglichkeit, die Verfassung für einen eigenständigen Einsatz der Bundeswehr im Inneren zu ändern. Es ist nicht notwendig, dass die Bundeswehr in Deutschland mehr Macht bekommt.
Joachim Käppner ist Redakteur der Süddeutschen Zeitung und gewann 1999 den Theodor-Wolff-Preis. Er promovierte über das Thema »Der Holocaust im Spiegel der DDR-Geschichtswissenschaft« und ist Herausgeber zweier Bücher über das Ende des Zweiten Weltkrieges.
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denen es beides nicht mehr gibt. Vor 70 Jahren haben deutsche Soldaten Recht und Ordnung in Europa mit Füßen getreten und zerstört. Das ist richtig. Ich bin auch deshalb gern Soldat der Bundeswehr gewesen, weil wir bewiesen haben, dass man Soldaten auch anders führen kann als das in Deutschland vor 1945 getan wurde. Wir bauen auf das Konzept der Armee in der Demokratie, die Innere Führung ist die Corporate Identity der Bundeswehr und definiert ganz zwangsläufig den Charakter unserer Auslandseinsätze. Deshalb sollten wir auf Dauer keinen Staat unterstützen, in dem es so eklatant an der Achtung vor Recht und Ordnung fehlt. Umso wichtiger bleibt unser Bemühen, beim Aufbau eines Rechtsstaates mitzu wirken und dafür zu sorgen, dass die dafür verantwortlichen staat lichen Organe dem Recht verpflichtet sind. Ist die deutsche Gesellschaft wirklich bereit, noch mehr Tote zu ertragen? Erst recht dann, wenn die Bundeswehr wirklich an einem friedensschaffenden Einsatz, also einem Krieg teilnehmen würde, zum Beispiel als Teil einer UN-Truppe zum Stopp des Völkermordes in Darfur? Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch fordert das ja unverhohlen von Berlin. Ja, ich denke, die Gesellschaft wäre reif für solche Missionen. Wir sind die einzige Parlamentsarmee in Europa, die Einsätze sind an Mandate der Volksvertretung, des Bundestags gebunden. Es ist daher gut, wenn Einsätze der Bundeswehr breit diskutiert werden, breiter als dies bisher geschehen ist. Wenn die Bevölkerung überzeugt ist, dass ein Einsatz sinnvoll ist, etwa zur Verhinderung eines Völkermords, dann wird sie auch Verluste akzeptieren. Anderswo schafft die Bundeswehr innere Stabilität. Soll sie dann, wie Innenminister Schäuble nicht müde wird zu fordern, auch im Inneren der Bundesrepublik tätig werden können? Wir sind, wie etwa beim Oder-Hochwasser, gewillt und fähig, zivile Stellen im Notfall zu unterstützen. Das hat bis jetzt völlig genügt. Aber die Politik sollte darüber hinaus sicher deutlicher klären, wie die Bundeswehr im Krisenfall ganz pragmatisch andere staatliche Organisationen unterstützen und mit den Spezialkräften helfen kann, die im zivilen Bereich nicht vorhanden sind. Ich sehe
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unter den herrschenden Mehrheitsverhältnissen im Bundestag auch keine Möglichkeit, die Verfassung für einen eigenständigen Einsatz der Bundeswehr im Inneren zu ändern. Es ist nicht notwendig, dass die Bundeswehr in Deutschland mehr Macht bekommt.
Joachim Käppner ist Redakteur der Süddeutschen Zeitung und gewann 1999 den Theodor-Wolff-Preis. Er promovierte über das Thema »Der Holocaust im Spiegel der DDR-Geschichtswissenschaft« und ist Herausgeber zweier Bücher über das Ende des Zweiten Weltkrieges.
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vorzugsweise linksherum
Biologie — Linksdrehender Rosenkohl und die Spiralität der Artischocken: Einkaufen im Supermarkt als Grundkurs im Drehsinn der Natur
— Andrea Kamphuis, Stephan Matthiesen zeichnungen — Johanna Calle Text
Viele Supermärkte haben eines gemein: Man geht auf der rechten Seite hinein und bewegt sich dann gegen den Uhrzeigersinn durch den Laden. Er ist »linksdrehend«. Marktforscher haben die Bewegung der Kunden mittels Sendern in den Einkaufswagen aufgezeichnet und festgestellt: Das ist unsere bevorzugte Bewegungsrichtung. Nicht nur Menschen haben einen bestimmten Drehsinn — die gesamte belebte Natur ist voller Drehungen und Vorzugsrichtungen. Das fängt im Kleinsten, bei einzelnen Molekülen an. So fallen im Kühlregal Produkte mit »rechtsdrehenden Milchsäurebakterien« auf. Der Begriff ist eigentlich irreführend, denn nicht die Bakterien sind rechtsdrehend, sondern die von ihnen produzierte Milchsäure. Milchsäure gibt es in zwei Formen, die sich nur in der räumlichen Anordnung ihrer Atome unterscheiden: D- und L-Milchsäure sind genau spiegelbildlich aufgebaut; man spricht von Chiralität (Händigkeit). »Rechtsdrehend« nennt man die L-Form deshalb, weil die Polarisationsebene von Licht, das man durch eine Lösung hindurchscheinen lässt, im Uhr zeigersinn gedreht wird; die D-Form verdreht polarisiertes Licht dagegen nach links. Die beiden Formen sind in der Natur nicht gleichberechtigt. Bakterien erzeugen — je nach Stamm — nur die links- oder die rechtsdrehende Variante oder ein Gemisch von beiden, doch in Tieren entsteht als Stoffwechselprodukt ausschließlich L-Milch säure. Ihre Verdauung übernimmt ein spezi-
elles Enzym, das nur rechtsdrehende Milchsäure verarbeiten kann; deshalb gelten »rechtsdrehende« Joghurts als milder. Doch ungesund ist die linksdrehende Form nicht, denn sie wird von anderen Enzymen verdaut, wenn auch langsamer — nur Babys haben damit noch Schwierigkeiten. Während das recht einfach gebaute Milchsäuremolekül zumindest bei Bakterien noch in beiden Varianten vorkommt, ist das bei komplexeren organischen Molekülen gewöhnlich nicht der Fall. Aminosäuren — die Grundbausteine der Proteine — liegen in allen Lebewesen der Erde nur in der L-Form vor. Dies ist wohl ein historischer Zufall. In der Anfangszeit der Erde, als die ersten einfachen organischen Moleküle entstanden, dürften D- und L-Formen ungefähr gleich häufig gewesen sein. Doch »D-Lebewesen« können sich nur von DAminosäuren ernähren. Wenn es also durch zufällige Fluktuationen etwas mehr »L-Lebe wesen« gab als »D-Lebewesen«, dann fraßen die »D-Lebewesen« häufiger die für sie unbrauchbare »L-Nahrung« und gediehen daher schlechter: ein Teufelskreis, der schließlich zum Aussterben der D-Varianten führte. Auf anderen Planeten mag die Geschichte andersherum verlaufen sein — deshalb aufgepasst, wenn Ihnen ein Alien etwas zu essen anbietet! Weiter geht es zur Obst- und Gemüseabteilung. Artischocken, Pinienzapfen, Ananas — überall winden sich Blätter oder Früchte in Spiralen um den Pflanzenspross.
Der Romanesco-Blumenkohl wirkt in seiner Regelmäßigkeit geradezu künstlich; winzige, mit links- und rechtsgängigen Spiralen bedeckte Kegel setzen sich wiederum spiralförmig zu größeren Kegeln zusammen. Manchmal entdeckt man das Muster erst beim Zerlegen: Die gewellten Blätter lassen einen Salatkopf wirr erscheinen, und beim Kohl verdecken die äußeren Blätter die inneren. Trennt man sie vorsichtig ab, so kommt ein kegelförmiger Strunk zum Vorschein: der verkürzte Spross, um den die Blattansätze wiederum in zwei Spiralfami lien — links- und rechtsgängig — herumlaufen. Bei etwa 80 Prozent aller höheren Pflanzen findet man solche Spiralmuster; an den übrigen 20 Prozent stehen sich oft je zwei Blätter genau gegenüber. Solche Grundmuster werden von den Botanikern als Phyllotaxis (Blattstellung) bezeichnet.
Fibonacci und die Ananas Wem es nicht peinlich ist für exzentrisch gehalten zu werden, der sollte am Obststand einmal in Ruhe die Spiralen zählen, die um eine Ananas herumlaufen. Nie sind es im Uhrzeigersinn gleich viele wie in der Gegenrichtung, und immer wieder tauchen dieselben Zahlen auf: Sie entstammen der Fibonacci-Folge, bei der das jeweils nächste Glied die Summe der beiden vorangehenden ist (1, 1, 2, 3, 5, 8, 13 …). Pinienz apfen sind oft durch das Zahlenpaar
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— Ordnung
vorzugsweise linksherum
Biologie — Linksdrehender Rosenkohl und die Spiralität der Artischocken: Einkaufen im Supermarkt als Grundkurs im Drehsinn der Natur
— Andrea Kamphuis, Stephan Matthiesen zeichnungen — Johanna Calle Text
Viele Supermärkte haben eines gemein: Man geht auf der rechten Seite hinein und bewegt sich dann gegen den Uhrzeigersinn durch den Laden. Er ist »linksdrehend«. Marktforscher haben die Bewegung der Kunden mittels Sendern in den Einkaufswagen aufgezeichnet und festgestellt: Das ist unsere bevorzugte Bewegungsrichtung. Nicht nur Menschen haben einen bestimmten Drehsinn — die gesamte belebte Natur ist voller Drehungen und Vorzugsrichtungen. Das fängt im Kleinsten, bei einzelnen Molekülen an. So fallen im Kühlregal Produkte mit »rechtsdrehenden Milchsäurebakterien« auf. Der Begriff ist eigentlich irreführend, denn nicht die Bakterien sind rechtsdrehend, sondern die von ihnen produzierte Milchsäure. Milchsäure gibt es in zwei Formen, die sich nur in der räumlichen Anordnung ihrer Atome unterscheiden: D- und L-Milchsäure sind genau spiegelbildlich aufgebaut; man spricht von Chiralität (Händigkeit). »Rechtsdrehend« nennt man die L-Form deshalb, weil die Polarisationsebene von Licht, das man durch eine Lösung hindurchscheinen lässt, im Uhr zeigersinn gedreht wird; die D-Form verdreht polarisiertes Licht dagegen nach links. Die beiden Formen sind in der Natur nicht gleichberechtigt. Bakterien erzeugen — je nach Stamm — nur die links- oder die rechtsdrehende Variante oder ein Gemisch von beiden, doch in Tieren entsteht als Stoffwechselprodukt ausschließlich L-Milch säure. Ihre Verdauung übernimmt ein spezi-
elles Enzym, das nur rechtsdrehende Milchsäure verarbeiten kann; deshalb gelten »rechtsdrehende« Joghurts als milder. Doch ungesund ist die linksdrehende Form nicht, denn sie wird von anderen Enzymen verdaut, wenn auch langsamer — nur Babys haben damit noch Schwierigkeiten. Während das recht einfach gebaute Milchsäuremolekül zumindest bei Bakterien noch in beiden Varianten vorkommt, ist das bei komplexeren organischen Molekülen gewöhnlich nicht der Fall. Aminosäuren — die Grundbausteine der Proteine — liegen in allen Lebewesen der Erde nur in der L-Form vor. Dies ist wohl ein historischer Zufall. In der Anfangszeit der Erde, als die ersten einfachen organischen Moleküle entstanden, dürften D- und L-Formen ungefähr gleich häufig gewesen sein. Doch »D-Lebewesen« können sich nur von DAminosäuren ernähren. Wenn es also durch zufällige Fluktuationen etwas mehr »L-Lebe wesen« gab als »D-Lebewesen«, dann fraßen die »D-Lebewesen« häufiger die für sie unbrauchbare »L-Nahrung« und gediehen daher schlechter: ein Teufelskreis, der schließlich zum Aussterben der D-Varianten führte. Auf anderen Planeten mag die Geschichte andersherum verlaufen sein — deshalb aufgepasst, wenn Ihnen ein Alien etwas zu essen anbietet! Weiter geht es zur Obst- und Gemüseabteilung. Artischocken, Pinienzapfen, Ananas — überall winden sich Blätter oder Früchte in Spiralen um den Pflanzenspross.
Der Romanesco-Blumenkohl wirkt in seiner Regelmäßigkeit geradezu künstlich; winzige, mit links- und rechtsgängigen Spiralen bedeckte Kegel setzen sich wiederum spiralförmig zu größeren Kegeln zusammen. Manchmal entdeckt man das Muster erst beim Zerlegen: Die gewellten Blätter lassen einen Salatkopf wirr erscheinen, und beim Kohl verdecken die äußeren Blätter die inneren. Trennt man sie vorsichtig ab, so kommt ein kegelförmiger Strunk zum Vorschein: der verkürzte Spross, um den die Blattansätze wiederum in zwei Spiralfami lien — links- und rechtsgängig — herumlaufen. Bei etwa 80 Prozent aller höheren Pflanzen findet man solche Spiralmuster; an den übrigen 20 Prozent stehen sich oft je zwei Blätter genau gegenüber. Solche Grundmuster werden von den Botanikern als Phyllotaxis (Blattstellung) bezeichnet.
Fibonacci und die Ananas Wem es nicht peinlich ist für exzentrisch gehalten zu werden, der sollte am Obststand einmal in Ruhe die Spiralen zählen, die um eine Ananas herumlaufen. Nie sind es im Uhrzeigersinn gleich viele wie in der Gegenrichtung, und immer wieder tauchen dieselben Zahlen auf: Sie entstammen der Fibonacci-Folge, bei der das jeweils nächste Glied die Summe der beiden vorangehenden ist (1, 1, 2, 3, 5, 8, 13 …). Pinienz apfen sind oft durch das Zahlenpaar
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5 und 8 gekennzeichnet, beim Romanesco trifft man vielleicht die 8 und die 13 an, in großen Sonnenblumen bilden die Samen sogar 89 und 144 Spiralreihen. Um diesem Phänomen auf den Grund zu gehen, muss man sich vergegenwärtigen, wie Pflanzen wachsen — nämlich an der Sprossspitze. Hier befindet sich ein Meristem, eine Gruppe ewig teilungsfähiger Stammzellen. Durch die Teilungen erhält es zum einen sich selbst und legt zum anderen in einem Gewebering knapp unterhalb der Spitze neue Blätter oder Blüten an. Behält man die nach oben wachsende Sprossspitze im Blick, so scheinen die Knospen allmählich nach unten zu wandern, während oben im Ring immer neue Anlagen hinzukommen. Blickt man von oben auf den Spross, so fällt auf, dass zwischen zwei unmittelbar nacheinander angelegten Knospen stets ein Winkel von ungefähr 137,5° eingehalten wird. Dieser »goldene Winkel« entspricht dem »goldenen Schnitt« Phi, der eine Strecke so teilt, dass das größere Teilstück sich zum Ganzen genauso verhält wie das kleinere Teilstück zum großen. Die Fibonacci-Spiralen sind eine logische Folge des konstanten Winkelabstands zwischen den Blattanlagen. Doch wie kommt es zu dieser Konstanz? Pflanzen sind keine Mathematiker, Ästheten oder Magier, sondern evolutionär optimierte, stationäre, auf Licht angewiesene Lebensformen, in denen komplexe biochemische Regelprozesse ablaufen. Schon früh kam die Idee auf, der goldene Winkel habe
sich evolutionär bewährt, weil die oberen Blätter die unteren so möglichst wenig beschatten. Phi ist nämlich eine irrationale Zahl — nicht im Sinne von »unvernünftig«, sondern insofern, als sie sich nicht als Bruch (Ratio) zweier ganzer Zahlen darstellen lässt. Deshalb stehen, wenn die Knospen sich im goldenen Winkel um den Spross winden, niemals zwei Blätter genau senkrecht über einander. Doch so einleuchtend das klingt: Akribische Computersimulationen haben ge zeigt, dass die Blattstellung für die Lichtversorgung praktisch keine Rolle spielt; viel wichtiger sind etwa die Länge der Blattstiele und die Blattformen. Wahrscheinlicher ist, dass die Fibonacci-Anordnung den Platz am Spross optimal ausnutzt: In eine Ananas gegebener Größe würden bei jedem anderen Winkel weniger Beeren passen.
Können Pflanzen Mathe? Der goldene Winkel ist den Pflanzen nicht genetisch einprogrammiert: Offenbar hindern frische Blattanlagen die Zellen in ihrer Nachbarschaft an der Anlage weiterer Blätter. Eine Schlüsselrolle spielt wohl das Pflanzenhormon Auxin, das im Aufbau dem menschlichen »Glückshormon« Serotonin ähnelt. Sobald an einer zufälligen Stelle an der Spitze eines ganz jungen Sprosses die Auxinkonzentration einen Schwellenwert überschreitet, entsteht dort die erste Blattanlage. Durch chemische Veränderungen
verhindert sie in ihrer Umgebung weitere Blattanlagen. Die Sprossspitze wächst weiter, und es wird Zeit für ein zweites Blatt. Es wird genau gegenüber vom ersten entstehen, in einem 180-Grad-Winkel, denn dort ist die Hemmwirkung am schwächsten. Der Spross wächst weiter — doch wo bildet sich Blatt Nummer Drei? Das erste liegt weiter unten als das zweite, übt also eine schwächere Hemmung aus. Daher wird das dritte Blatt — von oben betrachtet — näher am ersten als am zweiten angelegt, und ob dies links oder rechts vom zweiten Blatt geschieht, ist Zufall. Mit dem dritten Blatt aber liegt der Drehsinn der entstehenden Blattspirale ein für alle Mal fest: Die vierte — am stärksten von der dritten Knospe beeinflusst — entsteht an der Stelle auf dem Ring, an der die kumulative Hemmwirkung am geringsten ist, und schon nach wenigen Blättern hat sich der Winkel auf 137,5° stabilisiert. Ob wir später 3 und 5, 5 und 8 oder 8 und 13 Spiralen sehen, hängt davon ab, wie stark der Spross sich zwischen den Knospen streckt: Je stärker das Längenwachstum, desto kleiner die Fibonacci-Zahlen. An Spargelstangen zum Beispiel können wir die Schuppen im Geiste mit nur ein, zwei Schraubenlinien verbinden, aber an Spar gelköpfen sehen wir deutlich mehr Spiralen. Wer nicht glauben will, dass es Zufall ist, ob eine Pflanze ihre Knospen linksherum oder rechtsherum anlegt, kaufe einen Beutel Rosenkohl, ziehe die äußeren Blätt-
chen ab und analysiere die Röschen, bevor er sie zubereitet. Wir haben das einmal getan, und das Ergebnis war fast zu schön, um wahr zu sein: 22 Röschen im und 22 gegen den Uhrzeigersinn.
Der Tanz der Kresse Nicht nur bei der Phyllotaxis treten im Pflanzenreich Drehungen auf. Im Kühlregal stehen Schachteln mit Kressekeimen. Wenn wir die Geduld aufbrächten, ihre langsamen Wachstumsbewegungen zu beobachten, würden wir feststellen, dass sie Kreistänze aufführen: die sogenannte Circumnutation, die schon Charles Darwin an 320 Pflanzenarten untersucht hat. Entweder bewirkt eine »innere Uhr« die Kreisbewegungen, oder es handelt sich um eine Reaktion auf die Schwerkraft: Das Pf länzchen neigt sich zufällig etwas zur Seite; die Zellen in der Sprossachse nehmen dies wahr und reagieren mit einer Streckung an einer Seite; diese Korrektur schießt übers Ziel hinaus und dreht den Spross ein wenig weiter … Versuche in der Schwerelosigkeit des Weltraums deuten darauf hin, dass womöglich beide Mechanismen zusammenspielen: Schwache selbsterzeugte Schwingungen werden durch den Schwerkraftreiz verstärkt. Weiter geht es zu den Gartenbohnen, die bekanntlich gerne ranken. Während bei der Phyllotaxis und der Circumnutation beide Drehrichtungen etwa gleich stark ver-
treten sind, gibt es bei den rankenden Gewächsen einen eindeutigen Trend, der kürzlich quantifiziert wurde: Von den zufällig ausgewählten Ranken an 17 Standorten auf beiden Erdhalbkugeln wanden sich 92 Prozent in rechtsgängigen Schrauben um ihre Stützen. Die Forscher vermuten, dass dieser Effekt auf den schraubigen Auf bau der Mikrotubuli zurückgeht, jener natürlichen Nanoröhrchen, aus denen die Stützstrukturen in den einzelnen Zellen bestehen. Im Salat, den wir in unseren Einkaufswagen gepackt haben, sitzt eine Bänderschnecke. Ihr Gehäuse ist rechtsgewunden, hat also denselben Drehsinn wie eine handelsübliche Schraube aus dem Baumarkt. Leider ist es nur eine einzige (gut für den Supermarkt, schlecht für unseren Forscherdrang), sodass wir erst zu Hause im Garten das Verhältnis von links- und rechtsdrehenden Schnecken auszählen können. Anders als beim Rosenkohl finden wir nur rechts gängige Exemplare. Tatsächlich hat nur eines von mehreren Tausend oder sogar Millionen Tieren ein linksgewundenes Gehäuse — solche »Schneckenkönige« waren in Naturalienkabinetten beliebte Ausstellungsstücke. Dies zeigt, dass der Drehsinn nicht durch zufällige Effekte während des Wachstums entsteht, sondern genetisch festgelegt ist. Schon nach den ersten embryonalen Zell teilungen entwickelt sich eine Asymmetrie, die nicht nur die Schale, sondern den ganzen Körperbau umfasst. Doch warum sind Schneckenkönige so selten? Neuere For-
schungen haben gezeigt, dass auch das Gehirn und die in ihm fest verdrahteten Verhaltensregeln bei Schneckenkönigen gespiegelt sind. Und das führt zu Problemen: Bei der Paarung führen die zwittrigen Partner einen komplizierten Tanz auf, und wenn ein Schneckenkönig bzw. eine Schneckenkönigin dabei ist, dann sucht das Tier, das die Rolle des Männchens übernimmt, die Geschlechtsöffnung des »Weibchens« auf der falschen Seite, sodass die Befruchtung misslingt.
Kinderlose Schneckenkönige Man könnte Schneckenkönige als Kuriosität abtun, doch für Wissenschaftler sind sie wichtig, weil die Untersuchung der Vorgänge, die im Schneckenembryo die Asymmetrie festlegen, unschätzbare Einblicke in die embryonale Entwicklung aller Tiere und auch der Menschen gibt. Menschen sind nicht symmetrisch angelegt: Das Herz liegt auf der linken Seite, die Leber auf der rechten — doch einer unter zehn- bis zwanzigtausend Menschen hat einen situs inversus, eine spiegelverkehrte Anordnung der inneren Organe. Besonders spannend ist die Asymmetrie im Gehirn. Die Sprachzentren beispielsweise liegen bei den meisten Menschen auf der linken Seite, und auch andere funktionelle Einheiten sind in den beiden Gehirnhälften unterschiedlich stark entwickelt.
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5 und 8 gekennzeichnet, beim Romanesco trifft man vielleicht die 8 und die 13 an, in großen Sonnenblumen bilden die Samen sogar 89 und 144 Spiralreihen. Um diesem Phänomen auf den Grund zu gehen, muss man sich vergegenwärtigen, wie Pflanzen wachsen — nämlich an der Sprossspitze. Hier befindet sich ein Meristem, eine Gruppe ewig teilungsfähiger Stammzellen. Durch die Teilungen erhält es zum einen sich selbst und legt zum anderen in einem Gewebering knapp unterhalb der Spitze neue Blätter oder Blüten an. Behält man die nach oben wachsende Sprossspitze im Blick, so scheinen die Knospen allmählich nach unten zu wandern, während oben im Ring immer neue Anlagen hinzukommen. Blickt man von oben auf den Spross, so fällt auf, dass zwischen zwei unmittelbar nacheinander angelegten Knospen stets ein Winkel von ungefähr 137,5° eingehalten wird. Dieser »goldene Winkel« entspricht dem »goldenen Schnitt« Phi, der eine Strecke so teilt, dass das größere Teilstück sich zum Ganzen genauso verhält wie das kleinere Teilstück zum großen. Die Fibonacci-Spiralen sind eine logische Folge des konstanten Winkelabstands zwischen den Blattanlagen. Doch wie kommt es zu dieser Konstanz? Pflanzen sind keine Mathematiker, Ästheten oder Magier, sondern evolutionär optimierte, stationäre, auf Licht angewiesene Lebensformen, in denen komplexe biochemische Regelprozesse ablaufen. Schon früh kam die Idee auf, der goldene Winkel habe
sich evolutionär bewährt, weil die oberen Blätter die unteren so möglichst wenig beschatten. Phi ist nämlich eine irrationale Zahl — nicht im Sinne von »unvernünftig«, sondern insofern, als sie sich nicht als Bruch (Ratio) zweier ganzer Zahlen darstellen lässt. Deshalb stehen, wenn die Knospen sich im goldenen Winkel um den Spross winden, niemals zwei Blätter genau senkrecht über einander. Doch so einleuchtend das klingt: Akribische Computersimulationen haben ge zeigt, dass die Blattstellung für die Lichtversorgung praktisch keine Rolle spielt; viel wichtiger sind etwa die Länge der Blattstiele und die Blattformen. Wahrscheinlicher ist, dass die Fibonacci-Anordnung den Platz am Spross optimal ausnutzt: In eine Ananas gegebener Größe würden bei jedem anderen Winkel weniger Beeren passen.
Können Pflanzen Mathe? Der goldene Winkel ist den Pflanzen nicht genetisch einprogrammiert: Offenbar hindern frische Blattanlagen die Zellen in ihrer Nachbarschaft an der Anlage weiterer Blätter. Eine Schlüsselrolle spielt wohl das Pflanzenhormon Auxin, das im Aufbau dem menschlichen »Glückshormon« Serotonin ähnelt. Sobald an einer zufälligen Stelle an der Spitze eines ganz jungen Sprosses die Auxinkonzentration einen Schwellenwert überschreitet, entsteht dort die erste Blattanlage. Durch chemische Veränderungen
verhindert sie in ihrer Umgebung weitere Blattanlagen. Die Sprossspitze wächst weiter, und es wird Zeit für ein zweites Blatt. Es wird genau gegenüber vom ersten entstehen, in einem 180-Grad-Winkel, denn dort ist die Hemmwirkung am schwächsten. Der Spross wächst weiter — doch wo bildet sich Blatt Nummer Drei? Das erste liegt weiter unten als das zweite, übt also eine schwächere Hemmung aus. Daher wird das dritte Blatt — von oben betrachtet — näher am ersten als am zweiten angelegt, und ob dies links oder rechts vom zweiten Blatt geschieht, ist Zufall. Mit dem dritten Blatt aber liegt der Drehsinn der entstehenden Blattspirale ein für alle Mal fest: Die vierte — am stärksten von der dritten Knospe beeinflusst — entsteht an der Stelle auf dem Ring, an der die kumulative Hemmwirkung am geringsten ist, und schon nach wenigen Blättern hat sich der Winkel auf 137,5° stabilisiert. Ob wir später 3 und 5, 5 und 8 oder 8 und 13 Spiralen sehen, hängt davon ab, wie stark der Spross sich zwischen den Knospen streckt: Je stärker das Längenwachstum, desto kleiner die Fibonacci-Zahlen. An Spargelstangen zum Beispiel können wir die Schuppen im Geiste mit nur ein, zwei Schraubenlinien verbinden, aber an Spar gelköpfen sehen wir deutlich mehr Spiralen. Wer nicht glauben will, dass es Zufall ist, ob eine Pflanze ihre Knospen linksherum oder rechtsherum anlegt, kaufe einen Beutel Rosenkohl, ziehe die äußeren Blätt-
chen ab und analysiere die Röschen, bevor er sie zubereitet. Wir haben das einmal getan, und das Ergebnis war fast zu schön, um wahr zu sein: 22 Röschen im und 22 gegen den Uhrzeigersinn.
Der Tanz der Kresse Nicht nur bei der Phyllotaxis treten im Pflanzenreich Drehungen auf. Im Kühlregal stehen Schachteln mit Kressekeimen. Wenn wir die Geduld aufbrächten, ihre langsamen Wachstumsbewegungen zu beobachten, würden wir feststellen, dass sie Kreistänze aufführen: die sogenannte Circumnutation, die schon Charles Darwin an 320 Pflanzenarten untersucht hat. Entweder bewirkt eine »innere Uhr« die Kreisbewegungen, oder es handelt sich um eine Reaktion auf die Schwerkraft: Das Pf länzchen neigt sich zufällig etwas zur Seite; die Zellen in der Sprossachse nehmen dies wahr und reagieren mit einer Streckung an einer Seite; diese Korrektur schießt übers Ziel hinaus und dreht den Spross ein wenig weiter … Versuche in der Schwerelosigkeit des Weltraums deuten darauf hin, dass womöglich beide Mechanismen zusammenspielen: Schwache selbsterzeugte Schwingungen werden durch den Schwerkraftreiz verstärkt. Weiter geht es zu den Gartenbohnen, die bekanntlich gerne ranken. Während bei der Phyllotaxis und der Circumnutation beide Drehrichtungen etwa gleich stark ver-
treten sind, gibt es bei den rankenden Gewächsen einen eindeutigen Trend, der kürzlich quantifiziert wurde: Von den zufällig ausgewählten Ranken an 17 Standorten auf beiden Erdhalbkugeln wanden sich 92 Prozent in rechtsgängigen Schrauben um ihre Stützen. Die Forscher vermuten, dass dieser Effekt auf den schraubigen Auf bau der Mikrotubuli zurückgeht, jener natürlichen Nanoröhrchen, aus denen die Stützstrukturen in den einzelnen Zellen bestehen. Im Salat, den wir in unseren Einkaufswagen gepackt haben, sitzt eine Bänderschnecke. Ihr Gehäuse ist rechtsgewunden, hat also denselben Drehsinn wie eine handelsübliche Schraube aus dem Baumarkt. Leider ist es nur eine einzige (gut für den Supermarkt, schlecht für unseren Forscherdrang), sodass wir erst zu Hause im Garten das Verhältnis von links- und rechtsdrehenden Schnecken auszählen können. Anders als beim Rosenkohl finden wir nur rechts gängige Exemplare. Tatsächlich hat nur eines von mehreren Tausend oder sogar Millionen Tieren ein linksgewundenes Gehäuse — solche »Schneckenkönige« waren in Naturalienkabinetten beliebte Ausstellungsstücke. Dies zeigt, dass der Drehsinn nicht durch zufällige Effekte während des Wachstums entsteht, sondern genetisch festgelegt ist. Schon nach den ersten embryonalen Zell teilungen entwickelt sich eine Asymmetrie, die nicht nur die Schale, sondern den ganzen Körperbau umfasst. Doch warum sind Schneckenkönige so selten? Neuere For-
schungen haben gezeigt, dass auch das Gehirn und die in ihm fest verdrahteten Verhaltensregeln bei Schneckenkönigen gespiegelt sind. Und das führt zu Problemen: Bei der Paarung führen die zwittrigen Partner einen komplizierten Tanz auf, und wenn ein Schneckenkönig bzw. eine Schneckenkönigin dabei ist, dann sucht das Tier, das die Rolle des Männchens übernimmt, die Geschlechtsöffnung des »Weibchens« auf der falschen Seite, sodass die Befruchtung misslingt.
Kinderlose Schneckenkönige Man könnte Schneckenkönige als Kuriosität abtun, doch für Wissenschaftler sind sie wichtig, weil die Untersuchung der Vorgänge, die im Schneckenembryo die Asymmetrie festlegen, unschätzbare Einblicke in die embryonale Entwicklung aller Tiere und auch der Menschen gibt. Menschen sind nicht symmetrisch angelegt: Das Herz liegt auf der linken Seite, die Leber auf der rechten — doch einer unter zehn- bis zwanzigtausend Menschen hat einen situs inversus, eine spiegelverkehrte Anordnung der inneren Organe. Besonders spannend ist die Asymmetrie im Gehirn. Die Sprachzentren beispielsweise liegen bei den meisten Menschen auf der linken Seite, und auch andere funktionelle Einheiten sind in den beiden Gehirnhälften unterschiedlich stark entwickelt.
Viele Aspekte unseres Verhaltens sind daher ebenfalls asymmetrisch. Dabei bildet sich oft eine klare Hierarchie heraus: Die meisten Menschen sind Rechtshänder und benutzen das rechte Auge, wenn sie durch ein Fernrohr blicken. Doch auch subtilere Effekte gibt es. So nehmen die meisten Menschen offenbar die linke Seite eines Gesichtes schneller und besser wahr als die rechte Seite. Allerdings: Der Mythos, dass die linke Gehirnhälfte für die Logik und die rechte für die Kreativität zuständig ist, stimmt in dieser Vereinfachung nicht; an fast allen Funktionen sind Gehirnmodule in beiden Hemisphären beteiligt. Während bei den Schnecken Gehirnaufbau und Verhalten praktisch ausschließlich genetisch festgelegt ist, ist das Gehirn von Menschen plastischer: Es wird auch durch die individuelle Entwicklung geformt. Daher gibt es in der Seitenverteilung von Gehirnfunktionen weitaus stärkere Variationen als beim übrigen Körperbau, was man bereits am variierenden Anteil von Linkshändern erkennt.
Ochsen im Linksverkehr In unserer Kultur dürften Wahrnehmungs- und Verhaltensa symmetrien tiefe, komplexe Spuren hinterlassen haben, die bisher noch kaum erforscht sind. So wird die Rechtshändigkeit gerne als Argument für die Entstehung sowohl des Links- als
auch des Rechtsverkehrs auf den Straßen angeführt: Da man die Ochsen eines Fuhrwerks mit der rechten Hand führt, ist der Linksverkehr besser, um nicht zwischen die Räder des Gegenverkehrs zu gelangen. Da man aber mit der Peitsche rechts ausholt, ist für Kutschen der Rechtsverkehr besser — was sich durchsetzte, hing also von vielen historischen Zufällen ab. Ebenso gibt es Gründe sowohl für links- als auch für rechtsdrehende Wendeltreppen, und tatsächlich scheint kein Typ allgemein zu dominieren. Verständlicher ist schon, warum uns beim Englischen Walzer die Linksdreh ungen schwerfallen. Beim Tanzen führt der Herr die Dame mit der rechten Hand — eine Konvention, die aus der vorherrschenden Rechtshändigkeit entstand. Da der Herr im Allgemeinen auch größer ist und längere Arme hat und die Dame mit dem Führungsarm Körperkontakt hält, stehen die Partner in der Grundstellung oft leicht nach links verschoben voreinander. Wenn sie sich vorwärts bewegen, tanzen sie tendenziell links am Partner vorbei, und da man vorwärts spontan etwas weiter ausschreitet als rückwärts, entsteht das Gefühl einer natürlichen Rechtsdrehung. Warum wir Supermärkte linksherum durchschreiten, ist noch nicht eindeutig geklärt. Machen wir wegen der stärkeren rechten Beine rechts etwas größere Schritte — oder beachten wir die linke Hälfte unseres Sichtfeldes stärker und driften deshalb nach links? Wie dem auch sei, wir erreichen die
Kasse und bezahlen unseren rechtsdrehenden Joghurt, die Ananas und den Salat mit der Schnecke und halten uns auf dem Heimweg auf der rechten Straßenseite.
Andrea Kamphuis ist Biologin und hat über die »schraubige Fortbewegung einzelliger Algen« promoviert. Sie lebt als freie Publizistin in Köln. Dr. Stephan Matthiesen ist Physiker und arbeitet als freiberuflicher Publizist und als Projektmanager in der Klimaforschung an der Universität Edinburgh. Beide interessieren sich für Muster in der Natur.
Viele Aspekte unseres Verhaltens sind daher ebenfalls asymmetrisch. Dabei bildet sich oft eine klare Hierarchie heraus: Die meisten Menschen sind Rechtshänder und benutzen das rechte Auge, wenn sie durch ein Fernrohr blicken. Doch auch subtilere Effekte gibt es. So nehmen die meisten Menschen offenbar die linke Seite eines Gesichtes schneller und besser wahr als die rechte Seite. Allerdings: Der Mythos, dass die linke Gehirnhälfte für die Logik und die rechte für die Kreativität zuständig ist, stimmt in dieser Vereinfachung nicht; an fast allen Funktionen sind Gehirnmodule in beiden Hemisphären beteiligt. Während bei den Schnecken Gehirnaufbau und Verhalten praktisch ausschließlich genetisch festgelegt ist, ist das Gehirn von Menschen plastischer: Es wird auch durch die individuelle Entwicklung geformt. Daher gibt es in der Seitenverteilung von Gehirnfunktionen weitaus stärkere Variationen als beim übrigen Körperbau, was man bereits am variierenden Anteil von Linkshändern erkennt.
Ochsen im Linksverkehr In unserer Kultur dürften Wahrnehmungs- und Verhaltensa symmetrien tiefe, komplexe Spuren hinterlassen haben, die bisher noch kaum erforscht sind. So wird die Rechtshändigkeit gerne als Argument für die Entstehung sowohl des Links- als
auch des Rechtsverkehrs auf den Straßen angeführt: Da man die Ochsen eines Fuhrwerks mit der rechten Hand führt, ist der Linksverkehr besser, um nicht zwischen die Räder des Gegenverkehrs zu gelangen. Da man aber mit der Peitsche rechts ausholt, ist für Kutschen der Rechtsverkehr besser — was sich durchsetzte, hing also von vielen historischen Zufällen ab. Ebenso gibt es Gründe sowohl für links- als auch für rechtsdrehende Wendeltreppen, und tatsächlich scheint kein Typ allgemein zu dominieren. Verständlicher ist schon, warum uns beim Englischen Walzer die Linksdreh ungen schwerfallen. Beim Tanzen führt der Herr die Dame mit der rechten Hand — eine Konvention, die aus der vorherrschenden Rechtshändigkeit entstand. Da der Herr im Allgemeinen auch größer ist und längere Arme hat und die Dame mit dem Führungsarm Körperkontakt hält, stehen die Partner in der Grundstellung oft leicht nach links verschoben voreinander. Wenn sie sich vorwärts bewegen, tanzen sie tendenziell links am Partner vorbei, und da man vorwärts spontan etwas weiter ausschreitet als rückwärts, entsteht das Gefühl einer natürlichen Rechtsdrehung. Warum wir Supermärkte linksherum durchschreiten, ist noch nicht eindeutig geklärt. Machen wir wegen der stärkeren rechten Beine rechts etwas größere Schritte — oder beachten wir die linke Hälfte unseres Sichtfeldes stärker und driften deshalb nach links? Wie dem auch sei, wir erreichen die
Kasse und bezahlen unseren rechtsdrehenden Joghurt, die Ananas und den Salat mit der Schnecke und halten uns auf dem Heimweg auf der rechten Straßenseite.
Andrea Kamphuis ist Biologin und hat über die »schraubige Fortbewegung einzelliger Algen« promoviert. Sie lebt als freie Publizistin in Köln. Dr. Stephan Matthiesen ist Physiker und arbeitet als freiberuflicher Publizist und als Projektmanager in der Klimaforschung an der Universität Edinburgh. Beide interessieren sich für Muster in der Natur.
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alles klar
Gesellschaft — Seit über 30 Jahren porträtiert sie Alltagsästhetik und politisches Personal des Landes in Fotos, Filmen und Interviews. Bücher wie »Das deutsche Wohnzimmer« und »Spuren der Macht« machten Foto geschichte. Für MAX JOSEPH hat die Münchner Foto-Legende Herlinde Koelbl Bilder für das Bedürfnis nach Ordnung geschaffen
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alles klar
Gesellschaft — Seit über 30 Jahren porträtiert sie Alltagsästhetik und politisches Personal des Landes in Fotos, Filmen und Interviews. Bücher wie »Das deutsche Wohnzimmer« und »Spuren der Macht« machten Foto geschichte. Für MAX JOSEPH hat die Münchner Foto-Legende Herlinde Koelbl Bilder für das Bedürfnis nach Ordnung geschaffen
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Herlinde Koelbl General Klaus Reinhardt balĂ zs kovalik Nacho Duato Google John von DĂźffel armin nassehi Stephan Kimmig Nino Machaidze